Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

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Heike Proff Thomas Martin Fojcik Hrsg. Mobilität und digitale Transformation Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

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Heike Proff Thomas Martin Fojcik Hrsg.

Mobilität und digitale TransformationTechnische undbetriebswirtschaftliche Aspekte

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Mobilität und digitale Transformation

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Heike Proff · Thomas Martin Fojcik (Hrsg.)

Mobilität und digitale TransformationTechnische und betriebswirtschaftliche Aspekte

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HerausgeberHeike ProffDuisburg, Deutschland

Thomas Martin FojcikDuisburg, Deutschland

ISBN 978-3-658-20778-6 ISBN 978-3-658-20779-3 (eBook)https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3

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Vorwort der Herausgeber

2017 fand an der Universität Duisburg-Essen zum neunten Mal das Wissenschafts-forum Mobilität statt. Es bietet ein Forum zur intensiven Diskussion von For-schungsarbeiten zur Mobilität, einem Forschungsgebiet, das sich angesichts sehr unterschiedlicher, vielfach radikaler und diskontinuierlicher Veränderungen sehr schnell entwickelt und stark ausdifferenziert. Wieder sind dazu über 200 hochka-rätige Teilnehmer aus der Wissenschaft, aber auch aus Wirtschaft und Politik nach Duisburg gekommen.

Mit dem Rahmenthema „Mobility and Digital Transformation – Challenges and Future Paths“ ging es beim 9. Wissenschaftsforum Mobilität um das spannende Thema, wie die Digitalisierung Veränderungen in Unternehmen ermöglicht und treibt. Sie beeinflusst nicht nur einzelne Prozesse, Leistungen und Geschäftsmo-delle, sondern ermöglicht auch ihre Verbindung zu digitalen Wertschöpfungssys-temen.

Das Thema „Mobility and Digital Transformation“ folgt den Themen der beiden letzten Wissenschaftsforen. Es deutete sich 2015 an, als auf dem 7. Wissenschafts-forum Mobilität 2015 unter dem Rahmenthema „Nationale und internationale Ent-wicklungen in der Mobilität“ weltweite Trends in der Mobilität betrachtet wurden. Damals standen allerdings Veränderungen der Mobilität durch den steigenden Energieverbrauch, durch Umweltprobleme und veränderte Kundenerwartungen junger wie älterer Menschen im Zentrum der Diskussion.

Die zunehmende Digitalisierung war auch Teil der Diskussion auf dem 8. Wissen-schaftsforum 2016, bei der es um innovative Produkte und Dienstleistungen in der Mobilität durch die zunehmende Individualisierung, Integration und Vernetzung ging. Es wurde intensiv über die verstärkte Ausrichtung auf den Kunden und die Einbeziehung der Kunden in den Leistungserstellungsprozess diskutiert, aber auch über die zunehmende Entwicklung ganzheitlicher Kundenlösungen und über die fortschreitende Vernetzung der Verkehrsmittel, die miteinander kommu-nizieren und mit Apps individuell genutzt werden können.

Um das komplexe Thema von Mobilität und digitaler Transformation in diesem Jahr genauer betrachten zu können, wurde es in Themenbereiche gegliedert. Des-halb haben wir die Diskussion auf dem 9. Wissenschaftsforum Mobilität und in diesem Tagungsband in vier Bereiche aufgeteilt und in diesem Tagungsband fest-gehalten:

■ „Automotive Management“ (vor allem Suche nach Herausforderungen durch die Digitalisierung in der Automobilindustrie, aber auch Kundenlösungen,

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VI Vorwort der Herausgeber

Dienstleistungen und Kooperationen sowie digitale Perspektiven des Auto-mobilmanagements),

■ „Automotive Engineering“ (insbesondere Diskussion alternativer Antriebe, vernetzter Fahrzeuge sowie von Fahrerassistenzsystemen im Übergang in eine digitale Welt),

■ „Urban Mobility“ (insbesondere Überlegungen zur Bedeutung der Digitalisie-rung für Nahverkehr und Politikberatung, Elektromobilität und Logistik so-wie für elektromobilitätsbezogene Geschäftsmodelle) und

■ „Digital Value Chain“ (vor allem Diskussion zu digitalen Fertigungstechnolo-gien, zu Digitalisierung und logistischen Systemen sowie zu Digitalisierung und Verkehr).

Das 9. Wissenschaftsforum Mobilität wäre nicht möglich gewesen ohne die Unter-stützung von Automotive Rheinland, der EnergieArgentur.NRW, der Deloitte Di-gital Factory und dem Förderverein Ingenieurwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. Dafür möchten wir uns sehr herzlich bedanken. Wir danken auch dem Bundesverband eMobilität e.V. sowie BMW, Toyota und RUHRAUTOe für die Präsentation von Elektrofahrzeugen während der Tagung, dem Fraunhofer in-Haus-Zentrum in Duisburg, dass wir dort wieder tagen durften und dem Gabler Verlag|Springer Fachmedien für die Erstellung des Tagungsbandes.

Der größte Dank gilt aber wie in jedem Jahr den wissenschaftlichen Mitarbeitern und Hilfskräften am Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre & Interna-tionales Automobilmanagement, ganz besonders Dr. Stefan Schwarz, aber auch Jo-sip Jovic, M.Sc. für die Organisation der Veranstaltung sowie Florian Knobbe, M.Sc. und Stefan Schmiedel für die Bearbeitung des Tagungsbandes. Den Mithe-rausgebern und Sitzungsleitern auf der Tagung, Professoren der Fakultät für Inge-nieurwissenschaften und der Fakultät für Physik der Universität Duisburg-Essen, Angelika Heinzel, Bernd Noche, J. Alexander Schmidt, Jörg Schönharting, Dieter Schramm, Michael Schreckenberg, Gerd Witt und Andreas Wömpener sei eben-falls sehr herzlich gedankt.

Wir hoffen, dass wesentliche Herausforderungen durch die Digitalisierung und künftige Pfade der Mobilität angesprochen wurden und freuen uns auf das 10. Wissenschaftsforum Mobilität am 7. Juni 2018.

Duisburg, im Oktober 2017 Heike Proff Thomas Martin Fojcik

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Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Herausgeber ................................................................................................ V

Inhaltsverzeichnis .......................................................................................................... VII

Mobilität und digitale Transformation - Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte - Einordnung ...................................................................................................... 1

Track 1 Automotive Management 7

Kurzfassung ..................................................................................................... 9

1 Ansatzpunkte der Digitalisierung im Management 11 Prof . Dr. H. Proff, Dr. T. M. Fojcik (Universität Duisburg-Essen)

2 Herausforderungen auf dem Weg zur Digitalisierten Supply Chain in der Automobil- und Zulieferindstrie 31 Dr. J. Sandau (Deloitte Consulting GmbH)

3 Innovationsnetzwerke zur Entwicklung von Antriebstechnologien 51 P. Borgstedt, B. Neyer, Prof. Dr. G. Schewe, F. Zengerle (Westfälische Wilhelms-Universität Münster)

4 Urban Interior for E-Car Sharing in a Digital World 69 Prof. K. Mehnert, P. Kutz (Folkwang Universität der Künste)

5 Von Pipeline-Business zur Multisided Plattform 85 Dr. J. Wehinger, S. Höflich (MHP Management- und IT-Beratung GmbH)

6 Mehrfach Transformation in der automobilen Mobilität – Disruption für das Management 107 M. A. Teichert, Dr. B. Sikora (Fortschritt GmbH)

7 Der Einfluss von Standort-, Humankapital- und Sachkapital- spezifität bei der Entscheidung über die Unternehmensgrenze 123 Dr. B. Jung (Heitkamp & Thumann Group)

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VIII Inhaltsverzeichnis

8 Big Data Analytics für Connected Cars 137 H. Barth (dSPACE GmbH)

9 Business-Partner oder Obsoleszenz? 153 P. Regelmann, J. Schmelting, P. Kordus (Technische Universität Dortmund)

Track 2 Automotive Engineering 167

Kurzfassung ................................................................................................. 169

1 Vergleich realer Fahrzyklen für Elektrofahrzeuge in Deutschland und China 171 M. Schüller, Prof. W. Hou, Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. D. Schramm (Universität Duisburg-Essen)

2 Kopplung zwischen Elektrofahrzeugen und elektrischem Energienetz 183 Prof. Dr.-Ing. H. Hirsch, S. Tsiapenko, J. Weber (Universität Duisburg-Essen)

3 Functional Safety Processes and Advanced Driver Assistance Systems: Evolution or Revolution? 199 T. Frese, N. Gerber (Ford-Werke GmbH), Dr. D. Hatebur, Dr. I. Côté (ITESYS Inst. f. tech. Sys. GmbH), Prof. Dr. M. Heisel (Universität Duisburg-Essen)

4 Herausforderungen bei der Integration einer zeitdiskreten in eine quasi-zeitkontinuierliche Verkehrsflusssimulation 217 H. Völker, Prof. Dr. T. Weis, Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. D. Schramm (Universität Duisburg-Essen)

5 Identifizierung von Range Extender Fahrten anhand realer Bewegungsprofile durch künstliche neuronale Netze 237 S. Blume, S. Reicherts, P. Driesch, S. Schweig, Prof. Dr.-Ing Dr. h.c. D. Schramm (Universität Duisburg-Essen)

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Inhaltsverzeichnis IX

6 Observing the Durability Effects of a Formula Student Electric Car using Acceleration and Strain Signals 259 Y.S. Kong, S. Abdullah, M.Z. Omar, S.M. Haris (Universiti Kebangsaan Malaysia), Prof. Dr.-Ing Dr. h.c. D. Schramm, Dr.-Ing. T. Bruckmann, F.E. Kracht (University of Duisburg-Essen)

7 Interaktive Fußgänger in Fahrsimulatorumgebungen 281 S. Schweig, Prof. Dr. D. Schramm (Universität Duisburg-Essen)

Track 3 Digitalization in Urban Mobility 289

Kurzfassung ................................................................................................. 291

1 Reallabor Schorndorf. Bürgernahe Entwicklung eines

haltestellenlosen Quartiersbussystems 295 M. Klötzke, M. Brost, E.-M. Fraedrich, L. Gebhardt, K. Karnahl, Dr. G. Kopp, A. König, A.-M. Ademeit (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V.), Prof. Dr. A. Müller (Hochschule Esslingen), T. Sippel (Universität Stuttgart), F. Ulmer (Kommunikationsbüro Ulmer)

2 Urbane Mobilitäts-Hubs als Fundament des digital vernetzten und multimodalen Personenverkehrs 311 M. Rehme, S. Richter (Institut für Vernetzte Mobilität gGmbH), A. Temmler, Prof. Dr. U. Götze (Technische Universität Chemnitz)

3 Anforderungen von Nutzern flexibler öffentlicher Mobilitäts- konzepte an digitale Fahrgastinformationen mit Echtzeitdaten 331 K. Viergutz, F. Brinkmann (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V.)

4 Auswirkungen einer Stellplatzschlüsselreduktion in Wohngebieten 347 Jun.-Prof. Dr. A.-K. Seemann, S. Knöchel (Universität Freiburg)

5 Urban Freight Logistics: Betroffene Geschäftsmodelle und deren Fähigkeit zur Transformation am Beispiel des Gesundheitssektors 361 A. Arnegger, Prof. Dr. M. Voeth, A. Pätzold (Universität Hohenheim)

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X Inhaltsverzeichnis

6 Automatisierungstechnik und Ergonomieunterstützung für

innovative Kommissionier- und Umschlagkonzepte der Logistik 377 Prof. Dr. T. Hanke, Prof. Dr. M. Klumpp (FOM Hochschule Essen), Prof. Dr.-Ing. B. Noche, K. Krumme (Universität Duisburg-Essen), J. Kochsiek (Fraunhofer IML)

7 Corporate Startups: Unternehmensinterner Nährboden für

digitale Geschäftsmodelle - dargestellt am Beispiel der Last Mile Lösung pakadoo 393 M. Ziegler (LGI Logistics Group International GmbH)

8 Multifunktionales Elektromobil: Elektromobile im urbanen Ballungsraum 405 N. Becker, P. Spichartz, E. Şanal, Prof. Dr.-Ing. C. Sourkounis (Ruhr Universität Bochum)

9 Schlüsselfaktoren für die Entwicklung der Elektromobilität 421 M. Schwartz, D. Kolz (FIR)

10 Erfolgsfaktoren künftiger Geschäftsmodelle von urbanen, geteilten Mobilitätsdienstleistungen 435 M. Pielen, Prof. Dr.-Ing. T. Röth (FH Aachen), Prof. Dr. T. Flatten (TU Dortmund)

11 Untersuchung öffentlicher E-Mobility Ladeinfrastruktur 449 Prof. Dr.-Ing. R. Wörner, D. Schneider, M. Eckhardt (Hochschule Esslingen), Dr. H. Braun (Daimler AG), Prof. Dr. G. Fournier (Hochschule Pforzheim)

Track 4 Digital Value Chain 467

Kurzfassung ................................................................................................. 469

1 „Gute“ digitale Arbeit in der Automobilindustrie 4.0 471 H. Lager (TU Dortmund)

2 Materialbereitstellung On-Demand 487 F. Zeidler (TU Dortmund), Prof. Dr. M. ten Hompel, J. S. Emmerich (Fraunhofer IML)

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Inhaltsverzeichnis XI

3 Auswirkungen von Echtzeitkommunikation in der Baustellenlogistik 503 D. Schlüter, A. Spengler, Prof. Dr.-Ing. A. Malkwitz (Universität Duisburg-Essen)

4 Real-time Event Processing for Smart Logistics Networks 517 J. Ollesch, M. Hesenius, Prof. Dr. V. Gruhn, C. Alias (Universität Duisburg-Essen)

5 Optimierung von Beschaffungsentscheidungen unter Berück- sichtigung der internen Logistik mithilfe der Digitalisierung der Supply Chain 533 L. Berger, C. Besenfelder, Dr.-Ing. M. Güller (TU Dortmund)

6 Digitalisierung in gewerblichen Transportprozessen durch VR-Einbindung und Integration von Frontend und Backend in Routing- und Kundenprozessen 551 Prof. Dr. M. Klumpp, T. Neukirchen (FOM Hochschule Essen), Prof. Dr. V. Gruhn, M. Hesenius (Universität Duisburg-Essen), Prof. Dr. G. Sandhaus (FHDW Mettmann)

7 Antwortmengenprogrammierung für autonome Fahrzeuge im innerbetrieblichen Verkehr 567 S. Schieweck, Prof. Dr. G. Kern-Isberner, Prof. Dr. M. ten Hompel (TU Dortmund)

8 BaustellenCheck: Crowd-basierte Bewertung der Qualität von Baustelleninformationen auf Autobahnen 583 G. Hermanns, Dr. J. Wahle (TraffGo Road GmbH)

9 GPS- und Mobilfunkdaten in Verkehrsplanung und Verkehrsmanagement 597 H. Hochgürtel (INRIX Europe GmbH)

Mobilität und digitale Transformation - Technische und betriebs- wirtschaftliche Aspekte - Schlussbetrachtung .......................................................... 609

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Mobilität und digitale Transformation - Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte - Einordnung

Prof. Dr. H. Proff, Dr. T. M. Fojcik (Universität Duisburg-Essen)

Der vorliegende Band zu den technischen und betriebswirtschaftlichen Aspekten von Mobilität und digitaler Transformation auf dem 9. Wissenschaftsforum Mobi-lität in Duisburg ist der siebte Tagungsband. Er greift eine der sehr unterschiedli-chen, vielfach radikalen und diskontinuierlichen Veränderungen im Umfeld der Mobilität auf, die schon seit dem 3. Wissenschaftsforum 2011 angesprochen wer-den und knüpft insbesondere an den Diskussionen über die individuelle, inte-grierte und vernetzte Mobilität auf dem 8. Wissenschaftsforum Mobilität 2016 an.

Auf dem 3. Wissenschaftsforum 2011 wurden drei Entwicklungstrends der zu-künftigen Mobilität begründet:

1. Reduzierung kleinerer Fahrzeuge auf Funktionalität als Antwort auf verän-derte Kundenwünsche und verschärfte Umweltanforderungen,

2. Veränderungen des Mobilitätsverhaltens und neue Mobilitätskonzepte sowie

3. Aufwertung insbesondere von Premiumfahrzeugen durch mobile Kommuni-kation und technologische Innovationen.

Wie diese Trends Realität werden könnten, wurde daran anknüpfend auf dem 4. Wissenschaftsforum 2012 untersucht,

■ im Automotive Engineering durch neue Prozesstechniken vor allem in der Kraftfahrzeugentwicklung und durch Verbesserung der Energieeffizienz, der Fahrerassistenzsysteme und der Fahrdynamiksimulation,

■ im Automotive Management durch neue Kompetenzen, vor allem im Um-gang mit Unsicherheit, z.B. durch Forschung und Entwicklung und Verände-rung der Rohstoffpreise als Grundlage neuer Geschäftsmodelle und des FuE-Managements,

■ durch neue Mobilitätskonzepte u.a. von Kommunen und Flottenbetreibern, durch neue Mobilitätsdienstleistungen (z.B. Car Sharing), durch neue Kom-

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_1

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2 Einordnung

munikations- und Navigationstechnologien sowie durch Mobilitätsmanage-ment,

aber auch

■ die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Automobilindustrie im Vergleich mit japanischen, koreanischen und chinesischen Unternehmen in der Elektro-mobilität und auf neuen Märkten sowie das Management internationaler Tochtergesellschaften mit zunehmender Wertschöpfung.

Auch auf dem 5. Wissenschaftsforum Mobilität 2013 wurde über Innovationen ge-sprochen. Es ging um radikale Innovationen in der Mobilität in vier Bereichen, um einen Entwicklungssprung schaffen und Wertschöpfung und Arbeitsplätze in Eu-ropa halten zu können:

1. Innovationen in der Automobiltechnik, v.a. Fahrerassistenzsysteme, aktive und funktionale Sicherheit sowie Hochvolt-Bordnetze und elektromagneti-sche Verträglichkeit (EMV).

2. Produktinnovationen und innovative Management- und Bewertungskon-zepte, um Informationen besser verdichten und vernetzen zu können, um Schritte auf dem Weg in die neue Mobilität zu dokumentieren und um aus In-ventionen Innovationen zu machen als Anreize für Pioniere, da sie Innovati-onsrenten versprechen.

3. Innovationen in der Mobilitätstechnik und in der Nanotechnologie durch ver-besserte Effizienz neuer Materialien, durch Kombination innovativer Techno-logien auf der Suche nach der besten Lösung (z.B. in der Brennstoffzellentech-nik) und durch intelligente Nutzung der Zeit in Verkehrsmitteln.

4. Innovative urbane Mobilitätsstrategien, die bei Kundenwünschen ansetzen, u.a Szenarien und Wirkungsanalysen zur umweltschonenden urbanen Mobi-lität.

Auf dem 6. Wissenschaftsforum Mobilität 2014 wurden dann konkrete Entschei-dungen zur Verwirklichung eines Entwicklungssprungs durch Innovationen im Übergang in Elektromobilität angesichts der großen technologischen und marktli-chen Unsicherheit diskutiert. Auf der Tagung wurden die Forschungsarbeiten dazu vier Themenfeldern zugeordnet:

1. Entscheidungen im Automotive Management mit Beiträgen zu Investitions-entscheidungen unter Unsicherheit durch bessere Verdichtung und Nutzung vorhandener Informationen, zum Management von Innovationen in der Au-

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Einordnung 3

tomobilindustrie als Schritte von Inventionen zu Innovationen und zu Ent-scheidungen über die Anpassung von Geschäftsmodellen in der Automobilin-dustrie, da es ohne Kommerzialisierung keine Innovationen geben wird,

2. Entscheidungen im Automotive Engineering mit Beiträgen zu Fahrerassis-tenzsystemen mit vorausschauender Technik, zur Fahrzeugentwicklung und -sicherheit durch bessere Regelung dynamischer Systeme und zu Fahrzeugan-trieben als Innovationen zur Verbesserung von Effizienz und Performance,

3. Entscheidungen über Wertschöpfung und Technologie mit Beiträgen zu Ent-scheidungen über alternative Antriebe angesichts der Technologievielfalt in der Elektromobilität, zu Entscheidungen in der Versorgungskette durch Kom-bination innovativer Technologien auf der Suche nach der besten Lösung und zu Entscheidungen für innovative Mobilität durch intelligente Nutzung von Verkehrssystemen sowie

4. Entscheidungen über Mobilitätskonzepte mit Beiträgen zu neuen Mobilitäts-lösungen für Städte, zu intermodaler Mobilität und effizienter Navigation so-wie zu Mobilitätskonzepten für spezielle Mobilitätsanforderungen.

Auf dem 7. Wissenschaftsforum Mobilität 2015 wurde der Blick auf „nationale und internationale Entwicklungen in der Mobilität“ erweitert. Auf der Tagung wurden die Forschungsarbeiten dazu fünf Entwicklungen in der Mobilität zugeordnet, die es in Wissenschaft, Wirtschaft und Politik gemeinsam zu beobachten und zu ge-stalten gilt, um die komplexen Herausforderungen der zunehmend globalisierten Mobilität bewältigen und einen erheblichen Teil der Wertschöpfung in Deutsch-land halten zu können:

1. Entwicklungen im Automotive Management mit Beiträgen zu Managementt-rends in der internationalen Automobilindustrie, zu Innovationen in der (Auto)Mobilität und zum Management von Innovationen in der Automobilin-dustrie,

2. Entwicklungen im Automotive Engineering mit Beiträgen zu zukünftigen Fahrzeugantrieben, Fahrerassistenzsystemen u.a. für Ostasien und aktive Si-cherheit sowie Gesamtfahrzeugentwicklung,

3. neue urbane Mobilitätskonzepte mit Beiträgen zum Mobilitätsverhalten, zu elektrischem Wirtschaftsverkehr und zu Carsharing,

4. Veränderungen bei Funktionen und Elementen der Mobilität mit Beiträgen vor allem zu nationalen und internationalen Entwicklungen in der Produk-tion, aber auch zu Entwicklungen in der Batterie- und Brennstoffzellentechnik und internationalen Trends in der Logistik sowie

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4 Einordnung

5. internationale Trends in der Mobilität mit Beiträgen zu internationalen Ko-operationsstrategien, neuen Entwicklungen der Mobilität in China und zu Ge-schäftsmodellen im internationalen Vergleich.

Auf dem 8. Wissenschaftsforum Mobilität 2016 ging es schließlich um die indivi-duelle, integrierte und vernetzte Mobilität. Individualität wird erreicht durch Aus-richtung auf die einzelnen Kunden und die Einbeziehung der Kunden in den Leis-tungsentstehungsprozess. Damit eng verbunden ist die Integration von einzelnen Leistungen zu integrierten, ganzheitlichen Kundenlösungen. Individuelle, inte-grierte und vernetzte Kundenlösungen der Mobilität meint die Überwindung einer Strecke von A nach B mit unterschiedlichen Verkehrsmitteln, die künftig stärker miteinander kommunizieren und die mit Apps individuell genutzt werden kön-nen. Im Tagungsband wurde das komplexe Thema in vier Themenbereiche geglie-dert, in denen es individueller, integrierter und vernetzter Mobilitätslösungen be-darf:

■ Automotive Management (vor allem Managementtrends in der internationa-len Automobilindustrie, nutzenstiftende Geschäftsmodelle und die Bewer-tung integrierter Produktbündel),

■ Automotive Engineering (insbesondere alternative Antriebe, vernetzte Fahr-zeuge und Fahrerassistenzsysteme in einer vernetzten Welt),

■ neue urbane Mobilitätskonzepte und -systeme (insbesondere Mobilität und Raum, Konzepte für die Stadt und Informationssysteme) und

■ integrierte Lösungen und neue Konzepte der (technischen) Logistik (vor al-lem städtisches und gewerbliches Supply Chain Management, mobilitätsbezo-gene Kundenlösungen und ihre Gestaltungsmöglichkeiten sowie Digitalisie-rung in logistischen Systemen).

Auf dem 9. Wissenschaftsforum Mobilität 2017 geht es nun um die Herausforde-rungen für die Mobilität angesichts der digitalen Transformation. Zur Einstim-mung in dieses Thema zeigte ein kurzer Film die Herausforderungen der vierten Industriellen Revolution und der Digitalisierung. Kernaussage ist, dass Digitalisie-rung mehr ist als die nächste technologische Verbesserung von Produkten und Leistungen und dass das Thema auf vielen Ebenen ansetzt. Als Key Note Speaker konnten wir zwei Kollegen mit sehr unterschiedlicher Sicht auf die Digitalisierung gewinnen: Prof. Dr.-Ing. Thomas Bauernhansl, Leiter des Fraunhofer Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) und des Instituts für Industrielle Fertigung und Fabrikbetrieb (IFF), Universität Stuttgart sowie Prof. Dr. Andreas Syska, Institut für Produktionsmanagement, Hochschule Niederrhein. Die Diskus-

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Einordnung 5

sion folgte zu vier Themenbereichen, in denen digitalisierte Mobilitätslösungen ge-sucht werden und die die Forschungen der Fakultät für Ingenieurwissenschaften an der Universität Duisburg-Essen widerspiegeln.

Die für den Tagungsband ausgewählten Beiträge werden den Themen zugeordnet, die sich mit technischen und betriebswirtschaftlichen Aspekten der Herausforde-rungen durch die Digitalisierung für die Mobilität beschäftigen: Automotive Ma-nagement, Automotive Engineering, urbane Mobilität und digitale Wertschöp-fungskette.

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Track 1 Automotive Management

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Kurzfassung

Prof. Dr. H. Proff, Prof. Dr. A. Wömpener (Universität Duisburg-Essen)

Die Forschung zum Mobilitätsmanagement und insbesondere zu den Entwicklun-gen im (Automobil)Management beschäftigt sich zunehmend mit Herausforde-rungen, Geschäftsmodellen und Kundenlösungen durch die Digitalisierung. Sie werden im ersten Teil des Tagungsbandes zum 9. Wissenschaftsforum Mobilität thematisiert:

■Herausforderungen durch die Digitalisierung in der Automobilindustrie

■ Kundenlösungen und Dienstleistungen sowie

■ digitale Perspektiven des Automobilmanagements.

Im ersten Themenfeld werden die Herausforderungen für die Automobilindustrie begründet, von denen zwei im Tagungsband aufgegriffen werden:

H. Proff und T.M. Fojcik zeigen am Beispiel von zwei Automobilunternehmen, dass bei ihnen angesichts der diskontinuierlichen Veränderungen durch die Digi-talisierung generell eine Sensibilisierung und kollektive Sinngebung (sensing) be-reits eingesetzt hat und sie dynamische Fähigkeiten 2. Ordnung zur Ergreifung strategischer Möglichkeiten (seizing) mobilisieren. Eine Rekonfiguration der ope-rativen Kompetenzen (reconfiguring) steht aber noch aus.

J. Sandau berichtet über die Ergebnisse und Schlussfolgerungen aus der „Deloi-tte/MIT Digital Business Global Executive Study“ und zeigt dabei vor allem Reak-tionen von Managern auf die Digitalisierung.

Im zweiten Themenfeld werden Kundenlösungen und Dienstleistungen betrach-tet:

P. Borstedt, B. Neyer, G. Schewe und F. Zengerle untersuchen Unternehmensko-operationen zur Bewältigung des technologischen Wandels in der Automobilin-dustrie mit Hilfe einer patentbasierten Analyse der Innovationsnetzwerke von Toyota und Daimler im Antriebsbereich.

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10 Kurzfassung

P. Kurz und K. Mehnert berichten über die Weiterführung der Designentwicklung des NRWCar 1.0, dem Fahrzeugentwurf des Projektes “DesignStudioNRW”. Sie untersuchen mit dem NRWCar 2.0 die Anforderungen an ein kleines, urbanes, elektrisch betriebens Sharingfahrzeug in der digitalen Welt.

J. Wehninger und S. Höflich betrachten „die Plattformökonomie in der Automo-bilindustrie“. Sie beschäftigen sich mit Plattformtheorien und fragen, wie Transak-tionskosten reduziert, Netzwerkeffekte gesteigert, Interaktion möglich und Res-sourcen organisiert werden können. Zudem zeigen sie die Bedeutung von Ver-trauen und Innovationen sowie von KPIs wie Plattformversagen, Vermittlungs-qualität und Nutzungsintensität.

Im dritten Themenfeld geht es um digitale Perspektiven des Automobilmanage-ments:

M. Teichert und B. Sikora diskutieren Disruptionen durch mehrfache Transfor-mationen in der automobilen Mobilität, die sich gegenseitig verstärken (vor allem durch technologische Veränderungen bei Antrieb, Materialien sowie Soft- & Hard-ware, bei der Bereitstellung der Leistungen und bei der Nutzung der Mobilität). Sie vermuten, dass es nur mit Verhaltensänderungen des Managements gelingen kann, die Anforderungen aus Kundenperspektive erfolgreich zu bewältigen.

B. Jung untersucht den Einfluss von Standort-, Humankapital- und Sachkapi-talspezifität bei der Entscheidung über die Unternehmensgrenze am Beispiel des Übergangs der Automobilindustrie in die Elektromobilität.

H. Barth betrachtet „Big Data Analytics“ für vernetzte Fahrzeuge und fragt, welche Daten im Auto und durch das Auto gesammelt werden können, wie sie auszuwer-ten sind und wie sie sich z.B. für neue Geschäftsmodelle nutzen lassen. Er zeigt, dass es für die Realisierung neuer Geschäftsideen nicht darauf ankommt, mög-lichst viele, sondern die richtigen Daten zu sammeln.

J. Schmelting und P. Regelmann berichten über die Ergebnisse einer Inhaltsana-lyse von deutschsprachigen Controlling-Fachzeitschriften zu den Auswirkungen der Industrie 4.0 auf das Controlling und zeigen mögliche Auswirkungen auf das Rollen- und Aufgabenbild des Controllers.

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1 Ansatzpunkte der Digitalisierung im Management

Prof. Dr. H. Proff, Dr. T. M. Fojcik (Universität Duisburg-Essen)

1 Ansatzpunkte der Digitalisierung im Management 11

1.1 Einleitung ....................................................................................................... 121.2 Literaturüberblick zur Digitalisierung im Management ......................... 131.3 Systematisierung der Ansatzpunkte der Digitalisierung in der

Geschäftstätigkeit .......................................................................................... 151.4 Erste empirische Untersuchung zu den Ansatzpunkten der

Digitalisierung bei der Geschäftstätigkeit ................................................. 191.5 Ausblick .......................................................................................................... 23

Literatur .......................................................................................................................... 24

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_2

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12 Ansatzpunkte der Digitalisierung im Management

1.1 Einleitung

Digitalisierung bezeichnet die Nutzung großer Datenmengen, die zu einer umfas-senden Vernetzung aller Bereiche der Wirtschaft und Gesellschaft führen wird (BMWi, 2015 und ähnlich Köhler/Wollschläger, 2014: 79). Sie umfasst die Erhebung von analogen Informationen („Big Data“ in einem engen Sinne; z.B. O´Leary, 2013), ihre Speicherung in einem digitaltechnischen System (lokale Speicherung oder „Cloud Computing“ durch die Weiterentwickelung des Internets; z.B. Hashem et al., 2015: 101), die Analyse und Interpretation sowie den Transfer in andere Sys-teme („Internet der Dinge“ bzw. „Internet of Things“; z.B. Ashton, 2009). Sie macht vor keiner Branche halt und gilt als eine der weitreichendsten technologischen Ver-änderungen unserer Zeit (z.B. Baker, 2015: 14).

Digitalisierung bietet durch gestiegene Rechnerleistung die technologischen Mög-lichkeiten zur Veränderung von Prozessen (entlang der Wertschöpfungskette), von Leistungen (hin zu individualisierten und integrierten Kundenlösungen) sowie von Geschäftsmodellen (Köhler/Wollschläger, 2014; Sedran/Gissler, 2015; Kane et al., 2016). Damit geht es weniger um Technologien, als vielmehr um Strategien und neue Wege des Denkens (Rogers, 2016: S. x). Digitalisierung ermöglicht und treibt Veränderungen von Prozessen, Produkten und Geschäftsmodellen (Hami-dian/Kraijo, 2013: 12), d.h. die digitale Transformation in Unternehmen.

Obwohl viele Manager erkennen, dass die Digitalisierung ihre Branche tiefgreifend verändert, sieht nur etwa jeder Zweite sein Unternehmen auf die kommenden Ver-änderungen vorbereitet (so z.B. das Ergebnis einer Untersuchung von Deloitte und dem MIT, Kane et al. 2016). Deshalb sollen in diesen Beitrag Ansatzpunkte der Di-gitalisierung im Management aufgezeigt werden. Abschnitt 1.2 gibt zunächst einen Literaturüberblick, nach dem Digitalisierung bei unternehmerischen Prozessen, Leistungen und Geschäftsmodellen ansetzt und diese verbessern oder - unter-schiedliche stark - verändern kann. Abschnitt 1.3 versucht dann die Ansatzpunkte der Digitalisierung im Management umfassender zu systematisieren, indem zu-sätzlich die Unterscheidung zwischen einer stabilen und instabilen Marktdynamik (in Erweiterung von Klein 1977) bzw. zwischen kontinuierlichen und diskontinu-ierlichen Umfeldveränderungen (Porter, 1985: 197) berücksichtigt wird. Die Ergeb-nisse einer ersten qualitativen Untersuchung dieser Systematik bei zwei großen Automobilunternehmen werden in Abschnitt 1.4 gezeigt, bevor der Beitrag mit ei-nem Ausblick endet.

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Literaturüberblick zur Digitalisierung im Management 13

1.2 Literaturüberblick zur Digitalisierung im Management

Digitalisierung als eine Umfeldveränderung kann bei (1) Prozessen (2) Leistung, d.h. Produkten und Dienstleistungen sowie (3) Geschäftsmodellen a) eine Verbes-serung, b) eine inkrementelle Veränderung bzw. Innovation oder c) eine radikale Veränderung bzw. Innova-tion ermöglichen (vgl. z.B. die Unterscheidung zwi-schen inkrementellen und radikalen Innovationen bei Utterback/Abernathy, 1975; Abernathy/Utterback 1978 oder Hill/Rothaermel, 2003: 258).

Zu (1): Digitale Technologien können die Effizienz der Prozesse erhöhen (Prozess-verbesserung bzw. inkrementelle Prozessveränderung). Durch Digitalisierung ent-lang der Wertschöpfungskette sind sowohl Kostensenkungen durch Effizienzstei-gerung in Beschaffung, FuE, Produktion und Marketing/Vertrieb (z.B. durch digi-tale Erfassung von Messdaten) möglich, als auch beständige Erlössteigerungen durch verbesserte Kundeninteraktion (z.B. durch Einsatz digitaler Medien in der Kundenbindung, Sedran/Gissler 2015: 1, 3; BVDW, 2015; Roland Berger, 2015). Im Supply Chain Management lässt sich die Effizienz mit Hilfe großer Datenmengen erheblich steigern, weil sich konkretere Vorhersagen darüber treffen lassen, wann ein bestimmtes Bauteil in einem Lager oder einer Produktionsstätte vorrätig sein muss und wie sich die Nachfrage der Endkunden nach bestimmten Ersatzteilen entwickeln wird. „Damit werden Lieferketten durch digitale Technologien noch transparenter, so dass mögliche Risiken frühzeitig erkannt werden und die Her-steller gegensteuern können“ (Sedran/Gissler 2015: 1 und 3). Als Ergebnis indust-rieller Vernetzung (Köhler/Wollschläger, 2014: 76) im Rahmen von Industrie 4.0 (vierte industrielle Revolution durch IuK-Technologien der Fertigungstechnik) bzw. durch die intelligente Fabrik (Wandlungsfähigkeit, Ressourceneffizienz und Integration von Kunden und Geschäftspartnern in den Geschäfts- und Wertschöp-fungsprozess) werden schließlich noch weitreichendere, radikale Prozessinnovati-onen erwartet.

Zu (2): Digitale Technologien können durch ständige Verbesserung bzw. inkre-mentelle Veränderung der Prozesse auch Leistungen verbessern (günstige Pro-dukte, neue Produktgenerationen oder Durchbruch neuer Leistungen). Dies ist möglich durch stärkere Individualisierung und Integration, z.B. durch eine neue Smartphone-Generation oder die Ablösung der analogen Fotographie durch die Digitalfotografie, die zwar analoge Komponenten durch elektronische Komponen-ten ersetzt, aber das Kernkonzept bzw. die Produktarchitektur nicht verändert (Henderson/Clark, 1990).

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14 Ansatzpunkte der Digitalisierung im Management

Radikale Leistungsinnovationen durch eue individuelle und integrierte Leistun-gen (z.B. Yoo et al., 2012) gehen im Sinne einer „service dominant logic“ (Vargo/Lu-sch, 2008; Lusch/Nambisan, 2015) noch weiter: sie entstehen in einem Prozess der gemeinsamen Nutzenschaffung von Unternehmen und Kunden („value co-crea-tion“) von der Leistungsentstehung bis zum Gebrauch („value-in-use“, vgl. Skảlén u.a., 2015).

Zu (3): Durch digitale Technologien lassen sich im Zeitablauf auch Geschäftsmo-delle verbessern (Geschäftsmodellverbesserung; Mitchell/Coles, 2003: 16) oder in-krementell weiterentwickeln (Geschäftsmodelltransformation; Stähler, 2002). Ge-schäftsmodelle sind allerdings trotz der Flut an Literatur seit Beginn des Jahrtau-sends (Markides, 2015: 134) nicht eindeutig definiert (Baden-Fuller/Mangematin, 2013; Schmidt, 2015; Schneckenberg und Spieth, 2016). Sie umfassen mehrere Kom-ponenten (Johnson, et al., 2008: 60; Mitchell und Coles, 2003: 17; Proff et al., 2014), deren Zahl und Ausrichtung variiert (z.B. Markides, 2015: 137) und die sich gegen-seitig verstärken (z.B. Casadesus-Masanell/Ricart, 2010; Teece, 2010). Im Kern überschneiden sich Geschäftsmodelle mit Strategien in einem weiten (Prozess)Ver-ständnis (Markides, 2015), das von der Vision über die Umfeldanalyse, die Strate-gieformulierung und -umsetzung bis zur strategischen Kontrolle reicht. Geschäfts-modelle umfassen insbesondere aber Wettbewerbsstrategien als Entscheidungen über 1. die Ressourcenallokation und 2. Wettbewerbsvorteile (Aaker, 2013: 5) und ergänzen diese um Entscheidungen über 3. die Wertarchitektur, 4. das Nutzenver-sprechen für die Kunden sowie über 5. die Ertragsmechanik und damit über das Gewinnmodell (vgl. Teece 2010: 172; Foss/Saebi, 2017). Während bei einer Verbes-serung von Geschäftsmodellen durch die Digitalisierung maximal eine Kompo-nente von Geschäftsmodellen (Nutzenversprechen oder Wertarchitektur) verän-dert wird, werden bei einer Geschäftsmodelltransformation beide Komponenten verändert (Lindgarth et al., 2009 und ähnlich Khanagha et al., 2014: 324). Zu den inkrementell neuen, digitalen Geschäftsmodellen in der Automobilindustrie gehö-ren z.B. Mitnahmedienste, Carsharing oder Angebote für intermodales Reisen. Hier stellen die Autohersteller jeweils digitale Plattformen bereit (Wedeniwski, 2015; Sedran/Gissler, 2015, S. 3). Dadurch ändern sich die Wertarchitektur und das Nutzenversprechen, das Automobil bleibt aber weiterhin im Zentrum des Ge-schäftsmodells.

In neuen, radikal innovativen Geschäftsmodellen (Geschäftsmodellinnovationen; Anderson/Tush-man, 1990; Bucherer et al., 2012; Abdelkafi et al., 2013; Franken-berger et al., 2013) durch Digitalisierung (z.B. Linz et al., 2017) werden schließlich nicht nur Nutzenversprechen und Wertarchitektur verändert, sondern auch der angestrebte Wettbewerbsvorteil (hin zu Produktinnovationsfähigkeit).

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Systematisierung der Ansatzpunkte der Digitalisierung in der Geschäftstätigkeit 15

1.3 Systematisierung der Ansatzpunkte der Digitalisierung in der Geschäftstätigkeit

Eine Systematisierung der Ansatzpunkte der Digitalisierung im Management kann nicht nur in Abhängigkeit von der digitalen Geschäftstätigkeit in Unternehmen bei Prozessen, Leistungen oder Geschäftsmodellen erfolgen (vgl. Abschnitt 1.2). Sie ist auch von der Kontinuität bzw. Diskontinuität der Umfeldveränderung (Porter, 1985: 197) und damit von der Stabilität bzw. Instabilität der Marktdynamik (in Er-weiterung von Klein 1977) abhängig. Deshalb betrachtet Abschnitt 1.3.1 zunächst die Wahrnehmung langfristiger diskontinuierlicher technologischer Veränderun-gen als Instabilität der Marktdynamik, bevor in Abschnitt 1.3.2 Ansatzpunkte der Digitalisierung im Management in Abhängigkeit von der Geschäftstätigkeit und von der Stabilität und Instabilität der Marktdynamik systematisiert werden.

1.3.1 Wahrnehmung langfristiger diskontinuierlicher technologischer Veränderungen als Instabilität der Marktdynamik

Im Zeitlablauf können Märkte mit unterschiedlich wahrgenommener Marktdyna-mik bzw. Umbruchgeschwindigkeit (vgl. Abbildung 1.1a), d.h.

■ stabile Märkte mit geringen Veränderungen wie in der stabilen Zementin-dustrie,

■weitgehend stabile bzw. evolvierende Märkte mit

‒ entweder nur mäßig häufigen und mäßig starken Veränderungen wie die traditionelle Automobilindustrie (mit Verbrennungstechnologie)

‒ oder häufigen, aber trotzdem nur mäßig starken Veränderungen wie der Hyperwettbewerb in der Getränkeindustrie (mit häufigen Wettbewerber-interaktionen zwischen Pepsi und Coca-Cola; D´Aveni 1995 und Teece 2014: 328) oder

■ auch dynamische Märkte wie in der Computer- oder Pharmaindustrie mit starken, wenn auch meist nicht so häufigen Veränderungen (vgl. Teece, 2014)

über einen längeren Zeitraum auf der Metaebene, auf der Veränderungsfähigkei-ten ansetzen, stabil bleiben. Diese Märkte verändern sich kontinuierlich (stabile Marktdynamik bzw. “dynamische Stabilität“, Klein, 1977). Selbst im dynamischen Markt der Pharmaunternehmen wiederholen sich im Zeitablauf die Innovations-prozesse, durch die ein Wirkstoff entwickelt und schnell auf den Markt gebracht

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16 Ansatzpunkte der Digitalisierung im Management

wird. Unternehmen verfolgen in einem solchen Umfeld kompetenzbasierte Inno-vationsstrategien, so dass die neue Technologie oder der neue Wirkstoff für sie al-lenfalls eine etwas stärkere Veränderung (David, 1985; Ackermann, 2001) bzw. eine Diskontinuität auf der operativen Ebene bezogen auf den einzelnen Wirkstoff (vgl. Bourgeois/Eisenhardt, 1988) bedeutet. Die Entscheidungssituation ist aber weder mehrdeutig und damit allzu komplex noch unvorhersehbar (z.B. Davis u.a., 2009).

Allerdings kann es selbst in Branchen, die sich lange Zeit kontinuierlich wandeln, selten oder einmalig zu tiefgreifenden diskontinuierlichen, oft technologischen Veränderungen kommen, die eine starke Veränderung bedeuten. Beispiele sind der Übergang der kontinuierlich weitgehend stabilen traditionellen Automobilin-dustrie in die Elektromobilität oder der kontinuierlich dynamischen Pharmain-dustrie in die Genomforschung. Die tiefgreifenden Veränderungen brechen die Kontinuität auf und führen zu radikal veränderten Produkten (Elektrofahrzeuge statt Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor bzw. gentechnischer Medikamente statt traditionell weiter entwickelter Medikamente), bevor sich die Kontinuität fortsetzt. Damit kommt es zu einer Instabilität der Marktdynamik, die sich in Anlehnung an Davis u.a. (2009) kennzeichnen lässt durch

■ einerseits Mehrdeutigkeit (ambiguity, vgl. auch March/Olsen, 1976) als Man-gel an Klarheit, die es erschwert, Gelegenheiten zu interpretieren und zu un-terscheiden, und damit Komplexität (complexity) als Anzahl von eventuellen Gelegenheiten (“opportunity contingencies“ im Sinne der Entscheidungstheo-rie), die erfolgreich bearbeitet werden müssen, und

■ andererseits Unvorhersehbarkeit (unpredictability, vgl. z.B. Lawrence/Lorsch, 1967) als Fehlen von konsistenten Mustern von Gelegenheiten (Abbildung 1.1b).

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Systematisierung der Ansatzpunkte der Digitalisierung in der Geschäftstätigkeit 17

Abbildung 1.1 Unterscheidung zwischen Marktdynamik und Stabilität der Marktdynamik

Quelle: Eigene Zusammenstellung vor allem nach Basil/Cook (1974), Klein (1977) und Davis u.a. (2009)

Die Mehrdeutigkeit ist besonders hoch, wenn die diskontinuierlichen Veränderun-gen hin zu einer neuen stabilen Branchenarchitektur (Jacobides u.a., 2006) länger dauern, wie im Übergang einer Branche zu neuen Technologien in der Automobil-industrie zur Elektromobilität oder durch Digitalisierung, als Periode von „chan-ges in industry structure“ (Gersch/Goeke, 2007 oder Jacobides/MacDuffie, 2013). Dann müssen nicht alle Unternehmen Produktinnovationsstrategien anstreben, um zu überleben (Liesenkötter/Schewe, 2014). Anders als bei unvorhersehbaren kurzfristigen tiefgreifenden Umbrüchen in einem zuvor weitgehend stabilen Markt wie z.B. durch schnelle Diffusion einer neuen Technologie wie der Video-technologie im Super-8 Markt (punctuated equilibrium, z.B. Helfat/Raubitschek, 2000; Winter/Szulanski, 2001; Rothaermel/Deeds, 2004), in dem alle Konkurrenten dem Innovator Sony binnen weniger Jahre folgten oder den Markt aufgeben muss-ten, sind bei hoher Mehrdeutigkeit und Komplexität im Zuge einer langfristigen Veränderung mehrere Anpassungspfade gleichzeitig denkbar. Meist wird hier zwischen den Pfaden der Technologieführer und der Technologiefolger unter-schieden (vgl. z.B. Utterback/Albernathy 1975; Kerin u.a. 1992; Langerak, 2005 und Proff u.a., 2014).

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18 Ansatzpunkte der Digitalisierung im Management

1.3.2 Ansatzpunkte der Digitalisierung in Abhängigkeit von der (In)Stabilität der Marktdynamik

Nach Durchsicht der relevanten Literatur kann Digitalisierung in einem sich kon-tinuierlich verändernden Umfeld (mit weitgehend stabiler Marktdynamik) zu-nächst als Ermöglicher („enabler“) und Treiber von Verbesserungen und inkre-mentellen Veränderungen einzelner unternehmerischer 1. Prozesse, 2. Leistungen oder 3. Geschäftsmodelle (Hamidian/Kraijo, 2013: 12) gekennzeichnet werden (vgl. Abschnitt 1.2 und Abbildung 1.2(I)).

Digitalisierung kann aber auch zu einer Neuausrichtung der Wertschöpfungssys-teme führen und damit eine radikale Veränderung 4. im gesamten Wertschöp-fungssystem ermöglichen, wenn radikale Veränderungen der Prozesse, Leistun-gen und Geschäftsmodelle zusammenspielen. Digitalisierung wird dann als dis-kontinuierliche Veränderung im Unternehmensumfeld gesehen, die eine Instabili-tät der Marktdynamik bedeutet (Abbildung 1.2(II)). Dann verschiebt sie die Bran-chengrenzen, verändert den Wettbewerb (Porter/Heppelmann, 2014) und führt zu höherer Agilität und Geschwindigkeit unternehmerischer Geschäftstätigkeit. In der Automobilindustrie entstehen z.B. neue Geschäftsmodelle rund um das ver-netzte Fahren (McKinsey &Company, 2016; BCG, 2016), bei denen die Fahrzeug-daten kommerziell durch den Autohersteller oder Anbieter aus anderen Branchen genutzt werden. Dabei gelten neue Spielregeln: „Der Anbieter, der den Zugriff auf die Nutzerdaten hat und diese mit einer Vielzahl anderer Daten verknüpfen kann, macht das große Geschäft. Das physische Produkt ist oft nur noch Mittel zum Zweck, da nicht Gegenstände, sondern Nutzer miteinander vernetzt werden“ (Schmidt 2015, S. 4).

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Ansatzpunkte der Digitalisierung bei der Geschäftstätigkeit 19

Abbildung 1.2 Systematisierung der Ansatzpunkte der Digitalisierung im Ma-nagement in Abhängigkeit von der (In)Stabilität der Marktdy-namik

1.4 Erste empirische Untersuchung zu den Ansatzpunkten der Digitalisierung bei der Geschäftstätigkeit

1.4.1 Methodik der Untersuchung

Erste Hinweise auf die im letzten Abschnitt abgeleiteten vier Ansatzpunkte der Digitalisierung im Management sollten in zwei Fallstudienuntersuchungen ge-sucht werden, da sie nach Yin (2014) bei aktuellen Fragestellungen geeignet er-scheinen. Dabei wurden vier (Face-to-face) Expertengespräche geführt: bei einem großen Automobilhersteller (über 100.000 Mitarbeiter und über 100 Mrd. Euro Um-satz) und bei einem Automobilzulieferer, einem Geschäftsbereich eines multinati-onalen Unternehmens (über 100.000 Mitarbeiter und mehr als 20 Mrd. Euro Um-satz). Fallstudien sind bei komplexen Fragestellung einer schriftlichen oder einer

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20 Ansatzpunkte der Digitalisierung im Management

telefonischen Befragung vorzuziehen (Diekmann, 2008).

Die Ergebnisse der Experteninterviews werden zunächst in Einzelfallanalysen (within-case) dargestellt und dann (cross case) mit einander verglichen (vgl. Eisen-hardt, 1989: 532f.), um Ansatzpunkte der Digitalisierung im Management zu fin-den. In Anlehnung an Yin (2014: 60) werden zunächst die Fallstudien ausgewählt und der Interviewleitfaden entworfen, dann die Fallstudien durchgeführt, zusam-mengefasst und einzeln ausgewertet, schließlich verglichen. Dann werden im die wichtigsten Ergebnisse mit der Systematik in Abschnitt 1.3 verglichen, bevor eine Ableitung von Handlungsempfehlungen die Untersuchung abschließt.

Die Gespräche folgten einem teilstandardisierter Fragebogen mit neun Themenfel-dern: Einführung, Daten zu den Interviewpartnern, Digitalisierung allgemein, An-satzpunkte der Digitalisierung in Geschäftsmodellen, Prozessen und Leistungen, Digitalisierung als diskontinuierliche Veränderung, Umgang mit der Digitalisie-rung im Unternehmen, Anmerkungen des Interviewpartners und offene Fragen.

Zur Auswertung wurden die Experteninterviews im MP3-Format mithilfe eines Aufnahmegeräts mitgeschnitten. Um Validität und Reliabilität zu gewährleisten, wurden alle Experteninterviews standardisiert und mithilfe der einfachen Tran-skriptionsmethode (in Anlehnung an Dresing/Pehl, 2011: 15-19) aufgeschrieben (vgl. Yin, 2014: 45ff.). Wichtig war Einfachheit, nicht eine vollumfassende Informa-tionsübergabe oder Darstellung para- und nonverbaler Ereignisse. Ferner wurden aktuelle Geschäftsberichte sowie Internetauftritte der untersuchten Unternehmen zusätzlich zu dem gewonnenen Interviewmaterial hinzugezogen, um mit Hilfe ei-ner Triangulation aus verschiedenen Blickwinkeln ein Gesamtbild zu schaffen und damit eine umfassendere Auswertung zu ermöglichen und bessere Ergebnisse ge-nerieren zu können (Blaikie, 1991).

1.4.2 Ergebnisse der Untersuchung

Beide Unternehmen richten sich in den nächsten fünf Jahren strategisch auf die gleichen fünf Kernthemen der Automobilindustrie, zu denen neben Konnektivität, autonomem Fahren, Mobilitätsdienstleistungen und der Elektrifizierung des An-triebsstrangs auch die Veränderungen durch den digitalen Wandel zählen. Da sie Digitalisierung nicht als kontinuierliche Veränderung verstehen, gehen beide Un-ternehmen fest von inkrementellen, aber auch radikalen Veränderungen ihrer Ge-schäftsmodelle, Prozesse und Leistungen durch digitale Technologien aus und richten ihre Strukturen auf die neuen Herausforderungen aus (Abbildung 1.3).

Page 30: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Ansatzpunkte der Digitalisierung bei der Geschäftstätigkeit 21

Abbildung 1.3 Ansatzpunkte der Digitalisierung im Management ausgewähl-ter Unternehmen

Ansatzpunkte der Digitalisierung zur Verbesserung und inkrementellen Verän-derung der Prozesse

Beide Unternehmen verfügen über große, weltweit verteilte Produktionsnetz-werke und sind traditionell effizienzgetrieben. Sie bemühen sich deshalb, die Di-gitalisierung zu nutzen, um ihre Prozesse entlang der gesamten Wertschöpfungs-kette zu optimieren, z.B. durch Einbeziehung von Lieferanten und Kunden in die Entwicklung, auch Prozesse zu vernetzen sowie Echtzeitdaten über Kunden zu ge-winnen und zu nutzen. Dabei werden das Internet der Dinge und Big Data Tech-nologien eingesetzt. Diese Verbesserungen und inkrementellen Veränderungen der Prozesse steigern nicht nur die Effizienz, sondern erhöhen gleichzeitig auch die Flexibilisierung, weshalb durch Digitalisierung der Zielkonflikt zwischen Effi-zienz- und Flexibilität (vgl. z.B. Proff, 2002) abgeschwächt werden kann. Insgesamt soll die Digitalisierung helfen, intelligentere Entscheidungen auf der Prozessebene zu treffen.

Ansatzpunkte der Digitalisierung zur Verbesserung und inkrementellen Verän-derung von Leistungen

Page 31: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

22 Ansatzpunkte der Digitalisierung im Management

In beiden Unternehmen ermöglicht Digitalisierung neue inkrementell innovative Leistungen. Der Automobilzulieferer kann dadurch Kompetenzen aus verschiede-nen Abteilungen einfacher zusammenführen, um strategische Innovation zu ent-wickeln. Durch verstärkte Integra-tion von Software- und Hardwarekomponenten verstärken sie die Modularisierung ihrer Produktangebote, da sich durch verän-derte Softwareeinstellungen rasch und kostengünstig neue Produktvarianten ent-wickeln lassen. Zudem kooperieren beide Unternehmen mit digitalen Partnern, um die Leistungen inkrementell zu verbessern. Der Automobilhersteller führt in Kooperation mit einem anderen Unternehmen „Design Thinking“ ein, das sich an den Bedürfnissen der Kunden orientiert. Damit sollen zielgerichtete Lösungen konzipiert werden (vgl. auch Schallmö, 2017). So versuchen die Unternehmen Kre-ativität und Zusammenarbeit zu verbessern, um auf den Kundennutzen abge-stimmt inkrementelle Leistungsinnovationen zu entwickeln. Beide Unternehmen nutzen die Digitalisierung, um durch Verbindung von Hard- und Software die in-dividuelle Kundenansprache zu verbessern.

Ansatzpunkte der Digitalisierung zur Geschäftsmodellverbesserung und -trans-formation

Beide Unternehmen bemühen sich, die Digitalisierung für neue digitale Nutzen-versprechen zu nutzen und erproben Pilotprojekte für datengetriebene Geschäfts-modellverbesserungen und -veränderungen, wie z.B. einfache Mobilitätslösungen. Ein Unternehmen ist bereits eine Kooperation zur Festlegung neuer Standards ein-gegangen, um Gesamtpakete mit vielfältigen Möglichkeiten für den Kunden und einer gezielten Markenbindung zu realisieren. Die Ausgestaltung einer Geschäfts-modelltransformation durch den digitalen Wandel bietet dabei mehr Möglichkei-ten zur Umsetzung für den Automobilhersteller als für den Zulieferer.

Ansatzpunkte der Digitalisierung bei neuen, digitalen Wertschöpfungssyste-men

Beide Unternehmen sehen auch diskontinuierliche Veränderungen und die Mög-lichkeit, durch Digitalisierung neue, radikal veränderte Prozesse, Leistungen und radikale Geschäftsmodellinnovationen zu schaffen, die zu neuen, digitalen Wert-schöpfungssystemen verbunden werden. Sie geben an, dadurch Agilität zu schaf-fen. Ein Unternehmen hat ein digitales Transformationskomitee zum Umgang mit der Digitalisierung gegündet; im anderen Unternehmen wurde ein „Chief Digital Officer“ (CDO) bestellt. Beide haben „Digital Units“ geschaffen. Zudem verfolgen sie Partnerschaftsstrategien („Partnering“) und bemühen sich um die Akzeptanz der Kunden für die neue digitale Ausrichtung.

Die befragten Unternehmen betonen, dass sie angesichts der diskontinuierlichen

Page 32: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Ausblick 23

Veränderungen durch die Digitalisierung eine „kollektive Sinngebung“ durchlau-fen haben und die Digitalisierung sowie radikale Veränderungen sehen und als Herausforderung zulassen. Sie bemühen sich nun darum, strategische Möglichkei-ten und Veränderung von Teilstrukturen zu erreichen und Teile der Organisation in Richtung einer digitalen „Schwarm-Organisation“ zu bewegen. Die Implemen-tierung der Veränderungen zur Schaffung eines digitalen Wertschöpfungsnetz-werks steht aber noch aus. Bislang sehen sie sich eher noch in einer ersten Ver-suchsphase der Digitalisierung, die vielfältig Einzug ins Management hält und deshalb bald in eine zweite integrierte Phase übergehen soll. Fraglich ist, ob Digi-talisierung eine Verbesserung des Kerngeschäfts bringen wird oder nur Randbe-reiche rund um das Kerngeschäft betrifft. Diese Äußerungen unterschätzen aller-dings die Auswirkungen der Digitalisierung.

1.5 Ausblick

Die Befragung zeigt, dass beide Unternehmen bei ihrem Umgang mit der Digitali-sierung die Diskussion von Veränderungsfähigkeiten („dynamic capabilities“) aufgegriffen haben. Gemäß dem „Dynamic Capability View“ (z.B. Easterby-Smith/Prieto, 2008; Arend/Bromiley, 2009: 73) bzw. dem „Dynamic Capability Framework“ (Peteraf u.a., 2013; Teece, 2014) muss der Entwicklung operationaler Kompetenzen bzw. veredelter Ressourcen im Zeitablauf durch Veränderungsfä-higkeiten (Dynamic Capabilities) gestützt werden, die auf Lernen beruhen (Teece u.a., 1997; Zollo/Winter, 2002, Ambrosini u.a., 2009):

■ das „sensing (and shaping) of opportunities“ (Teece, 2007), d.h. Fähigkeiten, bei Wahrnehmung von Umfeldveränderungen nach einer „kollektiven Sinn-gebung“ zu suchen (vgl. auch Meier/Slembeck, 1994: 39). Es sind meist Top-Manager bzw. kreative Unternehmer, die neu aufkommende Probleme - hier Umfeldveränderungen durch die Digitalisierung - „zulassen“, so dass strate-gische Entscheidungen getroffen werden können (vgl. Proff, H.V., 2004: 54-56).

■ das „seizing of opportunities“, d.h. Fähigkeiten, diese strategischen Möglich-keiten zu ergreifen, wofür nach Tecce (2007: 1334) Entscheidungsstrukturen und -prozesse sowie Anreize zu schaffen sind. Kundenlösungen und Ge-schäftsmodelle sollen genauer skizziert, Ordnungen zur Entscheidungsfin-dung ausgewählt, Unternehmensgrenzen bestimmt und mögliche Plattformen definiert sowie Loyalität und Commitment aufgebaut werden. Dabei gilt es auch die Vermögenswerte zu erkennen, die vor diesem Hintergrund im Un-ternehmen keinen Mehrwert schaffen und dort abgestoßen werden müssen.

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24 Ansatzpunkte der Digitalisierung im Management

■ das „reconfiguring“, d.h. die Fähigkeit, Wettbewerbsfähigkeit am Markt zu erhalten, indem materielle und immaterielle operative Kompetenzen erwei-tert, kombiniert, geschützt, und - wenn nötig - rekonfiguriert werden, um neue innovative Formen von Wettbewerbsvorteilen zu erzielen (Tecce, 2007). Dies erfordert eine ständige Anpassung und Neuausrichtung der Ressourcen-basis, Dezentralisierung und Zerlegbarkeit (Schnittstellen), eine gute Steue-rung (governance) und ein Wissensmanagement.

Nach Collis (1994), Zollo/Winter (2002), Ambrosini u.a. (2009) oder Esterby-Smith u.a. (2009) sind bei sehr starken diskontinuierlichen Störungen im Umfeld, an die die operationalen Kompetenzen nicht mehr einfach nur angepasst werden können, weitreichende Dynamic Capabilities erforderlich, die es erlauben, die vorhande-nen Veränderungsfähigkeiten ihrerseits zu verändern („learning to learn“, Collis 1994: 143). Sie werden auch als „higher order dynamic capabilities“ (ebd.) oder „second order dynamic capabilities (Zollo/Winter, 2002: 340) bezeichnet und sind bei Instabilität der Marktdynamik (Klein, 1977 und Abschnitt 1.3.1) bedeutsam. Die befragten Unternehmen bestätigen, dass sie angesichts der diskontinuierlichen Veränderungen durch die Digitalisierung „second order dynamic capabilities“ mobilisieren: sie haben nicht nur mit einem „sensing“ eine Sinngebung erreicht und die Digitalisierung als Herausforderung zugelassen, sondern bemühen sich nun um ein „second order seizing“, d.h. darum strategische Möglichkeiten und Veränderung von Teilstrukturen zu erreichen Die Implementierung („second or-der reconfigurierung“) der operationalen Kompetenzen zur Schaffung eines digi-talen Wertschöpfungsnetzwerks steht aber noch aus.

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Wir danken David Napetschnig, M.Sc. für die Vorarbeiten zu diesem Beitrag.

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Ausblick 25

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Page 39: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

2 Herausforderungen auf dem Weg zur Digitalisierten Supply Chain in der Automobil- und Zulieferindstrie

Dr. J. Sandau (Deloitte Consulting GmbH)

2 Herausforderungen auf dem Weg zur Digitalisierten Supply Chain in der Automobil- und Zulieferindstrie ......................................................... 31

2.1 Einleitung ....................................................................................................... 322.2 Die vierte industrielle Revolution ............................................................... 322.3 Das Verhältnis von Mensch und Maschine ............................................... 362.4 Eigenschaften einer digitalen Fabrik .......................................................... 382.5 Veränderte Anforderungen an die Mitarbeiter ........................................ 432.6 Die Digital Factory von Deloitte in Düsseldorf ........................................ 48

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_3

Page 40: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

32 Auf dem Weg zur Digitalisierten Supply Chain

2.1 Einleitung

Was bedeutet die (zunehmend auch kostentechnische) Verfügbarkeit neuer Tech-nologien (wie z.B. 3D-Druck, Smart Robotics und Advanced Analytics) rund um die Digitalisierung der Wertschöpfungskette für die Automobilindustrie? Die steht – gerade in einem Hochlohnland wie Deutschland – traditionell unter einen erheb-lichen Kosten- und Innovationsdruck. So hat die Automobilbranche gezwungener-maßen bereits in der Vergangenheit schon oftmals eine Vorreiterrolle übernehmen müssen, wenn es um die Erhöhung ihrer Wettbewerbsfähigkeit geht. Das wohl be-kannteste Beispiel ist Taiichi Ohno, der mit dem Toyota Produktionssystem vor mehr 60 Jahren als Pionier entscheidende Wettbewerbsvorteile geschaffen und letztendlich eine ganze Industrie revolutioniert hat. Aber ist „Industrie 4.0“ eine logische Fortsetzung von „Lean“ – und damit ein ebensolcher „no regret move“?

Die Entscheidungsträger stehen diesbezüglich vor gleich mehreren Herausforde-rungen: Zum einen sollen sie in neue Technologien investieren, deren Nutzen z.T. erst noch bewiesen werden muss, und sich dabei auch noch im „technologischen Dschungel der Möglichkeiten“ zurechtfinden. Zum anderen ist das Thema derart cross-funktional und interdisziplinär, dass die Koordination der notwendigen Maßnahmen oftmals die Entscheidungskompetenzen der bestehenden (nicht digi-talen) Organisation übersteigt – oder aber allenfalls „lokale“ Insellösungen erreicht werden. Und dann ist da noch die dritte Hürde – die oft fehlende digitalen Fähig-keiten und Mindset der Mitarbeiter.

2.2 Die vierte industrielle Revolution

Im Kern der sogenannten 4. industriellen (oder auch digitalen) Revolution steht die Digitalisierung der Supply Chain. Nachdem in den ersten drei industriellen Revolutionen vor allem Maschinen, Elektrizität und Automatisierung die Muskel-kraft ersetzt haben, steht im Zentrum der 4. Industriellen Revolution, die aktuell stattfindet, eine Erweiterung des menschlichen Gehirns durch ein Netzwerk cyber-physischer Systeme (s. Abb. 1)

Page 41: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Die vierte industrielle Revolution 33

Abbildung 2.1 Die vierte industrielle Revolution hat begonnen

Als ein cyber-physikalisches System wird eine Technologie (oder ein Netzwerk verschiedener Technologien) bezeichnet, bei der Informationen zwischen physi-scher und digitaler Welt ausgetauscht bzw. verarbeitet werden. Mit Hilfe geeigne-ter Sensorik-Technologie werden aus der physischen Welt (z.B. Betriebs- oder Ver-schleißdaten einer Drehmaschine aus der Produktion) Daten generiert und in der digitalen Welt (z.B. durch geeignete Rechentechnologie) in geeigneter Weise ver-arbeitet (z.B. basierend auf einem Algorithmus, der aus historischen Daten Aus-fallwahrscheinlichkeiten errechnet). Diese werden dann „verarbeitet“ an die phy-sische Welt zurückgespielt, woraus Aktionen entstehen können (z.B. präventive Wartung der Maschine oder automatische Abschaltung). Kennzeichnend für ein solches System ist in jedem Fall ein solcher Kreislauf des Datenaustausches zwi-schen digitaler und physischer Welt, der von entsprechenden „Enabler“-Techno-logien ermöglicht wird (s. Abb. 2).

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1st

Ind

ust

ria

l Revo

lutio

n Power GenerationSteam engines and hydraulic power

=

Productivity and industrialization

Late 18th century

4th

Ind

ust

ria

l Revo

lutio

n Digital Supply NetworksVast network of cyber-physical systems

=

Connected products, customers and supply chains

Today

Electronic AutomationComputers and Internet Connectivity

=

Access to information and enhanced decision-making capability

1970s to 2000s

3rd

Ind

ust

ria

l Revo

lutio

n

Early 20th century

IndustrializationElectricity and assembly lines

=

Mass manufacturing and improved infrastructure

2n

dIn

dust

ria

l Revo

lutio

n

Leaders are combining information technology and operations technology to create value in new and different ways – from “machines replacing muscle” to “machines replacing and augmenting human minds”

Optimize Traditional Objectives…Cost Innovation Service

Quality Safety Flexibility

…By Better ManagingVisibility VariabilityVolume Velocity

…and New Objectives…Revenue

Page 42: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

34 Auf dem Weg zur Digitalisierten Supply Chain

Abbildung 2.2 Technologien ermöglichen einen cyber-physischen Datenaus-tausch

Der Aufbau einer digital vernetzten Supply Chain – oder besser gesagt eines digi-talen Supply-Netzwerks(!) mit Hilfe solcher cyber-physikalischen Systeme aber er-fordert Integration über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg. Dies beginnt bei der Konzeption eines („digital-ready“) Produkts mit der entsprechenden Sen-sorik und remote Update-Fähigkeit, über vernetzte Planung und Steuerung der Supply Chain, einen (hochautomatisierten und qualitätsgesicherten) Einkaufspro-zess sowie Logistik und Produktion, die mit Zulieferern, Vertrieb und Endkunden verknüpft sind - und flexibel auf Planungsänderungen reagieren und kommuni-zieren können. Der Aftersales schließlich kann durch neue digitale Geschäftmo-delle (z.B. „virtual Cockpits“ als kostenpflichtige download) neue Revenue-Streams realisieren und liefert gleichzeit wertvolle Informationen über Nutzungs- und Verschleißdaten, die wiederum Ausgangsbasis für Anpassungen in anderen Funktionsbereichen (z.B. Entwicklung und Produktion) sind.

Hierfür müssen wie beschrieben jedoch zahlreiche physische Prozesse mit der di-gitalen Welt „verschmelzen“, d.h. Informationen über z.B. Zustand oder Ort von Produktkomponenten oder von Maschinen und Werkzeugen werden automati-siert in Echtzeit aufgenommen und digitalisiert, danach so analysiert und „smart“ verknüpft, dass sie anschließend in die physischen Prozesse zurückgespielt und wertschöpfend genutzt werden können. So ist es möglich, im Rahmen eines pre-

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Additive Mfg& Advanced Materials

Robotics & Autonomous Vehicles

Augmented / Virtual Reality

Robotic & Cognitive

Automation

Digital Scanning

ERP, PLM, & Structured Systems

Cellular, Satellite, &

Wi-Fi Comms

Signal Ingestion &

Cloud

Edge Computing

OT Security IT Security

Machine Controls & APIs

Visualization, UX, & Mobile

Sensors & Wearable Technology

Data Science & Algorithms

Machine Learning

Deep Learning & AI

Natural Language Processing

Video & Spatial Analytics

Blockchain & Cryptography

Physical Digital

The flows of information and movement between the digital and physical worlds are made possible by employing several integrated DSN technologies or capabilities

Page 43: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Die vierte industrielle Revolution 35

dictive Maintenance und Quality Konzepts nicht nur Ausfälle punktgenau vorher-zusagen und entsprechend die Wartungszeiten bedarfsgerecht zu planen, sondern auch mögliche Produkt-Rückrufe zu prognostizieren und notwendige Korrektu-ren im Rahmen von AfterSales-Aktivitäten proaktiv vorzunehmen.

Der Aufbau eines solchen Netzwerks an Cyber-physischen Systemen erfordert ne-ben den entsprechenden Technologien und der IT auch ein hohes Maß an techno-logischem Wissen, Erfahrung und kulturellen Voraussetzungen bei der Konzep-tion, Implementierung und Verwendung in der Unternehmensorganisation. Doch inwiefern sind die Unternehmen heutzutage vorbereitet für diese Herausforderun-gen des Zeitalters der digitalen Revolution?

MIT Sloan School of Management hat mit der Unterstützung von Deloitte dazu 3700 Führungskräfte aus unterschiedlichen Unternehmen, Funktionen und Hierar-chiestufen befragt (s. Abb. 3)

Abbildung 2.3 MIT und Deloitte befragen 3700 Führungskräfte und Manager zur digitalen Zukunft

Dabei zeigte sich, dass zwar 87% der Befragten glaubt, dass die digitalen Techno-logien ihre Industrie nachhaltig verändern wird, gleichzeitig aber nur 44% sich adäquat hierfür vorbereitet sehen.

In der Befragung wurden u.a. um eine Einschätzung des digitalen Reifegrades des eigenen Unternehmens (im Vergleich zu einem „digitalen Benchmark-Unterneh-men“) erfragt und hieraus drei Cluster gebildet: Unternehmen, die sich in einer „frühen“ Phase (32%), einer „sich entwickelnden“ Phase (42%) und einer „reifen-den“ Phase (26%) auf dem Weg zum digitalen Zeitalter befinden. (s. Abb. 4)

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Page 44: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

36 Auf dem Weg zur Digitalisierten Supply Chain

Abbildung 2.4 Nur ein geringer Teil der Unternehmen fühlt sich ausreichend vorbereitet für die disruptive Wirkung der Digitalisierung

2.3 Das Verhältnis von Mensch und Maschine

Grundsätzlich lässt sich sagen, dass sich durch die Digitalisierung das Verhältnis von Mensch und Maschine wandeln wird. Die Rolle, Fähigkeit und Funktion der menschlichen Arbeit wird z.T. ersetzt werden durch Roboter-Anwendungen, Au-tomatisierung und künstlicher Intelligenz, z.T. erweitert werden z.B. durch An-wendungen der virtual reality. Neue Rollen werden geschaffen bzw. notwendig durch die Möglichkeiten der digitalen Technologien und deren Vernetzung (z.B. Data Analytics oder Cyber Security Funktionen), und schließlich werden sich Rol-len auch wandeln und agiler werden wie z.B. durch Crowdsourcing oder Möglich-keiten der flexibleren Arbeitsprozessgestaltung (s. Abb. 5).

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What is your own company’s digital maturity against “Digital Benchmark”?

Page 45: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Das Verhältnis von Mensch und Maschine 37

Abbildung 2.5 Digitalisierung verändert das Rollenbild zwischen Mensch und Maschine

Natürlich soll Digitalisierung niemals Selbstzweck sein, sondern sich an konkret messbarem Nutzen im Sinne der Unternehmensziele messen lassen. Ein digitali-siertes Supply-Netzwerk bietet nicht nur die Voraussetzung zur Realisierung sig-nifikanter Potenziale hinsichtlich Zeit, Kosten und Qualität, sondern vor allem ganz neue Möglichkeiten hinsichtlich Transparenz und Flexibilität, um eine immer komplexere Supply Chain beherrschbar zu halten und zielgerichter auch bei unge-planten Ereignissen zu steuern.

Das Ziel eines digital vernetzten Supply Networks -mit einer „Smart digital fac-tory“ im Mittelpunkt- sind meist hochautomatisierte und dennoch flexible, sich weitgehend selbst steuernde Prozesse – ausgerichtet auf eine komplexe und indi-vidualisierte Massenproduktion. So wundert es nicht, dass die Automobilindustrie auch hier in der Tat bereits vielfach als Pionier fungiert und zahlreiche Projekte angestoßen hat mit z.T. erheblich positivem Einfluss auf wichtige Werttreiber in der Supply Chain, wie z.B. der Produktion im Rahmen eines Smart-Factory-Kon-zepts (s. Abb. 6)

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• Robotics

• Process automation

• Artificial intelligence

• Real-time optimized decisions

• Virtual reality

Cyber security managers

User experience designers

• Crowdsourcing

• Flexible work arrangements

• “Uber for workers”

Replaced Augmented

Roles will be…

Created Made Agile

Cloud computing engineers

Data scientists

Software engineers

Page 46: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

38 Auf dem Weg zur Digitalisierten Supply Chain

Abbildung 2.6 Typische Werttreiber und Verbesserungspotenzial in den ver-schiedenen Nutzendimensionen einer Fabrik durch Digitalisie-rung

2.4 Eigenschaften einer digitalen Fabrik

Eine solche digitale Fabrik kann durch fünf Eigenschaften charakterisiert werden: Sie ist „connected“, transparent, optimiert, proaktiv und agil.

Dies wird ermöglicht durch einen intelligenten Einsatz und Verknüpfung verschie-dener cyber-physischer Systeme im Rahmen von konkreten Anwendungsbeispie-len („use cases“) und deren zugrunde liegender „Enabler“-Technologien (s. Abb. 7)

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Bene

fits

Manufacturing Value Drivers

ReducedCosts

• Labor cost

• Sourcing cost

• Inventory levels

• Maintenance cost

• Warranty cost

ImprovedQuality

• Scrap rates

• Fill rate

• Yield

• Lead times

Improved Safety & Sustainability

• Safety incidents

• Employee satisfaction, health, and wellness

• Sustainable practices

• Environmental Impact

Improved Asset Efficiency

• Optimized capacity

• Asset utilization

• Changeover time

• Downtime

10% – 20%* 10% – 35%* 20% – 30%* 3% – 10%*

*Benefit ranges based on case studies

Overall Equipment Effectiveness (OEE)

Page 47: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Eigenschaften einer digitalen Fabrik 39

Abbildung 2.7 Eine „smarte“ Fabrik ist „connected“, transparent, optimiert, proaktiv und agil.

Um den Einsatz neuer Anwendungen und Technologien wie „Smart Devices“ (Smart Watches, Glasses, etc.), Mensch-Maschine-Kollaboration, Predictive Main-tenance oder auch Augmented & Virtual Reality vor dem eigentlichen Praxisein-satz zu erproben, haben zahlreiche Automotive OEMs sogenannte „Smart Labs“ etabliert, welche den Entwicklern den nötigen Freiraum für Innovationen geben und dadurch die Gestaltung wertschöpfender Konzepte ermöglichen und fördern (z.B. Daimler‘s „Tec Fabrik“, VW‘s/Audi‘s „Smart Production Lab“, BMW‘s „Enterprise Lab for flexible Logistics“ oder auch die „Arena 2036“ als Kooperati-onsmodell mehrerer Automotive OEMs und Zulieferer mit Forschungseinrichtun-gen wie das Fraunhofer-Institut.) (s. Abb. 8)

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Optimized• Reliable, predictable production capacity• Increased asset uptime and production

efficiency• Highly automated production and material

handling with minimal human interaction• Minimized cost of quality and production

Proactive• Predictive anomaly identification

and resolution• Automated restocking and

replenishment• Early identification of supplier

quality issues• Real-time safety monitoring

Transparent• Live metrics and tools to support quick and

consistent decision-making• Real-time linkages to customer demand

forecasts• Transparent customer order tracking

Agile• Flexible and adaptable scheduling and

changeovers• Implementation of product changes and see

impact in real-time• Configurable factory layouts and equipment

Connected• Continuously pull traditional datasets

along with new sensor and location-based datasets

• Real-time data enabling collaboration with suppliers and customers

• Collaboration across departments (e.g. feedback from production to product development)

Page 48: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

40 Auf dem Weg zur Digitalisierten Supply Chain

Abbildung 2.8 Beispiele für „Smart Labs“ in der Automobilindustrie

Zahlreiche Technologien und Anwendungen sind bereits erfolgreich im Einsatz und erzielen beachtenswerte Vorteile in einzelnen Bereichen. Beispielsweise kön-nen zur verbesserten Planung mittels eines digitalen 3D-Produktionsabbilds die Auswirkungen von Prozessanpassungen im Voraus simuliert und die Bauteilmon-tage bereits in der Entwicklung mit Hilfe eines virtuellen Avatars erprobt werden, um dadurch die Fehlerquote im Ramp-Up Prozess zu verringern und ergonomi-schere Montageprozesse zu ermöglichen. Zur Qualitätsverbesserung werden Mit-arbeiter mittels einer Smart Watch vor speziellen Montageanforderungen gewarnt, und smarte Maschine-Mensch Kooperationsmodelle ermöglichen eine Effizienz- und Flexibilitätssteigerung um mehr als 30%. Das wohl revolutionärste Modell und damit „die Abschaffung des taktgebundenen und fehleranfälligen Fließband-konzepts plant derzeit Audi als Prototyp eines modularen Fertigungskonzepts, in der sich die Produkte autonom von einer Fertigungsinsel zur nächsten bewegen. Die Funktionsfähigkeit muss sich jedoch erst beweisen. Eine nahezu vollständige digitale Vernetzung ist jedoch Grundvoraussetzung hierfür.

Die neueste Deloitte-Studie zum Thema Industrie 4.0 („Manufactuting 4.0: Meilen-stein, Must-Have oder Millionengrab?“) zeigt jedoch, dass die meisten Anwendun-gen in der Automobilindustrie auf den Einsatz von Einzeltechnologien fokussieren und lediglich auf funktional-fokussierte Wertschöpfung abzielen, z.B. in der Pro-duktion. Um die anspruchsvollen Potentiale eines digital vernetzten Supply Chain jedoch vollständig zu erreichen, muss in einer digitalisierten Supply Chain jedoch noch viel radikaler bereichsübergreifend gedacht und agiert werden, wobei die „Smart Factory“ nur ein (wenngleich auch wesentlicher) Teil des digitalen Supply

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Company Lab Name Focus Area

• Human-Computer-Interaction, Mobile Wearable Computing and Software

Smart.Production:Lab

• Automated quality control, Car as a tool, Human-Machine-Interaction, Big Data & IoT

Audi Production Lab

• Augmented Reality, Digitalization, Human-Machine-Interaction, Smart Factory

Daimler Tec Fabrik

• Flexibilization of information and material flows

Enterprise Lab for flexible Logistics

• Production of the future, Digital prototypes, Lightweight materials and constructions

Arena 2036

Page 49: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Eigenschaften einer digitalen Fabrik 41

Netzwerks ist und als solches entsprechend eingebunden ist. (s. Abb. 9)

Abbildung 2.9 die „Smart Factory“ als Teil des Digital Supply Network

Das heißt, es müssen…

■…innovative Technologien zu ganzheitlichen Anwendungen kombiniert wer-den, anstatt singulär Einzeltechnologien einzusetzen („eine Cloud alleine bringt keinen Mehrwert“) (s. Abb. 10)

■…Geschäftsbereiche (ggf. auch Marken) und Funktionen integriert betrachtet werden, vom Zulieferer über die Entwicklung via Produktion & Logistik bis zum Vertrieb & Aftersales, um Silodenken zu reduzieren und die richtigen Daten, auch richtig (d.h. gemeinsam) nutzen zu können (und den Wertschöp-fungseffekt damit zu verstärken)

■…die notwendigen Kompetenzen und Entscheidungsstrukturen (Gover-nance) geschaffen werden, um eine bereichs- und funktionsübergreifend ge-samtoptimale Lösung zu entwickeln und auch umzusetzen

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Traditional Supply Chain Digital Supply Networks (DSN)g pp y

Develop Plan Source Make Deliver Support

Page 50: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

42 Auf dem Weg zur Digitalisierten Supply Chain

Abbildung 2.10 Nur die Integration verschiedener (technologiebasierter) „Use Cases“ in ein ganzeheitliches Konzept bringt den höchsten Mehrwert.

Eine solche vollständig funktionsübergreifend vernetzte Supply Chain, die das ge-samte Potenzial der Digitalisierung ausschöpft, findet man bislang noch kaum in den Unternehmen. Dies mag vor allem daran liegen, dass vielen Unternehmen die Möglichkeit fehlt, solche cross-funktionalen Systeme zu testen und zu bewerten und diese mit einem nicht unerheblichen Bedarf an Invest, IT-Knowhow und Trai-ningsanforderungen einhergeht.

Wesentliche Hindernisse auf dem Weg zum digitalisierten Supply Netzwerk sind neben strategischer und konzeptioneller Defizite auch technologisches Aspekte. Dies umfasst z.B. IT-Sicherheitsaspekte sowie die Systemkomplexität und –kom-patibilität. also das Kommunizieren der verschiedenen digitalen Technologien. Hier sei beispielhaft und Einbindung aller cyber-physischen Systeme und Techn-logien in ein MES (Manufacturing Execution Systenm) sowie dessen Integration an das ERP-System genannt – je nach gegebenen Rahmenbedingungen eine hochkom-plexe Aufgabe.

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Only INTEGRATED CONCEPTS with combined use cases create real exponential value in a digital factory

“Single Technology”

Digital Factory“Use case”

#2 DigitalOption

#3 Digital Option

#1 DigitalOption

Smart watch enabled QM enhancement

#4 Wearables

RFID based position collection

Data transmission into cloud

Enrich data with other sources

Identify car-quality failures

Smart watch as augmentation

Worker gets alerts for action

10101100

Smart watch quality enhancement

3D-print car part customization

Performance Layers

Business Processes

Enablers

Digital Option

Example: Smart watches as Human Augmentation for the shop floor

• Performance Layer: Operational Processes

• Enabler: Smart devices (smart watches)

• Business Process: Manufacturing

Combination Integrated Concept10101101010110

Digital to

Digital

• Visualization of 3D printing processes

• Manual step by step instruction

• Reduced of mishandling through alerts

• JIT Production of 3D parts along RFID based

location data

• Adaptions along production schedule

Value added throughcombination

Low Impact High Impact

Page 51: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Veränderte Anforderungen an die Mitarbeiter 43

2.5 Veränderte Anforderungen an die Mitarbeiter

Last but not least braucht es für eine solche ganzheitliche „digitale Transforma-tion“ neue Fähigkeiten bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern innerhalb der Supply Chain aber auch im Management. Dies umfasst z.B. ein interdisziplinäres Team mit strategisch-operativem Verständnis des gesamten Supply Netzwerks, dem nötigen technologischen Know-How sowie last but not least der notwendigen „People Change“ Kompetenz. (s. Abb. 11)

Abbildung 2.11 Zahlreiche Herausforderungen auf dem Weg zum digitalen Supply Netzwerk

Gerade der letzte Aspekt, also Anforderungen an eine gewandelte Organisation, wird in der Befragung der 3700 Führungskräfte im Rahmen der Global Executive Survey mehr als deutlich: 70% der Befragten konstatieren, dass die aktuelle Orga-nisation und „Talent Base“ nicht ausreichen, um den Herausforderungen des digi-talen Wandels Rechnung zu tragen (s. Abb .12)

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STRATEGY AND SOLUTION DESIGN PITFALLS

• Technology driven innovation instead of issue driven solution

• Solution experimentation instead of evolution

• Traditional instead of agile development for digital solutions

• Unclearly defined business benefits

TECHNOLOGY AND IT PITFALLS

• IT/OT security

• Over-engineered complexity

• Technology design without process redesign

• Pace of change tied to monolithic ERP system innovation cadence

• Aging and disparate plant technologies

PEOPLE AND CHANGE MANAGEMENT PITFALLS

• Growing digital talent gap

• Cultural conflict between “traditional” and “digital” mindset

• Unclear Digital ownership and leadership (IT vs. Operations)

Companies must embrace digital congruence — strategy, structure, tasks, culture, and people aligned with each other to succeed in this rapidly changing digital landscape.

Page 52: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

44 Auf dem Weg zur Digitalisierten Supply Chain

Abbildung 2.12 Die Führungskräfte sind sich der Notwendigkeit einer Anpas-sung der „Talent Base“ und Organisation vor dem Hintergrund der Digitalisierung bewusst

Als eine entscheidende Frage stellt sich also den Unternehmen, wie es gelingen kann geeignete (oder gar die „besten“) „Digital Talent“ für sich zu gewinnen. Die Studie zeigt, dass jedoch die Attraktivität der Unternehmen für potenzielle Kandi-daten stark mit der jeweiligen Kultur und Fortschritt des Unternehmens auf dem Weg der Digitalisierung abhängt. Das bedeutet, dass gerade diejenigen Unterneh-men die größten Probleme haben, geeignete Talente zu finden, die am dringends-ten entsprechende Talente benötigen, weil sie noch keine entsprechende „digital culture“ haben, während als „digital fortgeschrittene“ wahrgenommene Unter-nehmen weniger Probleme damit haben, weil sie attraktiver sind. Zudem sind „Di-gital Talents“ sehr viel wechselbereiter als andere Mitarbeiter, sofern Ihnen nicht entsprechende Entwicklungsmöglichkeiten geboten werden. (s. Abb. 13)

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To what extent do you agree with the following statement: My organization needs significantly new or different talent base to compete effectively in the digital economy

…and know the drivers:

! TALENT attraction! CULTURAL change! LEADERSHIP model

Page 53: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Veränderte Anforderungen an die Mitarbeiter 45

Abbildung 2.13 „Digitale Talente“ haben hohe Ansprüche an ihren Arbeitge-ber in Bezug auf Entwicklungsmöglichkeiten

Was nun zeichnet nun eine „digital culture“ aus, die aus sich der „digital Talents“ besonders attraktiv erscheint? Hier scheinen fünf Aspekte von besonderer Bedeu-tung zu sein:

1. Unternehmerisches Risikoverständnis

4. Führungsverhalten und –organisation

5. Kollaborative Arbeitsbedingungen

6. Ausreichende Agilität

7. Daten- und Faktengetriebene Entscheidungsstruktur

Alle diese Dimensionen unterscheiden „early stage“ Unternehmen von den „ma-turing“.

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“People who aren’t getting digital opportunities are leaving quickly”Automotive Global Executive (Head of HR)

Page 54: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

46 Auf dem Weg zur Digitalisierten Supply Chain

Abbildung 2.14 Die Kriterien einer digitalen Kultur sind vielfältig

Entscheidend jedoch sind vor allem die Führungskräfte, die die digitale Transfor-mation verantworten. Die vier bedeutendsten Eigenschaften sind nach Einschät-zung der befragten 3700 Führungskräfte vor allem

1. Besitzt eine “Digital Transformation Vision”

8. Hat seinen Blick nach vorne gerichtet

9. „Change Mindset“

10. Technologieverständnis

Erstaunlicherweise steht dabei das Technologieverständnis nicht an allererster Stelle, sondern die die Fähigkeit, visionär denken zu können. (s. Abb. 15)

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“Our corporate digital culture matters a lot. It’s a key source of competitive advantage for our company!”

Global Executive from Silicon Valley Tech Company

Rate the following dimensions of your own company’s culture on a scale 1-5

Page 55: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Veränderte Anforderungen an die Mitarbeiter 47

Abbildung 2.15 Die wichtigsten Eigenschaften eines „Digital Role Model“ ge-hen über reines Technologieverständnis weit hinaus.

Dasselbe gilt für die benötigen Fähigkeiten der Gesamtorganisation im Rahmen eines solchen digitalen Transformationsprozesses: Starke technologische Fähigkei-ten sind unabdingbar (neben den Enabling-Technologien wie z.B. Wearables geht es hier insbesondere auch um vertiefte Kenntnisse von Plattform, Systemarchitek-tur und Interfaces sowie integrating systems, wie z.B. MES).

Aber darüber hinaus werden eben auch strategische und operative „Solution De-sign“- Fähigkeiten benötigt, also das Verständnis, wie aus den „Einzelkomponen-ten“ ein integrierte Gesamtlösung wird, die zielgerichtet die angestrebten Verbes-serungspotenziale, z.B. im Hinblick auf zuvor definierte Zeit-, Kosten-, Qualitäts- und Flexibilitätsziele, im Rahmen einer Gesamtstrategie erfüllt.

Drittens sind entsprechende Change Management Fähigkeiten essentiell, um den erforderlichen kulturellen Wandel im Unternehmen erfolgreich zu managen und alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auf die sich ändernden Rollen und Funktio-nen entsprechend vorzubereiten (s. Abb. 16).

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“Leaders with a vision are critical to drive digital change –much more than pure technological understanding.”

Automotive Global Executive (CTO)

What is the most important skill an organizational leader should have to succeed in a digital workplace?

Page 56: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

48 Auf dem Weg zur Digitalisierten Supply Chain

Abbildung 2.16 Die digitale Transformation erfordert einen Fähigkeitsaufbau in drei Dimensionen

2.6 Die Digital Factory von Deloitte in Düsseldorf

Die im Jahr 2017 eröffnete „Digital Factory“ von Deloitte in Düsseldorf ist ein gutes Beispiel für ein Konzept, welches praxisnah deutlich macht, wie im Rahmen eines integrierten Fabrikkonzeptes cross-funktionale Themengebiete (wie z.B. der Pro-duktkostenreduzierung) optimal durch Digitalisierung unterstützt werden kön-nen. Hier wird die vernetzte und funktionsübergreifende Anwendung von digita-len „use Cases“ von Produktentwicklung über Einkauf, Produktion und Logistik die Kosten-, Zeit- und Qualitätsziele nicht nur konzeptionell und didaktisch ein-gängig dargestellt, sondern auch ganzheitlich umgesetzt. Sie bietet daher nicht nur eine gute Möglichkeit, die Möglichkeiten eines digitalen Supply-Netzwerks in ei-nem realitätsnahen Umfeld zu testen, sondern auch gleichzeitig die Mitarbeiter so-wie das Management entsprechend zu trainieren.

Sie ist damit ein wichtiger Beitrag zum Einstieg, Vertiefung und Umsetzung einer „Digitalen Journey“ und unterstützt den empfohlenen dargestellten Ansatz: „Think Big – Start Small – Act Fast“! (s. Abb. 17), um die zahlreichen Herausforde-rungen auf dem Weg zum digitalisierten Supply Netzwerk erfolgreich zu meistern.

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SOLUTION DESIGN CAPABILITIES

Solution design capabilities will determine which digital capabilities to

pursue in the Smart Factory journey, where to

start, and how to maximize value

TECHNOLOGY CAPABILITIES

Technology capabilities will support design work and

actively manage the detailed digitization, connection, and data

management activities across assets, platforms,

and architectures

CHANGE MANAGEMENT CAPABILITIES

Change Management capabilities will ensure that

Smart Factory solutions are integrated into the

culture and clients have the talent necessary to

sustain value

Deloitte is uniquely positioned to deliver Smart Factory solutions – all three key transformation support elements can be deployed in concert

Page 57: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Die Digital Factory von Deloitte in Düsseldorf 49

Abbildung 2.17 Ein möglicher Ansatz zur Erarbeitung und Umsetzung einer Di-gitalisierungstrategie lautet „Think Big – Start Small – Act Fast!“

Join an immersive experience (e.g., tour an IoT lab) to explore the “art of the

possible”, incite ideas, and cultivate a culture of innovation

Immerse Yourself in Innovation

Use an agile, iterative approach to move from strategy to prototyping as quickly

as possible – “fail fast” and achieve rapid results

Prove it Works (Quickly)

Evolve your supply chain into “value webs” by collaborating with suppliers, engaging

with niche players, and sharing and/or offloading assets

Build Your Ecosystem

THINK BIG

Disconnect from the core business and set up a “black ops” team to enable

disruption within an established organization

Scaling the Edges

START SMALL ACT FAST

ESTABLISH A DIGITAL FOUNDRYIdentify a visionary program leader and assemble a team to accelerate your digital goals. Determine a governance model and understand policies that might need

to be adapted to execute successful change management and ensure the solution is absorbed into the business fabric

Prioritize your desired tactics and pick just one or two to get started in order to

establish proof of concept

Pick One or Two Plays

Champion your successes to gain traction and achieve enterprise-wide

adoption

Market Your Own Success

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Page 58: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

3 Innovationsnetzwerke zur Entwicklung von Antriebstechnologien

P. Borgstedt, B. Neyer, Prof. Dr. G. Schewe, F. Zengerle (Westfälische Wilhelms-Univer-sität Münster)

3 Innovationsnetzwerke zur Entwicklung von Antriebstechnologien ..... 51

3.1 Einleitung ....................................................................................................... 523.2 Theoretischer Hintergrund .......................................................................... 533.3 Methodik ........................................................................................................ 543.4 Ergebnisse ....................................................................................................... 573.5 Vergleich & Diskussion ................................................................................ 633.6 Fazit ................................................................................................................. 65

Literatur .......................................................................................................................... 66

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_4

Page 59: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

52 Innovationsnetzwerke zur Entwicklung von Antriebstechnologien

3.1 Einleitung

Im Werbespot für das im Jahr 2015 auf den Markt gebrachte Wasserstoffauto Toyota Mirai kontert Toyota Kritik an der Brennstoffzellentechnologie [38], [41]. Trotz wiederholter Bekenntnisse zum Brennstoffzellenantrieb [34], [35] hält sich der Konzern aber alle Optionen offen und kann sich „batteriebetriebene Elektro-autos für die Kurzstrecke, Wasserstoffautos für die Langstrecke“ (Frahm (2015), S. 2) vorstellen. Daimler hält es inzwischen für wahrscheinlicher, dass sich batterie-betriebene Elektroautos als dominantes Design auf dem Markt durchsetzen, nutzt jedoch seine 20-jährige Erfahrung mit dem Brennstoffzellenantrieb und verkündet für 2017 die Markteinführung des Mercedes GLC als Brennstoffzellen-Plug-in-Hybrid [17], [33]. Automobilhersteller (Original Equipment Manufacturer (OEM)) wie Daimler und Toyota, die auf Grund der weltweit vorherrschenden Unsicher-heit über die Zukunft des automobilen Antriebs für alle Marktentwicklungen ge-wappnet sein möchten, diversifizieren ihre Innovationstätigkeiten stark. Die OEMs treiben gleichzeitig die Entwicklung alternativer Antriebe für Wasserstoffautos, batteriebetriebene Elektroautos und Hybridelektrofahrzeuge sowie die Verbesse-rung des herkömmlichen Verbrennungsmotors voran.1 Auf Grund der hohen Komplexität und der inhärenten Risiken gewinnt die Zusammenarbeit mit exter-nen Partnern dabei zunehmend an Bedeutung [14]. Da der automobile Antrieb eine wichtige Kernkompetenz der OEMs darstellt, ist der Aufbau eines Innovations-netzwerks jedoch zugleich mit eigenen Chancen und Risiken verbunden. Zudem sind unterschiedliche Ausgestaltungsformen der Netzwerke denkbar [8], [9], [10], [21].

Diese Studie zeigt anhand einer patentbasierten Analyse der Innovationsnetz-werke von Toyota und Daimler, dass unterschiedliche Innovationsnetzwerke er-folgreich sein können. Gemäß dem relationalen Ansatz und mit den Methoden der sozialen Netzwerktheorien werden Netzwerkentwicklung, Netzwerkzusammen-setzung und Netzwerkstruktur bei Toyota und Daimler untersucht. Unterschiede in der Netzwerkgestaltung der ausgewählten OEMs werden identifiziert und un-ter Einbezug der empirischen Ergebnisse der sozialen Netzwerktheorie und durch Ableitung netzwerkstrategischer Motive der beiden Unternehmen erklärt.

1 Zur eindeutigen Zuordnung und Beschreibung werden in der gesamten Untersuchung für

die vier untersuchten Antriebstechnologien die englischen Abkürzungen verwendet: Battery Electric Vehicle (BEV); Fuel Cell Electric Vehicle (FCEV); Hybrid Electric Vehicle (HEV); Internal Combustion Engine Vehicle (ICEV).

Page 60: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Theoretischer Hintergrund 53

3.2 Theoretischer Hintergrund

Der relationale Ansatz (relational view) ist eine Theorie des strategischen Manage-ments, die von Dyer und Singh geprägt wurde und als komplementär zum ressour-cenorientierten Ansatz angesehen wird [16]. Der relationale Ansatz unterscheidet sich vom ressourcenorientierten Ansatz durch den Fokus auf die Einbettung der Ressourcen eines Unternehmens in ein Netzwerk aus Beziehungen mit anderen Unternehmen. Die Analyse der Prozesse im Netzwerk wird zur Erklärung mögli-cher Wettbewerbsvorteile eines Unternehmens genutzt. Gemäß dieser Theorie ba-sieren die durch Netzwerkbeziehungen generierten „relationalen Renten“ (d. h. Ergebnisse, welche kein Unternehmen allein realisiert hätte) auf vier Mechanis-men: (1) beziehungsspezifische Investitionen, (2) organisierter Wissensaustausch, (3) komplementäre Ressourcen und Kompetenzen und (4) effektive Steuerung der Netzwerkbeziehungen [16]. Strategisches Ziel eines Unternehmens ist demnach ein gelungener Netzwerkaufbau, um Zugang zu Ressourcen zu erhalten und Kom-petenzen aufzubauen [25].

Ähnlich der Vertreter des relationalen Ansatzes erkennen die sozialen Netz-werktheorien Beziehungen zwischen Akteuren als „channels for transfer or flow of resources“ (Wassermann & Faust (1994), S. 4) an und fokussieren sich auf den Einfluss von Beziehungsmustern auf die Handlungsmöglichkeiten eines Akteurs [40]. Für die empirische Untersuchung eines Netzwerks werden kompositorische und strukturelle Variablen erhoben. Kompositorische Variablen beschreiben die Eigenschaften der Akteure, während strukturelle Variablen die Beziehungen der Akteure genauer definieren [40]. Aussagekräftige und für diese Arbeit relevante Kennzahlen zur Beschreibung der strukturellen Eigenschaften eines Netzwerks sind: direkte und indirekte Beziehungen, starke und schwache Beziehungen, Netz-werkdichte und Zentralität [19], [22], [29] [40].

Im Folgenden werden die angeführten theoretischen Überlegungen zur Analyse und Interpretation der Innovationsnetzwerke von Toyota und Daimler genutzt. Wie in der Einleitung beschrieben, stehen zwei Fragen im Vordergrund: Wie ge-stalten die erfolgreichen Unternehmen Toyota und Daimler ihre Innovationsnetz-werke? Wodurch lassen sich die Unterschiede in Netzwerkentwicklung, Netz-werkzusammensetzung und Netzwerkstruktur erklären?

Page 61: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

54 Innovationsnetzwerke zur Entwicklung von Antriebstechnologien

3.3 Methodik

3.3.1 Grundlagen der Analyse von Ego-Netzwerken

Bei der Anwendung sozialer Netzwerktheorien zur Erforschung der Ursachen von Wettbewerbsvorteilen eines Unternehmens konzentrieren sich die Netzwerktheo-retiker auf die Analyse von Ego-Netzwerken [27], [28]. Das einfache 1,0-Grad-Ego-Netzwerk besteht aus dem fokalen Unternehmen (ego) und dessen Partnern (al-teri) und betrachtet nur die Beziehungen zwischen ego und alteri. Das erweiterte 1,5-Grad-Ego-Netzwerk zeigt außerdem die Verbindungen der alteri untereinan-der. Beim 2,0-Grad-Ego-Netzwerk werden die alteri der alteri in die Darstellung aufgenommen, wodurch auch indirekte Beziehungen des ego abgebildet werden. Je mehr Kontakte der alteri dargestellt werden, desto größer wird das betrachtete Umfeld des ego [24].

Burt stellt verschiedene Maßzahlen zur Quantifizierung der Reichweite eines Ego-Netzwerks vor [8]. Ein Netzwerk mit hoher Dichte besteht per Definition aus vie-len redundanten Kontakten, d.h. Kontakten, die mit ähnlichen Akteuren verbun-den sind. Burt spricht sich deshalb für ein Ego-Netzwerk mit geringer Dichte aus, in dem nicht-redundante Kontakte durch strukturelle Löcher voneinander ge-trennt sind [9]. Neben dem Zugang zu alternativen Informationsquellen führt er die erhöhte Unabhängigkeit des ego in der Nutzung seiner Beziehungen und der Verbreitung von Information als Argument an [9], [10]. Granovetter zeigte, dass die Intensität der Beziehungen im Netzwerk eng mit der Netzwerkdichte verbunden ist, da enge Kontakte mit deutlich höherer Wahrscheinlichkeit eine direkte Bezie-hung zu den Kontakten des anderen haben, als dies bei loseren Kontakten der Fall ist [21]. Burts Theorie baut also Granovetters Argument der strength of weak ties, das die Bedeutung schwacher Beziehungen als Brücken und Zugang zu vielfältiger In-formation zum ersten Mal empirisch untermauerte, weiter aus [21].

3.3.2 Ablauf der Patentanalyse

Zur Analyse des Outputs der Innovationsbemühungen wurde im August 2015 ein Datensatz mit 90.496 Patente der Jahre 1990 bis 2013 aus Thomson Reuters‘ Der-went Innovation Index exportiert. Die Suche konzentrierte sich auf weltweite Pa-tente aus den Bereichen BEV, FCEV, HEV und ICEV. Eine umfangreiche Herlei-tung der Suchstrategie sowie eine nachgelagerte Prüfung der Validität des Daten-satzes fanden statt. Die Suchstrategie ist in Tabelle 3.1 abgebildet.

Page 62: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Methodik 55

Tabelle 3.1 Suchstrategie zur Identifikation relevanter Patente

Technologie Suchterm

ICEV IP=(F02B* OR F02D* OR F02F* OR F02M* OR F02N* OR F02P*) AND TS=(vehicle* OR car OR automobile*) AND TS=("internal combustion en-gine" OR "ic engine" OR "diesel engine")

HEV IP=(B60K-006* OR B60W-020 OR B60L-007/1* OR B60L-007/20) AND TS=(vehicle* OR car OR auto-mobile*) AND TS=("hybrid vehicle*" OR "hybrid electric vehicle*" OR "hybrid propulsion")

BEV IP=(B60L-011* OR B60L-003* OR B60L-015* OR B60K-001* OR B60W-010/08 OR B60W-010/24 OR B60W-010/26) AND TS=(vehicle* OR car OR auto-mobile*) AND TS=(("electric vehicle*" OR "electric car" OR "electric automobile*") AND battery)

FCEV IP=(B60W-010/28 OR B60L-011/18 OR H01M-008*) AND TS=(vehicle* OR car OR automobile*) AND TS=("fuel cell*")

(Quelle: Eigene Darstellung)

Nach einer Eingrenzung auf kooperative Patente wurde der Datensatz weiter auf gemeinsame Patente der Top 20 OEM und Top 100 Zulieferer (nach Umsatz in 2014) sowie Top 30 Patentanmelder in jeder der vier betrachteten Technologien re-duziert [6]. Die Patente wurden den Unternehmen gemäß den aktuellen Konzern-strukturen zugeordnet [6]. Um die Innovationsnetzwerke von Toyota und Daimler detaillierter zu untersuchen, wurden nach der Strategie des snowball sampling zwei Datensätze zur Darstellung der 1,5-Grad-Ego-Netzwerke dieser OEMs extrahiert [24]. Die so generierten Datensätze liefern eine ausreichende Anzahl an Patenten, um valide Analyseergebnisse zu erzielen und ermöglichen eine differenzierte Be-trachtung der Kooperationen der ausgewählten egos.

Der untersuchte Datensatz für Toyota umfasst insgesamt 1.854 Patente, der Daten-satz für Daimler 282 Patente. Auf Grund der besseren Analysemöglichkeiten wur-den alle kooperativen Patente, die von drei oder vier Unternehmen angemeldet wurden, in bilaterale Patente aufgespalten. Die Analyse des Innovationsnetzwerks von Toyota basiert auf 1.936 bilateralen Patenten, Daimler hält Anteile an 372 bila-teralen Patenten. Der Aufbau der beiden Datensätze ist in Tabelle 3.2 dargestellt.

Page 63: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

56 Innovationsnetzwerke zur Entwicklung von Antriebstechnologien

Tabelle 3.2 Aufbau der Datensätze

Patente/Kooperationen Toyota Daimler

Patente gesamt 1.854 282 Patente angemeldet von ego und alteri 1.801 223 Patente angemeldet von alteri untereinander 53 59

Bilaterale Kooperationen gesamt 1.936 372 Bilaterale Kooperationen von ego und alteri 1.842 260 Bilaterale Kooperationen von alteri untereinander 94 112

(Quelle: Eigene Darstellung)

Im weiteren Untersuchungskontext spiegelt ein kooperatives bilaterales Patent ge-meinsame Innovationsaktivitäten zwischen zwei Unternehmen wieder. Ein Unter-nehmen wurde als Kooperationspartner des jeweiligen ego klassifiziert, sobald mindestens ein bilaterales Patent zwischen dem Unternehmen und Toyota bzw. Daimler im Datensatz vorhanden ist. Eine relative Betrachtung ermöglicht den Vergleich starker und schwacher Beziehungen bei Toyota und Daimler: Kanten, die höher gewichtet sind als der Durchschnitt der Kanten im jeweiligen Netzwerk, stellen starke Beziehungen dar. Kanten mit einem Gewicht entsprechend oder klei-ner dem Netzwerkdurchschnitt werden als schwache Beziehungen klassifiziert.

Die Netzwerkentwicklung wird anhand einer deskriptiven Analyse der bilatera-len Patente der fokalen Unternehmen untersucht. Es werden die jährlichen Patent-anmeldungen und deren Verteilung auf die vier Technologien ICE, HEV, FCEV und BEV betrachtet und Veränderungen in der Anzahl der Patente sowie Techno-logieschwerpunkte herausgearbeitet. Die Analyse der Netzwerkzusammenset-zung greift in vereinfachter Form Burts Überlegungen zur Netzwerkreichweite auf den Innovationserfolg des ego auf. Folglich wird die Netzwerkzusammensetzung insbesondere durch die Art und Anzahl der Netzwerkpartner charakterisiert. Die Branchenzuordung (Automobiles, Auto Parts und Sonstige) erfolgte auf Basis von Unternehmensprofilen der Datenbank Thomson One. Anhand dieser Branchenzu-ordnungen wird die Anzahl horizontaler, vertikaler und lateraler Beziehungen im Netzwerk bestimmt. Horizontale Verbindungen bestehen zwischen zwei Unter-nehmen derselben Branche. Eine Beziehung zwischen einem Unternehmen der Branche Automobiles und einem Unternehmen aus Auto Parts gilt als vertikale Be-ziehung. Alle weiteren Kombinationen werden als laterale Verbindungen gewer-tet. Die Netzwerkstruktur wird mit Hilfe ausgewählter, miteinander verbundener Kennzahlen beschrieben: der Anteil starker und schwacher Beziehungen im Netz-werk, die Ego-Netzwerkdichte und die Betweenness-Zentralität des ego.

Page 64: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Ergebnisse 57

3.4 Ergebnisse

3.4.1 Netzwerkentwicklung

Im Zeitraum von 1991 bis 2008 stieg die Anzahl bilateraler Patente im Netzwerk von Toyota stark an und pendelte sich anschließend von 2009-2012 bei durch-schnittlich 159 pro Jahr ein. Bilaterale Patente zur ICE-Technologie machen mit 44 % den größten Anteil an Toyotas bilateralen Patenten aus. In 58 % der Fälle sind diese aus Projekten mit dem Zulieferer Denso entstanden. Es folgen HEV-Patente mit 27 %, FCEV-Patente mit 20 % und BEV-Patente mit 9 %. Die Dominanz der ICE-Technologie sank deutlich im Zeitverlauf. Durch die Markteinführung des Toyota Prius in Japan in Jahr 1997 und auf dem internationalen Markt im Jahr 2000 stieg die Bedeutung der Hybridtechnologie in Toyotas Innovationsnetzwerk, v.a. in der Zusammenarbeit mit Zulieferer Aisin Seiki, stark an [30]. Gleichzeitig be-schäftigten sich seit 2001 durchschnittlich 21 % der jährlichen bilateralen Patente mit der Brennstoffzellentechnologie, was schließlich dazu führte, dass seit dem Jahr 2006 durchgängig mehr bilaterale Patente im Bereich alternativer Antriebe (FCEV, BEV und HEV) als zur Verbesserung des ICEV angemeldet wurden.

Für Daimler sind erst ab dem Jahr 1996 bilaterale Patente im Datensatz verzeich-net. Es wurden vor allem im Jahr 2002 sowie im Zeitraum von 2006 bis 2009 viele bilaterale Patente angemeldet. Seit 2010 gab es bei Daimler kaum Innovationsko-operationen, die zu einer Patentanmeldung im Antriebsbereich geführt haben. In Daimlers Innovationsnetzwerk sind alternative Antriebstechnologien mit 73 % al-ler bilateralen Patente dominant, wobei allein FCEV-Patente 49 % ausmachen. 18 % der bilateralen Patente beschäftigen sich mit der Weiterentwicklung des HEV. Ein (wie bei Toyota) sehr geringer Anteil in Höhe von 6 % entfällt auf die Weiter-entwicklung des BEV und 27 % werden dem ICEV zugeordnet. Die Anstiege der bilateralen ICE- und HEV-Patente in den Jahren 2002 und 2007 lassen sich durch horizontale Kooperationen erklären.

Page 65: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

58 Innovationsnetzwerke zur Entwicklung von Antriebstechnologien

3.4.2 Netzwerkzusammensetzung

Tabelle 3.3 zeigt zunächst die Zusammensetzung der Innovationsnetzwerke.

Tabelle 3.3 Ergebnisse Netzwerkzusammensetzung

Netzwerkzusammensetzung Toyota Daimler

Anzahl Beziehungen Gesamtnetzwerk 57 45

Horizontale Kooperationen 12 15

Vertikale Kooperationen 18 22

Laterale Kooperationen 27 8

Anzahl Beziehungen ego-alteri 31 17

Horizontale Kooperationen 2 6

Vertikale Kooperationen 15 7

Laterale Kooperationen 14 4

(Quelle: Eigene Darstellung)

Toyota meldete in den Jahren 1990 bis 2013 mit 31 verschiedenen Partnern Patente im Antriebsbereich an. Aus Toyotas bilateralen Patenten mit diesen Partnern und den bilateralen Patenten dieser Partner untereinander ergibt sich das in Abbildung 3.1 dargestellte Ego-Innovationsnetzwerk.

Page 66: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Ergebnisse 59

Abbildung 3.1 Toyotas Innovationsnetzwerk im Antriebsbereich

(Quelle: Eigene Darstellung)

Toyotas 31 Netzwerkpartner stammen aus neun verschiedenen Branchen. Zwei kommen aus der Branche Automobiles, bei 15 von ihnen handelt es sich um klassi-sche Zulieferer aus der Branche Auto Parts und die restlichen 14 Partner gehören den Branchen Electronic & Electrical Equipment, Chemicals, General Industries, Leisure Goods, Construction Materials und Support Services an. Für Toyota wer-den folglich zwei horizontale, 15 vertikale und 14 laterale Beziehungen unterschie-den. Mit 83% ist der Anteil der asiatischen Unternehmen unter den Partnern aus

Legende:

Branche AutomobilesBranche Auto PartsSonstige Branche

Knotengrad

Kantengewicht

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60 Innovationsnetzwerke zur Entwicklung von Antriebstechnologien

dem Automobilsektor (Automobiles und Auto Parts) besonders hoch. Vor allem die nationalen, der Toyota Group angehörenden Partner der Branche Auto Parts haben auf Grund von Zuliefererbeziehungen zu Toyota einen ähnlichen technologischen Wissenstand, was für das Funktionieren des auf den Prinzipien der Lean Produc-tion aufbauenden Toyota Production System unabdingbar ist [15], [37].

Im selben Zeitraum führten bei Daimler Kooperationsprojekte mit 17 verschiede-nen Partnern zu Patentanmeldungen im Antriebsbereich. Daimlers Ego-Innovati-onsnetzwerk ist in Abbildung 3.2 dargestellt.

Abbildung 3.2 Daimlers Innovationsnetzwerk im Antriebsbereich

(Quelle: Eigene Darstellung)

Legende:

Branche AutomobilesBranche Auto PartsSonstige Branche

Knotengrad

Kantengewicht

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Ergebnisse 61

Daimlers Netzwerkpartner lassen sich fünf verschiedenen Branchen zuordnen. 78 % der Partner stammen ebenfalls aus dem Automobilsektor: sieben aus der Branche Auto Parts und sechs aus der Branche Automobiles. Die weiteren vier Part-ner gehören den Branchen General Industries, Industrial Engineering und Alter-native Energy an. Gemäß den Branchenzuordnungen können Daimlers Beziehun-gen in sieben horizontale, sechs vertikale und vier laterale Beziehungen unterteilt werden. Mit neun europäischen, fünf nordamerikanischen und drei asiatischen Partnern ist auch die regionale Verteilung der Partner sehr divers.

3.4.3 Netzwerkstruktur

Tabelle 3.4 fasst die Ergebnisse zur Netzwerkstruktur zusammen.

Tabelle 3.4 Ergebnisse Netzwerkstruktur

Netzwerkstruktur Toyota Daimler

Übergreifende Kennzahlen

Dichte des Netzwerks 0,06 0,21

Betweenness-Zentralität des ego 0,88 0,60

Beziehungen zwischen ego und alteri

Anzahl direkte Beziehungen ego-alteri 31 17

Ø Kantengewicht ego-alteri 50,2 15,3

Anzahl starke/schwache Beziehungen ego-alteri 5/26 6/11

Beziehungen der alteri untereinander

Anzahl direkte Beziehungen alter-alter 26 28

Ø Anzahl direkte Beziehungen eines alter 2,7 4,3

Ø Kantengewicht alteri-alteri 3,6 4,0

Anzahl starke/schwache Beziehungen alter-alter 0/26 5/23

(Quelle: Eigene Darstellung)

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62 Innovationsnetzwerke zur Entwicklung von Antriebstechnologien

Toyota ist mit 31 direkten Beziehungen mit einem durchschnittlichen Kantenge-wicht von 50,2 mit großem Abstand das aktivste Unternehmen in seinem Ego-Netzwerk. Wie die unterschiedlichen Stärken der Kanten in Abbildung 3.1 schon andeuten, arbeitet Toyota bei Entwicklungen im Antriebsbereich nicht mit allen Netzwerkpartnern gleich eng zusammen. Enge vertikale Beziehungen bestehen mit Denso, Aisin Seiki, Toyota Industries und Aisan Industries. Gemäß der Theorie des relationalen Ansatzes wird Toyotas Beziehung zu diesen Zulieferern durch hohe beziehungsspezifische Investitionen gestärkt, denn die Toyota Motor Corpo-ration stellt bei jedem dieser Unternehmen den größten Anteilseigner dar. Teil-weise halten die genannten Unternehmen auch Anteile an Toyota bzw. untereinan-der [1], [2], [13], [36], [39]. Die Kooperation mit Fujitsu ist die einzige starke laterale Beziehung in Toyotas Netzwerk. Die Beziehungen der alteri untereinander sind alle schwach ausgeprägt und die durchschnittliche Netzwerkaktivität der alteri ist mit einem mittleren Knotengrad von 2,7 und einem durchschnittlichen Kantenge-wicht von 3,6 gering. Elf alteri sind im Netzwerk nur mit Toyota verbunden und zwischen den 31 alteri bestehen in Summe lediglich 26 Beziehungen, was eine sehr geringe Ego-Netzwerkdichte von 0,06 ergibt. Die hohe Betweenness-Zentralität verdeutlicht Toyotas Organisations- und Kontrollfunktion im Netzwerk, die auch in der sternförmigen Anordnung des Netzwerks um Toyota im Zentrum reflektiert wird und sich aus der losen Netzwerkarchitektur ergibt.

Daimler hat 17 direkte Beziehungen, die im Durchschnitt mit 15,3 gewichtet sind. Daimlers horizontale Beziehungen zu Ford, Mitsubishi Motors, FiatChrysler, GM und BMW sowie die laterale Beziehung zu Ballard Power Systems sind besonders stark ausgeprägt. Da viele Patente in Daimlers Netzwerk aus Projekten von drei oder vier Partnern entstanden sind, prägen zudem starke bilaterale Beziehungen zwischen BMW und FiatChrysler, GM und FiatChrysler sowie BMW und GM die Netzwerkstruktur. Enge Beziehungen bestehen zudem zwischen Daimlers Part-nern VW und Bosch sowie VW und Continental. Die im Netzwerk vertretenen OEMs und die Zulieferer Bosch und Continental zeigen mit bis zu neun direkten Beziehungen eine hohe Netzwerkaktivität. Der durchschnittliche Knotengrad ei-nes alter liegt bei 4,3 und nur ein Unternehmen ist im Netzwerk einzig mit Daimler verbunden. Durch die 28 Beziehungen der alteri untereinander wird eine Netz-werkdichte von 0,21 erreicht. Dementsprechend liegt Daimlers Betweenness-Zent-ralität mit 0,6 für ein Ego-Netzwerk im mittleren Bereich. Da viele von Daimlers Partnern auch untereinander vernetzt sind, ist Daimlers Kontrolle über das im Netzwerk vorhandene Wissen eingeschränkt.

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Vergleich & Diskussion 63

3.5 Vergleich & Diskussion

Zunächst soll als Ergebnis der Analyse festgehalten werden, dass sich Toyotas und Daimlers Netzwerke stark unterscheiden. Toyota hat 70 % mehr Netzwerkpartner als Daimler. Beide Netzwerke zeigen jedoch eine hohe Heterogenität des technolo-gischen Wissens. Während Toyotas starke Beziehungen auf vertikale nationale Partnerschaften konzentriert sind, handelt es sich bei Daimlers engen Partnern schwerpunktmäßig um andere OEMs aus den USA, Japan und Deutschland. Ent-sprechend dieser Fokussierungen stammt der Großteil von Toyotas Patenten aus Entwicklungskooperationen mit langjährigen Zulieferern. Daimlers Patente sind größtenteils das Ergebnis intensiver, jedoch weniger langfristiger Zusammenarbeit mit anderen OEMs, was sich in der Netzwerkentwicklung in stärkeren Schwan-kungen der jährlichen Patentanmeldungen bei Daimler wiederspiegelt. Die im Vergleich zu anderen OEMs sehr hohe Anzahl kooperativer Patente von Toyota und Daimler bedeutet für diese Studie zunächst nur, dass beide bei der Anmel-dung kooperativer Patente sehr aktiv und mit ihren Innovationsnetzwerken über-durchschnittlich erfolgreich sind [5], [31].

Durch Projektkooperationen, an denen häufig mehrere OEMs beteiligt sind, beste-hen neben den für die Automobilindustrie klassischen vertikalen Beziehungen viele horizontale Beziehungen in Daimler Ego-Netzwerk. Diese Kooperationen sind überdurchschnittlich intensiv und machen zehn der elf starken Beziehungen in Daimlers Netzwerk aus [23]. Die höhere Bedeutung horizontaler Kooperationen in Daimlers Netzwerk erklärt so, warum der relative Anteil starker Beziehungen doppelt so hoch ist wie in Toyotas Netzwerk, das von lateralen und vertikalen Ko-operation geprägt ist. Die Aktivität der OEMs in Daimlers Netzwerk zeigt außer-dem deren Interesse an einer gleichmäßigen Verteilung der Innovationserfolge des Netzwerks [12]. Trotz der Eingrenzung der Netzwerkknoten auf Daimlers direkte Kontakte hat Daimler nur viermal so viele direkte Beziehungen wie ein durch-schnittlicher alter im Netzwerk. Toyota dagegen hat 19-mal mehr direkte Kontakte als ein durchschnittlicher alter. Die höhere Verbundenheit der alteri schränkt Daimlers Kontrolle über den Wissensaustausch im Netzwerk ein, was bei Toyota nicht der Fall ist. Toyotas Betweenness-Zentralität ist daher um 50 % höher.

Wie auch in der graphischen Darstellung erkennbar ist, kann Toyota durch seine zentrale Position auf fast alle Aktivitäten im Netzwerk Einfluss nehmen [25]. Im Zentrum ist das Netzwerk von Toyotas starken vertikalen Beziehungen und im äußeren Umfeld von einer Vielzahl sternförmig angeordneter, wenig integrierter Partner geprägt. Diese duale Netzwerkstruktur entsteht dadurch, dass Toyota sich

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64 Innovationsnetzwerke zur Entwicklung von Antriebstechnologien

bei Kooperationen zur Weiterentwicklung von ICEV und HEV, zu denen im eige-nen Produktionsnetzwerk viel Wissen vorhanden ist, auf enge vertikale Partner - v.a. Denso bei ICEV und Aisin Seiki bei HEV - konzentriert [11], [32]. Bei Innova-tionen zu BEV und FCEV sucht Toyota verstärkt die Zusammenarbeit mit Spezia-listen anderer Branchen, um sein Know-How auszubauen und neue Impulse für die Forschung zu erhalten [10], [21]. Mit dieser Netzwerkgestaltung streut Toyota seine Ressourcen im Bereich alternativer Antriebe breiter als Daimler und arbeitet in den Technologien FCEV, BEV und HEV jeweils mit dreimal so vielen Partnern zusammen [26]. Bei diesem Vergleich wird Toyotas Unternehmensgröße und hohe absorptive Kapazität deutlich [3]. Die geringe Dichte des Netzwerks ist in Toyotas Interesse, da sie die Flexibilität in der Kooperationsgestaltung sichert [9], [10]. Im Gegensatz zu seinem Produktionsnetzwerk unternimmt Toyota im Innovations-netzwerk keine Schritte, um den Austausch zwischen seinen Partnern zu fördern und wartet mit dem Aufbau enger Beziehungen zu neuen Partnern, bis sich ein dominantes Design für alternative Antriebe abzeichnet [15].

Für ein genaueres Verständnis von Daimlers Netzwerkgestaltung spielt der hohe Anteil der kooperativen Patente im Bereich alternativer Antriebe eine wichtige Rolle. Mit 63 % nehmen Innovationsprojekte zu FCEV, BEV und HEV im Innova-tionsnetzwerk eine höhere Bedeutung ein als in Daimler eigenständiger Entwick-lungsarbeit [7]. In Medienberichten zur Erweiterung der FCEV-Zusammenarbeit mit Ford um Renault-Nissan in 2013 wird Daimler vorrangiges Ziel, durch Ent-wicklungskooperationen Kosten und Risiken zu teilen, sehr deutlich. Da Daimler geringere Stückzahlen seiner Modelle produziert als Toyota, werden durch Koope-rationen mit anderen OEMs wichtige Größenvorteile in der Entwicklung und Pro-duktion von Antriebssystemen erzielt [4], [20]. Diese Netzwerkstrategie ist mit ho-hen beziehungsspezifischen Investitionen verbunden, z.B. beim Aufkauf des Brennstoffzellen-Systemgeschäfts von Ballard Power Systems mit Ford, und war für Daimler nicht immer erfolgreich, z.B. bei der Fusion mit Chrysler. Sie erklärt jedoch Daimlers Netzwerkzusammensetzung, aus der durch die beschriebenen Be-sonderheiten horizontaler Kooperationen eine vergleichsweise hohe Netzwerk-dichte und geringere Flexibilität für Daimler resultiert [9], [10]. Durch den geringen Anteil lateraler Partner sind zusätzlich weniger strukturelle Löcher im Netzwerk vorhanden als bei Toyota.

Die diskutierten Ergebnisse sind im Hinblick auf vier Limitationen zu betrachten. (1) Bei der Analyse der 1,5-Grad-Ego-Netzwerke gehen indirekte Beziehungen der egos nur teilweise in die Betrachtung ein, wodurch der Zugang zu heterogenem Wissen möglicherweise verzerrt dargestellt wird. (2) Die Zuordnung von Patenten gemäß den aktuellen Konzernstrukturen kann zu einer Unterschätzung der Netz-

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Fazit 65

werkaktivitäten eines Unternehmens in einem von Mergers & Akquisitionen ge-prägten Umfeld führen. Durch die Fusion von Mahle und Behr im Jahr 2013 verlor Daimler nach dieser Analysemethode einen Netzwerkpartner. Andererseits würde bei einer Betrachtung auf einer niedrigeren Aggregationsebene die Komplexität stark erhöht und die Netzwerke von Kooperationen innerhalb großer Konzerne dominiert. (3) Auf Grund unterschiedlicher Patentsysteme in Daimlers und Toyo-tas Heimatregionen wurde zur Bestimmung von starken und schwachen Bezie-hungen eine vereinfachte Methode gewählt werden, die die in die Beziehung in-vestierte Zeit und emotionale Intensität möglicherweise nicht korrekt wiederspie-gelt. (4) Kooperationen, die nicht zu Patentanmeldungen führten oder bei denen das finale Patent nur von einem Partner angemeldet wurde, werden nicht beachtet.

3.6 Fazit

Die vergleichende Analyse der patentstarken Innovationsnetzwerke von Toyota und Daimler zeigt, dass durch unterschiedlich gestaltete Netzwerke Innovationen im Antriebsbereich generiert werden können. Bei Toyota sind Netzwerkentwick-lung, Netzwerkzusammensetzung und Netzwerkstruktur geprägt von den Zielen, Know-How langjähriger Zulieferer zu nutzen und zu fördern sowie durch neue Kooperationen Zugang zu weiterem Wissen zu erhalten. Daimlers vorrangiges Ziel ist es, durch Zusammenarbeit mit anderen OEMs und vertikalen Partnern Kosten und Risiken zu teilen. Zudem wurde der von Burt und Granovetter thema-tisierte enge Zusammenhang zwischen Netzwerkzusammensetzung und -struktur für Innovationsnetzwerke für die Automobilindustrie bestätigt. Dieser Bezug wird in vielen aktuellen Studien wenig betrachtet, da häufig der Einfluss einzelner Fak-toren auf den Innovationserfolg im Vordergrund steht. Zukünftige Analysen könnten durch Einbezug dieser Zusammenhänge bei der Erforschung von Netz-werken an Relevanz für die Praxis gewinnen. Für die praktische Gestaltung von Ego-Netzwerken wird aus den Ergebnissen abgeleitet, dass bei der Wahl der Netz-werkpartner die Folgen der Partnerwahl für die Struktur des Netzwerks und die eigene Position im Netzwerk reflektiert werden sollten. Toyota bewahrt sich in die-sem Zusammenhang durch eine losere Netzwerkstruktur und ausgewählte bezie-hungsspezifische Investitionen eine höhere Flexibilität in der Nutzung seines In-novationsnetzwerks als Daimler, was langfristig in der von technologischen Ver-änderungen geprägten Automobilindustrie zu höheren relationalen Renten führen könnte [26].

Die weitere Entwicklung der Innovationsnetzwerke von Daimler und Toyota

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66 Innovationsnetzwerke zur Entwicklung von Antriebstechnologien

hängt davon ab, ob sich in den nächsten Jahren BEV, FCEV, HEV oder Mischfor-men wie z.B. Fuel-Cell-Hybride auf dem Markt etablieren. Im Zeitraum 1990 bis 2013 waren die Netzwerke beider Firmen im FCEV-Bereich stärker aufgestellt als im BEV-Bereich. Nachdem Toyota und Daimler Batterien und Motoren für ihre Elektromodelle zunächst von Tesla bezogen, haben beide Unternehmen ihre Ka-pazitäten in diesem Bereich inzwischen ausgebaut [34], [35], [42].

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Fazit 67

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68 Innovationsnetzwerke zur Entwicklung von Antriebstechnologien

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Page 76: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

4 Urban Interior for E-Car Sharing in a Digital World

Prof. K. Mehnert, P. Kutz (Folkwang Universität der Künste)

4 Urban Interior for E-Car Sharing in a Digital World ............................... 69

4.1 Mobilitätsverhalten in der Stadt ................................................................. 704.2 Digitalisierung als wichtigster Baustein .................................................... 734.3 Smart Textiles auf dem Vormarsch ............................................................ 744.4 Einblicke in den Gestaltungsprozess .......................................................... 754.5 Nutzung des NRWCars2.0 ........................................................................... 78

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_5

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70 Urban Interior for E-Car Sharing in a Digital World

Abbildung 4.1 Gestaltungsprozess – Sketches

Mit der Fortführung der gestalterischen Arbeit am NRWCar 1.0, dem Fahrzeug-entwurf des Projektes “DesignStudioNRW”s, werden nun mit dem NRWCar 2.0 die Anforderungen an ein Sharingfahrzeug in Form eines autonom fahrenden Elektroautos untersucht.

4.1 Mobilitätsverhalten in der Stadt

Seit 2008 leben weltweit erstmals mehr Menschen in Städten als auf dem Land (Quelle: United Nations, New York, 2008) und die Anzahl an Stadtbewohnern wird bis zum Jahr 2050 noch weiter ansteigen. Um den heute bereits deutlich sicht-baren Problemen der zu hohen Verkehrsdichte, den fehlenden Parkplatzmöglich-keiten und der Luftverschmutzung entgegenzuwirken, ist eine effizientere Nut-zung der Räume notwendig. Das Auto ist das aktuell am häufigsten benutzte Ver-kehrsmittel in der Stadt und wird durchschnittlich von rund 30% der Stadtbewoh-ner benutzt (Quelle: Mobilität in Städten – SrV 2013 in Berlin).

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Mobilitätsverhalten in der Stadt 71

Abbildung 4.2 Mobilitätsverhalten – Verkehrsmittelwahl und PKW-Auslastung

Das führt dazu, dass ein Autofahrer rund 38 Stunden pro Jahr (Quelle: INRIX, Deutschlands staureichste Ballungsräume, 2015) im Verkehr und sogar rund 100 Stunden pro Jahr (Quelle: Roland Berger-Studie, Automobilbranche, 2016) für die Parkplatzsuche verliert. So ist es wenig verwunderlich, dass man das Auto lieber stehen lässt, sobald man einen Parkplatz gefunden hat. Dadurch parkt das Auto rund 23 Stunden am Tag und ist letztendlich mehr „Standzeug“ als Fahrzeug.

Doch nicht nur beim Parken, sondern auch beim Fahren beansprucht das Auto die größte Fläche in der Stadt. Bei einer Geschwindigkeit von 30km/h benötigt ein Auto, welches mit durchschnittlich 1,4 Personen pro Fahrzeug besetzt ist, unter anderem durch seine eigene Fläche und seinen Bremsweg ca. 65m² im Stadtver-kehr. Wer vermutet, dass das Fahrrad in dieser Kategorie das deutlich platzspa-rendere Fahrzeug ist, der muss leider enttäuscht werden. Bei gleicher Geschwin-digkeit benötigt ein Fahrradfahrer mit ca. 41m² ähnlich viel Raum wie ein Auto in der Stadt. Der Schlüssel für eine effizientere Nutzung des Raumes in der Stadt liegt einerseits bei der Reduzierung der Standzeiten und andererseits beim Teilen der Fahrzeuge. In einem nur zu 20% besetzten Bus liegt der Wert hingegen nur noch

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72 Urban Interior for E-Car Sharing in a Digital World

bei ca. 8m² und bei einer zu 20% besetzten Bahn sogar bei rund 5m² pro Person (Quelle: Zukunft Mobilität, Vergleich unterschiedlicher Flächeninanspruchnah-men, 2015).

Abbildung 4.3 Flächenbeanspruchung p.P. für unterschiedliche Verkehrsmit-tel

Zusätzlich zur Raumverknappung sehen wir uns in Zukunft auch mit einem stei-genden Durchschnittsalter in der Gesellschaft konfrontiert. War das Verhältnis an jüngeren zu älteren Menschen, d.h. Personen außerhalb des Berufsalters, im Jahr 2005 noch mit jeweils rund 20% ausgeglichen, so werden im Jahr 2050 rund doppelt so viele ältere wie jüngere Menschen in Deutschland leben (Quelle: Statistisches Bundesamt, 2006).

Wie kann man nun die Vorteile des ÖPNVs (nicht selber fahren, geringe Kosten, wenig Flächenbeanspruchung und geringe Umweltbelastung) mit denen des Indi-vidualverkehrs (orts- und zeitunabhängiger Transport, direkte Fahrt zum Ziel) kombinieren, um die oben beschriebenen Probleme zu lösen?

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Digitalisierung als wichtigster Baustein 73

4.2 Digitalisierung als wichtigster Baustein

Eine Lösung stellt das Carsharing dar. Ein geteiltes Auto ist in der Lage, rund sechs private Fahrzeuge zu ersetzen und von bis zu 130 Personen genutzt zu werden (Bundesverband Carsharing e.V., Bilanz, 2015). Dadurch werden Standzeiten mi-nimiert und der Platzbedarf gesenkt. Nimmt man nun weitere Personen mit ähn-lichen Fahrtzielen auf seiner eigenen Fahrt mit, so werden die Vorteile umso deut-licher und der beanspruchte Raum wird pro Person weiter reduziert.

Die Digitalisierung hat unseren Alltag bereits durchdrungen und ist allgegenwär-tig. Der Grad der Vernetzung wird weiter zunehmen, sodass sich alle Bewegun-gen, sei es von Personen, Fahrzeugen oder Gütern optimal aufeinander abstimmen lassen. Die Fahrzeuge sind bereits heute mit zahlreichen Fahrerassistenzsystemen ausgestattet und die Anzahl der elektronischen Helfer wird weiter zunehmen. In Betracht dessen ist eine Entwicklung zu autonomen Fahrzeugen nur eine logische Weiterentwicklung der bisherigen Tendenzen.

Insbesondere wenn man sich vor Augen führt, dass über 90% aller Unfälle auf menschliches Versagen zurückzuführen sind (Quelle: Michael Fausten, Bosch, 2016), würden autonom fahrende Fahrzeuge die Verkehrssicherheit deutlich erhö-hen.

In Zukunft werden wir kein eigenes Fahrzeug mehr besitzen, sondern es nur noch situationsbedingt mieten. Wir werden persönliche Parameter festlegen, die sich bspw. nach Fahrtkosten, -dauer oder -komfort richten, damit uns die ideale Mobi-litätsdienstleistung angeboten werden kann. Somit ergeben sich komplett neue In-nenraumanforderungen an das Fahrzeug, da das Sharingfahrzeug nicht wie das eigene möglichst viele Situationen abdecken, sondern optimal auf die jeweilige Konfiguration ausgelegt sein muss.

Auch die durchschnittliche Lebensdauer eines Autos, bevor es aus dem Betrieb ge-nommen wird, spielt eine große Rolle. Aktuell beträgt die Nutzungsdauer eines Fahrzeugs rund 18 Jahre (Quelle: Entsorgung Punkt DE GmbH, Statistik, 2014), bevor es verschrottet wird. Um zu verstehen, welche technische Entwicklung in diesem Zeitraum vonstattengehen kann und vom Fahrzeug überbrückt werden muss, hilft es einen Blick in die Vergangenheit zu werfen. Ist heute der Besitz eines Smart Devices ohne Internet, hochauflösendem Display und vielen weiteren Aus-stattungsmerkmalen wie Kameras, Fingerabdrucksensor oder auch Induktions-spulen für kabelloses Laden nicht mehr nur unvorstellbar, sondern teilweise sogar unbrauchbar, so war vor genau 18 Jahren das Nokia 5110, welches zu diesem Zeit-punkt neu auf den Markt kam, das begehrteste Handy mit dem Spieleklassiker

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74 Urban Interior for E-Car Sharing in a Digital World

Snake.

Abbildung 4.4 Technische Entwicklung am Beispiel von Mobiltelefonen über die durchschnittliche Dauer eines PKWs

Möchte man nun das NRWCar2.0 möglichst gut für seine zukünftigen Aufgaben aufstellen, so wurden zwei aktuelle Entwicklungen, zum einen Smart Textiles und zum anderen Augmented Reality im Fahrzeug berücksichtigt.

4.3 Smart Textiles auf dem Vormarsch

Smart Textiles wurden ansatzweise bereits in der Studie Gina Light Vision im Jahr 2008 von BMW präsentiert, dessen Oberfläche Zugang zu unterschiedlichen Funk-tionen gewährte. Hier schien das Rücklicht noch durch das Textil und die Oberflä-chen vor den Frontscheinwerfern öffneten sich bei Bedarf wie ein Auge, damit das Fahrzeug die Straße vor sich ausleuchten konnte. Heutzutage sind Textilien in der Lage, deutlich mehr Funktionen zu erfüllen. Computerchips werden flexibel und

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Einblicke in den Gestaltungsprozess 75

auch weiteres Zubehör wie Kameras, LEDs oder Induktionsspulen werden eben-falls immer kleiner und können gemeinsam in das Material eingenäht werden. So-mit könnte das Smart Textile beispielsweise im äußeren Bereich Scheinwerfer oder Projektionsfläche für Informationen wie freie Sitzplätze oder Werbung sein und im Inneren als digitales Fenster oder Monitor dienen. In Kombination mit Augmented Reality kann das Smart Textil parallel zur Außenansicht weitere Informationen, wie die Fahrtrichtung oder zusteigende Personen, miteinblenden. Durch Koppe-lung aller wichtigen Bausteine im Textil, die für die Interaktion mit dem Nutzer wichtig sind, kann dieses im Zuge der technischen Entwicklung ausgetauscht und auf dem aktuellen Stand gehalten werden.

Abbildung 4.5 Intelligente Textilien als Fensterscheibenersatz

4.4 Einblicke in den Gestaltungsprozess

Der Einsatz neuster Technologien wurde nicht nur in der Konzeption des Fahr-zeugs, sondern auch im kompletten Gestaltungsprozess eingesetzt. Mithilfe einer

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76 Urban Interior for E-Car Sharing in a Digital World

Virtual-Reality-Brille wurden Skizzen direkt im dreidimensionalen Raum in Ori-ginalgröße angefertigt und anschließende CAD-Modelle konnten auf gleiche Weise deutlich schneller erfahrbar gemacht werden. Dadurch gelang es, das De-sign auf eine neue Gestaltungsebene zu bringen und den Arbeitsprozess deutlich zu beschleunigen.

Abbildung 4.6 Gestaltungsprozess – Sketching in Virtual Reality

Das NRWCar2.0 wurde für eine typische Fahrt in der Stadt konzipiert, welche durchschnittlich rund 23 Minuten (Quelle: Statistisches Bundesamt, Verkehr auf einen Blick, 2013) dauert. Es ist ein On-Demand-Fahrzeug, welches bei Bestellung den Nutzer abholt und bis an sein Ziel bringt. Auf der Fahrt können Fahrgäste mit ähnlicher Route zu- und aussteigen und die Deckenhöhe ist so ausgelegt, dass man im Fahrzeug problemlos stehen kann und ein schneller Fahrgastwechsel garantiert wird. Mit der Grundfläche eines Smart ForTwo’s wirkt sich die hohe Decke zusätz-lich positiv auf das Raumgefühl aus.

Mithilfe von zwei Probandenbefragungen wurden die zukünftigen Nutzer von Be-ginn an mit einbezogen, sodass weitere wichtige Gestaltungsmerkmale wie die

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Einblicke in den Gestaltungsprozess 77

Sitzanordnung, die Insassenanzahl oder die Fahrzeugausstattung den allgemeinen Wünschen am besten gerecht werden konnte.

In der ersten Probandenbefragung, in der 38 Personen teilnahmen, wurde ein 1:1 Mock-Up gebaut, um wichtige Grundelemente durchspielen und bewerten zu können. Es zeichnete sich ab, dass die Konfiguration mit vier Sitzplätzen in einer offenen Kabine den höchsten Zuspruch fand. Separate Kabinen wurden als deut-lich unangenehmer wahrgenommen, da man einerseits seine Mitfahrer sehen möchte und andererseits das Raumgefühl einer offenen Kabine verloren geht. Eine weitere wichtige Erkenntnis war, dass es für die deutliche Mehrheit kein Problem ist, entgegen der Fahrtrichtung zu sitzen. Für Personen, die Wert darauf legen in Fahrtrichtung zu sitzen, besteht weiterhin die Möglichkeit, sich einen Sitzplatz in Fahrtrichtung vorab zu buchen.

Abbildung 4.7 Eindrücke aus der ersten Probandenbefragung im 1:1 Mock-Up

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78 Urban Interior for E-Car Sharing in a Digital World

4.5 Nutzung des NRWCars2.0

Während der Fahrt wird primär das eigene Smart Device benutzt, um entweder Musik zu hören oder zu lesen. In der Regel sind die Probanden mit wenig Gepäck unterwegs und wären bereit, einen zusätzlichen Sitzplatz zu buchen, falls aus-nahmsweise doch mehr Gepäck transportiert werden müsste.

Um das Smart Textile zu simulieren, welches einem die Außenansicht während der Fahrt in den Innenraum projiziert, wurde ein Testfahrzeug dementsprechend präpariert und über mehrere Tage hinweg getestet. Das „digitale Fenster“ stand dem normalen Fenster bereits nach kurzer Testzeit in kaum einem Punkt nach und schaffte durch die Möglichkeit, auch andere Inhalte darzustellen, einen deutlichen Mehrwert.

Abbildung 4.8 Testfahrten zum autonomen Fahren und Smart Textiles

In der anschließenden Ausarbeitung wurde das Fahrzeug nun im CAD aufgebaut und in der Virtual-Reality Software mit seinen jeweiligen Funktionen ausgestattet.

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Nutzung des NRWCars2.0 79

Das Fahrzeug verfügt sowohl außen, als auch innen über ein Smart Textile. Im Au-ßenbereich können situationsbedingte Informationen, wie beispielsweise eine An-zeige über die noch freien Sitzplätze, ortsgebundene Informationen oder Werbung für bestimmte Nutzer eingeblendet werden.

Abbildung 4.9 Innenraumansicht mit vier Passagieren

Im Innenbereich kann das Smart Textile zusätzlich zur bereits beschriebenen Mög-lichkeit eines „Live-Views“ Informationen zur Strecke, Fahrtdauer oder zusteigen-den Personen einblenden. Denkbar wären auch Informationen zur Umgebung, um als Tourguide die Sehenswürdigkeiten der Stadt zu erklären. Sollte man das ge-samte Fahrzeug für sich gebucht haben, so ließe sich das Smart Textile auch ge-samtflächig als Monitor für Filme oder Nachrichten nutzen.

Page 87: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

80 Urban Interior for E-Car Sharing in a Digital World

Abbildung 4.10 Smart Textile mit digitaler Durchsicht und zusätzlichen Infor-mationen

Ein weiterer wichtiger Aspekt war die Hygiene. Um das Fahrzeug bei einer mög-lichst hohen Auslastung so sauber wie möglich halten zu können, wurde darauf geachtet, dass der Innenraum keine versteckten Ablageflächen bietet und die Ober-flächen leicht zu reinigen sind.

Ablageflächen an den Seiten und im Mittelbereich, um unter anderem sein Smart Device kabellos laden zu können, bieten genügend Platz für das Verstauen der kleinen Dinge. Benötigt man doch mehr Platz, so hat man die Möglichkeit sein Ge-päck auf einem umgeklappten Sitz abzulegen.

Page 88: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Nutzung des NRWCars2.0 81

Abbildung 4.11 Gestaltungsprozess - Gepäckablage

Um den Transportservice auch behindertengerecht anbieten zu können, ist der Eingangsbereich von der Breite so gewählt, dass dort ein Rollstuhl hinein passt. Für die Überbrückung zwischen Fahrzeug und Bürgersteig besteht die Möglich-keit, eine kleine Rampe auszufahren.

Page 89: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

82 Urban Interior for E-Car Sharing in a Digital World

Abbildung 4.12 Fahrzeug mit ausreichender Breite für behindertengerechten Transport

Dank des modularen Aufbaus ist es ebenfalls möglich, unterschiedliche Anwen-dungsbereiche mit einem dafür passenden Interieur abzudecken. Autonom fah-rende On-Demand-Lieferdienste werden in Zukunft eine feste Größe im Stadtbild sein und können vom Brief- und Paketversand, über Lebensmittellieferungen für warme und kalte Speisen bzw. Getränke bis hin zum Versand von Möbeln reichen.

Page 90: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Nutzung des NRWCars2.0 83

Abbildung 4.13 Smart Textiles im Außenbereich als mobiler Werbeträger denkbar

Page 91: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

5 Von Pipeline-Business zur Multisided Plattform

Dr. J. Wehinger, S. Höflich (MHP Management- und IT-Beratung GmbH)

5 Von Pipeline-Business zur Multisided Plattform 85

5.1 Einleitung ....................................................................................................... 865.2 Multisided Plattform .................................................................................... 875.3 Modell des „Plattform-Ökosystem eines Mobilitätsanbieters ................ 895.4 Management-KPIs eines Plattform-Ökosystems ...................................... 985.5 Entwicklungsstufen einer Multisided-Plattform ...................................... 995.6 Ergebnis getriebene Multisided-Plattform Entwicklung ...................... 1025.7 Fazit ............................................................................................................... 104

Literatur ........................................................................................................................ 105

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_6

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86 Von Pipeline-Business zur Multisided Plattform

5.1 Einleitung

Induziert durch die digitale Transformation vollzieht sich mehr als nur ein techno-logischer Wandel. Unternehmen und ganze Branchen verändern sich stark und über viele Jahre erfolgreiche Geschäftsmodelle haben von heute auf morgen aus-gedient. Start-ups erobern mit innovativen Ideen in kurzer Zeit den Markt. Das tun sie häufig in einer Art und Weise, die sich grundlegend vom bislang dominieren-den Ansatz unterscheidet: Plattformökonomie statt Pipeline. In der Pipeline-Öko-nomie entwickelten Unternehmen zunächst ein Produkt, stellen es aus zum Teil eingekauften, zum Teil selbst gefertigten Komponenten her, verkaufen es und bie-ten eventuell noch einen Service an. Werte entstehen in jedem einzelnen Schritt und werden schließlich von den Konsumenten verbraucht. Je effizienter die Unter-nehmen die einzelnen Schritte entlang dieser Wertschöpfungskette organisieren, je höher der Preis für das Produkt ist und je mehr Produkte abgesetzt werden kön-nen, desto höher fällt ihr Gewinn aus (Van Alstyne et al. 2016).

In der Plattform-Ökonomie stellen die Unternehmen dagegen eine Basis bereit – ein Produkt, eine Dienstleistung oder eine Technologie –, über die andere Unter-nehmen eigene Produkte, Dienstleistungen oder Technologien anbieten können. So entsteht ein Ökosystem, in dem sich zahlreiche Anbieter und Nachfrager ver-netzen. Werte werden in diesem Netzwerk generiert. Für den Plattformbetreiber kommt es dabei darauf an, eine möglichst große Anzahl (zumindest eine kritische Anzahl) von Teilnehmern an die Plattform anzubinden (Eisenmann et al. 2006). Mit Blick auf die Automobilindustrie stellt sich die Frage, wie sich Hersteller und Zulieferer mit der Plattform-Ökonomie beschäftigen sollten. In einzelnen Berei-chen der Automobilindustrie wurde die Bedeutung von Plattform-Ökosystemen erkannt und die Akteure beginnen eigene Plattform-Ökosysteme, wie beispiels-weise HERE, aufzubauen.

Nun stehen Automobilhersteller vor den Herausforderungen ihre aus dem klassi-schen Pipeline-Business erprobten Strategien zu hinterfragen und mit neuen Stra-tegien für Multi-Sided Plattform Geschäftsmodelle ergänzen.

In diesem Zusammenhang werden im Weiteren Antworten auf folgende For-schungsfragen gegeben werden

■welche grundlegenden Erfolgssystematiken den Plattformtheorien zu Grunde liegen,

■welche Mechanismen und Zusammenhänge auf einer Plattform wirken,

■welche zentralen Herausforderungen wie zum Beispiel: Transaktionskosten

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Multisided Plattform 87

reduzieren, Netzwerkeffekte steigern, externe Interaktion ermöglichen, Res-sourcen organisieren, zu meistern sind

■welche Kernkomponenten (Vertrauen, Angebot/Nachfrage-Fit, Neues schaf-fen, einfache Nutzung) eine erfolgreiche Plattform ausmachen

■welches mögliche KPIs sein können (Plattformversagen, Vermittlungsqualität, Nutzungsintensität)

Zur Beantwortung dieser Fragen wird das Modell des „Plattform-Ökosystem Haus“ als Hilfsmittel zur Strategieanalyse in der Unternehmensplanung vorge-stellt und am Beispiel eines Mobilitätsanbieters angewendet.

5.2 Multisided Plattform

Eine Multisided Plattform bringen Akteure zusammen (Eisenmann, Parker and Van Alstyne, 2011), und stellen Infrastruktur und Regeln für diesen Marktplatz bereit (Parker and Van Alstyne, 2013). Die Akteure nehmen unterschiedliche Rol-len ein, die sie auch schnell tauschen können (Eisenmann et al. 2008). Dabei ermög-licht die Plattform den Austausch einer Value-Unit (Gütern, Services oder soziale Anerkennung) in einer Kerninteraktion. Ziel ist es ein perfektes Match zwischen den Akteuren zu erzielen (Parker und Van Alstyne, 2014). Eine Multisided Platt-form Geschäftsmodelle bedarf einen Two-Sided Market. In einem Two-Market ist dadurch charakterisiert, dass Plattformen über die zwei Gruppen von Akteuren interagieren, die Menge an Transaktionen zwischen Gruppen steigern kann, indem sie eine Seite weniger und die andere Seite dafür stärker belastet. Die Summe aller Belastungen bleibt dabei gleich. (Rochet und Tirole 2003b).

5.2.1 Rollen in einem Plattform-Ökosystem

In einem Plattform-Ökosystem werden 4 Rollen unterschieden Plattform-Eigentü-mer, Plattform-Betreiber, Komplementoren und Konsument (Eisenmann et al. 2008).

■ Konsumenten sind die Zielgruppe der Plattform. Sie können Individuen, Bu-siness oder Organisation sein. Sie kaufen oder nutzen das von den Komple-mentoren Produkt der Service (Parker und Van Alstyne 2012).

■ Komplementore stellen das Angebot auf der Plattform bereit, welche die Kon-sumenten nachfragen. Ein Akteur kann sowohl in zwei Transaktionen einmal die Rolle des Konsumenten und in einer zweiten die Rolle des Komplemtors

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88 Von Pipeline-Business zur Multisided Plattform

einnehmen (Parker und Van Alstyne 2012).

■ Eigentümer kontrolliert die Plattform und definiert wer was auf der Plattform tun darf. Dabei definiert der Eigentümer das Plattform-Design, entwickelt die Plattform-Technologie weiter und Darüber hinaus formt der Plattform-Eigen-tümer den Charakter der Plattform durch die Definition von Regeln und die Bereitstellung von Support. Zentrale Aufgabe des Eigentümers ist den perfek-ten Match zwischen Komplementoren und Konsumenten zu erzielen (Parker und Van Alstyne 2012).

■ Betreiber stellen den Akteuren die Plattform bereit und stellen die Schnitt-stelle der Plattform zu den Akteuren dar. Dabei haben Sie die Aufgabe Er-kenntnis über die Akteure zu gewinnen, die dem Eigentümer bereitzustellen, damit dieser das Design oder die Regeln auf der Plattform anpassen kann (Parker und Van Alstyne 2012).

5.2.2 Kerninteraktion im Plattform-Ökosystem inkl. Value-Unit

■ Eine Multisided-Plattform dient dem Austausch einer Value-Unit zwischen den Akteuren. Der Austauschprozess dieser Value-Unit wird als Kerninterak-tion beschrieben. Die Kerninteraktion ist die zentrale Aktivität auf der Platt-form – Der Wert der Interaktion zieht die Akteure das erste Mal auf die Platt-form. Daher ist beim Plattformdesign sich zuerst auf die Kerninteraktion zu fokussieren. Die Kerninteraktion besteht aus:

1. Eintritt auf die Plattform: Wie können die Teilnehmer reibungslos an der Plattform teilnehmen?

2. Wertangebote: Was wird den Akteuren konkret geboten? 3. Filter: Wie wird das perfekte Match zwischen den Akteuren erzeugt?

Die Kerninteraktion muss dabei einfach, attraktiv und wertvoll für die Akteure sein (Parker et al. 2016).

5.2.3 Multisided Plattformen in der Automobilindustrie

Multisided Plattformen in der Automobilindustrie können in drei Handlungsfel-der gegliedert werden.

■ Im Fahrzeug: Hier werden alle Multisided Plattformen verstanden, auf wel-

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Modell des „Plattform-Ökosystem eines Mobilitätsanbieters 89

che der Kunde im Fahrzeug Zugriff hat und dabei Inhalte konsumiert (Spo-tify)

■ Um das Fahrzeug herum: Diese Plattformen binden den Insassen und das Fahrzeug in die Außenwelt ein (Parken, Laden)

■ Intermodal: Für die Teilnahme an diesen Plattformen, benötigt der Konsu-ment kein eigenes Fahrzeug und ermöglicht dem Nutzer Mobilität (Ridesha-ring wie BlaBla Car)

5.3 Modell des „Plattform-Ökosystem eines Mobilitätsanbieters

Multisided Plattformen in der Automobilindustrie haben aufgrund ihrer Fahr-zeugnähe eine hohe Ähnlichkeit, sodass es sich für einen OEM als Mobilitätsanbie-ter ein Plattform-Ökosystem zur Bereitstellung der Architektur zur Realisierung von Multisided Plattformen anstreben können. Dabei werden Ziele, Herausforde-rungen, Kernkomponenten und KPIs betrachtet.

Abbildung 5.1 Mobilität-Plattform-Ökosystem: Die Kompetenzen

[Eigene Darstellung]

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90 Von Pipeline-Business zur Multisided Plattform

5.3.1 Ziele

Ein Plattform Ökosystem ist finanziell erfolgreich, wenn es für eine Gruppe von Akteuren besonders hohen Wert schafft, welche der Plattform-Ökosystem Betrei-ber „besteuert“, ohne das Wachstum und der Wert des Gesamtes Plattform-Öko-system negativ beeinflusst wird (Boudreau und Hagiu 2008). Daher müssen Platt-formen, welche damit von der Partizipation Dritter abhängig sind, Externe Ak-teure dafür begeistern Werte auf der Plattform zu generieren. Dazu bedarf es einer starken Vision (Gawer und Cusumano 2014) und das Vertrauen, die Investitionen in das Plattform-Ökosystem das in die Plattform investierte auf andere Weise zu-rückzuerhalten. So können Plattformen scheitern, wenn Plattform-Eigentümer ausschließlich darüber nachdenken, was sie bekommen und nicht was sie der Community zurückgeben können (Parker und Van Alstyne 2012). Durch die Kom-bination der einzelnen Multisided Plattformen kann der OEM den Akteuren einen höheren Ökosystem-Wert bieten als eine Single-Plattform Ökosystem. Ein Beispiel hierfür ist die Kombination einer Car-Sharing Plattform mit einer Information-Plattform wie beispielsweise Spotify, wobei beim Öffnen des Fahrzeuges automa-tisch der persönliche Spotify-Account des Kunden geladen wird und diese sofort im Fahrzeug Zugriff auf seine persönlichen Playlisten hat. Der OEM tritt damit als Aggregator verschiedener Plattformen auf. Der OEM hat also nicht die Aufgabe alle einzelnen Plattformen (z.B. Spotify) operativ zu betreiben, sondern dank ihrer Stärken (z.B. Tiefgehende Fahrzeugintegration) die Teilnahme an den einzelnen Single-Plattformen zu erleichtern. Eine Möglichkeit zur Besteuerung der Akteure der Multi-Plattform Ökosystem sieht vor Transaktionen zwischen Akteuren, die sich in den OEM eigenen Plattform-Ökosystemen angemeldet sind, nicht zu be-steuern. Wohingegen Transaktionen von Akteuren, welche im OEM Ökosystem angemeldet sind, und Dienstleistungen eines Drittanbieters außerhalb des Platt-form-Ökosystems mit einer Vermittlungsgebühr zu besteuern. Ein Beispiel hierfür wäre der Kauf eines Bahntickets.

5.3.2 Herausforderungen

Mit dem Ziel den Ökosystem-Wert zu steigern steht die Plattform vor den Heraus-forderungen Transaktionskosten zu senken, Netzwerkeffekte zu steigern, Ressour-cen zu orchestrieren und Externe Interaktion zu erleichtern (Van Alstyne et al. 2016). Gründe für hohe Transaktionskosten sind das Fehlen von günstigen Abrech-nungssystem, mangelnde Dokumentation von Transaktionen und (Rochet und Ti-role 2003a) und unverständliche Prozesse für die Akteure (Jullien 2005). Netzwer-keeffekte führen dazu, dass Akteure durch weitere Akteure auf der Plattform pro-fitieren. So sind die Anbieter- und Konsumentenzahlen positiv rückgekoppelt

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Modell des „Plattform-Ökosystem eines Mobilitätsanbieters 91

(Parker und Van Alstyne 2012) und die Akquise neuer Kunden mit dem Wachstum des Ökosystem leichter wird. (Eisenmann et al. 2006). Die Netzwerkeffekte, welche durch einzelne Akteure für das Ökosystem erzeugt werden, können so wertvoll sein, dass diese die Plattform kostenlos nutzen dürfen (Evans 2003). Die Ressour-cen Orchestrierung dient dazu Regeln für das Zusammenleben der Akteure im Ökosystem konsequent durchzusetzen. Eine Orchestrierung verstärkt die Netz-werkeffekte und schafft Vertrauen bei den Akteuren in dem Ökosystem aktiv zu sein (Boudreau und Hagiu 2008). Externe Interaktion ermöglichen es Dritten Inno-vationen und Werte für die Plattform zu schaffen (Parker und Van Alstyne 2012).

5.3.3 Kernkomponenten

Durch die Fahrzeugnähe haben die einzelnen Plattformen eine hohe technologi-sche Ähnlichkeit. Daraus ergibt der folgende Baukasten für Kernkomponenten, welche ein Mobilitätsanbieter für erfolgreiche Plattform-Ökosysteme benötigt. Die einzelnen Kernkomponenten sind in die Kategorien Sicherheit, Angebot-Nach-frage Fit, Einfachheit und Schaffung von neuem gegliedert und helfen gleichzeitig mehrere Herausforderungen bei der Steuerung des Plattform-Ökosystem Wertes zu überwinden.

5.3.4 Vertrauen

Bevor Anbieter und Konsumenten sich auf einen eine Dienstleistung einigen, muss beidseitiges Vertrauen geschaffen werden. Der Anbieter erwartet eine gesicherte Bonität des Konsumenten und einen schonenden Umgang mit den bereitgestellten Ressourcen. Der Konsument erwartet im Gegenzug eine hohe Qualität bei einem angemessenen Preis. (Marshall W. Van Alstyne and Michael Schrage 2016). Manu-elle Bewertungen, Telematik Bewertungen, Messaging, Messaging, Governance-Tools und Versicherungen helfen vertrauen in einem Plattform-Ökosystem eines Mobilitätsanbieters aufzubauen für die einzelnen Multisided Plattformen aufzu-bauen.

5.3.4.1 Manuelle Bewertung:

Nach Erbringung einer Dienstleistung bewerten die Akteure sich gegenseitig nach verschiedenen Kriterien.

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92 Von Pipeline-Business zur Multisided Plattform

5.3.4.2 Telematik Bewertung

Die Fahrzeug Telematik und Fahrzeug Sensorik können zur Schaffung von Ver-trauen für die Teilnehmer genutzt werden. So kann das Verhalten der Akteure dank der Fahrzeug Telematik automatisch und Objektiv bewertet werden. Dar-über hinaus können so dynamische auf das Verhalten des Konsumenten ange-passte Preise realisiert werden. Fährt zum Beispiel ein Kunde mit dem P2P-Car-sharing Fahrzeug zu schnell, steigen seine Kosten und der Vermieter verdient mehr Geld.

5.3.4.3 Fahrzeugzustandsbericht

Die Fahrtüchtigkeit des Fahrzeuges wird anhand eines automatisierten Fahrzeug-zustandsberichts gesichert, welchen das Fahrzeug an die Plattform sendet. Dem Konsumenten wird bei der Buchung einer Dienstleistung mit dem jeweiligen Fahr-zeug dessen Status angezeigt. Weiter können automatisch fahruntüchtige Fahr-zeuge aus dem Angebotspool hergenommen werden. Für den Konsumenten wird automatisch Ersatz organisiert, sodass er gar nichts von dem Ausfall des gebuchten Fahrzeuges mitbekommt. Die OEM Fahrzeugzustands Zertifizierung gibt dem Kunden die Sicherheit in einem Einwandfreien Fahrzeug zu sitzen.

5.3.4.4 Messaging

Neben der Bewertung hilft es den Akteuren Vertrauen zu gewonnen, indem diese sich in einem Messaging Dienst „beschnuppern“ und zusätzlich Details zur Erbrin-gung der Dienstleistung zu klären. Das Beschnuppern ist umso wichtiger, desto privater die erbrachte Dienstleistung ist. Das Messaging hat jedoch den Nachteil, dass dadurch die benötigt Zeit zur Anbahnung der Dienstleistung für die Akteure erhöht wird.

5.3.4.5 Governance -Tools

Plattformen definieren über Regeln wie einzelne Akteure miteinander interagie-ren. Diese Regeln müssen so gestaltet sein, dass alle Akteure davon profitieren, insbesondere diese die Wert für das Ökosystem schaffen (Parker und Van Alstyne 2012). Dabei bestrafen Sie Fehlverhalten auf der Plattform und belohnen Plattform konformes Verhalten (Boudreau und Hagiu 2008).

Einerseits regelt sich das System durch das Bewertungssystem. Jedoch Betrüger durch gegenseitiges positiv Bewertungen das Bewertungssystem umgehen. Dieses Verhalten ist zu verhindern. Diese betrügerischen Bewertungen können zum Bei-

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Modell des „Plattform-Ökosystem eines Mobilitätsanbieters 93

spiel durch die Telematik des Fahrzeuges überwacht werden (Ist das Fahrzeug tat-sächlich die angegebene Strecke gefahren?). Darüber hinaus definieren die Gover-nance Tools, welche Freiräume und Begrenzungen die Anbieter und Konsumenten auf der Plattform haben. So können ethisch bedenkliche oder minderwertige An-gebote dem Ruf der Plattform schaden. Damit ist ein Mindeststandard für Ange-bote zu definieren und zu überwachen (Parker und Van Alstyne 2014, S. 3). Auf-grund der hohen Anzahl an Aktivitäten auf der Plattform sind diese Prozesse zu automatischen.

5.3.4.6 Versicherungen

Durch die optionale Verknüpfung des Angebotes mit einer Versicherung wird das Risiko für den Anbieter einen Service anzubieten weiter reduziert und die Eintritts-barrieren für den Anbieter weiter reduziert. Gleichzeitig fühlt sich der Konsument geschützt, wenn er weiß, dass z.B. beim P2P-Carsharing das Fahrzeug Vollkasko-Versichert ist. So wird der Mieter auch Unfälle nicht verschleiern und das Ver-trauen in die Plattform steigt.

5.3.5 Angebot/Nachfrage Fit

Der Kern eines Plattform-Ökosystem ist der Matching-Algorithmus dieser sorgt für die optimale Zuordnung von Angebot und Nachfrage. Dabei ist die Plattform als kollaboratives System zu verstehen. Diese Matching Algorithmen werden zur Routenoptimierung, Auslastungsoptimierung, der Kombination von Services und der Kundenpräferenzoptimierung angewendet.

5.3.5.1 Routenoptimierung

Mobilitätsanbieter haben die Aufgabe Beförderungsaufträge möglichst effizient zu erbringen und diese auf optimal auf verschiedene Fahrzeuge zu verteilen. Mat-ching Algorithmen zur Routenoptimierung kombinieren einzelne Beförderungs-aufträge für das einzelne Fahrzeug optimal, sodass die gefahrene Strecke aller Fahrzeuge für die Erbringung derselben Beförderungsleistung unter Berücksichti-gung weiterer Kriterien minimiert wird.

5.3.5.2 Auslastungsoptimierung

Auslastungsoptimierungen ergänzen die Routenoptimierung um weitere Parame-ter und ermöglicht die gleichzeitige Erbringung mehrerer Aufträge auf einer Route. Neben der optimierten Auslastung von Fahrten ist die Auslastungsoptimie-rung von Parkplätzen und Ladesäulen zu nennen.

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94 Von Pipeline-Business zur Multisided Plattform

5.3.5.3 Kombination von Services

Matching-Algorithmen zur Kombination von Services ermöglichen die gleichzei-tige Erbringung von verschieden Dienstleistungen auf einer Tour. So kann zum Beispiel freier Kofferraum Kapazitäten für eine Paketlieferung verwendet werden, währenddessen auf der Rücksitzbar Personen transportiert werden.

5.3.5.4 Revenue Management

Matching Algorithmen zum Revenue Management dienen dazu die unterschiedli-che Zahlungsbereitschaft der Kunden abzuschöpfen und gleichzeitig bei begrenz-ten Ressourcen dringende Kundenbedürfnisse befriedigen zu können. So werden die Preise beispielsweise einer Taxi-Fahrt automatisch an das Angebot und Nach-frage angepasst.

5.3.6 Neues Schaffen

Ein Plattform-Ökosystem lebt von den innovativen Ideen und Produkten, welche die Anbieter in dem Ökosystem bereitstellen. Daher haben Plattformen eine aus-reichend offene oder modulare Architektur zu wählen, um 3rd Party Innovationen zu erleichtern (Gawer und Cusumano 2014). Weiter stellen Plattformen ihren Akt-euren Funktionen mit hohe Fixkosten und minimalen variablen Kosten äußerst günstig oder kostenlos zur Verfügung (Rochet und Tirole 2003a).

5.3.6.1 API

Die Bereitstellung einzelner Dienste auf der Plattform als API ermöglicht die ex-terne Integration der Dienste auf der Plattform und reduziert die Kosten für die Integration deutlich und ermöglicht gleichzeitig Spielräume für das Business De-velopment. So können Business-Partnerschaften zum Beispiel mit einem Ridesha-ring Anbieter nach der Vereinbarung technologisch schnellst möglich zu realisie-ren sein. Öffentliche APIs regen die Kreativität von externen Entwickeln an neue Service, welche das Plattform Ökosystem einbinden zu entwickeln. Weiter ermög-lichen APIs die Integration von Diensten basierend auf verschiedensten Technolo-gien, wodurch Technologieabhängigkeiten vermieden werden und externe Ent-wickler ihre bevorzugte Technologie verwenden können.

Damit wird die Integration von Diensten von 3rd Party Playern erleichtert (Mars-hall W. Van Alstyne and Michael Schrage 2016).

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Modell des „Plattform-Ökosystem eines Mobilitätsanbieters 95

5.3.6.2 Funktion On Demand

Neue Fahrzeugfunktionen werden dem Kunden während der Nutzung des Fahr-zeuges angeboten und bei einem Kauf heruntergeladen und für das Fahrzeug ak-tiviert. Für die Funktionen sind Preismodelle wie zeitlich begrenzte Miete, Abo Modelle oder die Dauerhafte Aktivierung möglich. Wichtig hierbei ist es, dass ein-mal gekaufte Funktionen auf das nächste zu nutzende Fahrzeug zu übertragen sind (z.B. dauerhafte Aktivierung des Parking Pilot).

5.3.6.3 App-Store

Der App-Store ist die Schnittstelle zwischen Diensten und dem Konsumenten. Über den App-Store bietet der Anbieter neue Apps an, nachdem diese zuvor durch verschiedene Governance-Tools geprüft wurden. Der Kunde kann diese App her-unterladen.

5.3.6.4 Over The Air Update

Over The Air Updates ermöglichen Steuergeräte Updates zur Bereitstellung neuer Funktionen und dem lösen von aufgetretenen Problemen. Over The Air Updates sind damit die Grundvoraussetzung für ein sich kontinuierlich weiterentwickeln-des Ökosystem.

5.3.6.5 Service Development Kit (SDK)

Das Service Development Kit erleichtert den Service Anbietern die Schaffung von neuen Services, in dem einzelne Funktionen den Entwickelrn von neuen Services bereitgestellt werden. Wichtig hierbei ist eine intuitive Entwickler-Umgebung. Die für die SDK bereitgestellten Funktionen sind unter strategischen Aspekten zu be-trachten. Durch mit dem SDK verbundenen dezentralen Offenen Lizenzmodelle können Standardverträge ohne Verhandlungskosten geschaffen werden. Dies wurde OEMs die Kooperation mit kleineren Akteuren ermöglichen (Parker und Van Alstyne 2009, S. 32) (JACKSON, 1999). In einer weiteren Ausprägung kann hier über ein Aufbau eines DRM (Developer Relationships Managements) ähnlich eines heutigen CRMs nachgedacht werden.

5.3.6.6 Richtlinien 3rd Party Integration

Die 3rd Party Integration ist für den Plattform-Ökosystem Anbieter ein zwei-schneidiges Schwert. Erstens müssen die 3rd Party Anbieter dazu motiviert wer-den ihre Service auf der Plattform anzubieten und neues zu schaffen. Wodurch Wert für das Plattform-Ökosystem generiert wird.

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96 Von Pipeline-Business zur Multisided Plattform

Ein zu großer Wettbewerb auf der Plattform um die Kunden führt jedoch zum Preisverfall und die Attraktivität der Plattform für Anbieter geht zurück und die Einnahmen des Plattform Sponsors gehen zurück. (Geoffrey Parker and Marshall Van Alstyne 2008, S. 64–65). Ziel ist es den 3rd-Pary Anbietern die Möglichkeit zu geben Nischen Applikationen zu entwickeln. Wodurch ebenfalls die Plattform für eine breite Masse an Konsumenten attraktiv wird (Parker und Van Alstyne 2012). Für die Plattform gilt dabei der Grundsatz Applikationen mit einer hohen Wert-schöpfung selbst anzubieten und Nischenprodukte 3rd Party Entwicklern zu über-lassen (Parker und Van Alstyne 2009, S. 20). Gleichzeitig ist darauf zu achten, dass die 3rd Party Anbieter nicht ihr eigenes Ökosystem schaffen und so Konsumenten vom OEM Ökosystem in ihr eigenes System ziehen.

5.3.7 Einfache Nutzung

Die höchsten Transaktionskosten entstehen durch eine komplexe und wenig intu-itive Bedienung. Durch die folgenden Kernkomponenten können diese Transakti-onskosten reduziert werden (Jullien 2005).

5.3.7.1 1-Click UX

Hierbei wird die Anzahl an Interaktionen für die Erbringung der Dienstleistung für die Akteure maximal reduziert. Bei einer Mitfahr-App wird zum Beispiel eine Mit-Fahranfrage im HMI angezeigt, mit einem Klick entscheidet der Fahrer nun, ob er die Person mitnehmen möchte. Bei einer Bestätigung werden alle weiteren Prozesse wie zum Beispiel Routenimport und Payment automatisiert. Dies redu-ziert die Reibung (Friction) für den Fahrer signifikant und wird somit für andere Fahrergruppen z.B. Geschäftsfahrten attraktiv.

5.3.7.2 Verrechnungskonto

Die Akteure in einem Plattform-Ökosystem wechseln ständig ihre Rolle. Am Vor-mittag vermietet Person A seinen Parkplatz und am Nachmittag mietet Person B ein Fahrzeug über einen P2P-Carsharing Dienst des Plattform-Ökosystem. Wodurch die einzelnen Akteure sowohl Einnahmen als auch Einnahmen in dem Plattform-Ökosystem haben, um den damit verbunden Micropayment Prozess zu vereinfachen und zusätzlich Finanztransaktionskosten zu sparen ist ein Verrech-nungskonto an die ID jedes Akteures geknüpft und wird wie ein Prepaid Konto entweder per Kreditkarte, Bankeinzug oder Gutscheinkarte aufgeladen. Bei der Er-bringung einer Dienstleistung zwischen zwei Parteien mit einem Verrechnungs-konto (z.B. Mitfahr-App) werden die Guthaben zwischen den Akteuren verbucht,

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Modell des „Plattform-Ökosystem eines Mobilitätsanbieters 97

Das Geld bleibt so im Ökosystem, in welchem es floriert und gleichzeitig die Ak-teure motiviert das OEM Ökosystem zu verwenden.

Zusätzlich werden den Kunden, die zum Beispiel einen Wagen des OEMs kaufen ein Startguthaben für das eigene Verrechnungskonto gegeben, mit dem der Kunde verschiedene Services in dem Plattform-Ökosystem nutzen kann. Weiter ist ein monatliches kostenloses Guthaben möglich, welches der Kunde beim Kauf eines Fahrzeuges des OEMS erhält.

Ein Verrechnungskonto hat einen weiteren signifikanten Vorteil gegenüber Einzel-abrechnungen. Einzelabrechnungen verursachen Finanztransaktionskosten zum Beispiel für PayPal oder ähnliche Anbieter. Diese betragen zum Teil mehr als 1,9% des Umsatzes. Um keinen Verlust zu realisieren, muss der Plattform-Betreiber bei Einzelabrechnungen eine Vermittlungsgebühr verlangen. Einzelabrechnungen verhindern damit ein exponentielles Wachstum. Dank eines Verrechnungskontos wird die Anzahl der benötigten Finanztransaktionen deutlich reduziert. Die finan-ziellen Ressourcen bleiben folglich im Ökosystem und steigern damit den Wert des gesamten Ökosystems. Ein exponentielles ist möglich. So wird die Kritische Masse für die Konsumenten geschaffen.

5.3.7.3 Flottenmanagement

Das Flottenmanagement stellt einen signifikanten Wettbewerbsvorteil gegenüber andern Wettbewerbern, um das führende Mobilitätsanbieter Plattform-Ökosystem dar. Die Flottenkunden können durch die Reduktion der Leasingrate zur Anbieten von Dienstleistungen wie z.B. Anbieten von Fahrten bei einer MitFahr App oder das Anbieten des Fahrzeuges bei P2P-Carsharing Dienst motiviert werden. Dank der direkten Verknüpfung des Leasing-Vertrages mit dem Verrechnungskonto wird die Leasing-Rate direkt und ohne organisatorische Aufwänden für den Flot-tenbetreiber reduziert. Auf diese Art und Weise kann in kürzester Zeit zum Bei-spiel ein hohes Angebot an Langstecken Fahrten, in neuen Fahrzeugen und seriö-sen Fahrern realisiert werden. Auf diese Weise kann die Kritische Masse auf der Anbieterseite geschaffen werden.

5.3.7.4 Digital Key

Der Digital Key ermöglicht die Übertragung von Fahrzeugnutzungsrechte für ei-nen begrenzten Zeitraum. Dies reduziert die die Transaktionskosten für Car-Sha-ring insb. P2P-Car Sharing Dienste signifikant. Der Digital Key ist weiter Grund-voraussetzung für Car Access Based Services. Diese beginnen bei Reinigungsser-vices und enden bei der Lieferung von Blumen ins Fahrzeug. Gerade bei der Ent-wicklung neuer Access Based Services ist eine Integration von 3rd Party Anbietern

Page 104: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

98 Von Pipeline-Business zur Multisided Plattform

von höchster Bedeutung.

5.3.7.5 ID

Eine eindeutige Nutzer ID ist ermöglicht die Verknüpfung der verschiedenen Dienste in dem Plattform-Ökosystem mit dem einzelnen Akteure. Darüber hinaus können zum Beispiel über den Digital Key Berechtigungen an den Akteur ge-knüpft werden. Dabei ist jedem Fahrzeugeigentürmer beim Kauf eines Fahrzeuges und bei dem Besuch in der Werkstatt eine OEM ID anzubieten. Auf diese Weise wird dank der bestehenden Vertriebskanäle eine hohe Anzahl an Plattform-Akt-euren geschaffen.

5.3.7.6 Routenimport

Der automatische Routenimport erleichtert die Erbringung einer Dienstleistung und reduziert Fehler bei der Eingabe. So wird beispielweise die Erbringung von Ridesharing Diensten für den Fahrer deutlich vereinfacht.

5.4 Management-KPIs eines Plattform-Ökosystems

Zum Management der einzelnen Multisided Plattformen als Eigentümer des Platt-form-Ökosystem werden drei Key Performance Indikators (KPI) verwendet. Häu-figkeit Plattform-Versagen, Durchschnittliche Vermittlungsqualität und Nut-zungsintensität gewählt.

5.4.1 Plattformversagen

Ein Plattformversagen tritt auf, wenn die Plattform auf eine Anfrage kein adäqua-tes Angebot bieten kann. Nutzer die mehrmals ein Plattformversagen erleben wen-den sich in der Regel von der Plattform ab. Bei einer Mit-Mitfahr App ist es Wahr-scheinlichkeit, dass ein Kunde keine Angebote für seine gewünschte Fahr erhält.

5.4.2 Vermittlungsqualität

Die Vermittlungsqualität beschreibt den durch die Plattform durchschnittlich er-zielten Fit zwischen Angebot und Nachfrage bei einer angebotenen Dienstleistung.

Page 105: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Entwicklungsstufen einer Multisided-Plattform 99

Bei einer Mit-Fahr App zeigt sich diese zum Beispiel durch die zusätzlich zu fah-renden Kilometer für den Fahrer im Vergleich zu seiner direkten Route.

5.4.3 Nutzungsintensität

Die Nutzungsintensität berücksichtigt einmal die Häufigkeit der Nutzung der Plattform eines Nutzers unter Berücksichtigung des dabei umgesetzten Wertes in Euro und der zusätzlich geschaffenen Werte für die Plattform zum Beispiel durch ausführliche Bewertungen. Bei einer Mit-Fahr App ist es der Anteil an gefahrenen Kilometer, in denen ein Fahrer jemanden drittens mitnimmt.

5.5 Entwicklungsstufen einer Multisided-Plattform

Abbildung 5.2 Entwicklungsstufen einer Multisided-Plattform

[Eigene Darstellung, in Anlehnung an Chase, R. 2017]

Nachdem ein Plattform-Ökosystem eines Mobilitäts-Anbieters beschrieben wurde, soll nun betrachtet werden, wie sich ein Plattform-Ökosystem sich mit seiner Reife

Page 106: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

100 Von Pipeline-Business zur Multisided Plattform

wandelt. Dabei durchläuft eine Plattform vier Phasen, die sich in Aufgaben und Zielen unterscheiden. Die folgenden Entwicklungsstufen werden durchlaufen.

■ Kontrolliere den Kern

■ Offen für alle

■Machtungleichgewicht

■ Teile und herrsche

5.5.1 Kontrolliere den Kern

In der ersten Phase steht der Plattform-Betreiber vor der Herausforderung die Kernfunktion der Plattform für seine Nutzer bei minimalem Plattformversagen, hoher Vermittlungsqualität und die Nutzungsintensität zu maximieren. Um dieses sicherzustellen, stellt die Plattform ausschließlich die Kerninteraktion zur Verfü-gung und versucht maximale Kontrolle auf der Plattform zu haben. Mit der erhöh-ten Kontrolle versucht der Plattformbetreiber eine kritische Masse zu erzeugen, um die positiven Rückkopplungen, welche durch indirekte Netzwerkeffekte in einem Plattform-Ökosystem zu entstehen, zu beschleunigen. Der Plattformbetreiber hat also die Herausforderung die Stellschrauben zu identifizieren, um die kritische Masse zu erzeugen. Diese ist durch eine minimale Dichte von Angebot und Nach-frage auf der Plattform beschrieben. Diese Dichte kann geographisch, thematisch, zeitlich, preislich oder kulturell sein.

Die geographische Dichte beschreibt bei einer Mitfahr App die zu fahrenden Um-wege, um einen Mitfahrer einzusammeln. Die preisliche Dichte beschreibt die Dis-tanz zwischen Zahlungsbereitschaft des Mitfahrers und die des Fahrers. Der the-matische Dichte kann bei einem Mitfahr App die Diskrepanz zwischen dem ge-wünschte Fahrzeug des Mitfahrers und dem Fahrzeug des Fahrers sein. Bei der kulturellen Dichte werden die Überschneidungen der Werte des Anbieters und Nachfragenden betrachtet zu diesen Werte könnte zum Beispiel Pünktlichkeit zäh-len.

5.5.2 Offen für alle

Sobald Regeln und Kultur auf der Plattform etabliert sind und eine kritische Masse erreicht wurde, kann von einer robusten Plattform gesprochen werden. Sobald dies erfüllt sind, können die Restriktionen bei der Auswahl der Akteure und die

Page 107: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Entwicklungsstufen einer Multisided-Plattform 101

Kontrolle über die Prozesse gelockert werden und somit erstens vereinfachte Teil-nahmebedingungen geschaffen und zweitens durch den erhöhten Freiheitsgrad Innovationen der Akteure ermöglichen. Die erhöhte Anzahl an Akteuren führt dazu, dass die Auswahl steigt und die Akteure durch Filter Mechanismen bei der Auswahl z.B. die Auswahl einer gewünschten Fahrzeugkategorie zu unterstützen-den sind.

Nachdem in der ersten Phase Kontrolliere den Kern eine restriktive Access-Strate-gie gewählt wurde, verändert die Plattform seine Access-Strategie, wobei diese die Interaktion mit anderen Plattformen ermöglicht. Ziel dabei ist es einen Reibungs-losen Zugang zu ermöglichen und gleichzeitig den Kern der Plattform mit einer Offenen Umgebung zu beherrschen. Dabei können zwei Perspektiven betrachten werden. 1. 3rd Party übernimmt Aufgaben im eigenen Plattform-Ökosystem und 2. Das eigene Plattform Ökosystem übernimmt Aufgaben in einem 3rd Party Platt-form Ökosystem. Ein Beispiel für den Fall 1 wäre ein Facebook Login auf der eige-nen Plattform und für Beispiel 2 das automatische Anbieten einer Fahrt sowohl auf der eigenen Mitfahr- Plattform als auch auf einer 3rd Party Mitfahr-Plattform wie BlaBla Car. Um den Aufwand einer solchen externen Interaktion zu verringern, ist die Bereitstellung von APIs notwendig. Die Freigabe einzelner APIs für unter-schiede 3rd Parties hängt dabei von der Wertsteigerung und den Risiken für das Ökosystem.

5.5.3 Machtungleichgewicht ausgleichen

Mit der Öffnung des Plattform-Ökosystem setzen sich einzelne Akteure auf der Plattform durch, wodurch die Gewinne zwischen den sehr erfolgreichen Akteuren und den anderen Akteuren unfair aufgeteilt werden. Hier kann von einer Super-Star Economy gesprochen werden. Die Aufgabe der Plattform ist es nun ein Macht-gleichgewicht wieder herzustellen, und die Abhängigkeit von einzelnen Akteuren abzubauen. Bei einer Mit-Fahr Plattform sind dies beispielsweise professionelle Fahrer auf hochfrequentierten Strecken, die in Bussen 8 Passagagiere gleichzeitig befördern, wodurch die zu erzielenden Preise für eine solche Strecke minimiert werden, und für den einfachen privaten Fahrer die Mitnahme unattraktiv wird. Das verstärkte Auftreten dieser professionellen Fahrer verändern die Kultur auf der Plattform und die Mitfahr Plattform verliert sein positives und freundliches Image, was dazu führt, dass die Endkunden abwandern. Daher hat die Plattform die Aufgabe die Attraktivität der Plattform für die kleineren Akteure zu erhalten. Gleiches gilt für die bereitgestellten APIs. Häufig nutzen Aggregator-Plattformen die APIs und treten als Meta-Plattform auf. Im Kontext Mitfahr App können Ag-

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102 Von Pipeline-Business zur Multisided Plattform

gregator Plattform die API zum Suchen einer Fahrt nutzen. Um an dem Erfolg die-ser Aggregatoren zu partizipieren kann ein Fremium-Modell für die API verwen-det werden, wobei 3rd Parties ab einer definierten Anzahl an API-Calls dafür zah-len müssen.

5.5.4 Teile und herrsche

In der vierten Phase hat sich die Plattform etabliert und die Plattform hat die Macht über Ökosystem, um die Akteure jedoch auf der Plattform zu halten, müssen die Bedürfnisse dieser berücksichtigt werden. Generell bleibt der Ansatz durch Ent-wicklung der Plattform deren Attraktivität zu erhöhen und so den Wert der Platt-form für die Akteure zu steigern. Daneben müssen einzelne Aspekte der Macht mit den Akteuren geteilt werden, in dem Akteure z.B. bei der Änderung von Richtli-nien die Akteure einbezogenen werden. Weiter ist Transparenz für Algorithmen und Prozesse zu schaffen.

Die beschriebenen Entwicklungsstufen zeigen wie aus einem Plattform, welche sich auf eine Kerninteraktion fokussiert ein Plattform-Ökosystem entwickelt und eine monopolähnliche Stellung einnimmt.

5.6 Ergebnis getriebene Multisided-Plattform Entwicklung

Nachdem die Entwicklungsstufen einer Multisided-Plattform beschrieben wurde, soll im Folgenden eine Methodik dargestellt werden, wie systematisch eine Platt-form-Idee generiert, ein Plattform-Strategie konzipiert und ein Vorgehensmodell zur Validierung eines Plattform-Geschäftsmodells geplant werden kann.

Die Plattform-Idee zur Disruption des eigenen Produktes wird anhand der Schritte: Status-Quo, Customer Insight, Ideation, Verketten und Plattform-Ent-wicklung erarbeitet.

Page 109: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Ergebnis getriebene Multisided-Plattform Entwicklung 103

Abbildung 5.3 Plattform-Ideen zur Disruption eigener Produkte entwickeln

[Eigene Darstellung]

Nachdem dieses Plattform-Geschäftsmodell beschrieben wurde, wird ein Platt-form-Konzept entwickelt. Ein Plattform Konzept betrachtet die Plattform aus den Perspektiven Plattform-Mechanik, Metrics, Growth-Hacking und der Ausdefini-tion der Plattform-Entwicklungsstufen

Abbildung 5.5 Plattform-Ideen zur Disruption eigener Produkte entwickeln

[Eigene Darstellung]

Page 110: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

104 Von Pipeline-Business zur Multisided Plattform

Das entwickelte Plattform-Konzept ist danach möglichst effizient zu validieren. Dabei werden Methoden des Lean-Startup entlang der Schritt, Business-Hypothe-sen entwickeln, Business-Experimente, einem Pitch-Deck und schließlich das Tref-fen einer Investitionsentscheidung zur Validierung des Plattform-Models als Mi-nimum Viable Platform, um die Business-Hypothesen hinter dem Plattform-Ge-schäftsmodell zu prüfen. Auf diese Weise wird die Grundlage für die Entwick-lungsstufe 1: „Kontrolliere den Kern“ gelegt.

Abbildung 5.5 Plattform-Ideen zur Disruption eigener Produkte entwickeln

[Eigene Darstellung]

5.7 Fazit

In dem Artikel wurde der Weg von einer Pipeline zu einem Plattform-Geschäfts-modell eines Mobilitätsanbieters beschrieben. Hierzu wurde zunächst ein Über-blick über die Plattform-Theorie gegeben und anhand dieser die Notwendigen Kompetenzen eines Mobilitätsanbieters dargestellt. Danach wurde die Entwick-lung einer Plattform von einer auf seine Kerninteraktion fokussierte Multi-Platt-form hin zu einer monopolähnlichen Marktpositionierung beschrieben. Abschlie-ßend wurde eine generische Methodik dargestellt eine Plattform-Ideen zur Disrup-tion eines Produktes zu entwickeln, für diese ein Konzept zu entwickeln und einen Validierungsplan für das entwickelte Plattform-Konzept zu formulieren.

Page 111: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Fazit 105

Literatur

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Page 112: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

6 Mehrfach Transformation in der automobilen Mobilität – Disruption für das Management

M. A. Teichert, Dr. B. Sikora (Fortschritt GmbH) 6 Mehrfach Transformation in der automobilen Mobilität – Disruption

für das Management 107

6.1 Einleitung ..................................................................................................... 1086.2 Theorie .......................................................................................................... 1086.3 Methodik ...................................................................................................... 1136.4 Ergebnisse der Studie ................................................................................. 1136.5 Fazit ............................................................................................................... 119

Literatur ........................................................................................................................ 120

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_7

Page 113: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

108 Mehrfach Transformation in der automobilen Mobilität

6.1 Einleitung

Die heutige Mobilität wird sich in Zukunft grundlegend transformieren und zu einem neuen Paradigma der Mobilität führen. Dieser Wandel wird besonders die Automobilbranche betreffen. Es ist jedoch nicht eine Transformation, die diese Be-reiche ändern wird, sondern drei: Erstens steht die Automobilbranche vor einem umfassenden Technologiewandel. Dieser betrifft insbesondere die Themen An-triebskonzepte, Materialien sowie Soft- & Hardware. Zweitens wird sich die Be-reitstellung der Leistungen mit sich wandelnden Rollen bei den Erzeugern massiv verändern. Drittens wird es einen radikalen Wechsel bei der Nutzung der Mobili-tät geben.

Diese drei Transformationen sind nicht entkoppelt voneinander zu sehen. Viel-mehr verstärken sie sich gegenseitig. In ihrer Kumulation entwickelt sich ein radi-kaler bis disruptiver Charakter für die Mobilität und insbesondere für die Auto-mobilbranche. Nur mit einer Umstellung des Managements kann es gelingen die Anforderungen aus Kundenperspektive erfolgreich zu bewältigen. Mit dem Füh-rungsstil nach Schrempp und Piëch konnten OEMs (Original Equipment Manufac-turer) Erfolge einfahren. In der Vergangenheit! In der Zukunft werden andere Me-thoden, Mentalitäten und Charaktere zum Erfolg führen, denn die neuen Ge-schäftsfelder und die sich wandelnde Supply Chain bedingen dies.

Auf der Welle des gegenwärtigen Erfolges der Automobilhersteller, mag es für Be-trachter irritierend wirken, alles umwälzende Einflüsse zu skizzieren. Dennoch wird der Wandel die OEMs mehr betreffen als die Zulieferer. Zudem wird in der Zukunft die Mobilität zum Großteil als PaaS-Lösung vertrieben, so dass während der Transformation eine interne Kannibalisierung zu erwarten ist. Die Offenheit der Organisation, diese innerbetriebliche Kannibalisierung zu akzeptieren und zu leben, wird neben der Überwindung starker Beharrungskräfte bedeutendste Ma-nagement-Aufgabe.

6.2 Theorie

6.2.1 Umsetzung von Innovationen zu konkreten Geschäftsmodellen

Wir erleben derzeit einen dynamischen Wandel in der Automobilbranche, durch den Innovationen immer schneller zu profitablen Geschäftsmodellen werden.

Page 114: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Theorie 109

Aber was sind überhaupt Innovationen und wie werden diese angenommen?

Der Begriff Innovation ist sehr weit gefasst und muss nicht immer zwingend auf einer Eigenentwicklung beruhen. Die grundlegenden Eigenschaften lassen sich aber wie folgt definieren:

„Innovationen sind neuartige Produkte oder Prozesse im Unternehmen und im Markt, die sich von den bisher bestehenden Lösungen aus Sicht der angespro-chenen Zielgruppen signifikant unterscheiden“ (Herrmann und Huber, 2013).

Im Rahmen der technischen Innovation wird zwischen Anwendungsinnovationen, Produktinnovationen, Konzeptinnovationen und Verfahrensinnovationen unter-schieden (Herrmann und Huber, 2013). Generell leitet sich eine Marktinnovation jedoch nicht per se exklusiv aus technischen Fortschritten, sondern auch aus nicht vollends erfüllten Kundenbedürfnissen ab (Herrmann und Huber, 2013).

Bei einer Umsetzung von Innovationen zu konkreten Geschäftsmodellen wird nach Fazel (2014) innerhalb des Entscheidungsfindungsprozesses für eine techno-logische Innovation zwischen der Akzeptanz und der Adoption unterschieden. Zur Adoption führt Rogers (2003) aus:

„The innovation-decision process can lead to either adoption, a decision to make full use of an innovation as the best course of action available, or to rejection, a decision not to adopt an innovation. Such decisions can be reversed at a later point.“

Die Adoption ist mithin das positive Ergebnis eines Entscheidungsfindungspro-zesses, die Innovation zu übernehmen und zu nutzen. Die Geschwindigkeit mit der eine Adoption erfolgt, differiert jedoch von Innovation zu Innovation.

Ihr vorgelagert ist die Akzeptanz. Sie wird als zwingende Voraussetzung der Adoption verstanden und als

"[...] positive Annahme oder Übernahme einer Idee, eines Sachverhalts oder ei-nes Produktes, und zwar im Sinne aktiver Bereitwilligkeit und nicht nur im Sinne reaktiver Duldung“ definiert (Dethloff, 2004).

Eine entsprechende Annahme oder Übernahme erfolgt jedoch immer nur dann, wenn eine Innovation attraktiver ist, als bisherige auf dem Markt erhältliche An-gebote (Peters und Hoffmann, 2011).

6.2.1.1 Technology Acceptance Model

Um Aussagen über die Nutzerakzeptanz treffen zu können, wird auch heute noch

Page 115: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

110 Mehrfach Transformation in der automobilen Mobilität

auf das von Davis (1989) entwickelte Technology Acceptance Model zurück-gegriffen (Jockisch, 2010). Es war eines der ersten Modelle zur Erforschung der Wahrnehmung von Technologieinnovation durch das Individuum und deren Aus-wirkung auf eine eventuelle Nutzung dieser Technologie (Kohnke, 2015; Straub, 2009). Trotz vieler Erweiterungen und Anpassungen bildet es nach wie vor die Grundstruktur für den Aufbau sämtlicher Technology Acceptance Modelle (Högg, 2010). Das Technology Acceptance Model benennt zwei konkrete Hauptfaktoren, die Einfluss auf die Entscheidung eines Nutzers haben, eine neue Technologie zu verwenden. Diese Hauptfaktoren sind der wahrgenommene Nutzen (Perceived Usefulness, U) und der wahrgenommene Bedienungskomfort (Perceived Ease of Use, E), die jeweils von externen Variablen, wie sozialen, politischen oder kulturellen Faktoren beeinflusst werden (Surendran, 2012). Nach Surendran (2012) und Davis (1989) werden die Begriffe Perceived Usefulness und Perceived Ease of Use wie folgt definiert:

Perceived Usefulness (U):

"[…]the prospective user’s subjective probability that using a specific applica-tion system will enhance his or her job or life performance."

Perceived Ease of Use (E):

"[…] the degree to which the prospective user expects the target system to be free of effort."

Generell lässt sich festhalten, dass ein Anwender umso eher bereit ist ein technologisches System zu nutzen, je höher der von ihm wahrgenommene Nutzen ist und je einfacher er die Benutzung empfindet (Kittl, 2009).

Das Technology Acceptance Model postuliert, dass die Einstellung einer Person gegenüber der Nutzung eines Systems („Attitude Toward Using“, A) entscheidend von dem wahrgenommenen Nutzen (Perceived Usefulness, U) und dem wahrge-nommenen Bedienungskomfort (Perceived Ease of Use, E) beeinflusst wird (Högg, 2010). Durch die Nutzungsabsicht (BI) kann die tatsächliche Nutzung des Systems vorhergesagt werden (Davis et al., 1989), da sie sich direkt auf die tatsächliche Nut-zung des Systems (Actual System Use) auswirkt (Kittl, 2009). Vereinfacht lässt sich diese Beziehung nach Davis et al. (1989) auch in einer Formel ausdrücken:

𝐴 + 𝑈 = 𝐵𝐼 (6.1)

6.2.1.2 Intentions-Verhaltens-Lücke

Die Intentions-Verhaltens-Lücke beschreibt das Kuriosum, dass sich die Absicht und die Ausführung des Zielverhaltens oftmals nicht entsprechen (Wiedemann,

Page 116: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Theorie 111

2017). Im englischen Sprachgebrauch sind auch die Begriffe attitude-behavior gap, intention-behavior gap, value-action gap oder KAP gap (Knowledges, Attitudes, Practice gap) geläufig (Karnowski, 2011; Kowalska-Pyzalska et al., 2014). Bislang wurde der Fokus bei der Intentions-Verhaltens-Lücke zumeist auf die Beziehung zwischen Einstellungen und Kaufabsichten gelegt, wobei sie jedoch auch bei der Frage her-angezogen wird, weshalb sich ein Individuum nicht gemäß seiner (Technik-) Ein-stellung verhält (Claßen, 2013).

So wird beispielsweise bei einer bereits formulierten Kaufabsicht grundsätzlich da-von ausgegangen, dass diese automatisch in ein tatsächliches Kaufverhalten mün-det. In vielen Fällen entspricht dies jedoch nicht der Realität, was zur Folge hat, dass geäußerte Kaufabsichten nicht automatisch auch ein Kaufverhalten auslösen (Carrington et al., 2010; Morwitz et al., 2007; Fukukawa, 2003). Entspricht also die Einstellung zu einem Verhalten nicht dem tatsächlich gezeigten Verhalten, spricht man von einer Intentions-Verhaltens-Lücke (Wiedemann, 2017). Gründe für die Intentions-Verhaltens-Lücke sind Probleme bei der bewussten, willentlichen Um-setzung von Zielen und Motiven in Resultate bzw. Ergebnisse durch zielgerichte-tes Handeln (Volation), die sowohl auf internen als auch externen Faktoren beru-hen können (Au, 2017; Wiedemann, 2017).

6.2.2 Auswirkungen auf das Management

Der Wandel in der Automobilindustrie bedingt insbesondere auch eine Umstel-lung des Managements. Eine Studie von Russel Reynolds Associates (2015) zu die-sem Thema verdeutlicht dies. Obwohl die Automobilindustrie sich in den vergan-genen Jahren signifikant transformiert hat, ist eine entsprechende Transformation bei den Führungskräften der Branchen ausgeblieben. Vielmehr handelt es sich bei den aktuellen Führungskräften im Gegenteil um eine sehr homogene Gruppe, de-ren Mitglieder allesamt ein Profil aufweisen, das den Wandel überraschenderweise nicht derart vollzogen hat wie die Branche selbst. Die Persönlichkeitseigenschaften unterscheiden sich deutlich von denen, die Führungskräfte in anderen Branchen aufweisen.

So gelten Automotive-Führungskräfte in der Regel als innovativ und offen gegen-über Veränderungen, jedoch fehlt ihnen für einen erfolgreichen disruptiven Wan-del die Risikobereitschaft und der Mut, kalkulierbare Risiken einzugehen. Die Fä-higkeiten und Erfahrungen von Führungskräften im Automotive-Bereich müssen daher wesentlich diversifizierter sein. Zugleich muss die Auswahl der Führungs-kräfte nicht qualifikationsbasiert, sondern fähigkeitsbasiert erfolgen. Es ist höchste Zeit, die Vielfalt als Erfolgsfaktor wahrzunehmen, sie im Unternehmen aktiv zu

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112 Mehrfach Transformation in der automobilen Mobilität

fördern und Stärke daraus zu ziehen. Denn nur so kann ein strategischer Wettbe-werbsvorteil erlangt werden oder wie es Russel Reynolds Associates (2015) ausdrückt:

„[T]oday’s car guys need to evolve into tomorrow’s mobility leaders.“

Damit dies gelingt, ist ein kultureller Wandel im Automotive-Bereich alternativlos. Der Führungsstil muss offener, weniger hierarchisch und weniger disziplinarisch werden (Kienbaum, 2016). Die Notwendigkeit dafür zeigt sich beispielsweise beim Abgas-Skandal des Volkswagens-Konzerns, für den unter anderem ein rigider, hierarchischer Führungsstil verantwortlich gemacht wird (Süddeutsche Zeitung, 2015). Grundsätzlich muss in Geschäftsfeldern und Bereichen mit hohen Innovati-onsgeschwindigkeiten die bisher übliche Null-Fehler-Toleranz in Frage gestellt werden. Hier müssen Fehler als Teil des Lernprozesses verstanden werden (Kien-baum, 2016). Dies fördert nicht nur den Innovationsgeist und die Kreativität der jeweiligen Mitarbeiter, es erhöht auch die intrinsische Mitarbeitermotivation und sorgt für Zufriedenheit.

Für zukünftige Führungskräften gibt es bereits einen Katalog an Kriterien, die diese erfüllen sollten. Nach Sattler (2016) müssen zukünftige Führungskräfte:

■ sich gut auf Veränderungen einstellen und diese auch managen können

■ emotional intelligent und lernfähig sein

■ demokratisch führen

■ partizipativ und situativ entscheiden

■ das Einmaleins des Netzwerkens beherrschen

■ ihren Mitarbeitern Vertrauen entgegenbringen und mit Ihnen Feedbackschlei-fen drehen

Diese zuvor erwähnten Anforderungen an gute Führung in Zeiten der Digitalisie-rung fasst das „VOPA-Plus“-Modell in fünf Schlagwörtern zusammen - Agilität, Partizipation, Offenheit, Vernetzung und Vertrauen (Petry, 2016). Diese sind ele-mentar für den Erfolg einer Führungs- und Unternehmenskultur im digitalen Zeit-alter (Buhse, 2014). Das VOPA-Plus-Modell gibt die Richtung vor, in die sich die Führung verändern muss (Petry, 2016). Letztlich müssen zentral gelenkte, hierar-chische Unternehmen wie Automobilhersteller die eigenen Strukturen überden-ken, kooperativ handeln und offene Dialoge wagen, um agiler zu werden (Buhse, 2014). Voraussetzung dafür ist ein neues Denken, das neben dem klassischen Ma-nagement-Einmaleins aus dem Industriezeitalter die typischen internetbasierten

Page 118: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Ergebnisse der Studie 113

Werte - Vernetzung, Offenheit, Partizipation und Agilität - in die Führung inte-griert (Buhse, 2014). Dies hat zuletzt auch Volkswagen erkannt. So sagte der Vor-standsvorsitzende Matthias Müller (Spiegel Online, 2015):

"Den Mutigen gehört die Zukunft bei Volkswagen. […] "Wir brauchen ein Stück mehr Silicon Valley, gepaart mit der Kompetenz aus Wolfsburg, Ingolstadt, Stuttgart und den anderen Konzernstandorten."

6.3 Methodik

Zur Datenerhebung wurden telefonische Experteninterviews in der Zeit von April bis Mai 2017 durchgeführt. Dazu wurden die Teilnehmer der Studie anhand ihrer Expertise und ihres qualitativen Tätigkeitsschwerpunktes in die sechs Gruppen OEM, Zulieferer, Provider, Daten & Dienste, Experts/Uni und Government & ÖPNV eingeteilt. Zur Befragung wurde ein gemeinsam mit der Universität Frei-burg ausgearbeiteter Fragenkatalog verwendet. Im Rahmen dieses Fragebogens sollten die Teilnehmer eine Einschätzung zu den zukünftigen Potenzialen, Ent-wicklungen und Perspektiven im Bereich der Mobilität, der Automotive Branche und dessen Management abgeben. Der Fragebogen unterteilte sich in zwei Teile. Im ersten Teil wurden den Teilnehmern geschlossene Fragen gestellt, die inhaltlich in fünf Blöcke geclustert waren. Die Beantwortung sollte spontan und in einer Aus-prägung von 1 für gering bis 5 für hoch erfolgen. Im zweiten Teil wurden den Teil-nehmern dann offene Fragen gestellt, bei denen die Antworten und Kommentare gesammelt und umgehend transkribiert wurden. Anschließend erfolgten eine strukturierte Inhaltsanalyse und eine zusammenfassende Auswertung der Ergeb-nisse.

6.4 Ergebnisse der Studie

6.4.1 Ergebnisse aus dem geschlossenen Teil

Nach einer Analyse des ersten Teils des Fragebogens ergaben sich folgende Ergeb-nisse (Abbildung 6.1):

Die Teilnehmer schätzen das Potenzial bezüglich der Dienste im Fahrzeug wie folgt ein. Am höchsten wurde das Potenzial für die Verwendung von Fahrzeugda-

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114 Mehrfach Transformation in der automobilen Mobilität

ten eingeschätzt. Dicht gefolgt von digitalen Diensten im Fahrzeug und der Ver-wendung von Insassen-Daten. Am wenigsten Potenzial wurde demnach bei fest-integrierten Connected Car Lösungen gesehen. Insgesamt sahen die Teilnehmer aus der Gruppe der OEMs - fragenübergreifend - am wenigsten Potenzial in allen vier Teilbereichen während sich dies bei der Gruppe „Daten & Dienste“ naturge-mäß reziprok verhielt.

Bezüglich des Wandels der Mobilität ergab sich folgendes Bild: Die Erhöhung der Entwicklungsgeschwindigkeit bei gleichzeitiger Anpassung der logistischen Strukturen wurde relativ gesehen als wichtig eingestuft. Die nahezu gleiche Wer-tigkeit wurde der Nutzung von betrieblichem Mobilitätsmanagement beigemes-sen. Dies beinhaltet thematisch sowohl betriebliche Lösungen zum Pendeln, aber auch den klassischen Fuhrpark sowie innerbetriebliche Mobilitätsangebote. Eine flächendeckende Abdeckung mit Carsharing Angeboten wurde dagegen als weni-ger relevant eingeordnet.

Die dritte Frage hatte den Betrieb autonomer Fahrzeuge und deren zukünftigen Betrieb zum Inhalt. Insgesamt lagen die Einschätzungen hier dicht beieinander. Während die Unterschiede hinsichtlich der Wahrscheinlichkeit, dass OEMs, der öffentliche Nahverkehr oder Private autonome Fahrzeuge zukünftig betreiben, e-her marginal waren, sah die Mehrheit eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für den Be-trieb autonomer Fahrzeuge bei den heutigen Providern, wie Carsharing Anbietern und Autovermietungen. Innerhalb der Gruppen lagen hier leichte Differenzen vor. So sahen vor allem die Provider für sich selbst eine hohe Wahrscheinlichkeit auto-nome Fahrzeuge zu betreiben. Diese Wahrscheinlichkeit wurde von den Gruppen „Daten & Dienste“, „Government & ÖPNV“ und OEMs ähnlich hoch eingeschätzt, während die anderen beiden Gruppen „Experts/Uni“ und „Zulieferer“ eine dies-bezügliche Wahrscheinlichkeit geringer einschätzten.

Im Rahmen der vierten Frage gaben die Studienteilnehmer eine Einschätzung be-züglich der Innovationspotenziale der Supply Chain Mitglieder ab. Generell lässt sich festhalten, dass das Innovationspotenzial insgesamt als hoch eigeschätzt wurde. Klar vorn liegen hier dennoch die Dienste-Anbieter, denen am meisten In-novationspotenzial zugetraut wird. Deutlich hinter den Dienste-Anbietern folgen dann die Supplier. Nahezu gleich wurde dagegen das Innovationspotenzial der Provider und OEMs beurteilt. Erstaunlicherweise sahen einzig die OEMs das In-novationspotenzial bei sich selbst am höchsten. Während alle anderen Gruppen den Dienste-Anbietern mit durchschnittlichen Werten über 4,5 das höchste Inno-vationspotenzial zutrauten, beurteilten dies die OEMs mit einem Wert von 3,5 als deutlich geringer. Dies kann als klares Indiz für die Tatsache gewertet werden, dass die OEMs die Dienste-Anbieter nach wie vor unterschätzen. Hier liegt jedoch

Page 120: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Ergebnisse der Studie 115

ein erhebliches Potenzial für zukünftig neue Einnahmekanäle.

Die fünfte und letzte geschlossene Frage mit dem Überbegriff ökonomischer Wan-del brachte ebenfalls sehr klare Ergebnisse zum Vorschein. Die Studienteilnehmer werteten die Mitarbeiter und deren Know-how als wichtigsten Treiber des ökono-mischen Wandels. Ein enormes Potenzial wurde zudem PaaS-Lösungen zuge-schrieben. Dagegen schätzten die Experten das Sharing Economy Potenzial in der Automobilindustrie und das perspektivische After-Sales-Potenzial als vergleichs-weise geringer ein. Hier ergaben sich aber innerhalb der Gruppen Unterschiede. Während die Gruppe „Daten & Dienste“ und die Gruppe „Experts/Uni“ mit Wer-ten von 4,5 beziehungsweise 4,6 ein sehr hohes Potenzial bei PaaS-Lösungen sahen, beurteilten die Zulieferer und die OEMs das Potenzial mit Werten von 3,33 bezie-hungsweise 3,5 erheblich geringer.

6.4.2 Ergebnisse aus dem offenen Teil

Technologiewandel - Auswirkung der Transformation auf die OEMs Prof. Dr. Heinrich von der Quadriga Hochschule gibt bezüglich der erwarteten Auswirkung der Transformation auf die OEMs folgende Einschätzung:

„[…] das Ganze hat das Potenzial einer Revolution, die sich auf die Produktion, die Mitarbeiter, aber auch das Mind-Set auswirkt“.

Die Transformation wird besonders die Mitarbeiterstruktur der OEMs betreffen. Es muss zwingend ein Wechseln in der Personalstruktur erfolgen, so dass mehr Diversität vorherrscht. Die OEMs müssen den Weg „weg vom Ingenieur“ wagen.

Neue Fähigkeiten der Mitarbeiter sind notwendig. Zudem wird eine Personalre-duktion unumgänglich sein, welche vor allem auch die Produktion treffen wird. Gründe dafür sind zum einen eine deutliche Reduzierung der Komplexität der Fahrzeuge und zum anderen eine geringere Fertigungstiefe. Zukünftig wird sich beispielsweise die Frage, ob ein Motor selbst entwickelt oder eingekauft werden soll, vermehrt stellen. Dadurch wird eine grundlegende Umstellung der Produkti-onsprozesse erforderlich werden. Die sinkende Komplexität wird darüber hinaus einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil der OEMs nahezu egalisieren: Die jahr-zehntelange Erfahrung im Automobilbau.

Im Gegensatz dazu wird es eine der größten Herausforderungen werden den di-gitalen Wandel in den Köpfen der Mitarbeiter zu verankern, so da dieser auch ge-lebt wird. Der CEO eines Transport Start-ups formulierte es so:

"Die Kollegen müssen mit dem Wandel klar kommen"

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116 Mehrfach Transformation in der automobilen Mobilität

Dr. Borchert von der Universität Tübingen sieht neben den kompletten Wandel der Organisation vor allen den Aufbau neuer Geschäftsmodelle als zwingend an. The-men wie Big Data werden zunehmend wichtiger und ein attraktives Geschäftsfeld werden, weshalb darin investiert werden sollte. Insgesamt sollten alle technischen Optionen genutzt werden.

Der Technologiewandel wird auch die Kundenlandschaft verändern. Der End-kunde wird zukünftig nicht mehr Privatkunde, sondern in zunehmenden Maße Provider sein. Infolgedessen wird sich der zukünftige Betrieb der Fahrzeuge durch Provider als B2B und nicht mehr als B2C-Modell darstellen. Die OEMs müssen vom einmaligen Verkauf eines Produktes hin zu mehrteiligen Lösungen und sich vom Bereitsteller von Mobilitätslösungen hin zu einem Service-Anbieter entwi-ckeln. Vor diesem Hintergrund werden auch andere Kennzahlen wichtig. Heute geht es um Produktionsauslastung und schon morgen um Service Platzierungen. Auch aktuelle Randthemen wie die IT-Sicherheit werden zukünftig einen enormen Stellenwert einnehmen und eine große Herausforderung darstellen, da letztlich Menschenleben von Softwarefehlern, kritischen Systemlücken oder etwaigen IT-Angriffen abhängen.

Der Technologiewandel hat darüber hinaus einen entscheidenden Einfluss auf die Organisation selbst. Die OEMs muss sich innerorganisatorisch reformieren, um notwendige Freiheiten zu ermöglichen. Die klassischen Planungs- und Entschei-dungsprozesse sind zukünftig nicht mehr umsetzbar. Zum einen, da die Planungs-zyklen insgesamt immer kürzer werden und zum anderen, um Innovationen nicht auszubremsen. Zukünftig müssen die OEMs experimentierfreudiger werden und eine erhöhte Risikobereitschaft an den Tag legen, um Innovationen schneller als bisher auf einen marktreifen Stand zu bekommen. Letztlich werden innovative Lö-sungen die etablierten Lösungen verdrängen. Ein Konzept, dessen sich OEMs ver-mehrt bedienen sollten ist laut Meinung einiger Studienteilnehmer MVP (Mini-mum Viable Product).

Insgesamt müssen die OEMs nicht mehr nur reaktiv, sondern proaktiv am Markt reagieren und deutlich agiler werden. Die Agilität hilft dabei zum Beispiel das Customizing zu erleichtern und handhabbar zu machen, da das Customizing vor der Herausforderung einer immer stärker divergierenden Interessenlandschaft steht, die die eignen Wünsche und Anforderungen spontaner artikuliert. Die OEMs müssen einen internen Wandel von der Technik- / Produkt-Fixierung hin zur Dienstleistungs- / Kunden-Fixierungen vollziehen. Dazu können Kooperation oder Joint Ventures ebenso hilfreich sein, wie eine vertikale Öffnung. Zudem wird die Abhängigkeit zu den Lieferanten für die OEMs größer werden. Teilweise könnten OEMS sogar selbst in die Rolle des Zulieferers rutschen, da sich die

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Ergebnisse der Studie 117

Wertschöpfungsketten nachhaltig verändern werden. Ein ermutigender Blick in die Historie zeigt jedoch, dass der Wandel mehrfach geschafft worden ist.

Veränderungen im Management Die Studienteilnehmer waren sich einig, dass die Transformation eine radikale Veränderung im Management der OEMs bedingen wird, deren Umsetzung höchste Priorität zukommt.

Der Wandel muss vom Management als großes Ziel und nicht als Bremsklotz wahrgenommen werden. Die vormals eingezogenen klaren Linien und Hierar-chien sind nicht mehr zeitgemäß. Die stark hierarchisch geprägte Kultur der OEMs ist ein Auslaufmodell, das einer neuen, offenen Kultur weichen muss. Zwar wird es weiterhin eine Führung und eine Hierarchie geben, aber in modernerer Form. Die Hierarchie wird insgesamt schlanker und flacher ausgestaltet werden.

Vor allem aber muss sich der Führungsstil radikal ändern. Wichtigster Faktor in diesem Zusammenhang ist, dass das Management selbst veränderungsbereit ist und nicht an alten Werten und Strukturen festhält. Es muss Veränderungen und Herausforderungen frühzeitig erkennen, den Markt lesen und entsprechend auf diesen reagieren, um nicht abgehängt zu werden. Ebenso sollte das Management nicht alles von Anfang an zerreden und die Mitarbeiter stattdessen dazu motivie-ren, Sachen "einfach mal zu machen!". Dafür ist die Akzeptanz einer „trial & error“ Kultur unerlässlich. Ohne diese Art der Fehlerkultur kann Innovationsgeist kaum entstehen. Das Management muss anreizstiftend agieren und ein geändertes Mind-Set wie man arbeitet und wann man arbeitet annehmen, so dass mehr Flexibilität gewährleistet wird und weniger Ressourcen gebunden sind. Dazu ist seitens des Managements eine Orientierung am Arbeitsplatz 4.0 erforderlich.

Innerbetriebliche Kannibalisierungseffekte Im Rahmen der Studie wurden die Teilnehmer auch dazu befragt, welche innerbe-trieblichen Kannibalisierungseffekte die OEMs zu befürchten haben. Kurzfristig ist zwar ein Nullsummenspiel möglich, jedoch besteht letztendlich keine Alternative. Die interne Kannibalisierung ist nicht zu stoppen, da diese vor allem auch global getrieben ist.

Der Bereich After Sales wird sich wandeln, da durch autonome Fahrzeuge weniger Unfälle passieren, und somit weniger Reparaturen und damit letztlich auch weni-ger Ersatzteile benötigt werden. Autonome Fahrzeuge werden zudem bei Nicht-nutzung in die Werkstatt oder zum Servicepartner fahren, um einen einwandfreien Betrieb zu ermöglichen. Dadurch haben die Fahrzeuge keinen Wartungsrückstand, so dass im Idealfall keine außerplanmäßigen Reparaturen erforderlich sind. Dies zeigt, dass die Produktseite in den Service gehen muss und wird, um den Kunden

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118 Mehrfach Transformation in der automobilen Mobilität

maximalen Service zu bieten.

Aufgrund der sich verändernden Prozesse in der Produktentwicklung müssen die OEMs mit innovativen Zulieferern zusammenarbeiten und gemeinsam agieren. Eine simple Rechtfertigung einer von der Kannibalisierung bedrohten Abteilung oder eines Bereichs allein mit umsatz- oder gewinnfixierten KPIs wird sehr schwer. Zudem wird sich die Produktionsseite hin zum Mobilitätsmanagement verlagern und die Nutzung als auch das Angebot zunehmend digitaler werden. Bei einem Wegfall von Produkten geht es dann jedoch sofort um existentielle Fragen der be-troffenen Bereiche. Mitarbeiter werden frühzeitig und aktiv bei attraktiveren und zukunftsfähigen Bereichen anheuern. Im Gegenzug wird auch der interne Kampf um gute Mitarbeiter zwischen den zukunftsträchtigen Bereichen aufgrund des in-ternen wie externen Fachkräftemangels zunehmen. Letztlich kann es zwischen den Fraktionen zu einem harten Ringen um Budgets kommen, da die internen Ressour-cen endlich sind. Ab dem Zeitpunkt, ab dem sich die E-Mobility wirklich in der Breite durchsetzt, werden vor allem die Aggregatebereiche Dieselmotoren und Benzinmotoren enorme Kannibalisierungseffekte spüren. Auch die voranschrei-tende Automatisierung wir dazu beitragen. Sie verringert den Personalbedarf, da durch die Nutzung von künstlicher Intelligenz oder auch Machine Learning viele Stellen überflüssig werden.

Auch Partnerschaften können interne Kannibalisierungseffekte auslösen, wenn-gleich diese schnellere Erfolge garantieren können. Hier stellt sich aber auch die Frage, ob die OEMs Firmen wie Google oder Facebook einen transparenten Ein-blick in ihr Unternehmen gewähren möchten oder ob eine eigenfixierte Umsetzung zielführender ist. In diesem Zusammenhang ist auch der Zeitfaktor zu betrachten, der für eine Make-or-Buy Entscheidung wichtig ist. Grundsätzlich sollte daher im-mer eine gründliche Risikoanalyse durchgeführt werden. Erheblich interne Kanni-balisierungseffekte können sich zudem an der Frage entzünden, ob das existie-rende operative Geschäft weiterbetrieben werden soll oder ob parallel dazu ein neues perspektivisch interessantes Geschäft aufgebaut werden soll. Dies birgt zu-gleich das Risiko, zu sehr auf das eine oder andere zu setzen.

Gründe für die verzögerte Nutzung von Innovationen (I-V-L) Die Studie offenbarte diverse Gründe für die verzögerte kundenseitige Nutzung von Innovationen. Risikoaversität, fehlende Kundenakzeptanz und der Kostenfak-tor sind dabei sehr wichtige Themen. Darüber hinaus gibt es aber noch weitere Gründe, wie ein nicht erkennbarer Nutzen oder fehlendes Verständnis. Dies kann daran liegen, dass Marketingmaßnahmen gar nicht erst stattgefunden haben, ein falsches Medium gewählt wurde oder ein Sender/Empfänger-Problem vorliegt, so dass die Informationen nicht wie gewünscht ankommen oder verarbeitet werden.

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Fazit 119

Hier ist Barrierefreiheit zu erzeugen, damit jeder Zugriff auf die Informationen hat und die Informationsasymmetrie abgemildert wird. So kann Verständnis und Ak-zeptanz für das System oder Produkt erzeugt und der Mehrwert für den Kunden artikuliert werden, was in summa dann zu einer erhöhten Nutzungswahrschein-lichkeit führen kann. Voraussetzung dafür ist aber immer eine überzeugende tech-nische Marktreife.

Ein weiterer Punkt ist der grundsätzliche Wille, an bewährtem festzuhalten. Ge-sellschaftlicher Drang kann zwar einen Kaufimpuls auslösen, eine Nutzung ist dadurch aber nicht garantiert. Hinzu kommt, dass Innovationen nicht immer marktgetrieben sind, was die Nutzung verzögert, da die Kunden erst einmal davon überzeugt werden müssen, dass sie die Innovation brauchen und auch wollen.

Sicherheitsbedenken der Kunden sind ein weiterer Grund für die verzögerte Nut-zung von Innovationen, was insbesondere bei persönlichen Daten und deren Nut-zungsmöglichkeit durch Dritte eine immense Rolle spielt. Teilweise ist es aber nicht die Innovation selbst, sondern die Rahmenbedingungen, die ein Nutzungs-hürde darstellen. Bei der Elektromobilität ist beispielsweise die fehlende Infra-struktur ein entscheidender Punkt. Kann der Kunde sein E-Mobil nicht jederzeit und überall nach seinen Bedürfnissen laden, ist die Nutzungsintention stark ein-geschränkt.

Wie zuvor erwähnt ist der Kostenfaktor ein sehr wichtiger Grund der verzögerten Nutzung. Kunden haben generell einen Selbstschutz, wenn es um die eigene Exis-tenz geht und hohe oder unkalkulierbare Kosten stellen eine Bedrohung dar. Neue Technologien sind zum Marktstart zumeist teuer. Hier ist der Preis neben mögli-chen Umstellungskosten eines der Haupthindernisse. Viele Kunden sehen daher anfangs ein Kosten-Nutzen Problem, welches sich linear zur Investitionsintensität verhält. Die Demokratisierung von Innovationen dauert aus ihrer Sicht schlicht zu lange.

6.5 Fazit

Der technische Wandel wird eine sinkende Komplexität mit geringerer Fertigungs-tiefe für die OEMs mit sich bringen und deren Erfahrungsvorteil egalisieren. Des Weiteren wird sich die Mitarbeiterstruktur grundlegend wandeln. Neben einer Personalreduktion in der Produktion müssen die OEMs den Weg „weg vom Inge-nieur“ hin zu einer diversifizierten Mitarbeiterstruktur gehen, da zukünftig neue Fähigkeiten benötigt werden.

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120 Mehrfach Transformation in der automobilen Mobilität

Die Bereitstellung der automotiven Mobilität wird zunehmend durch Provider, Af-ter-Sales und Vertrieb als Leistung und weniger als Produkt geprägt sein. Dies birgt für OEMs die Gefahr, sich zu einem Zulieferer zu entwickeln. Auch wird die reine produktfixierte Bereitstellung durch digitale Angebote aktiv kannibalisiert werden.

Bei der Nutzung wird zum einen durch den Rollentausch vom Piloten zum Passa-gier die gesamte Beziehung zum PKW elementar umgestellt. Zum anderen werden die Wünsche diverser und impulsiver. Es gilt, situativ die passende Lösung zu lie-fern, was aktuell nicht im Ansatz geleistet werden muss und gekonnt wird.

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Fazit 121

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122 Mehrfach Transformation in der automobilen Mobilität

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6.6 Anhang

Abbildung 6.1 Auswertung der geschlossenen Fragen

Quelle: Fortschritt, 2017.

Page 128: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

7 Der Einfluss von Standort-, Humankapital- und Sachkapitalspezifität bei der Entscheidung über die Unternehmensgrenze

Das Beispiel der Automobilindustrie im Übergang in die Elektromobilität

Dr. B. Jung (Heitkamp & Thumann Group)

7 Der Einfluss von Standort-, Humankapital- und Sachkapitalspezifität bei der Entscheidung über die Unternehmensgrenze 123

7.1 Einleitung ..................................................................................................... 1247.2 Der Einfluss der Höhe spezifischer Investitionen auf der Ebene der

Formen der Spezifität ................................................................................. 125 7.3 Empirische Untersuchung ......................................................................... 130 7.4 Zusammenfassung und Ausblick ............................................................. 134

Literatur ........................................................................................................................ 134

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_8

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124 Entscheidung über die Unternehmensgrenze

7.1 Einleitung

Die Unternehmensgrenze resultiert aus den Entscheidungen eines Unternehmens zwischen Fremdbezug über den Markt und Eigenfertigung im Unternehmen [28] in Bezug auf die Aktivitäten, die in der jeweiligen Industrie relevant sind (vgl. [6], S. 105 und hier und in diesem Absatz [21], S. 1 und [23]). Zurückgehend auf Willi-amson wird der Fremdbezug über den Markt teilweise auch als Nutzung der Governance-Form Markt und die Eigenfertigung im Unternehmen als Nutzung der Governance-Form Hierarchie bezeichnet [35]. Kapitalbeteiligungen und Alli-anzen stellen Zwischenformen dieser Governance-Formen (vgl. [6], S. 106) dar und werden zum Teil unter dem Begriff hybride Governance-Formen subsummiert (vgl. eingeschränkt [35]).

Radikale technologische Veränderungen können als revolutionäre technologische Neuerung definiert werden (vgl. [21], S. 30 und zudem [10] und [18]). Bei solchen Veränderungen nimmt die Bedeutung der Entscheidung über die Unternehmens-grenze (vgl. [25], [1], [26] und [2]) zu (vgl. [21], S. 2 und ergänzend [1]). Unterneh-men müssen solche Entscheidungen in dem Kontext einer radikalen technologi-schen Veränderung zum Teil für neue Aktivitäten treffen – auch liegen solchen Entscheidungen in der Regel veränderte Rahmenbedingungen zugrunde (vgl. [21], S. 2, [1] und [3]).

Die Entscheidungen zwischen verschiedenen Governance-Formen bei radikaler technologischer Veränderung werden unter anderem durch Verknüpfung der Re-aloptionstheorie (vgl. [7] und [15]), der Transaktionskostentheorie (vgl. [35] und [9]) und der Ressourcenorientierten Sichtweise (vgl. [4], [25] und [29]) zunehmend erklärt (vgl. [5], [17], [24], [21] und [23]). In diesem Zusammenhang wurden posi-tive Einflüsse der Höhe der spezifischen Investitionen und der voraussichtlichen Veränderung der Höhe der spezifischen Investitionen auf die Entscheidung gegen die Governance-Form Markt theoretisch abgleitet und mit signifikanten oder ein-geschränkt signifikanten empirischen Ergebnissen gestützt (vgl. [21], [25] und [22]).

Die Untersuchung dieser beiden Einflussgrößen auf der Ebene der wesentlichen untergeordneten Formen der Spezifität (vgl. [34] und [11]) – der Standort-, der Hu-mankapital- und der Sachkapitalspezifität – bei der Entscheidung über die Unter-nehmensgrenze und radikaler technologischer Veränderung steht bisher aus, ob-wohl eine solche Untersuchung des Einflusses komplexer Konstrukte auf granula-rer Ebene bei der Entscheidung über die Unternehmensgrenze bereits einen Mehr-wert zeigte [22].

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Der Einfluss der Höhe spezifischer Investitionen 125

Dieser Beitrag untersucht daher den Einfluss der Höhe der spezifischen Investitio-nen und ihrer voraussichtlichen Veränderung auf dieser granularen Ebene der un-tergeordneten Formen der Spezifität, um das Verständnis des Einflusses dieser Va-riable(n) auf die bedeutsame Entscheidung über die Unternehmensgrenze bei ra-dikaler technologischer Veränderung weiter auszubauen.

Zunächst werden aufbauend auf meiner Dissertation aus dem Jahr 2015 die be-schriebenen Einflüsse auf der Ebene der untergeordneten Formen der Spezifität diskutiert. Daran anknüpfend findet die Prüfung der abgeleiteten Hypothesen statt. Die Grundlage bilden 102 Entscheidungen von Automobilunternehmen im Übergang in die Elektromobilität. Die gewonnenen empirischen Ergebnisse wer-den im Anschluss – auch aus Managementperspektive – diskutiert. Der Beitrag schließt mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick.

7.2 Der Einfluss der Höhe spezifischer Investitionen auf der Ebene der Formen der Spezifität

Die Transaktionskostentheorie wurde durch Coase und Williamson geprägt und ist Teil der Neuen Institutionenökonomik (vgl. zu dieser Zuordnung u.a. [30]). Sie ist der klassische Erklärungsansatz für die Entscheidung über die Unternehmens-grenze und erklärt diese im Wesentlichen durch Rückgriff auf das Konzept der Spezifität der für die Belegung der Aktivität notwendigen Investitionen (vgl. [34] und [35]). Spezifität beschreibt in diesem Zusammenhang den Umfang, mit dem ein oder mehrere Vermögenswerte für andere Zwecke oder durch andere Nutzer ohne eine Wertminderung verwendet werden können (vgl. [35], S. 281). Sollte sich ein Unternehmen für die Governance-Form Markt entscheiden, entsteht bei einer hohen Spezifität der Investitionen ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Zuliefe-rer und betrachtetem Unternehmen, welches zu hohen Kosten bei auftretenden Nachverhandlungen und somit zu einer Nachteilhaftigkeit dieser Governance-Form gegenüber der Governance-Form Hierarchie aus der Perspektive des be-trachteten Unternehmens führt (vgl. u.a. [35] und [25]).

Dieser Erklärungsbeitrag ist für die Erklärung der Entscheidung über die Unter-nehmensgrenze im Kontext radikaler technologischer Veränderung mit Nachteilen behaftet (vgl. hier und in diesem Absatz [21]). Er betrachtet die Entscheidung zwi-schen verschiedenen Governance-Formen in einem Gleichgewichtszustand und ist daher als statisch zu klassifizieren (vgl. auch [17]). Er ist somit für die Entscheidung zwischen verschiedenen Governance-Formen für neue Aktivitäten bei radikaler

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126 Entscheidung über die Unternehmensgrenze

technologischer Veränderung nur eingeschränkt anwendbar (vgl. ebenfalls [17], insbesondere S. 73). So geht eine radikale technologische Veränderung beispiels-weise in der Regel zunächst mit einer geringen Standardisierung einher, welche im Laufe der Zeit zunimmt (vgl. u.a. [2] und [3]). Dies führt zu einer über der Zeit veränderlichen Höhe der Spezifität der notwendigen Investitionen (vgl. [3] insbe-sondere S. 851, sie stellen hierbei auf Modularität ab). Im Falle einer solchen tech-nologischen Veränderung sollte daher auch eine über der Zeit veränderliche Höhe der Spezifität notwendiger Investitionen in die Entscheidung über die Unterneh-mensgrenze einbezogen werden [21].

Die Verknüpfung des vorgestellten Erklärungsansatzes der Transaktionskosten-theorie und der Realoptionstheorie bietet die Möglichkeit, den Einfluss einer vari-ablen Höhe der spezifischen Investitionen auf die Entscheidung über die Unter-nehmensgrenze bei radikaler technologischer Veränderung abzuleiten [21]. Die Fi-nanzmarktökonomie stellt den Ursprung der Realoptionstheorie dar (vgl. [7], S. 761). Diese Theorie begründet den Vorteil der Wahl des Marktes in einem Umfeld, welches durch hohe exogene Unsicherheit gekennzeichnet ist, durch den Aufschub von – in hohem Maße irreversiblen – Investitionen (vgl. u.a. [25], S. 843). Um diese Theorie bei radikaler technologischer Veränderung anwenden zu können und Konflikte zwischen Transaktionskostentheorie und Realoptionstheorie abzumil-dern [30], werden die Überlegungen der Realoptionstheorie nachfolgend qualitativ in Übereinstimmung mit dem sogenannten „Real Option Reasoning“ [27] genutzt [21].

Die Ableitung des Einflusses der Höhe der spezifischen Investitionen und ihrer Veränderung durch Verknüpfung von Realoptionstheorie und Erklärungsansatz der Transaktionskostentheorie aus meiner Dissertation [21] wird im Folgenden vorgestellt (vgl. auch [22] und [23]):

Die Entscheidung zwischen hybriden Governance-Formen mit Eigenkapitalbetei-ligung2 und Hierarche auf der einen Seite und Markt auf der anderen Seite ist ver-einfacht eine Entscheidung, eine Investition zu tätigen oder zu unterlassen (vgl. auch [12]). Die Entscheidung zu investieren (somit eine hybride Governance-Form mit Eigenkapitalbeteiligung oder Hierarchie zu wählen) geht, wie eine klassische Investitionsentscheidung, mit einem Kapitalwert einher (vgl. hier und in diesem Absatz auch [16], S. 123f. und [12], S. 111f.). Die Entscheidung gegen die Durchfüh-

2 Diese Form der hybriden Governance-Form wird betrachtet, um auf ein sinnvolles Ab-

grenzungskriterium (Eigenkapitalbeteiligung) gegenüber der Governance-Form Markt abstellen zu können .

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Der Einfluss der Höhe spezifischer Investitionen 127

rung einer Investition (somit die Governance-Form Markt zu wählen) ist demge-genüber mit einer Aufschuboption verbunden. Diese Aufschuboption repräsen-tiert den Nutzen, abzuwarten und zu einem späteren Zeitpunkt zu investieren (so-mit eine hybride Governance-Form oder die Governance-Form Hierarchie zu wäh-len) und stellt einen Wert dar [7]. Dieser Wert kann zur Entscheidungsfindung ei-nem Kapitalwert (und auch anderen Optionswerten) gegenübergestellt werden (vgl. u.a. [12]). Im Falle der Entscheidung zwischen der Governance-Form Hierar-chie und hybriden Governance-Formen mit Eigenkapitalbeteiligung auf der einen Seite und der Governance-Form Markt auf der anderen Seite sollte eine Investition durchgeführt werden (somit Entscheidung gegen die Governance-Form Markt), sobald der mit dieser Entscheidungsalternative verknüpfte Kapitalwert den Wert der Aufschuboption bei Unterlassen der Investition (somit Entscheidung für die Governance-Form Markt) übersteigt (und vice versa).

Zur Ableitung des Einflusses der Höhe der spezifischen Investitionen und ihrer voraussichtlichen Veränderung sind weiterhin fünf wesentliche Aspekte hinzuzie-hen:

■ Die Zahlungsströme, die zur Kapitalwertermittlung zu betrachten sind, kön-nen durch den Zahlungsstrom in der Periode der Entscheidung über die Un-ternehmensgrenze und durch die Richtung der Entwicklung zukünftiger Zah-lungsströme angenähert werden (vgl. auch eingeschränkt [12], S. 123).

■ In Bezug auf die hier diskutierte Entscheidung zwischen Markt auf der einen und Hierarchie und hybriden Governance-Formen mit Eigenkapitalbeteili-gung auf der anderen Seite können Optionswert und Kapitalwert zudem so getrennt werden, dass der Optionswert (im Gegensatz zum Kapitalwert) von der Entwicklungsrichtung der zukünftigen Zahlungsströme unabhängig ist (vgl. [13], S. 76f.).

■ Die Zahlungsströme in der Periode der Entscheidung über die Unterneh-mensgrenze und in den zukünftigen Perioden können als Differenz der Kos-ten bei Nutzung der Governance-Form Markt und der Kosten bei Nutzung der Governance-Form Hierarchie bzw. bei Nutzung hybrider Governance-Formen mit Eigenkapitalbeteiligung aufgefasst werden.

■ Diese Zahlungsströme steigen gemäß dem vorgestellten allgemeinen Erklä-rungsbeitrag der Transaktionskostentheorie mit der Höhe der spezifischen In-vestitionen.

■ Die Höhe der spezifischen Investitionen in den zukünftigen Perioden ergibt sich aus der aktuellen Höhe dieser Investitionen und ihrer voraussichtlichen Entwicklung. Sie wird von diesen beiden Variablen positiv beeinflusst.

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128 Entscheidung über die Unternehmensgrenze

Auf dieser Basis führt eine zunehmende (aktuelle) Höhe der spezifischen Investi-tionen

■ zu einem steigenden Zahlungsstrom in der Periode der Entscheidung über die Unternehmensgrenze,

■ damit zu einem steigenden Kapitalwert (bei unbeeinflusstem Optionswert) und

■ damit entsprechend der vorgestellten Entscheidungshilfe zu einer steigenden Wahrscheinlichkeit der Entscheidung gegen die Governance-Form Markt.

Weiterhin führt auf dieser Basis eine zunehmend positive, voraussichtliche Verän-derung der Höhe der spezifischen Investitionen

■ zu einer steigenden Höhe der spezifischen Investitionen in zukünftigen Perio-den,

■ damit zu steigenden Zahlungsströmen in zukünftigen Perioden,

■ damit zu einer steigenden Entwicklungsrichtung der zukünftigen Zahlungs-ströme,

■ damit zu einem steigendem Kapitalwert (bei unbeeinflusstem Optionswert) und

■ damit entsprechend der vorgestellten Entscheidungshilfe zu einer steigenden Wahrscheinlichkeit der Entscheidung gegen die Governance-Form Markt

■ (vgl. wie erwähnt zu dieser und den vorherigen Ausführungen [21]).

Die Höhe der spezifischen Investitionen ist als formatives Konstrukt (vgl. [8], S. 306) einzuordnen, d.h. verschiedene untergeordnete Formen der Spezifität können unterschieden werden und bilden zusammen das übergeordnete Konstrukt der Spezifität bzw. spezifischer Investitionen [11]. Als wesentliche untergeordnete For-men der Spezifität können die von Williamson ursprünglich identifizierten For-men genannt werden (vgl. [34] und [35]): Diese umfassen

■ ■ Spezifität des Humankapitals (“human-asset specificity”),

■ ■ Spezifität des Sachkapitals (“physical asset specificity”) und

■ ■ Standortspezifität (“site specificity”).

Die Höhen der spezifischen Human- und Sachkapitalinvestitionen und der Stand-ortspezifität weisen aufgrund des formativen Zusammenhangs einen positiven

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Der Einfluss der Höhe spezifischer Investitionen 129

Einfluss auf die Höhe der spezifischen Investitionen auf; sie sind ihre Verursa-chungsquelle (vgl. zu formativen Zusammenhängen auch [32], S. 132). Dies gilt entsprechend auch für den Zusammenhang zwischen der voraussichtlichen Ver-änderung der Höhe der spezifischen Humankapitalinvestitionen, der Höhe der spezifischen Sachkapitalinvestitionen und der Höhe der Standortspezifität und der voraussichtlichen Veränderung der Höhe der spezifischen Investitionen.

Somit steigt mit einer zunehmenden Höhe der spezifischen Human- und Sachka-pitalinvestitionen und der Standortspezifität die Höhe der spezifischen Investitio-nen und damit gemäß der erläuterten Ableitung die Wahrscheinlichkeit der Ent-scheidung gegen die Governance-Form Markt. Dies gilt entsprechend für die vo-raussichtliche Veränderung der Höhe der drei genannten Variablen und der vo-raussichtlichen Veränderung der Höhe der spezifischen Investitionen.

Es lassen sich somit folgende Hypothesen zu den einzelnen Einflüssen der Formen spezifischer Investitionen auf die Entscheidung über die Unternehmensgrenze bei radikaler technologischer Veränderung festhalten:

11. Je höher bei radikaler technologischer Veränderung

‒ die spezifischen Humankapitalinvestitionen (H1a), ‒ die spezifischen Sachkapitalinvestitionen (H1b), ‒ oder die Standortspezifität (H1c)

in Bezug auf eine neue Aktivität sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Entscheidung für hybride Governance-Formen mit Eigenkapitalbeteiligung oder für die Governance-Form Hierarchie (im Vergleich zur Entscheidung für die Governance-Form Markt).

12. Je höher bei radikaler technologischer Veränderung die voraussichtliche Ver-

änderung der Höhe

‒ der spezifischen Humankapitalinvestitionen (H2a), ‒ der spezifischen Sachkapitalinvestitionen (H2b), ‒ oder der Standortspezifität (H2c)

in Bezug auf eine neue Aktivität im Zeitverlauf sind, desto höher ist die Wahr-scheinlichkeit der Entscheidung für hybride Governance-Formen mit Eigenkapi-talbeteiligung oder für die Governance-Form Hierarchie (im Vergleich zur Ent-scheidung für die Governance-Form Markt).

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130 Entscheidung über die Unternehmensgrenze

7.3 Empirische Untersuchung

Die Basis der empirischen Untersuchung der Hypothesen bilden Primärdaten, welche mit einer Befragung erhoben wurden (vgl. hier und zu den folgenden Aus-führungen zur Konzeption der empirischen Untersuchung in diesem Kapitel [21], S. 173ff., [22] und [23]). Dieser Beitrag greift somit auf ein „Survey Design“ zurück und ist zudem als Querschnittsanalyse zu klassifizieren.

Den Gegenstand der Untersuchung bilden Entscheidungen von (Automobil-)Un-ternehmen zwischen verschiedenen Governance-Formen. Diese Entscheidungen beziehen sich auf neue Aktivitäten, welche im Zuge des Übergangs in die Elektro-mobilität aufkommen3.

Insgesamt konnten auf Grundlage eines standardisierten Fragebogens Manager von 24 Unternehmen (von 44 identifizierten Unternehmen) zu 102 Entscheidungen befragt werden. Die Befragung wurde persönlich durchgeführt oder telefonisch unterstützt, um möglichen Verständnis- und Interpretationsproblemen zu begeg-nen (vgl. u.a. [19], S. 186). Im Vorfeld der Befragung diente ein iterativer Pretest zur Sicherstellung der Qualität des Fragebogens.

Die Variablen wurden auf Basis bestehender Operationalisierungen und soweit möglich unter Sicherstellung von Reliabilität und Validität der Messmodelle erho-ben. So nannten die Befragungsteilnehmer in Anlehnung an Safizadeh und andere (2008) die vorrangige Bezugsquelle für die betrachtete Aktivität. Für die Operatio-nalisierung der Höhe der spezifischen Investitionen und ihrer voraussichtlichen Veränderung auf der Ebene der Formen der Spezifität bildete die Arbeit von Dyer (1996) die Grundlage.

Die exogene Unsicherheit wurde gemäß des erläuterten Erklärungsbeitrags der Re-aloptionstheorie als Kontrollvariable ergänzt4. Zur Abbildung des klassischen Er-klärungsbeitrags der Ressourcenorientierten Sichtweise wurde weiterhin die Res-sourcenausstattung in Bezug zur betrachteten Aktivität ergänzt (vgl. beispiels-weise [22] im Kontext radikaler technologischer Veränderung). Weiterhin fand die logarithmierte Dauer der Zugehörigkeit zur Automobilindustrie als zusätzliche Kontrollvariable Eingang in die betrachteten Modelle [25].

3 Es wurden auch Entscheidungen über die Unternehmensgrenze einbezogen, sofern Sie

erst zukünftig getroffen werden bzw. wurden (vgl. zu einem solchem Vorgehen auch [14], S. 363ff.). Vgl. zu den als radikal definierten Änderungen und weiteren Details zur Befragung [21], S. 176, [22] und [23] und die dort angegebenen Quellen.

4 Siehe zur Operationalisierung dieser Variablen u.a. [22].

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Empirische Untersuchung 131

Als Auswertungsmethode kam die logistische Regression zum Einsatz, da die hier betrachteten Entscheidungen ein wesentlicher Anwendungsfall dieser statisti-schen Methode [20] sind; auch liegen ihre Anwendungsvoraussetzungen vor: Von den betrachteten 102 Entscheidungen sind 43 gegen und 59 für die Governance-Form Markt ausgefallen und das Verhältnis von Beobachtungszahl pro Gruppe und Anzahl der unabhängigen Variablen beträgt somit mindestens fünf (vgl. hierzu auch [33], S. 717). Weiterhin betrachten die folgenden Modelle die einzelnen Formen der Spezifität getrennt, um mögliche Multikollinearität zu beschränken, und der Datensatz weißt keine Autokorrelation auf. In den in im Folgenden dar-gestellten Modellen entspricht ein positives Vorzeichen einer steigenden Wahr-scheinlichkeit der Entscheidung gegen die Governance-Form Markt.

Tabelle 7.1 Ergebnisse der logistischen Regressionen unter Einbeziehung der Kontrollvariablen und Humankapitalspezifität (Modell I), Sachkapitalspezifität (Modell II) bzw. Standortspezifität (Mo-dell III)

Variable (Kontrollvariable (Kv) oder unabhängige Variable (uV) und zu-gehörige Hypothese)

Regressions-koeffizient Modell I

Regressions-koeffizient Modell II

Regressions-koeffizient Modell III

Konstante 2,152 -0,147 2,472

Logarithmierte Dauer der Zugehörig-keit zur Automobilindustrie (Kv)

-1,385* -1,082* -1,176*

Exogene Unsicherheit in Bezug zur Aktivität (Kv)

0,015 0,060 0,099†

Ressourcenausstattung in Bezug zur Aktivität (Kv)

0,047** 0,030* 0,041**

Höhe der spezifischen Humankapi-talinvestitionen (uV H1a)

3,371**

Höhe der spezifischen Sachkapitalin-vestitionen (uV H1b)

2,027*

Höhe der Standortspezifität (uV H1c) 1,347*

Voraussichtliche Veränderung der Höhe der spezifischen Humankapi-talinvestitionen (uV H2a)

1,073

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132 Entscheidung über die Unternehmensgrenze

Quelle: eigener Entwurf

Die Modelle I bis III zeigen durchgängig einen akzeptablen Modellfit. Bezüglich der Kontrollvariablen liefern Sie Hinweise auf einen positiven Einfluss der Res-sourcenausstattung des Unternehmens und der Höhe der exogenen Unsicherheit auf die Wahrscheinlichkeit der Entscheidung gegen die Governance-Form Markt. Zudem liefern Sie bezüglich der logarithmierten Dauer der Zugehörigkeit zur Au-tomobilindustrie Hinweise für einen negativen Einfluss.

Hinsichtlich der in den Hypothesen aufgegriffenen Höhen der Formen spezifischer Investitionen und ihrer Veränderung, zeigen die Modelle signifikant positive Ein-flüsse der Höhe der spezifischen Humankapitalinvestitionen, der Höhe der spezi-fischen Sachkapitalinvestitionen und der Höhe der Standortspezifität und zudem einen eingeschränkt signifikant positiven Einfluss der voraussichtlichen Verände-rung der Höhe der spezifischen Sachkapitalinvestitionen. Sie liefern somit Hin-weise für die Hypothesen 1a bis 1c und eingeschränkte Hinweise für Hypothese 2b.

Die Empirische Untersuchung stellt somit einen Hinweis für den „klassischen“ Er-klärungsbeitrag der ressourcenorientierten Sichtweise auch bei radikaler technolo-gischer Veränderung dar (vgl. hier und in diesem Kapitel [21]). Demgegenüber zeigt sich teilweise ein positiver Einfluss der Höhe der exogenen Unsicherheit. Dies deutet, wie an anderer Stelle diskutiert, auf die Notwendigkeit des Hinzuziehens

Voraussichtliche Veränderung der Höhe der spezifischen Sachkapitalin-vestitionen (uV H2b)

2,522†

Voraussichtliche Veränderung der Höhe der Standortspezifität (uV H2c)

-0,997

Gütemaß Modell II Modell I Modell III

Nagelkerke-R2 0,278 0,263 0,202

Analyse der Klassifikationsergeb-nisse mittels Trefferquote (im Vergleich zur maximalen Zufalls-wahrscheinlichkeit)

76,5% (> 57,8%)

71,6% (> 57,8%)

67,6% (> 57,8%)

Kennzeichnung Ergebnisse Wald-Statistik

†p < 0,10 *p < 0,05 **p < 0,01 ***p < 0,001

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Empirische Untersuchung 133

nachgelagerter Wachstumsoptionen bei der Diskussion des Einflusses dieser Vari-able und damit auf mögliche nicht lineare Zusammenhänge hin. Weiterhin resul-tierte der dargestellte, negative Einfluss der Dauer der Zugehörigkeit zur Automo-bilindustrie auch aus anderen Untersuchungen und kann als Passivität etablierter Unternehmen bei radikalen technologischen Veränderungen interpretiert werden.

Die positiven Einflüsse der Höhen der verschiedenen Formen spezifischer Investi-tionen gemäß der Hypothesen 1a bis 1c zeigen nach dem Wissen des Autors erst-malig den direkten positiven Einfluss der Höhe der spezifischen Investitionen auf der Ebene ihrer untergeordneten Formen auf die betrachtete Entscheidung über die Unternehmensgrenze bei radikaler technologischer Veränderung. Der an an-derer Stelle [21] festgestellte, positive Einfluss der Höhe der spezifischen Investiti-onen scheint also von der betrachteten Form der Spezifität unabhängig. Weiterhin wird der Mehrwert einer granularen Betrachtung komplexer Konstrukte deutlich.

In Bezug auf den positiven Einfluss der voraussichtlichen Veränderung der Höhe der spezifischen Investitionen auf der Ebene ihrer untergeordneten Formen zeigte sich nur ein eingeschränkter Hinweis in Bezug zur voraussichtlichen Veränderung der Höhe der spezifischen Sachkapitalinvestitionen. Die mangelnden signifikanten Einflüsse der voraussichtlichen Veränderung der Höhe der spezifischen Human-kapitalinvestitionen und der voraussichtlichen Veränderung der Höhe der Stand-ortspezifität können in einer durchgängig geringen voraussichtlichen Verände-rung dieser Variablen liegen. Auch ist es denkbar, dass bei einer erstmaligen Bele-gung einer Aktivität durchgängig (d.h. aktivitätsunabhängig) eine stark abneh-mende Humankapitalspezifität bzw. Standortspezifität im Zeitverlauf zu erwarten ist. Auch sind diese Änderungen unter Umständen nur schwer zu prognostizieren. Diese Aspekte würden alle erwarten lassen, dass keine Effekte festzustellen sind.

Aus Unternehmenssicht liefert die Untersuchung drei wesentliche Implikationen. Zunächst sollten Unternehmen die betrachteten Höhen der Formen spezifischer Investitionen und ihre Veränderung gemäß der diskutierten Hypothesen in ihre Entscheidungen über die Unternehmensgrenze einbeziehen. Bei Betrachtung der teilweise signifikanten Ergebnisse der empirischen Untersuchung würde eine Ver-nachlässigung dieser Variablen ein Risiko von Fehlentscheidungen – auch im Ver-gleich zu Wettbewerbern – bedeuten. Darüber hinaus ergeben sich Hinweise, dass eine ausreichende Prognose und Einbeziehung der voraussichtlichen Veränderung der Höhe der spezifischen Humankapitalinvestitionen und der voraussichtlichen Veränderung der Höhe der Standortspezifität sichergestellt werden sollten. Spezi-fität ist in all ihren Facetten zentral für Entscheidungen über die Unternehmens-grenze und entsprechend differenziert zu betrachten und zu berücksichtigen.

Page 139: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

134 Entscheidung über die Unternehmensgrenze

7.4 Zusammenfassung und Ausblick

Der Beitrag untersucht aufbauend auf meiner Dissertation [21] erstmalig die Ein-flüsse der Höhen der verschiedenen Formen spezifischer Investitionen und ihrer Veränderung auf die Entscheidung über die Unternehmensgrenze bei radikaler technologischer Veränderung. An die Diskussion der Einflüsse dieser Variablen auf die betrachtete Entscheidung anknüpfend, erfolgte die Prüfung der abgeleite-ten Hypothesen am Beispiel von den Entscheidungen in Bezug zu neuen Aktivitä-ten für die Elektromobilität von Automobilunternehmen. Die empirische Untersu-chung zeigt (eingeschränkt) signifikant positive Einflüsse

■ der Höhe der spezifischen Humankapitalinvestitionen,

■ der Höhe der spezifischen Sachkapitalinvestitionen

■ und ihrer voraussichtlichen Veränderung,

■ und der Höhe der Standortspezifität

auf die Entscheidung gegen die Governance-Form Markt. Sie zeigt somit erstmals signifikante Einflüsse in Bezug zur Spezifität auf der Ebene ihrer untergeordneten Formen bei der Entscheidung über die Unternehmensgrenze und radikaler tech-nologischer Veränderung.

Diese Ergebnisse bieten vielfältige Anknüpfungspunkte für weitere Forschung. So könnte insbesondere das Zusammenspiel von Unsicherheit und Spezifität (vgl. ins-besondere [35]) im Sinne der Transaktionskostentheorie im Detail auf der Ebene der untergeordneten Formen der Spezifität untersucht werden. Diese Einnahme der granularen Perspektive könnte zum besseren Verständnis dieses zentralen Zu-sammenhangs der Transaktionskostentheorie wesentlich beitragen. Auch könnte im Sinne der Theorie der Kompetenzentwicklung [28] untersucht werden, ob und inwiefern Manager die Spezifität „managen“, um die Wertschöpfung bei guter Rentabilität im Unternehmen zu halten.

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Page 140: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Zusammenfassung und Ausblick 135

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Page 141: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

136 Entscheidung über die Unternehmensgrenze

[21] Jung, B. (2015): Die Entscheidung über die Unternehmensgrenze bei radikaler technolo-gischer Veränderung – das Beispiel der Automobilindustrie im Übergang in die Elekt-romobilität, Wiesbaden, Springer Gabler.

[22] Jung, B. (2016): Der Einfluss der Subprozesse der Ressourcenentwicklungsfähigkeit auf die Entscheidung über die Unternehmensgrenze bei radikaler technologischer Verände-rung – Das Beispiel der Automobilindustrie im Übergang in die Elektromobilität, in: H. Proff, T.M. Fojcik (Hrsg.): Nationale und internationale Trends in der Mobilität - techni-sche und betriebswirtschaftliche Aspekte, Wiesbaden, SpringerGabler.

[23] Jung, B. (2017): Die Interaktion von Ressourcenausstattung und Ressourcenentwick-lungsfähigkeit bei der Entscheidung über die Unternehmensgrenze - Das Beispiel der Automobilindustrie im Übergang in die Elektromobilität, in: Proff, H./Fojcik, T. M. (Hrsg.): Innovative Produkte und Dienstleistungen in der Mobilität - technische und be-triebswirtschaftliche Aspekte, Wiesbaden, SpringerGabler.

[24] König, F. (2009): The Uncertainty-Governance Choice Puzzle Revisited - Predictions from Transaction Costs Economics, Resource-Based Theory, and Real Options Theory, Wiesbaden, Gabler.

[25] Leiblein, M.J., Miller, D.J. (2003): An empirical examination of transaction- and firm-level influences on the vertical boundaries of the firm, in: Strategic Management Journal, Vol. 24, No. 9, pp. 839-859.

[26] Macher, J.T. (2006): Technological Development and the Boundaries of the Firm: A Knowledge-Based Examination in Semiconductor Manufacturing, in: Management Science, Vol. 52, No. 6, pp. 826-843.

[27] McGrath, R.G., Nerkar, A. (2004): Real options reasoning and a new look at the R&D investment strategies of pharmaceutical firms, in: Strategic Management Journal, Vol. 25, No. 1, pp. 1-21.

[28] Proff, H. (2007): Dynamische Strategien - Vorsprung im internationalen Wettbewerbs-prozess, Wiesbaden, Gabler.

[29] Proff, H. (2008): Herausforderungen durch die verstärkte Modularisierung für differen-zierende Unternehmen am Beispiel der Automobilindustrie, in: Die Betriebswirtschaft, 68 Jg., Nr. 4, pp. 440-462.

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[33] Vittinghoff, E., McCulloch, C.E. (2006): Relaxing the Rule of Ten Events per Variable in Logistic and Cox Regression, in: American Journal of Epidemiology, Vol. 165, No. 6, pp. 710-718.

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8 Big Data Analytics für Connected Cars

H. Barth (dSPACE GmbH)

8 Big Data Analytics für Connected Cars ................................................... 137

8.1 Das Connected Car ...................................................................................... 1388.2 Connected Car und Big Data ..................................................................... 1388.3 Big Data Analytics für Connected Cars ................................................... 1408.4 Fazit ............................................................................................................... 148

Literatur ........................................................................................................................ 150

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_9

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138 Big Data Analytics für Connected Cars

8.1 Das Connected Car

Marktanalysten gehen davon aus, dass bis zum Jahr 2020 weltweit 250 Millionen Connected Cars unterwegs sein werden (Gartner Research, 2015). Daraus resultiert ein enormes Wertschöpfungspotenzial, welches laut Accenture im Jahr 2020 welt-weit bei ca. 100 Milliarden US-Dollar liegen soll und bis zum Jahr 2025 auf 500 Milliarden US-Dollar steigen soll (Accenture, 2015, Seite 3).

Beim Connected Car handelt es sich im Sinne von Porter/Heppelmann um ein Pro-dukt, welches sich durch folgende drei Kerneigenschaften auszeichnet (Por-ter/Heppelmann, 2014):

1. Physical components: Das Connected Car verfügt über physikalische Kompo-nenten, welche die Grundlage für die Vernetzung des Fahrzeugs darstellen.

2. Smart components: Im Connected Car werden Sensoren, Steuergeräte und weitere Komponenten verbaut, die es ermöglichen, Daten zu sammeln, auszu-werten und zu verwenden.

3. Connectivity components: Das Fahrzeug enthält Komponenten, die den Da-tenaustausch des Fahrzeugs mit der Umwelt sicherstellen. Der Datenaus-tausch des Connected Cars kann beispielsweise mit Infrastruktureinheiten (Vehicle-to-Infrastructure) oder mit anderen Fahrzeugen (Vehicle-to-Vehicle) stattfinden (McKinsey, 2016, Seite 5).

Die vorliegende Arbeit geht insbesondere auf den Aspekt der „smart components“ ein. Ziel der Arbeit ist es, eine Systematik zu entwickeln, die eine Klassifizierung der Anwendungsfälle in Bezug auf das Sammeln, die Analyse und die Nutzung der Connected Car Daten erlaubt.

8.2 Connected Car und Big Data

Die Konnektivität des Connected Cars führt dazu, dass das Fahrzeug zunehmend Daten sammelt, empfängt, auswertet und nutzt. In diesem Zusammenhang wird häufig von Big Data gesprochen. Die BITKOM als Branchenverband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche definiert Big Data als „den Ein-satz großer Datenmengen aus vielfältigen Quellen mit einer hohen Verarbeitungs-geschwindigkeit zur Erzeugung wirtschaftlichen Nutzens“ (BITKOM, 2012, Seite 21). Laut BITKOM zeichnet sich Big Data durch vier zentrale Merkmale aus:

1. Datenmenge: Große Datenmengen werden gesammelt und verarbeitet. Diese

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Connected Car und Big Data 139

Daten entstehen durch die zunehmende Vernetzung beispielsweise im Ver-kehr (Smart Mobility), im Produktionsbereich (Smart Factory), im Energiesek-tor (Smart Grid) und durch vernetzte Produkte (Smart Products).

2. Datenvielfalt: Verschiedenartige Datenformate werden verarbeitet. Neben Textdaten werden Sprachdaten, Bilddaten und Videodaten verarbeitet.

3. Geschwindigkeit: Die Datengenerierung und Datenverarbeitung erfolgt in hoher Geschwindigkeit, teilweise in Echtzeit. Um dies zu gewährleisten ha-ben sich eine Reihe neuer Technologien im Markt durchgesetzt, zum Beispiel In-memory-Datenbanken.

4. Analytics: Zur Auswertung der Daten werden verschiedene Analysemetho-den verwendet. Beispiele sind Data Mining und Text Mining, Vorhersagemo-delle sowie Sprach- und Bildanalytik. Insbesondere die Verfahren des Maschi-nellen Lernens spielen im Bereich Analytics eine große Rolle.

Diese vier Merkmale können wie folgt auf das Connected Car angewendet werden:

1. Datenmenge: Laut SAS werden im Connected Car täglich ca. 30 Terabyte an Daten erzeugt (SAS, 2015, Seite 1).

2. Datenvielfalt: Im Connected Car werden beispielsweise Sensordaten, Sprach-daten, Positionsdaten und Daten zur Nutzung des Fahrzeugs verarbeitet.

3. Geschwindigkeit: Beim Connected Car werden über eine Kommunikations-schnittstelle Daten in regelmäßigen Abständen an den Hersteller gesendet. Beispiele für eine solche Kommunikationsschnittstelle sind die Systeme BMW Connected Drive oder Mercedes Connect Me.

4. Analytics: Die im Connected Car gesammelten Daten können beispielsweise mittels Methoden des supervised und unsupervised learning analysiert wer-den (vgl. Kapitel 8.3.2).

Die durch das Connected Car gesammelten Daten können beispielsweise über eine On-Board-Unit5 des Fahrzeugs an einen Backend-Server des Herstellers übertra-gen werden. Der Backend-Server dient als Schnittstelle des Fahrzeugs in das Inter-net (Johanning & Mildner, 2015). Der Datenaustausch zwischen Fahrzeug und Ba-ckend-Server findet dabei bidirektional statt:

■ Datenerfassung: Daten werden vom Fahrzeug ins Rechenzentrum gesendet,

[1] Die On-Board-Unit ist ein elektronisches Steuergerät, das eine integrierte SIM-Karte ent-

hält. Über diese wird eine permanente Verbindung zum Internet aufgebaut.

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140 Big Data Analytics für Connected Cars

um sie dort zu speichern und zu analysieren.

■ Datenbereitstellung: Daten werden vom Rechenzentrum ins Fahrzeug gesen-det. Bei den bereitgestellten Daten kann es sich beispielsweise um von Con-tent Providern zur Verfügung gestellten Daten handeln (Content Over-the-Air, bspw. Informationen über die Verkehrsdichte).6

Der Trend zur Verarbeitung großer Datenmengen im Connected Car wird sich in den nächsten Jahren fortsetzen und wird insbesondere durch folgende Entwick-lungen getrieben:

1. weiter steigende Anzahl von im Fahrzeug verbauten Sensoren

2. bessere Konnektivität der Fahrzeuge

3. immer leistungsfähigere Prozessoren sowie

4. immer bessere Telematik- und Navigationssysteme

8.3 Big Data Analytics für Connected Cars

Durch das Sammeln, die Analyse und Nutzung der Connected Car Daten entste-hen sowohl neue Dienstleistungen als auch neue Geschäftsmodelle. Aus wirt-schaftlicher Sicht wird geschätzt, dass es sich dabei um ein milliardenschweres Ge-schäft handelt (Dörner, 2015). Der Prozess der Verarbeitung der im Connected Car gewonnenen Daten kann dabei grob in drei Verarbeitungsschritte untergliedert werden:

1. Daten sammeln: Welche Daten können mit dem Connected Car gesammelt werden? Wie werden die Daten gesammelt?

2. Daten analysieren: Wie können die gesammelten Daten ausgewertet werden? Welche Methoden stehen zur Verfügung?

3. Daten nutzen: Welche Möglichkeiten der Datennutzung gibt es? Wie können bestehende Geschäftsmodelle weiterentwickelt werden? Wie können neue Geschäftsmodelle generiert werden?

Diese drei Schritte der Datenverarbeitung werden in den Kapiteln 8.3.1 bis 8.3.3

[2] Ein weiteres Beispiel der Datenbereitstellung sind Software-Updates. Im Tesla Model S

werden solche Software-Updates regelmäßig angeboten, um neue Funktionen zur Ver-fügung zu stellen (Pankow, 2016).

Page 146: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Big Data Analytics für Connected Cars 141

beschrieben. Um diese Verarbeitungsschritte differenzierter analysieren zu können wird dabei zwischen den folgenden drei Analysesubjekten unterschieden:

1. Analysesubjekt Fahrer: Welche Daten zum Fahrer bzw. zu den Fahrern kön-nen gesammelt, analysiert und genutzt werden?

2. Analysesubjekt Fahrzeug: Welche Fahrzeugdaten können gesammelt, analy-siert und genutzt werden?

3. Analysesubjekt Umgebung: Welche Möglichkeiten der Sammlung, Analyse und Nutzung von Umgebungsdaten gibt es?

8.3.1 Daten sammeln

Um die Vielfalt der gesammelten Daten besser analysieren zu können wird wie in der Tabelle 8.1 dargestellt zwischen Fahrerdaten, Fahrzeugdaten und Umge-bungsdaten unterschieden.

Tabelle 8.1 Big Data Analytics Verarbeitungsschritt: Daten sammeln

Big Data Analy-tics Verarbei-tungsschritte

Big Data Analytics Analysesubjekt

Fahrer

Fahrzeug Umgebung

Daten sammeln

Fahrer-bezo-gene Daten

Nut-zungs-be-zogene Daten

War-tungs-re-levante Daten

Situa-tions-be-zogene Daten

Verkehrs-daten

Sonstige Daten

Bei der Sammlung von Fahrerdaten kann zwischen fahrerbezogenen und nut-zungsbezogenen Daten unterschieden werden:

■ Fahrerbezogene Daten: Daten des Fahrers/der Fahrer werden gesammelt, um beispielsweise Fahrerprofile zu erstellen und diese für verschiedene Anwen-

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142 Big Data Analytics für Connected Cars

dungsszenarien zu nutzen. Ein Beispiel für fahrerbezogene Daten ist die An-zahl der Gurtstraffungen.7

■Nutzungsbezogene Daten: Es werden Daten gesammelt, um daraus Rück-schlüsse auf das Nutzungsverhalten des Fahrers/der Fahrer zu ziehen. Ein Beispiel für nutzungsbezogene Daten ist die Anzahl der eingelegten Medien im CD-/DVD-Laufwerk.

Beim Sammeln von Fahrzeugdaten kann zwischen wartungsrelevanten und situ-ationsbezogenen Daten unterschieden werden:

■Wartungsrelevante Daten: Daten zum Nutzungsgrad und zum Verschleiß wartungsrelevanter Komponenten werden gesammelt. Ein Beispiel für das Sammeln solcher Daten ist der Reifendruck.

■ Situationsbezogene Daten: Es werden Daten gesammelt, um bestimmte Situ-ationsmuster (Panne, Unfall) zuverlässig zu erkennen. Beispiele dafür sind das Auslösen des Airbags (Situationsmuster Unfall) oder das Absinken des Reifendrucks (Situationsmuster Panne).

Bei der Sammlung von Umgebungsdaten kann zwischen Verkehrsdaten und sons-tigen Daten unterschieden werden:

■ Verkehrsdaten: Mit dem Verkehrsgeschehen in Verbindung stehende Daten werden gesammelt. Das können beispielsweise Daten zum Straßenzustand, zu Baustellensituationen oder zur Parksituation im unmittelbaren Umfeld des Fahrzeugs sein.

■ Sonstige Daten: Neben den Verkehrsdaten kann das Fahrzeug zusätzliche Daten sammeln. Ein Beispiel hierfür sind Wetterdaten (Massaro & Ahn, 2017).

Bei der Erhebung und Nutzung der Daten aus dem Connected Car sind umfang-reiche gesetzliche Anforderungen zu berücksichtigen.8 Diesen Anforderungen

[3] Der ADAC hat im Jahr 2016 mehrere Fahrzeuge daraufhin untersucht, welche Betriebs-

daten im Fahrzeug gesammelt werden (ADAC, 2016). Beispiele für gesammelte und an den Hersteller übertragene Daten waren Kilometerstand, Verbrauch, Tankfüllung, Rei-fendruck, die Anzahl der elektromotorischen Gurtstraffungen, die erreichte Maximal-Drehzahl des Motors mit jeweiligem Kilometerstand, die Betriebsstunden der Fahrzeug-beleuchtung sowie die Anzahl der eingelegten Medien des CD-/DVD-Laufwerks (ADAC, 2016).

[4] Bspw. die im Mai 2016 verabschiedete EU-Datenschutzgrundverordnung. Wichtig ist bei den datenschutzrechtlichen Regelungen insbesondere, ob ein Personenbezug vor-liegt. Ein solcher Personenbezug wird zum Beispiel angenommen, wenn Fahrzeugdaten

Page 148: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Big Data Analytics für Connected Cars 143

wird beispielsweise entsprochen indem die Daten zeitversetzt übertragen werden, so dass der Beginn und das Ende einer Fahrt automatisch ausgeblendet werden können. Die Daten werden ebenfalls anonymisiert und nach festgelegten Interval-len gelöscht (Binz, 2015).

8.3.2 Daten analysieren

Laut einer gemeinsamen Studie von Bitkom Research und KPMG ist die Automo-bilindustrie in Deutschland der Vorreiter bei Big Data Analytics. 21 Prozent der Unternehmen in der Autoindustrie setzen Big Data Analysen ein (BITKOM, 2016).9 Einige der dabei verwendeten Methoden sollen im Folgenden anhand der drei Analysesubjekte Fahrer, Fahrzeug und Umgebung dargestellt werden (vgl. Ta-belle 8.2).

Tabelle 8.2 Big Data Analytics Verarbeitungsschritt: Daten analysieren

Big Data Analytics Verarbeitungs-schritte

Big Data Analytics Analysesubjekt

Fahrer

Fahrzeug Umgebung

Daten analysieren

Unsupervised Lear-ning/ Nutzungsän-derungsanalyse

Supervised Learn-ing

Deep Reinforcement Learning

Unsupervised learning: Hierbei handelt es sich um eine Form des maschinellen Lernens, bei der die Zielwerte des Lernens im Voraus nicht bekannt sind. Diese Analysemethode versucht, in den vom Connected Car gesammelten Daten ohne Zielwerte relevante Muster zu erkennen. fZum Beispiel konnte auf Basis der in ei-nem VW Touareg gesammelten Daten über Clusterbildung ermittelt werden, wie

über einen Online-Account abrufbar sind und der Nutzer sich für diesen Online-Ac-count mit seinem Namen und seiner E-Mail-Adresse anmelden muss.

[5] Für die Untersuchung wurden 706 Unternehmen ab 100 Mitarbeitern befragt. Der ge-naue Wortlaut der Frage lautete: „Inwieweit nutzt oder plant ihr Unternehmen fortge-schrittene Analysen von Daten unterschiedlichster Herkunft und Struktur zur Suche nach Erkenntnissen?“

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144 Big Data Analytics für Connected Cars

viele Fahrer in einem bestimmten Zeitraum das Fahrzeug gefahren haben (Kiel-mann & Dettling, 2015).

Analyse von Nutzungsänderungen: Eine Änderung des Nutzungsverhaltens des Fahrers kann Rückschlüsse auf veränderte Präferenzen oder veränderte Lebenssi-tuationen des Fahrers zulassen. Ein Beispiel hierfür ist das Erkennen, dass in einem Fahrzeug auf dem Hintersitz plötzlich vermehrt ein Kindersitz eingebaut wird (au-tomatische Kindersitzerkennung), was unter Umständen dazu führen kann, dass der Kunde als potentieller Kunde für ein größeres Fahrzeug in Frage kommt (Gor-riz, 2014).

Supervised learning: Hierbei handelt es sich um eine Form des maschinellen Ler-nens, bei der die Zielwerte des Lernens im Voraus bekannt sind. Supervised lear-ning setzt einen Lerndatenbestand voraus. Im Fall des Connected Cars können das beispielsweise die über den Zeitraum gesammelten Felddaten eines Steuergeräts sein. Ein Beispiel dafür ist das Sammeln der Felddaten der Bremssteuergeräte von ca. 400.000 Fahrzeugen (Dr. Baum, 2014). Auf Basis der Lerndaten kann ein Algo-rithmus versuchen, Muster im Datenbestand zu erkennen. Werden wartungsrele-vante Daten aus dem Fahrzeug übertragen, dann kann der Algorithmus diese auf Basis der Lerndaten so analysieren, dass beispielsweise Wartungszeitpunkte für das Fahrzeug optimal vorherbestimmt werden können (Prytz, 2014, S. 57ff.).

Deep reinforcement learning: Diese Analysemethode eignet sich insbesondere beim Vorliegen eines definierten Ziels und einer vorhandenen Datenmenge. Im Fall des Connected Car kann das Ziel beispielsweise ein optimierter Einparkvor-gang in einem bestimmten Umfeld sein. Die vorhandenen Daten sind die durch die Sensoren gesammelten Umgebungsdaten. Das System lernt durch Ausprobie-ren und durch ständige Rückmeldung, ob der Einparkvorgang bereits optimiert erfolgt. Durch ständige Wiederholungen entwickelt der Algorithmus dabei neue Strategien und verbessert sich immer weiter. Ein Beispiel aus der Praxis ist der bei der Fachkonferenz NIPS10 in Barcelona präsentierte Audi Q2. Durch Deep Rein-forcement Learning lernte das Fahrzeug das Einparken in einer zuvor unbekann-ten Umgebungssituation (Automotive World, 2016).

8.3.3 Daten nutzen

Der Erfolg von Big Data Analytics für Connected Cars entscheidet sich auf der Ebene der Datennutzung. Bestehende Dienste und Geschäftsmodelle müssen auf

[6] Neural Information Processing Systems

Page 150: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Big Data Analytics für Connected Cars 145

Basis von Big Data Analytics weiterentwickelt und neue Dienste und Geschäfts-modelle entwickelt werden. Für die Unternehmen ist es dabei wichtig, möglichst erfolgreiche Anwendungsszenarien für Big Data Analytics zu entwickeln. Solche Anwendungsszenarien für Big Data Analytics im Connected Car werden bisher meist aus Kundensicht (vgl. Tabelle 8.3) oder aus Unternehmenssicht (vgl. Tabelle 8.4) dargestellt. Bei der Betrachtung aus Kundensicht steht die bessere Befriedi-gung von Kundenbedürfnissen im Connected Car im Vordergrund. Dieser kun-denfokussierte Ansatz zielt insbesondere darauf ab, den Kunden über Connected Car Services enger an die eigene Marke zu binden.

Tabelle 8.3 Big Data Analytics Nutzungsszenarien aus Kundensicht

Anwendungs-szenarien aus Kundensicht

Ziel Beispiele

Infotainment Passagiere sind an Funktionalitäten ih-rer Smartphones (Konnektivität, Apps) gewöhnt und erwarten dies auch im Connected Car.

E-Mail Empfang im Fahr-zeug, Musik und Filme im Fahrzeug streamen

Fahrzeugma-nagement

Probleme im Fahrzeug schneller fest-stellen, deren Ursachen analysieren und Fahrer bei der Fehlerbeseitigung unter-stützen

Analyse des Fahrzeugzu-stands, Vorschlagen eines Werkstatttermins

Sicherheit Fahrer in bestimmten Fahrsituationen entlasten und Sicherheit der Passagiere erhöhen

eCall, Stauassistent, Spur-wechselassistent, Autono-mes Fahren

Telematik

Optimierte Verkehrsführung für den Fahrer

Routenplanung, Verkehrs-information, Parkplatzsuche

Im Unterschied dazu stehen bei der Darstellung der Anwendungsszenarien aus Unternehmenssicht (in Tabelle 8.4) die Vorteile für das Unternehmen (erhöhte Qualität, Kostenreduzierung, Umsatzgenerierung, etc.) im Vordergrund.

Tabelle 8.4 Big Data Analytics Nutzungsszenarien aus Unternehmenssicht

Anwendungssze- Ziel Beispiele

Page 151: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

146 Big Data Analytics für Connected Cars

narien aus Unter-nehmenssicht

F&E / Produktent-wicklung

Anonymisierte Felddaten des Connected Car für F&E im Sinne von höherer Zuverlässigkeit nutzen

Früherkennung fehlerhafter Komponenten

Vertrieb Nutzung der Daten, um Kundenbe-dürfnisse zu erkennen und diese vertriebsseitig besser zu bedienen

CRM@Porsche (Bayer, 2014)

Aftersales

Absicherung der Umsätze aus dem Wartungs- und Reparaturgeschäft

Predictive Maintenance

Anwendungsszenarien lassen sich desweitern dahingehend unterscheiden, ob sie an den Endkunden (Business-to-Consumer) oder Geschäftskunden (Business-to-Business) adressiert sind (vgl. Tabelle 8.5).

Tabelle 8.5 Big Data Analytics Nutzungsszenarien getrennt nach B-2-C und B-2-B

Anwendungssze-narien End- und Geschäftskunden

Ziel Beispiele

B-2-C Der Nutzen des Kunden wird ge-steigert, indem ein Mehrwert gebo-ten oder ein Problem gelöst wird.

E-Call, Kundenportal, Kun-denplattform

B-2-B Für Geschäftskunden (z.B. Versi-cherungen) wird ein Mehrwert ge-boten (Cross-Industry-Ecosys-tems).

Targeted Advertising, Unfall-management

Im Unterschied dazu werden im Folgenden die Anwendungsszenarien nach Fah-rer-, Fahrzeug- und Umgebungsdaten unterschieden. Beispiele für Anwendungs-szenarien im Bereich der Fahrerdaten sind:

■ Driver Scoring: Daten zum Fahrverhalten werden genutzt, um für die Fahrer einer Flotte ein Scoring einzuführen. Ziele des Scorings können Kosteneinspa-rungen über eine Veränderung des Fahrverhaltens und die Incentivierung

Page 152: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Big Data Analytics für Connected Cars 147

umsichtigen Fahrverhaltens sein. 11

■ Usage-based insurance: Das Fahrverhalten wird bei der Berechnung der Ver-sicherungsprämie berücksichtigt.12

■ Targeted Advertising: Durch die im Connected Car gesammelten Nutzungs-daten werden Kundenprofile erstellt, die für zielgenaue Werbung im Fahr-zeug genutzt werden.

■ Destination prediction: Auf Basis der gesammelten Bewegungsdaten werden Vorhersagen über zukünftige Fahrverläufe getroffen und diese für Mehrwert-dienste genutzt (Pivotal, 2015).

Beispiele für Anwendungsszenarien im Bereich der Fahrzeugdaten sind:

■ Ferndiagnose: Bestimmte Komponenten des Fahrzeugzustands (zum Beispiel Öltemperatur) werden aus dem Fahrzeug übertragen und laufend überwacht.

■ Instandhaltungsmanagement: Diagnosedaten des Connected Car werden ge-koppelt mit der Vermittlung von Werkstattleistungen.

■ Unfallmanagement: Nach Auslösen der Airbags wird eine Notrufzentrale ver-ständigt und die GPS-Position des Fahrzeugs wird übermittelt. Unter Um-ständen können weitere Dienste angeboten werden (zum Beispiel Abschlepp-fahrzeug, Abholdienst).

■ Vehicle Tracking: Fahrzeugortung, um beispielsweise im Fall eines Diebstahls das Fahrzeug auffinden zu können.

Die genannten Anwendungsszenarien im Bereich Fahrzeuganalyse versprechen eine bessere und gezieltere Betreuung des Kunden indem dieser einerseits voraus-schauend über Wartungsvorfälle informiert und andererseits in bestimmten Situ-ationen gezielt unterstützt werden kann. Daneben haben die wartungsbezogenen Anwendungsszenarien auch weitere Vorteile wie beispielsweise besser planbare Werkstattauslastungen, bedarfsgerechtere Fahrzeugauslegungen und die Mög-lichkeit, Fehlerquellen schneller zu identifizieren und zu beheben.

Beispiele für Anwendungsszenarien im Bereich der Umgebungsdaten sind:

[7] Scania und MAN bieten Fahrprofilauswertungen, die Lkw-Fahrern Einsparmöglichkei-

ten beim Kraftstoff aufzeigen. Dabei werden Kriterien wie Bremsverhalten, Schaltver-halten und Kraftstoffverbrauch bewertet.

[8] Der Versicherer Progressive aus den USA nutzt ein Telematikgerät namens Snapshot, welches die Einhaltung von Geschwindigkeitsbeschränkungen überwacht.

Page 153: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

148 Big Data Analytics für Connected Cars

■ Verkehrsoptimierung: Durch das Fahrzeug können Daten zu Verkehrsflüssen gesammelt und diese zu Verkehrsinformationen verarbeitet werden.

■Map Data Enrichment: Die Daten können genutzt werden, um Straßenkarten mit zusätzlichen Informationen anzureichern. Beispielsweise können Informa-tionen zum Straßenzustand (Gegenstände auf der Fahrbahn) detektiert und anderen Verkehrsteilnehmern zur Verfügung gestellt werden.

■Wetterdaten: Im Connected Car werden direkt gemessene Wetterdaten (bspw. Temperatur, Regenintensität) oder indirekt abgeleitete Wetterdaten (eingeschaltete Nebelscheinwerfer deuten auf Nebel hin) genutzt, um Wetter-daten zu erstellen (Massaro & Ahn, 2017).

8.4 Fazit

Der Markt für Big Data Analytics im Connected Car besitzt mittel- bis langfristig ein enormes wirtschaftliches Potenzial. Das macht diesen Markt sowohl für die bis-herigen Marktteilnehmer als auch für große Internet- und Technologieunterneh-men sehr interessant. Dabei wird es für alle Unternehmen eine der größten Her-ausforderungen der nächsten Jahre sein, die im Connected Car gesammelten Daten gewinnbringend für neue Dienst/Geschäftsmodelle und für die Weiterentwick-lung bestehender Dienste/Geschäftsmodelle zu nutzen. Wichtig ist dabei sowohl alle Datenverarbeitungsschritte (Daten sammeln, Daten analysieren, Daten nut-zen) als auch alle Analysesubjekte (Fahrer, Fahrzeug, Umgebung) in den Fokus der Datenanalyse aufzunehmen. Nur ein solch ganzheitlicher Ansatz kann zum Erfolg der Big Data Strategie führen. In Tabelle 8.6 ist die entsprechende Systematik dar-gestellt, mit deren Hilfe sich die Anwendungsfälle für Big Data Analytics für Connected Cars klassifizieren lassen:

Tabelle 8.6 Big Data Analytics für Connected Cars Systematik

Big Data Analytics Verarbei-tungsschritte

Big Data Analytics Analysesubjekt

Fahrer Fahrzeug Umgebung

Daten sam-meln

Fahrer-bezogen

Nut-zungs-bezogen

Wartungs-relevant

Situati-onsbezo-gen

Verkehrs-daten

Sonstige Daten

Page 154: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Fazit 149

Daten analy-sieren (Beispiele)

Unsuper-vised Learning

Nut-zungsän-derungs-analyse

Supervi-sed Learn-ing

Anomaly detection

Deep Rein-forcement Learning

Environ-mental An

Daten ver-wenden (Beispiele)

Driver Scoring/ Usage-based In-surance

Destina-tion pre-diction

Ferndiag-nose/ In-standhal-tungs-ma-nagement

Unfall-manage-ment/ Ve-hicle Tracking

Verkehrs-optimie-rung/ Map Data En-richment

Wetter-daten

Auf allen genannten Ebenen muss immer wieder die Frage im Mittelpunkt stehen, welche der in der Matrix abgebildeten Themen dabei welches wirtschaftliche Po-tenzial entfalten können. Dabei kommt es nicht darauf an, möglichst viele Daten, sondern die richtigen Daten zu sammeln.

Neben den im Text beschriebenen Aspekten von Big Data Analytics für Connected Cars gibt es zahlreiche weitere Aspekte zum Thema, die im vorliegenden Text nicht behandelt werden konnten, die aber untersucht werden sollten:

1. Daten-Stakeholder: Welche Daten sammeln die am Datenprozess Beteiligten, also zum Beispiel OEMs, Zulieferer, Händler, Werkstätten und Systemprovi-der?

2. Neue Player: Welche neuen Akteure drängen auf den Markt für Big Data Analytics für Connected Cars? Welche Strategien verfolgen diese jeweils?

3. Daten-Allianzen: Welche Allianzen und Partnerschaften werden im Markt für Big Data Analytics für Connected Cars geschmiedet? Welche Ziele verfol-gen diese?

4. Dateneigentum: Wem gehören die gesammelten Daten in ihrer Vielfalt? Wie und wann entscheidet der Fahrer über die Weitergabe der Daten?

5. Datenqualität: Wie wird mit inkonsistenten, nicht vollständigen oder redun-danten Daten umgegangen?

6. Datenanreicherung: Wie können Daten aus Smart Health, Smart Home und Smart Cities für Big Data Analytics für Connected Cars eingesetzt werden?

7. Sicherheit: Wie wird die Datensicherheit gewährleistet? Wie kann sicherge-stellt werden, dass Daten nicht manipuliert werden?

Page 155: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

150 Big Data Analytics für Connected Cars

8. Recht: Wie wird dem Datenschutz Genüge geleistet? Welche rechtlichen Vor-gaben sind neben den datenschutzrechtlichen Vorgaben zu beachten?

9. Akzeptanz: Werden die durch Big Data Analytics möglichen Anwendungs-szenarien durch die Kunden akzeptiert? Welche Anwendungsszenarien set-zen sich am Markt durch und welche nicht?

10. Technologien: Welche Technologien kommen zum Einsatz? Wer erstellt und unterhält die Technologien hinter Big Data Analytics für Connected Cars?

Literatur

[1] Accenture: Connected vehicle. Succeeding with a disruptive technology; 2015 [2] ADAC: Welche Daten erzeugt ein modernes Auto? (2016); abgerufen am 15.05.2017 un-

ter https://www.adac.de/infotestrat/technik-und-zubehoer/fahrerassistenzsysteme/da-ten_im_auto/default.aspx

[3] Automotive World: Automatic intelligent parking: Audi at NIPS in Barcelona (2016), 5.12.2016; abgerufen am 16.05.2017 unter http://www.automotiveworld.com/news-re-leases/automatic-intelligent-parking-audi-nips-barcelona/

[4] Dr. Baum, Lothar: Big Data trifft Industrie (2014): Vortrag auf der Datalympics 2014 [5] Bayer, Martin: Die besten Big-Data-Projekte - MHP und Porsche rücken enger an die

Kunden, 2.9.2014, abgerufen am 19.5.2017 unter https://www.computerwoche.de/a/die-besten-big-data-projekte-mhp-und-porsche-ruecken-enger-an-die-kunden,3066649

[6] Binz, Phil: Sensorik in Automobilen sammelt Daten, 13.03.2015, abgerufen am 03.05.2017 unter http://www.it-zoom.de/mobile-business/e/sensorik-in-automobilen-sammelt-da-ten-10384/

[7] BITKOM: Big Data im Praxiseinsatz - Szenarien, Beispiele, Effekte; 2012 [8] BITKOM: Autobauer und Versicherer Vorreiter beim Big Data Einsatz, 17.02.2016, abge-

rufen am 03.05.2017 unter http://www.bitkom-research.de/Presse/Pressearchiv-2016/Autobauer-und-Versicherer-Vorreiter-beim-Big-Data-Einsatz

[9] Dörner, Stephan: Mit Fahrzeugdaten werden bald Milliarden gemacht, 11.06.2015, abge-rufen am 03.05.2017 unter https://www.welt.de/wirtschaft/article142298444/Mit-Fahr-zeugdaten-werden-bald-Milliarden-gemacht.html

[10] Gartner Research: Gartner Says By 2020, a Quarter Billion Connected Vehicles Will Ena-ble New In-Vehicle Services and Automated Driving Capabilities; 2015; abgerufen am 03.05.2017 unter http://www.gartner.com/newsroom/id/2970017

[11] Gorriz, M: Big Data Analytics; carIT Kongress 2014: Michael Gorriz, abgerufen am 09.05.2017 unter https://www.youtube.com/watch?v=Kj3IV3WDoSo

[12] Johanning/Mildner: Car IT kompakt, Springer Vieweg (2015) [13] Kielmann, Christoph & Dettling, Jürgen: Mit Big Data zum Connected Car der Zukunft,

Artikel vom 10.03.2015, abgerufen am 16.05.2017 unter https://www.computerwo-che.de/a/mit-big-data-zum-connected-car-der-zukunft,3094413

[14] Massaro, E./Ahn, C. u.a.: The Car as an Ambient Sensing Platform, Proceedings of the IEEE, Vol. 105, January 2017

[15] McKinsey: Car data: paving the way to value-creating mobility, Perspectives on a new automotive business model; (2016)

Page 156: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Fazit 151

[16] Pankow, Gabriel: Warum BMW Autos zum Teil des Internet-of-Things machen will; 30. Juni 2016; abgerufen am 15.05.2017 unter https://www.automobil-produktion.de/tech-nik-produktion/fahrzeugtechnik/warum-bmw-autos-zum-teil-des-internet-of-things-machen-will-121.html

[17] Pivotal: IoT Realized - The Connected Car, Veröffentlicht am 23.03.2015, abgerufen am 19.05.2017 unter https://www.youtube.com/watch?v=cejQ46IQpUI

[18] Prytz, Rune: Machine learning methods for vehicle predictive maintenance using off-board and on-board data (2014), Halmstad University

[19] SAS: The Connected Vehicle: Big Data, Big Opportunities (2015) [20] Porter, Michael E./Heppelmann, James E.: How Smart, Connected Products Are Trans-

forming Competition, Harvard Business Review, November 2014

Page 157: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

9 Business-Partner oder Obsoleszenz?

Eine Inhaltsanalyse des Controllings im Zuge der Industrie 4.0

P. Regelmann, J. Schmelting, P. Kordus (Technische Universität Dortmund)

9 Business-Partner oder Obsoleszenz? 153

9.1 Die Industrie 4.0 als Herausforderung für das Controlling .................. 1549.2 Methodik ...................................................................................................... 1559.3 Quantitativ-deskriptive und qualitativ-analytische

Untersuchungsergebnisse .......................................................................... 1589.4 Diskussion und Limitationen .................................................................... 162

Literatur ........................................................................................................................ 164

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_10

Page 158: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

154 Business-Partner oder Obsoleszenz?

9.1 Die Industrie 4.0 als Herausforderung für das Controlling

Die digitale Transformation erfasst nach der Musik- und der Medienbranche sowie dem Handel verstärkt auch den Wirtschaftszweig der Industrie. Das Potenzial wird als derart groß angesehen, dass die Digitalisierung neben den beiden weite-ren Säulen der Automatisierung und der Individualisierung [1] bereits proaktiv als vierte industrielle Revolution, als Industrie 4.0, bezeichnet wird [2]. Ein Novum in der Wirtschaftsgeschichte.

Auch in der Automobilindustrie wird deren Bedeutung als sehr hoch oder hoch eingeschätzt [3]. Entsprechend fallen die Investitionen in diesem Zusammenhang aus. Wie aus Abbildung 9.1 ersichtlich, werden pro Jahr 5,8 Mrd. Euro in derartige Technologien investiert. Damit gehört die Automobilindustrie zu den Wirtschafts-zweigen mit den höchsten Investitionsvolumina. Im Anbetracht der bereits heute zu verzeichnenden hohen Variantenvielfalt verwundert dies wenig, weil die mit der Industrie 4.0 angestrebte wirtschaftliche Produktion der Losgröße 1 [4] kon-gruent zu jenen Zielen der OEMs erscheint, die den Marktanforderungen gerecht werden wollen. Die noch gegenwärtigen Wirtschaftsstrukturen des Taylorismus limitieren allerdings dieses Anliegen. Daher folgen die Investitionen auch keinem Selbstzweck, sondern sind vielmehr kalkulierte Handlungen zur Erzielung von Umsatzsteigerungen und Kostensenkungen. Kurzum: Die Wettbewerbsposition soll gestärkt werden.

Abbildung 9.1 Wirtschaftliche Potenziale der Industrie 4.0 für zentrale Bran-chen

Quelle: In Anlehnung an [5]

0

2

4

6

Luft-und Raumfahrt

Chemie Bautechnik Papier Metall Industrielle Fertigung

Logistik Elektronik Automobil

Zusätzlicher Umsatz Kostensenkungen Industrie 4.0 Investitionen

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20)

Page 159: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Methodik 155

Die mit der Industrie 4.0 verbundene Verknüpfung der dinglichen und der digita-len Welt zu cyber-physischen Systemen tangiert neben den wertschöpfenden Tä-tigkeiten auch nachgelagerte Dienstleistungen sowie die Arbeitsorganisation [6]. So auch das betriebliche Controlling, dass sich bspw. den Herausforderungen ge-genüber sieht, Amortisationszeiträume von zur Zeit noch enormen Investitionen abzuschätzen [7], den Investitions-Nutzen zu quantifizieren [8], sowie die Wirt-schaftlichkeit des Produktionsprozesses auch nach der Inbetriebnahme derartiger Technologien sicher zu stellen [9] oder aber auch ganz generell Industrie 4.0-Pro-jekte zu unterstützen [10]. Der vorliegende Beitrag gibt einen Überblick über ge-genwärtige Untersuchungsschwerpunkte. Er bedient sich dabei der Methodik der Literaturanalyse, anhand derer im weiteren Verlauf absehbare Konsequenzen auf den Fachbereich Controlling aufgezeigt werden.

9.2 Methodik

9.2.1 Grundlagen der Literaturanalyse

Literaturanalysen werden als „Aufarbeitung oder Zusammenfassung bestehenden Wissens“ definiert [11] und folgen somit einem empirisch-archivalischen Ansatz [12]. Untersuchungsobjekt sind dabei bereits veröffentlichte Beiträge, die unter Be-rücksichtigung bestimmter Fragestellungen analysiert werden. Ziele einer Inhalts-analyse sind u. a. bestehende Diskurse aufzuzeigen oder aber auch spezifische in-haltliche Fragestellungen zu beantworten [11] [13].

Das Erkenntnisinteresse beeinflusst die Konzeption der Literaturanalyse. Eine mögliche Differenzierung ist die in quantitativ-deskriptive und qualitativ-analyti-sche Literaturanalysen [14]. Während erstere sich häufig auf die transparente Dar-legung des Rechercheverfahrens und einer Kategorisierung der so identifizierten Beiträge beschränken, bleibt eine Offenlegung des Rechercheverfahrens bei quali-tativ-analytischen Untersuchungen häufig aus. Dies trübt zwar die intersubjektive Nachvollziehbarkeit, erlaubt es aber das Schrifttum flexibel und im Vergleich zur quantitativ-deskriptiven Vorgehensweise wesentlich tiefgehender zu analysieren. Im Fokus stehen inhaltliche Betrachtungen [14].

Beide Vorgehensweisen kann eine Relevanz zugesprochen werden. Sie verfügen über spezifische Vor- und Nachteile, weshalb deren Auswahl situativ im Zusam-menhang mit der Zielstellung erfolgen sollte. Zudem ist es möglich die beiden An-sätze miteinander zu kombinieren, wie im Folgenden veranschaulicht wird.

Page 160: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

156 Business-Partner oder Obsoleszenz?

9.2.2 Konzeption der zugrunde liegenden Literaturanalyse

Die diesem Artikel zugrundeliegende Methodik bedient sich sowohl bei der quan-titativ-deskriptiven als auch bei der qualitativ-analytischen Literaturanalyse. Die folgende Tabelle 9.1 veranschaulicht die dieser Untersuchung zugrunde liegenden Vorgehensweise.

Tabelle 9.1 Konkretisierung der angewandten Methodik

Merkmal

Quantitativ-deskriptive Lite-raturanalyse

Qualitativ-analytische Lite-raturanalyse

Datenerhebung

Rechercheverfahren Zeitschriften- und Arti-kelauswahl folgt festen Re-geln; häufig im Beitrag um-fassend dokumentiert

Umfang des Samples Regelmäßig angegeben

Datenauswertung

Analyseform Klassifizierung der Beiträge anhand verschiedener Ana-lysedimensionen; Quantifi-zierung der Zuordnungsvor-gänge

Synopse und Diskussion der Ergebnisse der unter-suchten Beiträge

Analysedimension Insbesondere Themen-schwerpunkte

Inhalte (Fokus und Ergeb-nisse der Beiträge)

Typische Ergebnisse Identifikation von themati-schen Schwerpunkten in-nerhalb eines Forschungs-feldes oder einer Zeitschrift

Synthese und Bewertung des innerhalb eines For-schungsfelds gewonnenen Erkenntnisfortschritts; Ab-leitung von Forschungsdefi-ziten

Quelle: In Anlehnung an [14]

Da jede Auswahl von zu untersuchenden Beiträgen einem gewissen Ermessens-spielraum unterliegt, wird bei der Datenerhebung zur Erhöhung der intersubjek-tiven Nachvollziehbarkeit ein regelbasiertes und strukturiertes Rechercheverfah-

Page 161: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Methodik 157

ren verfolgt [15]. Bei der vorliegenden Untersuchung wird sich auf deutsche Zeit-schriftenartikel beschränkt. Diese Fokussierung erscheint im Anbetracht der Son-derstellung der deutschsprachigen Controlling-Forschung im internationalen Ver-gleich gerechtfertigt [16]. Weiter werden Zeitschriftenartikel sowohl von Wissen-schaftlern als auch von Praktikern als Veröffentlichungsplattform akzeptiert [11] [17]. Dies erlaubt den Vergleich von Resultaten aus Wissenschaft und Praxis [14].

Da der Themenkomplex Industrie 4.0 einen anwendungsbezogenen Kern aufweist und auch die Controlling-Funktion in der betrieblichen Praxis seinen Ursprung hat, setzt sich das Beitrags-Sample aus praxisnahen deutschsprachigen Control-ling-Zeitschriften zusammen. Als Schnittmenge der Zusammenstellung von Hor-váth et al. (2015) [18] und Schäffer/Binder (2008) [19] werden die Controlling – Zeit-schrift für erfolgsorientierte Unternehmenssteuerung, das Controller Magazin und die Controlling & Management Review mit in die Untersuchung inkludiert.

Zeitlich beschränkt sich die Untersuchung auf publizierte Beiträge in dem Zeit-raum vom 01.01.2011 bis zum 31.12.2016. Somit datiert das eine Ende auf das Auf-nahmejahr der Industrie 4.0 in die Hightech-Strategie der Bundesregierung [6], wo-hingegen das Zeitspannenende auf den vergangenen Jahreswechsel festgesetzt wird. Hierdurch kann sichergestellt werden, dass eine vollständige Erfassung des Schrifttums über fünf vollständige Jahre erfolgt.

Ein Zeitschriftenbeitrag wird als relevant eingestuft, wenn im gesamten Bei-tragstext eine der beiden folgenden Suchkombinationen beinhaltet: „Industrie 4.0“ und „Controlling“ oder „Industrie 4.0“ und „Controller“.13

Die Durchsicht der Zeitschriften hinsichtlich der festgelegten Suchkombinationen erfolgt manuell und nicht unter Berücksichtigung einer Datenbank. Die gewählte Vorgehensweise garantiert somit, dass einzelne Artikel ohne Restzweifel identifi-ziert werden [19].

Das Sample setzt sich unter Anwendung der beschriebenen Filter aus 68 Beiträgen zusammen. In einem zweiten Schritt wurden diese einer semantischen Analyse un-terzogen, sodass sich auf originäre Beiträge beschränkt wird. Exemplarisch wur-den Interviews und ähnliches nicht berücksichtigt. Die Vorgehensweise ist hier analog zu anderen Untersuchungen [14] [19]. Für die qualitativ-analytische Unter-suchung werden somit 53 qualifizierte Beiträge berücksichtigt.14

13 Falls ein englischsprachiger Artikel vorliegt, werden die übersetzten Pendants als Suchbe-

griffe verwendet. 14 Eine detailliertere Aufschlüsselung dieses Samples wird in Abschnitt 9.3 gegeben.

Page 162: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

158 Business-Partner oder Obsoleszenz?

Diese werden darin hinsichtlich ihrer Einordnung in die Funktionalbereiche ana-lysiert. Damit wird das Ziel verfolgt, zu fixieren, welche Schwerpunkte in der ein-schlägigen Literatur gesetzt werden, um dann daraus Implikationen für die ent-sprechenden Controlling-Funktionen abzuleiten.

9.3 Quantitativ-deskriptive und qualitativ-analytische Untersuchungsergebnisse

Tabelle 9.2 gibt einen Überblick zu den identifizierten 53 Beiträgen, die in die qua-litative Analyse mit aufgenommen werden.

Tabelle 9.2 Identifizierte (in Klammern) sowie relevante Beiträge

2014 2015 2016 Summe

Controlling (3) 2 (16) 14 (11) 11 (30) 27

Controller Magazin (1) 1 (8) 5 (11) 11 (20) 17

Controlling und Management Review

(1) 1 (6) 2 (11) 6 (18) 9

Gesamtsumme (5) 4 (30) 21 (33) 28 (68) 53

Quelle: Eigene Darstellung

Auf der Zeitachse betrachtet ist unmittelbar ersichtlich, dass sich der Thematik In-dustrie 4.0 in den Fachjournals erst seit dem Jahr 2014 angenommen wird. Die Jahre 2011-2013 haben im vorliegenden Sample keinerlei relevante Publikationen hervorgebracht. Diese Erkenntnis einer fernab technischer Fragestellungen rund um die Industrie 4.0 zu konstatierenden Wissenslücke ist in der betriebswirtschaft-lichen Literatur nicht neu und wird sich seit dem Jahr 2015 verstärkt angenommen [20]. Im vorliegenden Sample lässt sich diese Entwicklung anhand der Quantität der relevanten Beiträge ebenfalls über alle drei analysierten Zeitschriften hinweg nachzeichnen.

Page 163: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Quantitativ-deskriptive und qualitativ-analytische Untersuchungsergebnisse 159

Hinsichtlich der inhaltlichen Ausrichtung kristallisieren sich anhand der quantita-tiven Häufung drei Schwerpunktbereiche heraus:15 Das Investitions-Controlling, das Projekt-Controlling und insbesondere auch das Produktions-Controlling, wel-ches mit zwölf Beiträgen die häufigste Würdigung innerhalb des Samples erfährt (vgl. Abbildung 9.2). Weitere Funktionalbereiche wie bspw. das Logistik- oder das Vertriebs-Controlling sind lediglich vereinzelt Gegenstand einer Betrachtung. Dies hat zur Folge, dass eine einordnende Diskussion dieser Beiträge aufgrund der ge-ringen Quantität im weiteren Verlauf nicht zieladäquat erfolgen kann und somit ausbleiben muss.

Abbildung 9.2 Schwerpunkte im Funktionscontrolling der Industrie 4.0

Quelle: Eigene Darstellung

Die drei genannten Schwerpunktbereiche16, befinden sich innerbetrieblich in einer konsekutiven Abfolge und werden nachstehend in eben dieser Folge aufbereitet:

1. Die Zeit vor einem Industrie 4.0-Projekt (Investitions-Controlling)

2. Die Zeit während eines Industrie 4.0-Projektes (Projekt-Controlling)

3. Die Zeit nach einem Industrie 4.0-Projekt (Produktions-Controlling)

15 Diese drei Bereiche sind die einzigen die mindestens in drei relevanten Beiträgen themati-

siert werden. 16 Sollte ein Beitrag mehrere Funktionalbereiche adressiert haben, so wurde dieser Beitrag zu

beiden Bereichen hinzugezählt.

0

2

4

6

8

10

12

Investitions-Controlling Projekt-Controlling Produktions-Controlling

AbsoluteHäufungderrelevantenBe

iträge*

*essindnurdiejenigenFunktionsbereichaufgeführt,dieinmindestensdreiPublkationenthematisiertwurden.

Page 164: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

160 Business-Partner oder Obsoleszenz?

9.3.1 Investitions-Controlling

Für Investitionen in Industrie 4.0-Technologien wird teilweise ein hoher Kapital-bedarf benötigt [21], weshalb die Wirtschaftlichkeit derartiger Investitionen sicher-gestellt werden muss. Im ausgewerteten Schrifttum wird auf die Notwendigkeit hingewiesen, bei Investitionsentscheidungen neben monetären auch quantitative und qualitative Kriterien zu berücksichtigen [10] [21] [22] [23]. Kernindikatoren der Industrie 4.0 wie Flexibilität, Transparenz und Qualität können nicht vollumfäng-lich monetär bewertet werden, weshalb auf weitere Daten ausgewichen werden muss.

Der Controller steht daher vor der Herausforderung, schwer vergleich- und be-wertbare Parameter zu einer umfassenden Einordnung zusammenzuführen. Dass diese Anforderung nicht allein durch das Controlling zu erfüllen ist, wird in der Literatur erkannt. Es ist auf die fachliche Expertise der Mitarbeitenden in der Pro-duktion angewiesen, die ihm bei der Prozess- und Potenzialanalyse unterstützen können [10] [21]. Ex-ante Beurteilungen von Investitionen werden ebenso thema-tisiert [10] [21], wie eine ex-post durchzuführende Validierung der investierten Mittel [22]. Übereinstimmung erzielen die drei genannten konzeptionellen Bewer-tungen insofern, als dass sie von einem klar umrissenen und fixierten Ist-Prozess ausgehen und darauf ihre Bewertungen aufbauen. Ex-ante werden so etwa im An-schluss Potenziale für Anpassungen identifiziert, priorisiert und einer umfassen-den Beurteilung unterzogen [10] [21]. Insgesamt wird deutlich, dass vor allem eine detaillierte Kenntnis über die Fertigung für den Controller von besonderer Rele-vanz ist, da sowohl eine Bestandsaufnahme der Ist-Situation als auch eine ex-ante Modellierung bzw. ex-post Bestandsaufnahme der neuen Situation notwendig ist [10] [21] [22].

Die Beiträge von Seiter et al. (2015) [23] sowie Sauter et al. (2015) [24] skizzieren weniger konkret aber in Übereinstimmung zu den zuvor Beschriebenen, allge-meine Herausforderungen im Investitions-Controlling der Industrie 4.0.

Da es sich bei der Industrie 4.0 generell um ein junges Forschungsfeld handelt, gibt es erst wenige Ansätze zur Bewertung von Industrie 4.0-Investitionen. Die bishe-rigen Ergebnisse geben dennoch begründet Anlass, dass bei der Umstellung auf eine digital vernetzte Fertigung wie bspw. die Einführung eines MES-Systems als zentrales Information-Hub, signifikante Verbesserungen z. B. hinsichtlich der Rüstzeiten, auftreten [21].

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Quantitativ-deskriptive und qualitativ-analytische Untersuchungsergebnisse 161

9.3.2 Projekt-Controlling

Ein sauber ausgeführtes Projekt-Controlling ist generell notwendig [25]. Dies gilt zwangsläufig umso mehr, je größer die Skepsis gegenüber Industrie 4.0-Innovati-onen ist, wie z. B. in vielen mittelständischen Unternehmen [26]. Diese Unsicher-heit entsteht vor allem durch die hohe Anzahl an unterschiedlichen Industrie 4.0-Graden, wodurch die Umsetzung als individueller Transformationsprozess anzu-sehen ist [10]. Hieraus resultiert unmittelbar, dass auch das Projekt-Controlling vor individuellen Herausforderungen im Kontext der Industrie 4.0 steht [24]. Unge-achtet dessen, ist zu erwarten, dass unterschiedliche Industrie 4.0-Projekte durch-aus gemeinsame Kernelemente aufweisen. Hierzu könnte u. a. die stärkere Fokus-sierung auf technische Aspekte gehören [10] [23].

Um den Herausforderungen begegnen zu können, empfiehlt die Literatur eine enge Zusammenarbeit zwischen Investitions- und Projekt-Controlling [10] [23] [24]. In Verbindung mit dem Investitions-Controlling ist das Projekt-Controlling für die Erreichung der Qualitäts-, Zeit- und Kostenziele vom Projekt und den vo-ran gegangenen Investitionen verantwortlich. Es geht primär darum, das Projekt-management in allen Phasen – Bewertung, Auswahl, Planung, Durchführung und Abschluss – des Projektes bzw. Innovationsvorhabens zu unterstützen [23]. Eine mögliche Herangehensweise an die Umsetzung von Industrie 4.0-Technologien ist die Erstellung einer Roadmap, die mit einer Ist- und Potenzialanalyse startet und schließlich die eigentliche Basis für das Projektmanagement bildet [10]. Die Phase vor und während eines Projektes verschmelzen dadurch zu einer Phase.

Insgesamt lässt sich konstatieren, dass das Projekt-Controlling näher an das Inves-titions-Controlling rücken wird. Die Erkenntnisse aus der vorgelagerten Phase werden für das Projekt-Controlling immer entscheidender. Es ist daher anzuneh-men, dass das Projekt-Controlling auch stärker in die vorgelagerten Prozesse – bei-spielsweise die Erstellung einer Roadmap – eingebunden wird. Eine Nicht-Integra-tion in diese vorgelagerten Prozesse würde Unsicherheiten beim Projekt-Control-ler mit sich bringen. Schließlich ist ebenfalls zu erwarten, dass stärkeres Technik-Wissen von Nöten sein wird, um die Zeit- und Kostenbudgets besser einschätzen zu können.

9.3.3 Produktions-Controlling

In Industriebetrieben stellt das Produktions-Controlling anerkannterweise eine wichtige Funktion dar [27], die in der jüngeren Vergangenheit aber nur rudimentär weiterentwickelt wurde. Durch die geschilderten Innovationen könnte es aber nun

Page 166: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

162 Business-Partner oder Obsoleszenz?

zu einer Renaissance kommen [9] [21]. Denn diesem Fachbereich bietet sich durch die Nähe zum sich verändernden Produktionsumfeld die Chance sein Aufgaben-feld zu erweitern und zum Business-Partner aufzusteigen [9] [23] [28]. Gleichwohl könnte eine Vielzahl operativer Produktions-Controllingprozesse wie wir sie heute kennen, – z. B. Teile der Kostenrechnung – [24] [27] [29] zukünftig obsolet werden [2] [28], wenn die Datenerhebung und -aufbereitung in Produktionsprozessen durch eine Echtzeitverfügbarkeit als Aufgabenfeld hinfällig wird. Die Echtzeitver-fügbarkeit vermag zwar Entscheidungsprozesse grundsätzlich zu verkürzen [8], jedoch wird auch diskutiert, inwiefern sie tatsächlich gewollt und ggf. die Recht-zeitigkeit nicht bereits hinreichend sein kann [30]. Die mit der permanenten Ver-fügbarkeit einhergehenden Big Data Anwendungen werden in gleich zwei Beiträ-gen thematisiert [29] [31]. Sie ermöglichen es dem Produktions-Controlling, Auf-gabengebiete im Sinne eines Self-Controllings abzutreten [2], zugleich auf dieser Datengrundlage eine Expertise im Forecasting aufzubauen sowie sich prädiktiven Aufgaben zu widmen. Eine Anforderung, die im Schrifttum als immer wichtiger angesehen wird [9] [24] und sich in Anwendungen des Predictice Analytics [24] [32] sowie des Predictive Maintenance [32] äußert. Die Rolle als Business-Partner wird an dieser Stelle ebenso deutlich, wie bei der mit zu verantwortenden Vermei-dung von Dysfunktionen selbstregulierender Prozesse [23]. Ebenso wird die Ex-pertise des Produktions-Controllers sowie dessen Kollaborationsfähigkeit bei der Weiterentwicklung bestehender Algorithmen [2] sowie der Problemlösung erfor-derlich [9] [29]. Daher ist von einem verschärften Anforderungsprofil auszugehen. Insbesondere Kenntnisse in mathematischen und statistischen Verfahren stehen im Vordergrund [9] [28]. Diese werden auch notwendig, weil durch die Flexibilität innerhalb der Produktionsprozesse die Unsicherheiten steigen und vermehrt stochastische und weniger deterministische Rechenverfahren Anwendung finden [24]. Um dieser Komplexität begegnen zu können, wird vorgeschlagen, Produkti-onsprozesse zu modularisieren [24] [27]. Dies ermöglicht dem Produktions-Con-trolling die notwendige Agilität.

Die Sichtung der einschlägigen Beiträge zeigt ebenso auf, dass konkrete Resultate noch rar sind. Dies hat zur Folge, dass das Schrifttum an dieser Stelle oftmals visi-onär erscheint. Hieraus aber unmittelbar die Schlussfolgerung zu ziehen, dass das Produktions-Controlling sich im Zuge der Industrie 4.0 nicht verändern wird, er-scheint unangebracht.

9.4 Diskussion und Limitationen

Die dargestellten Erkenntnisse zu den Auswirkungen der Industrie 4.0 auf die

Page 167: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Diskussion und Limitationen 163

Controlling-Funktion dürften für die Automobilbranche von Interesse sein. Denn sie nehmen eine Vorreiterrolle bei der Einführung von technologischen Neuerun-gen im Fertigungsumfeld ein [33]. Gerade durch die Fokussierung auf die techni-schen Aspekte innerhalb des Literaturstranges werden Praktiker bisher bei der Im-plementierung ihrer Projekte weitestgehend alleine gelassen. Es gibt aber für das Controlling eine Reihe von Änderungen, die unternehmensindividuell anzupas-sen sind. Klar ist, dass eine Verweigerung gegenüber der Echtzeitsteuerung sowie anderen neuartigen Elementen die Wettbewerbsposition von Unternehmen nach-haltig schwächen könnte.

Insgesamt lässt sich festhalten, dass im Controlling-Bereich das Produktions-Con-trolling der zurzeit am intensivsten erforschte Bereich im Kontext der Industrie 4.0 darstellt. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass die Produktion und die Logistik die Ausgangspunkte der Industrie 4.0 darstellen. Erstaunlich ist daher, dass das Logistik-Controlling bislang kaum thematisiert wird. Aspekte des Investitions- und Projekt-Controlling sind hingegen in höherer Häufigkeit anzutreffen. Da sich Umsetzungen der Industrie 4.0 in der unternehmerischen Praxis oftmals noch in der Projektphase befinden, ist dies aber zumindest nachvollziehbar.

Inhaltlich ist zu konstatieren, dass sich die Controlling-Funktion ihrerseits in ei-nem Transformationsprozess befindet, der das Aufgabenspektrum sowie die An-forderungen an das Controlling verändern werden. So ist absehbar, dass eine ver-stärkte interdisziplinäre Zusammenarbeit mit weiteren Fachbereichen notwendig werden wird, um eine effektive Unternehmenssteuerung zu gewährleisten. Zwar ist zu erwarten, dass vor allem im Produktions-Controlling zukünftig Teilaufgaben automatisiert werden könnten, von einer vollständigen Obsoleszenz der unter-suchten Funktionsbereiche ist aber nicht auszugehen. Als wahrscheinlicher er-scheint nach Sichtung des Literaturstranges der Wandel der Controllerrolle hin zum echten Business-Partner, der mit seiner Expertise Prozesse vorausdenkt, Be-funde interpretiert, ganzheitlich einordnet und so die Unternehmensführung un-terstützt. Dass sich durch diesen Wandel das Anforderungsprofil an den Control-ler verändern dürfte, ist offensichtlich.

Auch wenn die durchgeführte Literaturanalyse den aktuellen Status quo des Con-trolling im Kontext der Industrie 4.0 widerspiegelt, ist sie nicht frei von Limitatio-nen. So ist das Beitragssample aus wissenschaftlicher Perspektive als kritisch an-zusehen, weil es sich einerseits auf deutschsprachige Literatur beschränkt und an-dererseits auf praxisorientierte Publikationen zurückgreift.17 Weiter fokussiert sich

17 Das in Deutschland sehr populäre JOURQUAL-Ranking des VHB listet die untersuchten

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164 Business-Partner oder Obsoleszenz?

die Stichwortsuche auf das Begriffspaar Industrie 4.0/Industry 4.0 wodurch artver-wandte Termini keine Berücksichtigung finden. Gleiches gilt für die Controlling-Bereiche, die zwar in unterschiedlichen Schreibweisen z. B. Produktionscontrolling und Produktions-Controlling abgebildet wurden aber Umschreibungen außen vor ließ. Weiterführende Untersuchungen sollten daher auf den Erkenntnissen dieses Beitrags aufbauen und sich den dargelegten Limitationen annehmen.

Danksagung:

Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Graduiertenkollegs GRK 2193 „Anpassungsintel-ligenz von Fabriken im dynamischen und komplexen Umfeld“ gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG).

Literatur

[1] Henke, Michael (2016): Vorstudie Einkauf 4.0 Digitalisierung des Einkaufs Grusswort, https://www.bme.de/fileadmin/_horusdam/4190-Vorstudie_Einkauf_40.pdf.

[2] Singh, Maurizio (2015): Am Vorabend der vierten industriellen Revolution, in: Control-ling & Management Review, 59. Jg., Heft 5, S. 8-14.

[3] MHP A Porsche Company (2014): Studie Industrie 4.0 – Eine Standortbestimmung der Automobil- und Fertigungsindustrie https://www.mhp.com/fileadmin/mhp.de/assets/s tudien/MHP- Studie_Industrie4.0_V1.0.pdf.

[4] Bauernhansl, Thomas (2014): Die Vierte Industrielle Revolution – Der Weg in ein wert-schaffendes Produktionsparadigma, in: Bauernhansl, Thomas/ten Hompel, Michael/Vo-gel-Heuser, Birgit (Hrsg.): Industrie 4.0 in Produktion, Automatisierung und Logistik, Wiesbaden, S. 5-35.

[5] PWC (2016): Industrie 4.0: Building the Digital Enterprise – Ergebnisse Deutschland Ap-ril 2016, http://www.pwc.de/de/digitale-transformation/assets/pwc-praesentation-in-dustrie-4-0-deutsche-ergebnisse.pdf.

[6] Kagermann, Henning/Wahlster, Wolfgang/Helbig, Johannes (2013): Umsetzungsemp-fehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0 – Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0, Frankfurt am Main.

[7] acatech- Deutsche Akademie der Technikwissenschaften, Fraunhofer-Institut für Mate-rialfluss und Logistik IML, equeo GmbH (2016): Kompetenzentwicklungsstudie Indust-rie 4.0, http://www.acatech.de/fileadmin/user_upload/Baumstruktur_nach_Websit e/Acatech/root/de/Publikationen/Kooperationspublikationen/acatech_DOSSIER_Kom-petenzentwicklung_Web.pdf.

[8] Sejdić, Goran (2015): Industrie 4.0, in: Controlling, 27. Jg., Heft 2, S. 132-133. [9] Gleich, Ronald/Thiele, Philipp/Munck, Christoph (2016): Auswirkungen von Industrie

4.0 auf das Produktionscontrolling von morgen, in: Controller Magazin, 41. Jg., Heft 3, S. 80-84.

Zeitschriften lediglich im Segment „D“ (Controlling, Controlling & Management Re-view) oder spricht ihr keinen wissenschaftlichen Anspruch zu (Controller Magazin).

Page 169: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Diskussion und Limitationen 165

[10] Rusch, Marc/Treusch, Oliver/David, Ute/Seiter, Mischa (2016): Industrie 4.0 – Control-lers Aufgaben, in: Controller Magazin, 41. Jg., Heft 3, S. 70-79.

[11] Zühlke, Jens Paul (2007): Die Verbreitung von Wissen zu Controlling-Instrumenten – Eine Analyse der Veröffentlichungstätigkeit in deutsch- und englischsprachigen Fach-zeitschriften, Wiesbaden, zugl. Dissertation European Business School Oestrich-Winkel, 2006.

[12] Smith, Malcolm (2003): Research Methods in Accounting, London et al. [13] Schäffer, Utz/Nevries, Pascal/Fikus, Christian/Meyer, Matthias (2011): Is Finance Re-

search a “Normal Science”? – A Bibliometric Study of the Structure and Development of Finance Research from 1988 to 2007, in: Schmalenbach Business Review, 63. Jg., Heft 4, S. 189-225.

[14] Trapp, Rouven (2012): Konvergenz des Rechnungswesens – Eine Inhaltsanalyse der Dis-kussion um eine Annäherung des internen und externen Rechnungswesens in deutsch-sprachigen Fachzeitschriften, Wiesbaden, zugl. Dissertation Technische Universität Dortmund, 2011.

[15] Srnka, Katharina J./Koeszegi, Sabine T. (2007): From Words to Numbers – How to Trans-form Qualitative Data into Meaningful Quantitative Results, in: Schmalenbach Business Review, 59. Jg., Heft 1, S. 29-57.

[16] Wagenhofer, Alfred (2006): Management Accounting in German-Speaking Countries, in: Journal of Management Accounting Research, Vol. 18, S. 1-19.

[17] Teichert, Thorsten/Talaulicar, Till (2002): Managementkonzepte im betriebswirtschaftli-chen Diskurs – Eine bibliometrische Klassifizierung, in: Die Betriebswirtschaft, 62. Jg., Heft 4, S. 409-426.

[18] Horváth, Péter/Gleich, Ronald/Seiter, Mischa (2015b): Controlling, 13. Aufl., München [19] Schäffer, Utz/Binder, Christoph (2008): “Controlling” as an Academic Discipline – The

Development of Management Accounting and Management Control Research in Ger-man- Speaking Countries between 1970 and 2003, in: Accounting History, 13. Jg., Heft 1, S. 33-74.

[20] Horváth, P. (2015). Editorial, in: Controlling, 27. Jg., Heft 8/9, S. 439. [21] Obermaier, Robert/Hofmann, Johann/Kirsch, Victoria (2015): Konzeption einer Prozess-

und Potenzialanalyse zur Ex-ante-Beurteilung von Industrie 4.0-Investitionen, in: Con-trolling, 27. Jg., Heft 8/9, S.485-492.

[22] Obermaier, Robert/Kirsch, Victoria (2015): Wirtschaftlichkeitseffekte von Industrie 4.0-Investitionen, in: Controlling, 27. Jg., Heft 8/9, S. 493-503.

[23] Seiter, Mischa/Sejdić, Goran/Rusch, Marc (2015): Welchen Einfluss hat Industrie 4.0 auf die Controlling-Prozesse?, in: Controlling, 27. Jg., Heft 8/9, S. 466-474.

[24] Sauter, Ralf/Bode, Maximilian/Kittelberger, Daniel (2015): Auswirkungen von Industrie 4.0 auf die produktionsnahe Steuerung der Wertschöpfung, in: Controlling, 27. Jg., Heft 8/9, S. 475-484.

[25] Kraus, Peter/Baumöl, Ulrike (2016): Erfahrung im IT-Mananagement für einen gewach-senen Mittelständler - ein Beispiel für viele, in: Controlling, 28. Jg., Heft 12, S. 728-734.

[26] Becker, Wolfgang/Ulrich, Peter (2016): Controlling und IT – Wechselwirkungen im Mit-telstand, in: Controlling, 28. Jg., Heft 12, S. 735-742.

[27] Reischauer, Georg/Schober, Lukas (2015): Controlling von Industrie 4.0-Prozessen, in: Controlling & Management Review, 59. Jg., Heft 5, S. 22-28.

[28] Ereth, Julian/Kemper, Hans-Georg (2016): Business Analytics und Business Intelligence, in: Controlling, 28. Jg., Heft 8/9, S. 458-464.

[29] Lingnau, Volker/Brenning, Matthias (2015): Komplexität, Flexibilität und Unsicherheit –

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166 Business-Partner oder Obsoleszenz?

Konzeptionelle Herausforderungen für das Controlling durch Industrie 4.0, in: Control-ling, 27. Jg., Heft 8/9, S. 455-460.

[30] Paulus, Thomas/Zeibig, Stefan (2015): Controlling & Industrie 4.0 aus Sicht eines Ma-schinen- und Anlagenbauers, in: Controlling, 27. Jg., Heft 8/9, S. 504-509.

[31] Baars, Henning/Kemper, Hans-Georg (2015): Integration von Big Data-Komponenten in die Business Intelligence, in: Controlling, 27. Jg., Heft 4/5, S. 222-228.

[32] Baars, Henning (2016): Predictive Analytics in der IT-basierten Entscheidungsunterstüt-zung – methodische, architektonische und organisatorische Konsequenzen, in: Control-ling, 28. Jg., Heft 3, S. 174-180.

[33] Pierre Audoin Consultants (PAC) GmbH/ Freudenberg IT SE & Co. KG (2013): IT Inno-vation Readiness Index, http://www.i40.de/wp/wp-content/uploads/2015/03/02_it-in novation-readiness-index-2013-studienreport.pdf

Page 171: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Track 2 Automotive Engineering

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Kurzfassung

Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. D. Schramm (Universität Duisburg-Essen)

Auch in diesem Jahr befasste sich die Beiträge des Tracks Automotive Engineering mit den wesentlichen Treibern der Transformation der Automobilbranche. Das ist neben dem bereits seit einigen Jahren präsenten Thema Wandel des Antriebs-strangs hin zu „Alternativen Antrieben“ die Digitalisierung des Verkehrs geprägt durch „Fahrerassistenzsysteme“ und „Vernetzung von Fahrzeugen“.

M. Schüller und D. Schramm arbeiteten in ihrem Vortrag die Unterschiede der Nutzung von Elektrofahrzeugen in Deutschland und China anhand real erfasster Fahrzyklen heraus. Dabei wird insbesondere deutlich, dass sich die Reichweiten aufgrund unterschiedlicher Verkehrsbedingungen und insbesondere einer großen Spreizung der klimatischen Bedingungen in China deutlich unterscheiden.

Ein im Zusammenhang mit der Elektromobilität häufig diskutiertes Thema ist die Kopplung zwischen Elektrofahrzeugen und elektrischem Energienetz. Mit Aspek-ten dieses Themenkomplexes befassten sich S. Tsiapenko, J. Weber und H. Hirsch in ihrem Vortrag.

Ein in wahrsten Sinne lebenswichtiges Thema bei der Entwicklung von Fahreras-sistenzsysteme sind Prozesse zur Absicherung der funktionalen Sicherheit. Dies betrifft insbesondere die Entwicklung und die Absicherung der eingesetzten Soft-ware. Dieses Thema diskutierten T. Frese, N. Gerber, D. Hatebur, I. Cote und M. Heisel in ihrem Beitrag.

Ein wichtiges Thema aber bis heute wenig erforschtes Thema bei der Einführung von (teil-) automatisierten Fahrzeugen ist die Auswirkung dieser Fahrzeuge auf den Verkehrsfluss, insbesondere in der Übergangsphase, wenn automatisierte auf nicht automatisierte Fahrzeuge treffen. Da Feldversuche hierzu heute noch nicht möglich sind, kommen für Untersuchungen zunächst Simulationsmethoden in Frage. Eine derartige Simulation mit einer hybriden makro- und mikroskopischen Ausprägung diskutierten H. Völker, D. Schramm und T. Weis in ihrem Beitrag. Dabei wird in der mikroskopischen Simulation das detaillierte physikalische Ver-halten jedes Fahrzeugs dargestellt, während die Makroskopische Simulation den dynamischen Verkehrsfluss nachbildet.

Im Rahmen mehrere großer Verbundprojekte wurden während der letzten Jahre große Datenmengen mit Datenloggern in elektrifizierten Serienfahrzeugen erho-

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170 Kurzfassung

ben. Aus den erfassten Daten können jedoch aufgrund des beschränkten System-zugriffs bei diesem Ansatz nicht alle interessierenden Daten, wie zum Beispiel die Betriebszeiten von Range Extendern, direkt erfasst werden. S. Blume, S. Reicherts, P. Driesch und D. Schramm zeigten in ihrem Beitrag, wie mit Hilfe von Methoden des Machine Learning auch derartige Daten aus einem Minimaldatensatz ermittelt werden können.

Ebenfalls mit der Nutzung der während des Fahrbetriebs erfassten Daten zur Ab-schätzung weiterer Effekte befasste sich Y. Sheng Kong in seinem Beitrag. Er zeigte am Beispiel des Formula Student E Fahrzeugs der Universität Duisburg-Essen wie sich Schädigungseffekte an Fahrzeugen durch die Auswertung von vergleichs-weise einfach zu gewinnenden Beschleunigungs- und Dehnungssignale vorhersa-gen lassen.

Fahrsimulatoren sind ein wichtiges Hilfsmittel bei der Untersuchung neuartiger Fahrzeugsysteme. Dabei spielt neben der Simulation des Fahrzeugverhaltens auch die Simulation des Fußgängerverkehrs eine ganz wesentliche Rolle. Mit einer neuen Methode interaktive Fußgänger in Fahrsimulatorumgebungen zu realisie-ren, befasste sich S. Schweig in seinem Posterbeitrag.

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1 Vergleich realer Fahrzyklen für Elektrofahrzeuge in Deutschland und China

M. Schüller, Prof. W. Hou, Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. D. Schramm (Universität Duisburg-Essen)

1 Vergleich realer Fahrzyklen für Elektrofahrzeuge in Deutschland und China ............................................................................................................. 171

1.1 Einleitung und Motivation ........................................................................ 1721.2 Besondere Randbedingungen für China ................................................. 1731.3 Datengrundlage ........................................................................................... 1731.4 Generierung von Fahrzyklen auf Basis realer Fahrdaten ...................... 1741.5 Analyse des Temperatureinflusses ........................................................... 1771.6 Zusammenfassung und Ausblick ............................................................. 180

Literatur ........................................................................................................................ 181

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_11

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172 Vergleich realer Fahrzyklen für Elektrofahrzeuge in Deutschland und China

1.1 Einleitung und Motivation

In der Diskussion um Elektrofahrzeuge werden insbesondere die im Vergleich zu verbrennungsmotorisch betriebenen Fahrzeugen reduzierten Emissionswerte und Verbrauchskosten diskutiert, welche jedoch der geringeren Reichweite gegenüber-stehen, die als eine der größten Barrieren für die Marktdurchdringung wahrge-nommen wird [1]. Die Abhängigkeit sowohl der Reichweite als auch der Emissi-ons-, Verbrauchskosten-, sowie weiterer Kennwerte von dem Energieverbrauch ei-nes Fahrzeuges verdeutlicht die Bedeutung einer detaillierten Analyse des Ver-brauches und dessen Einflussfaktoren. Die Einflussfaktoren können umgebungs-bezogen, wie z.B. die Umgebungstemperatur, fahrzeugbezogen, wie z.B. die Nut-zung von Nebenverbrauchern [2], straßenbezogen, wie z.B. die Straßensteigung [4], verkehrsbezogen oder fahrerbezogen wie z.B. das Fahr- oder Ladeverhalten sein [5]. Bei der Vielzahl an Einflussfaktoren, die eine starke regionale Abhängig-keit aufweisen, wird eine regionsspezifische Betrachtung erforderlich. Dies betrifft vor allem die Klimaverhältnisse sowie das Fahrverhalten, welches die individuell vom Fahrer abhängige Charakteristik sowie die Verkehrssituation umfasst.

Diese Faktoren haben nicht nur direkten Einfluss auf den Energieverbrauch selbst, sondern auch auf die Alterung der Batterie, wobei ein alterungsbedingter Kapazi-tätsverlust wiederum zu einer geringeren Reichweite führt.

China ist mit einem PKW-Absatz von 28 Mio. Fahrzeugen (2016) inzwischen einer der wichtigsten Automobilmärkte [3]. Gleichzeitig ist er der zweitgrößte Absatz-markt für Elektrofahrzeuge, welche durch politische Maßnahmen wie Subventio-nen oder Flottengesetzgebungen stark gefördert werden. Umso wichtiger wird auch für deutsche Automobilhersteller eine ausführliche Betrachtung des Fahrver-haltens sowie der weiteren Randbedingungen für den Energieverbrauch.

In diesem Beitrag soll eine vergleichende Analyse der Randbedingungen für den Energieverbrauch von Elektrofahrzeugen in China und Deutschland erfolgen. Dazu werden Besonderheiten der Region China diskutiert. Das Fahrverhalten wird anhand von realen Fahrdaten aus der Stadt Wuhan in einem repräsentativen Ge-schwindigkeits- sowie Lastzyklus abgebildet. Anschließend wird der Temperatur-einfluss als eine der wichtigsten Größen genauer analysiert und auf andere chine-sische Städte projiziert.

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Datengrundlage 173

1.2 Besondere Randbedingungen für China

Das Flächengebiet von China erstreckt sich mit 9,6 Mio. km² über verschiedene Klimazonen, die entsprechend der Temperatur von Süden nach Norden die äqua-toriale, tropische, subtropische, warmgemäßigte, gemäßigte und kaltgemäßigte Zone umfassen [6]. Dies führt zu sehr hohen Temperaturunterschieden innerhalb des Landes besonders im Winter. Während die durchschnittliche Mindesttempe-ratur im Januar in Shenzhen bei 12°C liegt, erreicht sie in Changchun -21°C [7].

Ein immer größerer Teil der Bevölkerung in China wohnt in Groß- bzw. Megastäd-ten. Während der Anteil der urbanen Bevölkerung 2006 noch bei 44% lag, ist er bis 2016 bereits auf 57% gestiegen [8]. Hochrechnungen für 2025 prognostizieren einen Anteil von etwa 69%, was absolut eine Anzahl von 970 Mio. Menschen bedeutet [8]. In Deutschland stieg dieser Anteil von 74 % 2006 leicht auf 76% 2016 an [8]. Die Urbanisierung hat einen starken Einfluss auf die Verkehrsstrukturen und dem An-teil an Fahrten im urbanen Raum. Insbesondere verursacht die große Bevölke-rungs- und Fahrzeugdichte in den urbanen Räumen ein hohes Verkehrsaufkom-men. So liegt das von Tomtom veröffentlichte Staulevel, welches die zusätzliche Fahrtzeit gegenüber derselben Strecke mit freier Fahrt beschreibt, in Beijing bei-spielsweise bei 46%. In der Region Ruhr-West liegt es bei 23% [9]. Ein steigender Anteil an Verkehrsstaus hat beispielsweise eine höhere Fahrtzeit oder geringere Durchschnitts- oder Höchstgeschwindigkeiten sowie einen hohen Wechsel zwi-schen Beschleunigungs- und Verzögerungsphasen zur Folge.

Obwohl die Gesamtanzahl an Fahrzeugen in China sehr hoch ist, handelt es sich bei einer vergleichsweise nicht geringen Anzahl der Autofahrer um Erstkäufer mit geringer Fahrerfahrung. So waren 2012 38,3% der Autofahrer Fahranfänger, die ihren Führerschein weniger als 3 Jahre besaßen. In Deutschland ist die Anzahl der Fahranfänger relativ konstant und lag 2016 bei etwa 3% [10].

1.3 Datengrundlage

Die Ergebnisse dieses Beitrags basieren auf realen Fahrdaten, welche in der Region Wuhan aufgenommen wurden. Das dabei verwendete Loggersystem sowie die aufgezeichneten Messgrößen entsprechen denen aus Flottenprojekten, welche be-reits in Deutschland durchgeführt wurden [11, 12]. Dabei wird sekündlich die GPS-Position, Fahrzeuggeschwindigkeit, der Strom sowie die Temperatur erfasst. Bei den ausgestatteten Fahrzeugen handelt es sich um reine Batteriefahrzeuge.

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174 Vergleich realer Fahrzyklen für Elektrofahrzeuge in Deutschland und China

1.4 Generierung von Fahrzyklen auf Basis realer Fahrdaten

Das Fahrverhalten wird üblicherweise in synthetischen Fahrzyklen abgebildet. Unter einem Fahrzyklus wird gewöhnlich ein Geschwindigkeits-Zeitverlauf ver-standen, welcher meist zur Bestimmung von Verbrauch und Emissionen verwen-det wird. Gesetzlich vorgeschriebene standardisierte Fahrzyklen wie der Neue Eu-ropäische Fahrzyklus (NEFZ) haben vor allem die Vergleichbarkeit und somit Be-wertung von Verbrauchs- und Emissionswerten verschiedener Fahrzeugmodelle zum Ziel. Gerade der NEFZ wurde jedoch aufgrund seiner Realitätsferne bezüg-lich Fahrverhalten, Verbrauchs- und Emissionsangaben kritisiert. Doch selbst mit der Absicht durch die Worldwide Harmonized Light-Duty Vehicles Test Proce-dure (WLTP) einen möglichst realen Geschwindigkeitszyklus bereit zu stellen, um realistische Verbrauchswerte zu generieren, kann ein standardisierter Fahrzyklus nicht repräsentativ für eine bestimmte Region mit seinen Verkehrsstrukturen und Umweltbedingungen oder für bestimmte Fahrer mit ihren individuellen Fahrei-genschaften sein. Daher wurden in den letzten Jahren von verschiedenen Instituti-onen eine Vielzahl von realen Fahrzyklen entwickelt. Das Ziel der realitätsnahen Abbildung eines Geschwindigkeitsprofils zur Verbrauchsbestimmung ist jedoch nur Eines von Vielen. Auch in der Fahrzeugentwicklung helfen Fahrzyklen bei der Auslegung und Analyse des Antriebsstrangs, bei der Entwicklung von Energiema-nagementsystemen oder zur Reichweitenschätzung [2] [12–15].

Bei Elektrofahrzeugen ergeben sich insbesondere durch die Möglichkeit von rege-nerativem Bremsen Besonderheiten, die in einem speziellen Fahrzyklus abzude-cken sind [15]. Dabei ist eine Betrachtung nicht nur des Geschwindigkeitsprofils, sondern auch des Lastprofils wichtig. Das Lastprofil gibt durch Abbildung der Stromstärke über der Zeit Auskunft über die entnommene sowie geladene Ener-giemenge. Mit Hilfe eines Lastprofils können dabei Größen abgedeckt werden, die sich nicht im Geschwindigkeitsprofil widerspiegeln. Ein Lastzyklus eignet sich zur Untersuchung der realen Batteriebelastung im Fahrbetrieb und damit auch zu Bat-teriealterungsprozessen [16].

Zur Generierung eines Fahrzyklus existieren eine Vielzahl an Methoden, die sich je nach Ziel unterscheiden. Nach [17] und [18] lassen sie sich in vier Arten unter-teilen. Bei der Segment based Methode erfolgt eine Unterteilung der Fahrdaten nach Straßensegmenten und ist daher besonders für Fragestellungen im Bereich Ver-kehrswesen geeignet. Ein weiteres Verfahren ist die Musterklassifizierung (pattern classification), nach welcher die Unterteilung der Fahrten mittels statistischer Ver-fahren in heterogene Klassen erfolgt. Dabei wird die Wahrscheinlichkeit berechnet,

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Generierung von Fahrzyklen auf Basis realer Fahrdaten 175

mit welcher ein Folgeevent nach einem Event eintritt. Bei der Modal Cycle Construc-tion wird hinsichtlich der Moden Beschleunigung, Verzögerung, Cruising unter-teilt. Markov-Ketten bestimmen dabei die Wahrscheinlichkeit des Folge-Modes nach einem Mode. Die Micro-trip basierte Methode teilt aufgezeichnete Fahrten zwischen zwei Stopps in Abschnitte. Anschließend wird eine Auswahl an reprä-sentativen Fahrabschnitten getroffen. Dies erfolgt entweder zufällig oder durch die best incremental Methode. Dieses Verfahren eignet sich besonders zur Repräsenta-tion des Fahrverhaltens in einer bestimmten Region und wird daher im Folgenden verwendet [17, 18].

Abbildung 1.1 Methode zur Fahrzyklusgenerierung

Das Vorgehen ist in Abbildung 1.1 verdeutlicht. Eine besondere Bedeutung hat bei dieser Methode die Definition der Zielparameter. Auf Basis der Parameter unter-schiedlicher Studien wurden in diesem Beitrag die in Tabelle 1.1 aufgeführten Pa-rameter verwendet, die sich sowohl auf das Geschwindigkeitsprofil als auch das Lastprofil beziehen.

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176 Vergleich realer Fahrzyklen für Elektrofahrzeuge in Deutschland und China

Tabelle 1.1 Zielparameter

Kategorie Parameter

Durchschnitt Geschwindigkeit m/s

Geschwindigkeit > 0 m/s

Beschleunigung m/s²

Verzögerung m/s²

Sequenzlänge s

Zeitanteil Betriebsart Schleichen %

Konstantfahrt %

Beschleunigung %

Verzögerung %

Anzahl Beschleunigungs-Verzögerungs-Wechsel

Durchschnitt Stromstärke A

Zeitanteil Betriebsart Laden (Rekuperation) %

Entladen %

Anteil Leistungspeaks Die Bewertung erfolgt ähnlich wie bei [19, 20] zum einen anhand des Performance Value (PV), welcher die Summe der relativen Abweichung der Bewertungspara-meter zum Zielparameter beschreibt, zum anderen anhand der Sum Square Diffe-rence (SSD). Hierzu wird zuerst für den Kandidatenzyklus und die Datenbasis eine Speed Acceleration Probability Distribution (SAPD) gebildet. Dabei werden die Geschwindigkeits- und Beschleunigungswerte in Klassen unterteilt. Die SAPD gibt die Auftrittswahrscheinlichkeit einer Kombination von Beschleunigungs- und Ge-schwindigkeitsklasse in Matrixform an. Die SSD beschreibt die Summe der quad-ratischen Abweichung der SAPD von der Ziel- SAPD.

Page 180: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Analyse des Temperatureinflusses 177

Abbildung 1.2 Beispiele generierter Geschwindigkeits- und Lastzyklen

1.5 Analyse des Temperatureinflusses

Ein wichtiger Einflussfaktor auf den Energieverbrauch von elektrifizierten Fahr-zeugen ist die Temperatur. Sie bedingt zum einen die Nutzung von Nebenaggre-gaten wie Heizung und Klimaanlage zum anderen ist sie einer der wichtigsten Pa-rameter für eine Batterie, da sie sowohl die Lebensdauer als auch die Leistung der Batterie beeinflusst. Bei sinkenden Temperaturen verlangsamen sich die chemi-schen Prozesse, wodurch der Innenwiderstand der Batteriezellen steigt. Auch nimmt die Viskosität der in den Li-Ionen Zellen verwendete Elektrolyt zu. Daher reduziert sich bei niedrigen Temperaturen die Leistung und führt somit zu einer reduzierten Reichweite oder Leistung [21]. So ist beispielsweise bei -20 °C etwa nur 50% der Energie verfügbar. Bei hohen Temperaturen wiederum erfolgt eine schnel-lere Alterung der Batterie. Beispielsweise führt eine erhöhte Temperatur zu einem beschleunigten Wachstum der Deckschichten auf der Anode, was einen Verlust an Lithium und damit der Batteriekapazität zur Folge hat [22].

Für die Region Wuhan in China ist der Außentemperaturverlauf eines Jahres in Abbildung 1.3 dargestellt. Dabei wird die gemessene Durchschnitts-, sowie Maxi-mal- und Minimaltemperatur der aufgezeichneten Fahrten den Durchschnittswer-ten aus meteorologischen Klimadatenbanken [7] gegenübergestellt.

Page 181: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

178 Vergleich realer Fahrzyklen für Elektrofahrzeuge in Deutschland und China

Abbildung 1.3 Durchschnittstemperaturen in Wuhan

Vergleichend fällt auf, dass die aufgezeichnete Durchschnittstemperatur in etwa der Höchsttemperatur aus der Klimadatenbank entspricht. Grund dafür liegt in der Fahrtverteilung größtenteils zu Tageszeiten, bei denen höhere Temperaturen herrschen, während in den kühleren Nächten kaum Fahrten durchgeführt werden.

Die Abhängigkeit zwischen Verbrauch und Temperatur ist in Abbildung 1.4 dar-gestellt. Der Energieverbrauch berechnet sich aus dem Lastprofil unter Berücksich-tigung des Batteriewirkungsgrades 𝜂.

𝑊 = 𝜂 𝑢 𝑡 𝑖 𝑡 𝑑𝑡./ (1.2)

Für die hier berechneten Energieverbräuche wurde eine konstante Spannung an-genommen.

Es wird ein erhöhter Verbrauch sowohl bei niedrigen als auch bei höheren Tempe-raturen festgestellt. Empirisch ergibt sich ein Minimum bei 20 °C, welches mit dem optimalen Temperaturbereich von (18-25) °C für Batterien in der Literatur überein-stimmt [23].

In einem weiteren Schritt wird der Temperatureinfluss auf den Energieverbrauch

0%

20%

-50

0

50

Tempe

ratur[°C]

GeloggteStreckenanteil Meterologischemax.Temperatur(°C)MeterologischeøTemperatur(°C) Meterologischemin.Temperatur(°C)GeloggteøTemperatur(°C) Geloggtemin.Temperatur(°C)Geloggtemax.Temperatur(°C)

Page 182: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Analyse des Temperatureinflusses 179

in anderen Regionen Chinas untersucht. Unter der Annahme, dass es sich um die-selben Fahrzeuge sowie dasselbe Fahrverhalten handelt, ergeben sich für einige große Städte in China die in Abbildung 1.5 dargestellten Durchschnittsverbräu-che. Die maximale Abweichung zwischen den untersuchten Städten beträgt dabei 28%.

Abbildung 1.4 Energieverbrauch in Abhängigkeit der Außentemperatur

05101520253035

0 10 20 30 40 50

Verbrauch[kWh/100km]

Temperatur[°C]

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180 Vergleich realer Fahrzyklen für Elektrofahrzeuge in Deutschland und China

Abbildung 1.5 Durchschnittsverbräuche in Abhängigkeit von dem Tempera-turprofil in einigen chinesischen Städten

1.6 Zusammenfassung und Ausblick

In diesem Beitrag wurde auf die Erstellung von Fahrzyklen für eine spezielle Re-gion eingegangen, wobei ein besonderer Fokus auf den Unterschieden zwischen China im Vergleich zu Deutschland gelegt wurde. Besonderheiten der Randbedin-gungen, die den Energiebedarf betreffen, wurden aufgezeigt. Insbesondere der Einfluss der Temperatur wurden anhand von realen Fahrdaten aus China analy-siert. Insgesamt konnte der deutliche Einfluss von Umgebungstemperatur auf den Energieverbrauch gezeigt werden. Gerade in China spielt aufgrund der großen Temperaturunterschiede der Umgebungseinfluss eine große Rolle. Durch empi-risch erhobene Fahrdaten wurde eine maximale Abweichung im Energieverbrauch in unterschiedlichen Städten in China von 28 % ermittelt. Der erhöhte Energiever-brauch hat nicht nur Auswirkungen auf die Reichweite sowie Verbrauchskosten von elektrifizierten Fahrzeugen, sondern auch auf Emissionen bei teilelektrifizier-ten Fahrzeugen. Ein auf realen Fahrdaten basierender Lastzyklus eignet sich für weitere Untersuchungen zu Alterungsmechanismen von Batterien.

Changchun

15,5kWh/100km

Beijing

12,3kWh/100km

Wuhan

11,5kWh/100km

Shenzhen

11,2kWh/100km

Page 184: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Zusammenfassung und Ausblick 181

Literatur

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www.tomtom.com/en_gb/trafficindex/ [10] Kraftfahrt-Bundesamt (2017) Fahrerlaubnisse auf Probe am 1. Januar 2017.

https://www.kba.de/DE/Statistik/Kraftfahrer/Fahrerlaubnisse/FahrerlaubnisProbe/fahr-erlaubnisprobe_node.html

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Page 185: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

182 Vergleich realer Fahrzyklen für Elektrofahrzeuge in Deutschland und China

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[23] Wosnitza F, Hilgers HG (2012) Energieeffizienz und Energiemanagement. Vieweg+Teu-bner Verlag, Wiesbaden

Page 186: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

2 Kopplung zwischen Elektrofahrzeugen und elektrischem Energienetz

Prof. Dr.-Ing. H. Hirsch, S. Tsiapenko, J. Weber (Universität Duisburg-Essen)

2 Kopplung zwischen Elektrofahrzeugen und elektrischem Energienetz ................................................................................................... 183

2.1 Einleitung ..................................................................................................... 1842.2 Eigenschaften der elektrischen Energieversorgung ............................... 1842.3 Wandel der elektrischen Energieversorgung .......................................... 1872.4 Nutzen der Elektromobilität für das Energienetz .................................. 1892.5 Ladeanschluss – Schnittstelle zwischen Fahrzeug und Energienetz ... 1952.6 Zusammenfassung ...................................................................................... 197

Literatur ........................................................................................................................ 198

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_12

Page 187: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

184 Kopplung zwischen Elektrofahrzeugen und elektrischem Energienetz

Im Zuge der Energiewende findet derzeit ein massiver Umbruch der elektrischen Energieversorgung statt. Triebfeder ist eine Veränderung der Erzeugungsstruktur, die wegen der Volatilität „regenerativer“ Energieerzeugung zu Problemen im Netz führen kann. Bereits heute ist die Stabilität des Netzes sowie eine gesicherte Ener-gieversorgung in Deutschland nur dadurch zu gewährleisten, dass das Energie-netz in bestimmten Situationen durch die Netze der Nachbarländer gestützt wird. Soll der Anteil „regenerativer“ Erzeugung weiter gesteigert werden, muss auf-grund der Volatilität dieser Erzeugungsart ein Paradigmenwechsel von einer ver-brauchsorientierten Regelung der Erzeugung hin zur erzeugerorientierten Rege-lung der Verbraucher erfolgen, wodurch die Elektromobilität mit einer Vielzahl von Speichern interessant wird. In dem folgenden Beitrag werden die Eigenschaf-ten der deutschen elektrischen Energieversorgung erläutert und abgeleitet, wie Elektromobilität netzdienlich eingesetzt werden kann. Die Analyse zeigt, dass dazu immense technische, vor allem aber organisatorische und psychologische Herausforderungen zu bewältigen sind.

2.1 Einleitung

Die elektrische Energieversorgung ist über nahezu eineinhalb Jahrhunderte zur wesentlichen Energiequelle für Haushalte und Industriezweige entwickelt wor-den. Die Strukturen sind in der Vergangenheit stets den Markterfordernissen an-gepasst und die Leistungsflüsse im Hinblick auf geringe Verluste optimiert wor-den. Mehr und mehr orientieren sich die Entwicklungen an politisch motivierten Vorgaben, die unter dem Vorzeichen eines freien Handels (in Europa) einerseits und des Klimaschutzes andererseits stehen. Die elektrische Energieversorgung steht heute vor einem gewaltigen Umbruch, bei dem gewachsene Strukturen grundlegend verändert werden. Eine verstärkte Nutzung elektrischer Antriebe in Fahrzeugen, deren Energie über das elektrische Energienetz zugeführt wird, stellt teils zusätzliche Anforderungen, teils kann der Ladebetrieb aber auch dem Wandel der elektrischen Energieversorgung netzdienlich sein, wenn er sich an energienetz-spezifischen Eigenschaften orientiert.

2.2 Eigenschaften der elektrischen Energieversorgung

Die Bemühungen der Energiewende, bei der elektrische Energie bevorzugt von „regenerativen“ Erzeugern stammen soll, führt dazu, dass in Deutschland im Jahr

Page 188: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Eigenschaften der elektrischen Energieversorgung 185

2015 erstmals die 30%-Marke für „regenerative“ Erzeugung überschritten werden konnte. Der aktuelle Energiemix für das Jahr 2016 mit einer Gesamt-Bruttostrom-erzeugung von 648,4 TWh (Verbrauch in Deutschland 594,7 TWh) ist in Abbildung 2.1 dargestellt. Er hat allerdings im Jahr 2016 noch einen Anteil von 53,7% an fos-siler Erzeugung (Braunkohle, Steinkohle, Erdgas, Erdöl). Auch wenn die Entwick-lung der „regenerativen“ Erzeugung erfreulich ist, gibt die Grafik keine Informa-tion zum Wert der einzelnen Energieerzeugungsformen. In Deutschland sind bis auf einzelne Pumpspeicher größere Energiespeicher nicht vorhanden, so dass die elektrische Energie weitestgehend in dem Moment verbraucht werden muss, in dem sie erzeugt wird. Aufgrund dieser unzureichenden Möglichkeit zur Lagerung (Speicherung) nennenswerter Energiemengen hat Energie, die angeboten wird, wenn keine ausreichende Nachfrage herrscht, nur einen geringen Wert. Der Ein-satz konventioneller Kraftwerke wird daher ausgehend von Prognosen des Ver-brauchs im Voraus geplant und nach Bedarf durch Regelung angepasst.

Das Angebot elektrischer Energie aus „regenerativer“ Erzeugung richtet sich nicht nach Verbrauch, sondern nach äußeren Gegebenheiten, wie zum Beispiel Wetter-bedingungen im Fall von Wind- und Sonnenenergie. Die Volatilität von Windener-gie kann anhand der Kenndaten, die in Tabelle 2.1 abgedruckt sind, abgelesen werden. Bei im Jahr 2016 installierter Leistung für Windenergieanlagen von 50,018 GW beträgt der jährliche Ertrag rund 80 TWh, was einer mittleren Leistung von 9,132 GW entspricht. Somit sind die Anlagen im jährlichen Mittel nur zu 18,3% ausgelastet gewesen. Dieser Wert ändert sich im Laufe der Jahre nur unwesentlich.

Page 189: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

186 Kopplung zwischen Elektrofahrzeugen und elektrischem Energienetz

Abbildung 2.1 Energiemix in Deutschland (2016)

Quelle: [1] modifiziert

Tabelle 2.1 Kenndaten von Windenergieerzeugung 2016

Installierte Anlagen

Installierte Leistung

Ertrag Mittlere Leis-tung

Ausnutzungs-grad

28217 50,018 GW 80 TWh 9,132 GW 18,3%

Quelle: [2]

Bei freier Marktentwicklung der Preise wären die Vergütungen für Wind- und Sonnenenergieeinspeisung im Fall eines Energieüberangebotes sehr niedrig, was diese Anlagen wirtschaftlich wenig lohnenswert werden ließe. Zur Forcierung der Einspeisung „regenerativer“ Energie ist daher mit dem Erneuerbare-Energienge-setz (EEG) [3] eine Vergütung garantiert worden, die über die EEG-Umlage auf die Verbraucher umgelegt wird. Bei Erzeugungskosten von 5,67 ct/kWh, Netzentgel-ten von 7,5 ct/kWh betragen diese über die Jahre mit steigender Tendenz in 2017 6,88 ct/kWh [4]. Damit hat Deutschland europaweit nach Dänemark die zweit-höchsten Preise für elektrische Energie für Haushaltkunden; der Preis liegt etwa 50% über dem EU-Durchschnitt. Aufgrund der garantierten Abnahme „regenera-tiv“ erzeugter elektrischer Energie ist es im Schwachlastfall zuweilen günstiger,

"Regenerative"

Kernenergie Braunkohle

Steinkohle

Erdgas

Heizöl,Pumpspeicher

3,3%

10,3%

1,9%

6,0%

6,8% 0,7%

0,02% Geothermie Siedlungsabfall

Biomasse

Photovoltaik

Wind offshore

Wind onshore

Wasser

"Regenerat

KernenBraunkohle

Erdgas

30.1%

12.6% 22.0%

16.0%

12.3% 5.1%

Page 190: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Wandel der elektrischen Energieversorgung 187

konventionelle Kraftwerke weiter zu betreiben, um ein Einspringen bei ansteigen-der Last zu ermöglichen. In solchen Fällen werden an der Strombörse für kurzfris-tige Kontrakte manchmal negative Preise erzielt. Kleinere Energieversorgungsun-ternehmen (Stadtwerke) fühlen sich bei großem Energieangebot aus „regenerati-ver“ Erzeugung in der Selbstwahrnehmung nicht nur als „Energieversorger“ son-dern in zunehmendem Maße auch als „Energieentsorger“. Die Preisdynamik nimmt immer weiter zu, so dass im Bereich der elektrischen Energieversorgung die Umsetzung grundlegender Änderungen der Energieversorgungsstruktur, wo-mit nicht nur der Energiemix gemeint ist, angegangen werden muss.

2.3 Wandel der elektrischen Energieversorgung

Eine technisch perfekte Lösung des Dilemmas wäre der Aufbau von Speicherka-pazität für elektrische Energie. Die geologischen Gegebenheiten in Deutschland erlauben keinen nennenswerten Zubau von Pumpspeichern, so dass praktisch nur eine elektrochemische Speicherung verbleibt. Power-to-Gas-Lösungen werden derzeit entwickelt, der Wirkungsgrad fällt aber noch deutlich hinter Pumpspei-chern zurück, bei Batterien ist die Zyklenfestigkeit das Hauptproblem. Somit wird in absehbarer Zeit keine Speicherkapazität in relevanter Größenordnung zu erwar-ten sein (bei derzeitiger elektrischer Energieerzeugung wären zur Überbrückung einer Woche 13,15 TWh erforderlich).

Daher muss ein Paradigmenwechsel von einer verbrauchsorientierten Erzeuger-steuerung hin zu einer erzeugungsorientierten Verbrauchersteuerung (siehe Ab-bildung 2.2) betrachtet werden. Solche Konzepte werden in der Forschung seit etwa 10 Jahren (z.B. [5]) vorgedacht (siehe Abbildung 2.2).

Page 191: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

188 Kopplung zwischen Elektrofahrzeugen und elektrischem Energienetz

Abbildung 2.2 Paradigmenwechsel in der elektrischen Energieversorgung (blau: Grundlastkraftwerke, grün: Mittellastkraftwerke, rot: Spitzenlastkraftwerke, gelb: „regenerative“ Erzeugung)

Wurde die Energieversorgung in der Vergangenheit durch drei Kraftwerksklassen sichergestellt, die gestuft über den Tag eingesetzt wurden, hat heute die „regene-rative“ Erzeugung Vorrang. Bei unverändertem Verbrauch führt dies zu einem er-höhten Regelaufwand bei den konventionellen Kraftwerken. Eine besondere Situ-ation stellte sich in der Nacht vom 23.01.2017 auf den 24.01.2017 ein. Aufgrund von Windstille sank der Anteil der „regenerativen“ Erzeugung auf 13%, womit prak-tisch nur noch Laufwasser und Biomasse vorhanden waren. Um einen Lastabwurf zu verhindern, mussten auch ältere konventionelle Kraftwerke hochgefahren wer-den. Fossile und nukleare Kraftwerke übernahmen 87% (davon 11,8% Kernener-gie) der Energieversorgung ([6]). Ohne die älteren Anlagen wären großflächige Lastabwürfe, sprich Unterbrechungen der Stromversorgung, notwendig gewor-den.

Soll die Versorgungssicherheit beibehalten konventionelle Kraftwerke nicht im Standby-Betrieb gehalten werden und nur dann Energie liefern, wenn ein Energie-mangel im Netz herrscht, so muss zur weiteren Steigerung des Anteils „regenera-tiver“ Erzeugung eine Variabilität des Verbrauchs hergestellt werden. Dies erfor-dert einerseits einen technischen Umbau (Installation einer informationstechni-

Verbrauch

W

t0 4 8 12 16 20 24

W

t0 4 8 12 16 20 24

W

t0 4 8 12 16 20 24

W

t0 4 8 12 16 20 24

W

t0 4 8 12 16 20 24

W

t0 4 8 12 16 20 24

Vergangenheit heute Zukunft

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Nutzen der Elektromobilität für das Energienetz 189

schen Infrastruktur mit sensorischen, z.B. fernauslesbaren Energiezählern, und ak-torischen Elementen, z.B. intelligente Ortsnetztrafos, parallel zum Energienetz) an-dererseits auch gravierende Änderungen im Umgang mit elektrischer Energie in der Bevölkerung. Dies betrifft das private Umfeld (Einsatzzeit für größere Ver-braucher, wie Spülmaschinen, Waschmaschinen, Trockner) genauso wie das be-rufliche Umfeld (zeitliche Umgestaltung von Prozessschritten in Betrieben). Das Netz und die damit verbundenen organisatorischen und wirtschaftlichen Prozesse müssen intelligenter werden. Es muss der Umbau zum „Smart Grid“ erfolgen. Während die Hochspannungsebene in Deutschland schon seit längerem flächen-deckend informationstechnisch erschlossen ist, besteht auf der Mittelspannungs-ebene und besonders in der Niederspannungsebene noch Nachholbedarf. Systeme zur informationstechnischen Vernetzung werden an verschiedenen Stellen erprobt (z.B. Projekt Energie [7]).

Die Steuerung von Verbrauchern kann direkt über ein Energiemanagement im Netz, was häufig aber zu Akzeptanzproblemen seitens der Kunden des Energie-versorgers führt, oder indirekt über ein Anreizsystem erfolgen, bei dem sich die Entgelte für elektrische Energie an dem tatsächlichen tageszeitabhängigen Wert orientieren. Zur Planung setzt dies möglichst genaue Prognosen der zeitlichen Ent-wicklung volatiler Einspeisungen voraus.

2.4 Nutzen der Elektromobilität für das Energienetz

Ein anderer, zumindest aber unterstützender Weg lässt sich durch Hinzuziehung der Elektromobilität beschreiten. Elektrofahrzeuge stellen aus Sicht des Netzes Verbraucher dar, bei denen aufgrund des eingebauten Energiespeichers elektri-sche Energie unabhängig vom tatsächlichen Bedarf zu nahezu beliebigen Zeiten zugeführt werden kann. Würden 25% der in Deutschland zugelassenen 45,8 Milli-onen PKW [8] durch Elektrofahrzeuge ersetzt, könnte bei einer durchschnittlichen Fahrleistung von jährlich 14.015 km [9] und einem durchschnittlichen Verbrauch von etwa 15 kWh/100 km [10] eine energetische Manövriermasse von 24 TWh (4% des heutigen elektrischen Gesamtenergieverbrauchs) zur Verfügung stehen. Eine Quote von 50% würde es auf eine Manövriermasse von 48 TWh (7,6% des elektri-schen Gesamtenergieverbrauchs) bringen.

Page 193: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

190 Kopplung zwischen Elektrofahrzeugen und elektrischem Energienetz

2.4.1 Zero Emission ?

Elektrofahrzeuge haben den Ruf, besonders umweltfreundlich zu sein. Je nach Land muss diese Aussage allerdings relativiert werden. Richtig ist, dass keine Ab-gase direkt am Fahrzeug entstehen. Was meist allerdings nicht berücksichtigt wird, ist, dass das System Energienetz – Elektrofahrzeug sehr wohl Abgasrohre hat, nur befinden sich diese nicht unter dem Fahrzeug sondern bei den fossilen Kraftwer-ken. Diese haben allerdings meist deutlich aufwändigere Abgasreinigungsanlagen als PKWs, was aber für CO2 Emissionen (bis auf Versuchsanlagen) nicht zum Tra-gen kommt.

Die folgende einfache Abschätzung für CO2-Emission soll den Sachverhalt am Bei-spiel des Energiemixes in Deutschland erläutern. Bei dem Vergleich werden nur die reinen betriebsbedingten Emissionen ohne Übertragungsverluste oder trans-portbedingte sowie fertigungsbedingte Emissionen einbezogen. Der Vergleich er-folgt auf Basis von bestimmten Kleinfahrzeugen eines Erstausrüsters (OEM) mit vergleichbarer Leistung (siehe Tabelle 2.2). Der CO2-Emissionsfaktor ist in [11] zu 527 g/kWh für den deutschen Energiemix im Jahr 2016 angegeben.

Tabelle 2.2 Vergleich der tatsächlichen CO2-Emission eines verbrennerbe-triebenen und eines elektrischen Fahrzeugs auf Basis des Energiemixes Deutschland von 2016 (fahrzeugspezifische Da-ten aus [10])

Fahrzeug Leistung Verbrauch CO2-Emission

VW Polo 1,4 TDi (Blue

Motion)

55 kW 3,1 l/100 km 82 g/km

VW e-up! 60 kW 11,7 kWh/100 km 61,7 g/km

Auch wenn angesichts der aktuellen öffentlichen Diskussion Herstellerangaben mit einer gewissen Skepsis zu betrachten sind, kann hier davon ausgegangen wer-den, dass ein ähnlicher Faktor zwischen dem Verhalten auf einem Prüfstand und dem auf der Straße gilt. Zudem soll hier lediglich ein Vergleich zwischen Fahrzeu-gen eines OEMs erfolgen. Ersichtlich führt der deutsche Energiemix dazu, dass ein Elektrofahrzeug seine Vorzüge im Hinblick auf Emissionsarmut nicht vollumfäng-lich ausspielen kann. Die Differenz bei der CO2-Emission zwischen Fahrzeugen mit

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Nutzen der Elektromobilität für das Energienetz 191

Verbrennungsmotor und Fahrzeugen mit rein elektrischem Antrieb ist vergleichs-weise gering.

Wie zuvor abgeleitet ändert sich das Angebot an „regenerativer“ Energie über den Tag, womit auch der Energiemix zeitvariabel wird. Abbildung 2.3 zeigt den Ver-lauf der unterschiedlichen Energieerzeugungsformen über eine Woche. Die Kalen-derwoche (KW) 4 in 2017 wird hier als Beispiel herangezogen, da sie einige Beson-derheiten enthält. Zu Wochenbeginn herrschte eine Schwachwindphase, wegen starker Bewölkung fiel auch der Ertrag aus Photovoltaik-Anlagen gering aus. Wind- und Sonnenenergie nahmen aber im Laufe der Woche zu und erreichten zum Wochenende einen überdurchschnittlichen Anteil.

Abbildung 2.3 Erzeugung elektrischer Energie in KW4/2017 aufgeteilt nach Erzeugungsarten (Daten von [6])

Werden fossile Energieformen betrachtet und die CO2-Emission des durchschnitt-lichen Energiemixes dazu in Beziehung gesetzt, lässt sich die zeitabhängige CO2-Emission des Mixes sowie die des in Tabelle 2.2 angegebenen E-Fahrzeugs errech-nen (siehe Abbildung 2.4). Dabei wird von einer Schnellladung innerhalb von ei-ner Stunde ausgegangen. Ersichtlich überschreitet das Fahrzeug für bestimmte La-dezeitpunkte die 80 g/km-Marke. Es werden aber auch ideale Ladezeitpunkte er-kennbar, an denen ein CO2-Ausstoß von 42 g/km unterschritten wird.

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Braunkohle

Kernenergie

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Page 195: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

192 Kopplung zwischen Elektrofahrzeugen und elektrischem Energienetz

Abbildung 2.4 CO2 Emission des in Tabelle 2 angegebenen elektrisch ange-triebenen Fahrzeugs und CO2-Emission des Energiemixes für KW4/2017 auf Basis der in Abbildung 2.3 dargestellten Daten

Etwas anders stellt sich die Situation in Frankreich dar. Abbildung 2.5 zeigt den Energiemix in Frankreich aus dem Jahr 2015. [12] gibt als zugehörige CO2-Emis-sion einen Wert von 45 g/kWh an. Aufgrund des hohen Anteils an nicht-fossiler Energieerzeugung (vorwiegend nukleare, zunehmend „regenerative“ Erzeugung) stellt sich die Bilanz in Bezug auf CO2-Emissionen in Frankreich deutlich günstiger dar.

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CO2-Em

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CO2Fahrzeug

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Nutzen der Elektromobilität für das Energienetz 193

Abbildung 2.5 Energiemix in Frankreich (2015, Daten aus [13])

Tabelle 2.3 Vergleich der tatsächlichen CO2-Emission eines verbrennerbe-triebenen und eines elektrischen Fahrzeugs auf Basis des Energiemixes Frankreich von 2015 (fahrzeugspezifische Daten aus [10])

Fahrzeug Leistung Verbrauch CO2-Emission

VW Polo 1,4 TDi (Blue

Motion)

55 kW 3,1 l/100 km 82 g/km

VW e-up! 60 kW 11,7 kWh/100 km 5,3 g/km

2.4.2 Netzdienliches Laden (Smart Charging)

Politische Wunschvorstellungen nach einer flächendeckenden Ladeinfrastruktur,

Nuklear

Fossil

Wasser

andere "Regenerative"

76.2%

6.3%

10.8% 6.7%

Page 197: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

194 Kopplung zwischen Elektrofahrzeugen und elektrischem Energienetz

die idealerweise ein Schnellladen ermöglicht, führt nach der Analyse in Kapi-tel 2.4.1 eher in Frankreich, nicht aber in Deutschland zum gewünschten Ziel einer klimafreundlichen und systemverträglichen Nutzung von Elektromobilität. Wür-den 25% der Berufspendler Elektrofahrzeuge nutzen, so ist wahrscheinlich, dass diese nach Heimkehr den Ladevorgang für ihre Fahrzeuge anstoßen. Gemäß Ab-bildung 2.3 wäre diese Tagesrandzeit aber der Zeitpunkt, an dem keine photovol-taisch erzeugte Energie mehr bereitsteht und die Versorgung typischerweise durch fossile Kraftwerke übernommen werden muss. Beim Schnellladen würde damit die in Wintermonaten erkennbare Lastspitze in den Abendstunden noch ausge-prägter werden. Es wäre sinnvoller, einen Schnellladebetrieb nur für die Situatio-nen zu nutzen, in denen dies wirklich notwendig ist, wie z.B. auf Autobahnrast-stätten, um Elektrofahrzeugen auch die Überbrückung größerer Strecken zu er-möglichen.

Trotz der hohen installierten Leistung der Erzeugeranlagen muss Deutschland oft während der Tagesrandzeiten elektrische Energie importieren. Während der Ta-ges- oder Nachtzeiten dagegen kann elektrische Energie meist in die Nachbarlän-der exportiert werden. Grund dafür ist der hohe Anteil an Sonnenenergie tagsüber bzw. die fehlenden Lasten in der Nacht. Für das „Normalladen“ wäre es daher ideal, wenn die Tagesrandzeiten gemieden werden und das Laden auf geeignete Tages- oder Nachtzeiten verlegt werden könnte. Zudem hilft eine längere Ladezeit bei geringerem Ladestrom Lastspitzen im Netz zu vermeiden.

Diese Ladestrategie weicht deutlich vom heutigen Tankverhalten ab. Berufspend-ler suchen oft morgens auf der Fahrt zum Arbeitsplatz oder abends bei der Rück-kehr Tankstellen auf. Soll das Laden netzdienlich erfolgen, so muss ein fester Stell-platz mit Zugang zum Netz und intelligenter Ladesteuerung vorhanden sein. Die notwendige Kommunikation zwischen Ladeinfrastruktur und Fahrzeug wird der-zeit in einer internationalen Normungsgruppe vorgedacht [14]. Demnach läuft der Ladevorgang in folgenden Schritten ab:

■ Definition der Anforderungen (Zustand der Batterie und Fahrerwunsch)

■ Prognose der Energieverfügbarkeit

■ Erstellen des Ladefahrplans

■ Ladevorgang nach Ladefahrplan

Die Anforderungen ergeben sich aus technischen Gegebenheiten (Restladung der Batterie, Zeitpunkt der nächsten Nutzung des Fahrzeugs, voraussichtliche Nut-zung von Nebenaggregaten (Heizung, Klimaanlage), Wünsche zum Energieliefe-ranten, Ladeartwunsch (schnelle Verfügbarkeit, niedrigster Preis, niedrigste CO2-

Page 198: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Ladeanschluss – Schnittstelle zwischen Fahrzeug und Energienetz 195

Emission, etc.). Aus den Netzzustandsdaten, technischen Möglichkeiten des Lade-punktes, Prognose der Einspeisung „regenerativer Einspeisung“, Verfügbarkeit anderer Einspeisungen und Prognose der Lastverhältnisse leitet ein Energienetz-Management einen Plan für den verfügbaren Ladestrom ab. Anforderungen und Prognose werden anschließend vom Energienetzmanagement zu einem Ladefahr-plan zusammengeführt. Schließlich führt die Ladeinfrastruktur den Ladevorgang nach dem Ladefahrplan durch. Treten überraschende Energieengpässe im Netz auf, so kann der Ladefahrplan kurzfristig geändert werden.

2.5 Ladeanschluss – Schnittstelle zwischen Fahrzeug und Energienetz

Über den Ladeanschluss muss einerseits Energie aus dem Energienetz zum Fahr-zeug transportiert werden, andererseits müssen auch Informationen ausgetauscht werden. Im einfachsten Fall sind dies Daten zum Liefervermögen des Ladepunktes und etwaiger Anschlussleitungen. Beim Schnellladen muss der Ladestrom abhän-gig vom Zustand der Batterie gesteuert werden, weshalb Zustandsdaten vom Fahrzeug zum Ladegerät in der Ladesäule übertragen werden müssen, was einen erhöhten Datenaustausch benötigt. Die höchste Datenrate wird schließlich beim Smart Charging benötigt. Leider konnte beim Start der Entwicklung zur Elektro-mobilität keine weltweite Einigung im Hinblick auf die Steckverbindung erzielt werden. Daher sind aktuell verschiedene Steckersysteme in Gebrauch, die dazu führen, dass ähnlich heutiger Treibstoff-Tankstellen mehrere Systeme an öffentli-chen Ladepunkten angeboten werden müssen.

Der Ladeanschluss verbindet nicht nur technisch das Fahrzeug mit dem Energie-netz, sondern stellt auch eine Verbindung zwischen zwei „Welten“ mit unter-schiedlichen Vorgehensweisen bei der Entwicklung, Regulierungsprozessen und Normungsprozessen dar (siehe Abbildung 2.6)

Page 199: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

196 Kopplung zwischen Elektrofahrzeugen und elektrischem Energienetz

Abbildung 2.6 Ladeanschluss – Verbindung zwischen E- und CE-Welt

Der eher maschinenbauliche Kraftfahrzeugbereich wird normativ durch die inter-nationale Normungsorganisation ISO, die europäische Normungsorganisation CEN und die deutsche Normungsorganisation DIN vertreten. Das Inverkehrbrin-gen eines Fahrzeugs in der EU erfordert das Durchlaufen eines Typgenehmigungs-prozesses, an dessen Ende eine E-Kennzeichnung für Kraftfahrzeugkomponenten steht.

Die Elektrotechnik, zu der das elektrische Energienetz gehört, hat sich normativ getrennt von anderen technischen Bereichen entwickelt. Elektrotechnische Nor-men werden international bei IEC, europäisch bei CENELEC oder ETSI und in Deutschland bei DKE bearbeitet. Das Inverkehrbringen und der Betrieb elektro-technischer Erzeugnisse in der EU werden durch diverse Richtlinien beschrieben, die aber meist nur den rechtlichen Rahmen abstecken. Die technischen Anforde-rungen sind in Normen beschrieben. Solche Normen, die gleichlautend in allen eu-ropäischen Mitgliedstaaten in Kraft gesetzt und im Amtsblatt der EU gelistet sind, haben daher nahezu gesetzlichen Charakter.

Trotz gemeinsamer Ingenieurbasis unterscheiden sich die Philosophien der E- und der CE-Welt. Schnittstellen im Fahrzeugbereich werden durch den Fahrzeugher-steller verantwortet, der Anforderungen für seine an ihn vertraglich gebundenen

kWhkWh

E1E1

Maschinenbau ElektrotechnikMaschinenbau Elektrotechnik

Page 200: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Zusammenfassung 197

Zulieferer festlegt. Sonstige elektrotechnische Produkte sind als offene Systeme ge-schaffen, was die Kombination von Produkten unterschiedlicher Hersteller gestat-tet.

Bei der Definition der Ladeschnittstelle prallen E- und CE-Welt aufeinander. Die Repräsentanten der Unternehmen sowohl in der Fahrzeugwelt als auch in der elektrischen Energieversorgung sind es gewohnt, technische Randbedingungen vorzugeben und treten dementsprechend in gemeinsamen Gremien auf. Die Dis-kussionen in der Normung bereits zu kleineren Detailaspekten zeigen, dass Unter-schiede schon bei begrifflichen Fragestellungen auftreten. Bevor Lösungen wie das Smart Charging etabliert werden können, die in ganzheitlicher Weise sowohl die Energieversorgung als auch die Mobilität befruchten, müssen teils „psychologi-sche“ Barrieren in den Gremien abgebaut werden. Nach anfänglichen Problemen stellt sich ein solcher konstruktiver Diskussionsprozess mehr und mehr in gemein-sam besetzten Gremien ein.

2.6 Zusammenfassung

Derzeit ist die elektrische Energieversorgung großen Änderungen unterworfen. Ei-nerseits ändert sich die Erzeugerstruktur von konventionellen Erzeugereinheiten hin zu „regenerativer“ Energieerzeugung, andererseits werden die Netze intelli-genter gemacht, um eine gleichbleibende Versorgungsqualität aufrecht zu erhal-ten. Aufgrund der Volatilität der meisten „regenerativen“ Erzeuger muss ein Pa-radigmenwechsel von der verbrauchsorientierten Erzeugersteuerung hin zur er-zeugungsorientierten Verbrauchersteuerung vollzogen werden. Wenn hinrei-chend viele Fahrzeuge mit elektrischem Speicher und Antrieb ausgerüstet sind, liegt eine hinreichende energetische Manövriermasse vor, mit der der Paradigmen-wechsel gelingen kann. Voraussetzung dafür ist aber, dass der Ladevorgang im Regelfall nicht willkürlich durch den Verbraucher vorgenommen wird, sondern in einem übergeordneten Energienetzmanagement koordiniert wird (Smart Charging). Nur so kann die energetische Manövriermasse durch Elektromobilität im Sinne einer ganzheitlichen Energieversorgungs- und Mobilitätsstrategie ge-schöpft werden.

Vertreter der elektrischen Energieversorgung und der Fahrzeughersteller müssen für diese ganzheitliche Prozessoptimierung die Barrieren überbrücken, welche über eineinhalb Jahrhunderte durch unterschiedliche Philosophien bei der Ent-wicklung von Produkten und Dienstleistungen entstanden sind. Dies beginnt in den paritätisch besetzten Normungsgremien mehr und mehr zu gelingen.

Page 201: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

198 Kopplung zwischen Elektrofahrzeugen und elektrischem Energienetz

Literatur

[1] BDEW: Erneuerbare Energien und das EEG: Zahlen, Fakten Grafiken (2017), 10.07.2017 [2] Bundesverband Windenergie: Windenergie Factsheet Deutschland 2016 [3] Gesetz für den Ausbau erneuerbarer Energien (Erneuerbare-Energien-Gesetz – EEG)

vom 21.07.2014 (BGBl. I S.1066), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 17.07.2017 (BGBl. I S.2532)

[4] BDEW: Strompreisanalyse Februar 2017 [5] Übersicht der E-Energy-Projekte: https://de.wikipedia.org/wiki/E-Energy, abgerufen

(2017-08-14) [6] Fraunhofer ISE: https://www.energy-charts.de/power_de.htm?source=all-

sources&week=4&year=2017, abgerufen 2017-08-14 [7] Projekt Energie: https://www.swk.de/innovation-forschung/projekt-energie.html, abge-

rufen 2017-08-14 [8] KBA: https://www.kba.de/DE/Statistik/Fahrzeuge/Bestand/bestand_node.html, abgeru-

fen 2017-08-14 [9] KBA: https://www.kba.de/DE/Statistik/Kraftverkehr/VerkehrKilometer/verkehr_in_ki-

lometern_node.html, abgerufen 2017-08-14 [10] Kraftfahrtbundesamt: CO2-Emissions- und Kraftstoffverbrauchs-Typprüfwerte von

Kraftfahrzeugen zur Personenbeförderung mit höchstens neun Sitzplätzen und Wohn-mobilen (Klasse M1: Pkw, Wohnmobile), Stand: 15. Juni 2017, SV 2.2.2

[11] Umweltbundesamt: Entwicklung der spezifischen Kohlendioxid-Emissionen des deut-schen Strommix in den Jahren 1990 – 2016, Climate Change 05/2017

[12] RTE, France: http://www.rte-france.com/en/eco2mix/eco2mix-co2-en, abgerufen 2017-08-15

[13] ENTSOE: Yearly statistics & adequacy retrospect 2015 [14] ISO/CD 15118-1:2016(E), ISO/TC 22/SC 31/WG1-committee draft: Road vehicles – Vehi-

cle to grid communication interface – Part 1: General information and use-case defini-tion, 2016-07-22

Page 202: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

3 Functional Safety Processes and Advanced Driver Assistance Systems: Evolution or Revolution?

T. Frese, N. Gerber (Ford-Werke GmbH), Dr. D. Hatebur, Dr. I. Côté (ITESYS Inst. f. tech. Sys. GmbH), Prof. Dr. M. Heisel (Universität Duisburg-Essen)

3 Functional Safety Processes and Advanced Driver Assistance Systems: Evolution or Revolution? 199

3.1 Advanced Driver Assistance Systems @ Ford ......................................... 2003.2 Example for a Distributed Advanced Driver Assistance System

(ADAS) .......................................................................................................... 2013.3 Requirements on a Safety Design Process for Distributed Functions . 2033.4 History: Safety Analysis as Backbone for the Functional Safety

Process .......................................................................................................... 2043.5 Current State: System Engineering as Backbone for the Functional

Safety Process ............................................................................................... 2083.6 Outlook: Model-based Systems Engineering .......................................... 2133.7 Summary ...................................................................................................... 215

References ...................................................................................................................... 215

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_13

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200 Functional Safety Processes and Advanced Driver Assistance

3.1 Advanced Driver Assistance Systems @ Ford

Within the last two decades, the development of electric / electronic (E/E) systems in the automotive domain was subject to a significant change: Starting with increas-ing E/E content in “stand-alone features” like engine control or brake system (e.g. E-Gas or ABS) realized in one single Electronic Control Unit (ECU) with directly connected sensors, networks (like the CAN-Bus) were introduced to connect the different subsystems. Later on, distributed features were developed in which the algorithms of the realized feature are spread over several ECU’s.

Key driver for this trend is the evolution of the so-called “Advanced Driver Assis-tance Systems (ADAS)”. These features were introduced at Ford vehicles stepwise in following generations:

This paper presents the different generations of Advanced Driver Assistance Sys-tems brought to the market and provides an overview of the applied Functional Safety processes. It also describes the current status and provides an outlook to-wards the future of fully autonomous vehicles.

ADAS generation 1: it includes Adaptive Cruise Control (ACC) and a Pre Collision Assist function with driver warning in case of moving and stopping targets. The warning contains the estimation of driver reaction time. Different driver warning settings (early/normal/late) are available (Forward Collision Warning, FCW). The Brake system is pre-charged to achieve up to ~ 0.1g deceleration (Collision Mitiga-tion by Braking, CmbB). The Emergency Brake Assist (EBA) threshold level is de-creased when the radar sensor confirms the target (moving targets only).

ADAS generation 2: it adds Lane Assist, Light Feature & Driver Alert Systems. This includes features such as Lane Departure Warning (LDW), Lane Keeping Aid (LKA) with Camera, Auto High Beam Control (AHBC), Traffic Sign Recognition (TSR) with Camera and Driver Impairment Monitoring (DAS) based on driving behavior. Autonomous braking is done up to 0.5 g when the target is classified as a vehicle.

Page 204: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Example for a Distributed Advanced Driver Assistance System (ADAS) 201

Figure 3.1 ADAS @ Ford Generation 3

ADAS generation 3 (see Figure 3.1) enhances ACC with a Queue Assist (QA) func-tion (ACC available 0 km/h to 200 km/h) and the next generation Pre Collision As-sist, with warning for pedestrians, autonomous braking up to full braking author-ity when the target is classified as a vehicle or pedestrian, and braking for moving and stationary targets.

The above mentioned generations show, that the market introduction of ADAS clearly follows an evolutionary approach with a step-by-step extension of the fea-tures based on improved or new sensor technology. In the following sections, we describe the development of the accompanying Functional Safety processes.

3.2 Example for a Distributed Advanced Driver Assistance System (ADAS)

An exemplary Advanced Driver Assistance System is explained in this section, de-scribing a possible distribution of the ADAS functions to different subsystems.

Figure 3.2 provides an overview of a physical architecture of such a feature. The modules colored in gray are subsystems already implemented in the vehicle for

Page 205: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

202 Functional Safety Processes and Advanced Driver Assistance

their own functionality, like Engine Control Module for motor control or Brake Control Module including the Antilock Braking System (ABS) and Electronic Sta-bility Control (ESP) functions. The light-gray modules are sensors/switches in-cluded in these functions, like Steering Angle Sensor for ESP functionalities etc.

Figure 3.2 Architecture example for ADAS

ADAS is now implemented by adding additional subsystems to the existing archi-tecture. For our example, these are:

■ The Radar Sensor and possible other sensors (like camera, ultrasonic sensors etc.) as the main input for environmental observation for the different ADAS functions.

■ The ADAS Module to execute the algorithm for the functions, e.g. determina-tion of the acceleration needed for distance control, transmission of accelera-tion limitation requests to the Engine Control Unit and brake force requests to the Brake Control Unit.

For the distributed ADAS function, the existing subsystems (gray) and sensors (light-gray) take over new, ADAS-related functionalities:

Page 206: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Requirements on a Safety Design Process for Distributed Functions 203

■ The Engine Control Module acts as both, actuator (e.g. the speed control and the limitation of the engine torque) and sensor (determination of the ACC mode (off, standby, active, denied)) for the ADAS functions.

■ The Brake Control Module is the second module which performs actuator functions (e.g. braking based on the requests from the ADAS Module) and sensor functions (e.g. determination of the actual vehicle speed).

■ The Central Electronic Module provides the ADAS Module with information needed for a proper execution of the functions (e.g. driver buttons, accelerator pedal position, clutch position).

■ The Driver Information Module displays ADAS-related information to the driver.

■ The Steering Wheel Module reads the driver buttons and informs the ADAS about their states (on/off).

3.3 Requirements on a Safety Design Process for Distributed Functions

Safety related functions distributed over several embedded subsystems lead to var-ious challenges for vehicle manufacturers (OEM's). This concerns both, systems engineering and functional safety. The example shows how distributed features are spread over several subsystems. The distributed functions are realized by add-ing new modules (e.g. several sensors like radar or camera) and by using several existing subsystems acting as sensors, actuators, for plausibility checks, cross-checks, redundancy etc. The allocation and tracking of safety requirements for such distributed functions is thus an essential claim OEMs have to meet [1].

For requirements engineering, it has to be determined who has to provide which content at which level of detail. Usually, the OEM division responsible for the de-velopment of the overall function creates the logical architecture and then distrib-utes requirements to different divisions within the OEM responsible for the sub-systems. These divisions receive all requirements from systems in which their sub-system is involved in, integrate the requirements and cascade the requirements to the suppliers.

For verification and validation (V&V), the OEM division responsible for the overall function has to ensure that the V&V tasks are defined and cascaded to the other divisions and the suppliers. Some aspects can only be validated on vehicle level by

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204 Functional Safety Processes and Advanced Driver Assistance

the OEM division responsible for the system (e.g. the overall behavior of the sys-tem), some aspects can be validated on subsystem level by the divisions responsi-ble for the subsystems (e.g. the behavior of the subsystem), and other aspects af-fecting internal interfaces within the subsystems can only be validated by the sup-pliers.

When the V&V is performed, the results of the V&V activities at the supplier side and within the different OEM divisions need to be fed back and collected by the division responsible for the system.

3.4 History: Safety Analysis as Backbone for the Functional Safety Process

Functional requirements and safety requirements for the subsystems are devel-oped under the scope of their conventional usage (example: plausibility checks of the steering angle and yaw rate were developed for the ESP functions) and must be adopted to the requirements of the new distributed functions in which they are embedded.

For the safety validation, all this engineering information has to be tracked and documented, and especially the safety-related aspects need to be traced.

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History: Safety Analysis as Backbone for the Functional Safety Process 205

Figure 3.3 Historical Safety Design and Documentation Process

In absence of a dedicated Functional Safety Standard for the automotive domain when ADAS generation 1 was brought into the market, a process was developed within Ford with focus on Safety Analyses [3]. The different steps of this process are shown in Figure 3.3 and are explained in the following.

3.4.1 Safety Plan

The primary purpose of the “Safety Plan” is to establish the organizational frame-work and to define the responsibilities for the safety process, including the tailor-ing of the safety processes between the OEM and the suppliers.

3.4.2 Risk Assessment & Hazard Analysis (HARA)

This step is common for all Functional Safety processes. Before a dedicated auto-motive approach for performing a Hazard Analysis and Risk Assessment was pro-

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206 Functional Safety Processes and Advanced Driver Assistance

vided by ISO 26262, several methodologies described in standards and publica-tions, e.g. the risk graph given in IEC (DIN EN) 61508 [2] or in MISRA (Motor In-dustry Software Reliability Association, https://www.misra.org.uk/), were adopted by different OEMs.

3.4.3 Safety Requirements Allocation and V&V Plan

General safety requirements, derived from Risk Assessment & Hazard Analysis have to be fulfilled by the particular subsystems.

The allocation of the safety requirements to the elements of the architecture is done on the basis of a safety analysis. The safety requirements are collected in a Safety V&V plan, representing the central documentation for the traceability of safety V&V activities.

As a focal element used for this procedure a Fault Tree Analysis (FTA) was chosen, because it allows for the tool-supported generation of a central database which di-rectly links the system analysis with safety requirements.

The FTA logic represents the complete system in a hierarchical structure of all lev-els:

■ overall functional safety concept

■ system architecture with the contribution of the involved subsystems

■ system integration in the multiplex network, including monitoring functions

■ safety functions allocated at subsystem level for both, Hardware and Software

Intermediate evaluation of the results is possible at any stage of the project. Finally, relational databases based on the FTA provide essential information for further safety activities.

By extending the safety requirements with corresponding verification methods for each requirement, the set of safety requirements provides the integral input for both, systems engineering as well as for verification and validation (V&V).

This facilitates the follow-up of the safety-related V&V measures to be carried out by the responsible organizations (suppliers and/or OEM development depart-ments).

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History: Safety Analysis as Backbone for the Functional Safety Process 207

3.4.4 Safety Analysis of Involved Subsystems

The objective of this step is to investigate and to assess the functional safety achieved by the individual subsystems in the context of distributed functions.

Also the capability of the safety processes installed at the subsystems' suppliers is evaluated. This is accomplished by performing safety assessments for each subsys-tem.

The preparation of a schedule for the safety assessments is supported by the V&V plan where functional safety requirements to Hardware and Software of the sub-systems are allocated. In this way, also V&V activities (e.g. test or analysis results) carried out by the suppliers can be tracked and integrated into the V&V plan.

3.4.5 Safety Verification & Validation:

The overall safety verification & validation

■ integrates the suppliers' V&V results

■ considers the V&V results from functional integration into the vehicle

■ supports an overall statement whether the safety requirements derived by HARA and FTA are met

The V&V plan is used as central database and checklist for the overall safety vali-dation. It refers to all safety related information which provides the evidence for compliance with the safety requirements.

3.4.6 Safety Case

The “Safety Case” shall demonstrate that an adequate level of safety is achieved, ensure that safety is maintained throughout the lifetime of the system and there-fore minimize the project risk.

Using the safety V&V plan as a checklist and the safety plan to schedule and fol-low-up the related activities, the Safety Case is supported both from technical and from organizational point of view.

Page 211: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

208 Functional Safety Processes and Advanced Driver Assistance

3.4.7 Conclusion

The presented historical process was based on a few central documents (Safety Plan, Risk Assessment and Hazard Analysis, FTA and V&V plan). This was essen-tial to manage both the complexity of distributed functions and the various refer-ences to detailed engineering documentation. In this way, the process was able to provide evidence that the overall safety requirements are met by the integration of many single contributions.

One of the key elements of the proposed process was the FTA. It is worthwhile to mention that FTA often is only used for probabilistic reasons and rather in late project phases for the purpose of verification. It has is to be emphasized, that the FTA in the chosen context supports a systematic approach for both, specification and verification. Already in early project phases it can be used for the evaluation of design alternatives. Using the database functionality of related Software-tools, FTA can be considered as a very stringent support for safety engineering.

Anyhow, the historical process described above was more based on validation/ver-ification and lacks a consistent safety lifecycle, fitting to the needs of the automo-tive industry. Such a lifecycle, and a “top-down approach” for requirements engi-neering, was presented for the first time with the release of ISO 26262 in 2011. An implementation of such an ISO 26262 safety process is described in the next section.

3.5 Current State: System Engineering as Backbone for the Functional Safety Process

The automotive Functional Safety standard ISO 26262 [4] was released in 2011. Key achievements are a complete Functional Safety lifecycle (see Figure 3.4), fitting to the best practices of the automotive industry, a standardized approach for the Haz-ard Analysis and Risk Assessment, and a structured proposal for safety require-ments engineering.

This section describes the chosen implementation of ISO 26262 [5] based on sys-tems engineering. Details of Hardware and Software development, production and operation are not subject of this paper.

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Current State: System Engineering for the Functional Safety Process 209

Figure 3.4 ISO 26262 Functional Safety Lifecycle

3.5.1 Item Definition

The purpose of the Item Definition is to define and describe the item and to develop an adequate understanding of it with the goal that each activity defined in the safety lifecycle can be performed adequately. The Hazard Analysis and Risk As-sessment is carried out on the basis of the Item Definition, and the Safety Concept is derived on the basis of this information. The Item Definition is a "snapshot" at the beginning of a safety project, and shall not be updated with safety requirements derived later during the safety process or in case of other technical changes. It shall be updated when functions are modified, added or deleted.

3.5.2 Hazard Analysis and Risk Assessment (HARA)

The Hazard Analysis and Risk Assessment is a “thought experiment” based upon the assumption that a failure has occurred in the system. The outcome is a list of possible hazards, including an assigned ASIL (Automotive Safety Integrity Level),

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210 Functional Safety Processes and Advanced Driver Assistance

reflecting the criticality of the hazardous event. It consists of following steps:

3.5.2.1 Step 1: Situation Analysis and Hazard Identification

For all combinations of functions and faults, it should be described how the system behaves in presence of the specific fault. For each failure mode, all operational sit-uations, system/operating modes, use cases and environmental conditions (alone or in combination) that could lead to a potential hazard are identified (supported by a situation database), and referenced in the Hazard Analysis.

3.5.2.2 Step 2: Hazard Classification

The objective of the hazard classification is to assess the level of risk reduction re-quired for the hazards. To classify the hazard, the following steps are performed:

■ Estimation of the potential severity (including rationale)

■ Estimation of the probability of exposure (including rationale)

■ Estimation of the controllability (including rationale)

Based on these estimations, the ASIL determination is done as defined in ISO 26262.

3.5.2.3 Step 3: Definition of Safety Goals

A safety goal is a high level safety requirement based on the hazards identified in the Hazard Analysis & Risk Assessment. The safety goals have to be clear and pre-cise and have to be written in such a way that they can be implemented by technical means (e.g. avoid referring to non-measurable data).

3.5.3 Functional Safety Concept

To comply with the safety goals of the HARA, the Functional Safety Concept spec-ifies the basic safety mechanisms and safety measures in the form of Functional Safety Requirements. For each Safety Goal, at least one Functional Safety Require-ment is derived. The Functional Safety Requirements are allocated to elements of a preliminary architecture.

The derivation of Functional Safety Requirements includes an argumentation for Safety Goal achievement, e.g. using the Goal Structuring Notation (GSN) [6], an overview of the different safe states and their related requirements, an operating modes overview, and the derivation of requirements on means, controls and user

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Current State: System Engineering for the Functional Safety Process 211

manual if needed to ensure controllability. These structured derivation and over-view helps to derive a complete set of functional requirements.

3.5.4 Technical Safety Concept

As next step, the Functional Safety Requirements are broken down to Technical Safety Requirements that are allocated to a single subsystem. To specify the Tech-nical Safety Requirements, the System Design is necessary and vice versa the de-rived Technical Safety Requirements have an influence on the System Design.

For the development of the Technical Safety Concept, it is important to consider:

■ Input from System Design, Item Definition, and Functional Safety Concept: external interfaces, constraints, technical block diagram, functional overview of the subsystems, internal interfaces, and a description of the system architec-ture including the redundancy concepts on system level. This input is neces-sary to ensure the consistency of the System Design with the Technical Safety Requirements.

■ Technical Safety Requirements derived from the Functional Safety Require-ments including Fault Tolerant Times, Emergency Operations, and Verifica-tion & Validation.

Categories for Technical Safety Requirements are “Safety Related Function”, “In-ternal Fault Handling”, “External Fault Handling”, “Latent Fault Handling”, “Met-ric”, “Reduced Functionality”, “User Information”, “Maintain Safe State / Recov-ery”, “General Safety”, and “Decomposition.

The Technical Safety Requirements as defined by ISO 26262 cover the system level (including requirements on the subsystems) which is usually defined by the OEM, but also subsystem internal requirements. In many cases, the OEM buys these sub-systems from suppliers. The derived Technical Safety Requirements are therefore cascaded to the subsystem suppliers.

The subsystem supplier derives the detailed Hardware and Software requirements from the Technical Safety Requirements.

3.5.5 Safety Verification and Validation

The Safety Verification and Validation includes detailed verification and validation planning and status tracking:

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212 Functional Safety Processes and Advanced Driver Assistance

■ Alignment between Safety Analyses and Specifications (Functional Safety Re-quirements, Technical Safety Requirements and detailed Hardware and Soft-ware Safety Requirements)

■ Validation and Verification Status of all safety relevant parameters

■ Definition, validation and status of the design verification

■ Validation of Hardware metrics calculation

For the Functional Safety Requirements, the verification (e.g. test) and validation (e.g. analyses, review) is documented (including activity and acceptance criteria). The correctness and the completeness is assessed and validated.

For the Technical Safety Requirements, verification measures are defined in order to verify the correct implementation of the Technical Safety Requirements (e.g. Fault insertion, Safety Function testing etc.). The correctness and the completeness of the verification measures are assessed. The specified verification and validation is performed and all results are documented.

3.5.6 Conclusion

The presented ISO 26262 related process is based on a Functional Safety lifecycle, which allows a tailoring of different activities (and of the responsibility for the re-lated artifacts) between the OEM and several subsystem suppliers.

The HARA and the derivation of Functional Safety Requirements are done on a functional level and therefore kept independent from the technical design. When the Functional Safety concept is finalized, the requirements are allocated to the el-ements of the (preliminary) physical architecture, i.e. the subsystems involved in the implementation of the function. The technical safety requirements are derived for these subsystems and drive the design and implementation [7]. The modular V&V approach allows the collection of contributions (e.g. test results for subsys-tems, the overall system and the functional level).

Anyhow, if the artifacts created by this process are based on textual information (e.g. Office-related documents and/or representations in databases or conventional requirement management tools), it is difficult to keep the content consistent, and to provide a sufficient overview.

Therefore, the authors recommend the extension of Model-Based Systems Engi-neering (MBSE) to cover also the requirements from ISO 26262. This approach is summarized in the next section.

Page 216: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Outlook: Model-based Systems Engineering 213

3.6 Outlook: Model-based Systems Engineering

For complex development distributed among different locations and performed by different stakeholders, model-based engineering may be an improvement.

Our model-based development approach is based on UML (Unified Modeling Lan-guage of the OMG, Object Management Group), extended by a profile for Func-tional Safety. Each phase of the development is supported by stereotypes defined in the corresponding profile complemented by validation conditions using OCL (Object Constraint Language of the OMG):

■ Definition of the Item (System to be developed)

■Hazard and Risk Assessment with stereotypes e.g. for situations, malfunction-ing behavior, and hazardous events

■ Definition of Safety Goals

■ Definition of Functional Safety Requirements with all necessary attributes

■ Definition of Technical Safety Requirements with all necessary attributes

■ Verification and Validation of Requirements

To specify Functional Safety Requirements, the part of the profile, depicted in Fig-ure 3.5 can be used.

Page 217: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

214 Functional Safety Processes and Advanced Driver Assistance

Figure 3.5 Functional Safety Requirement Profile

In Figure 3.5, a stereotype for the ASIL of the requirement is defined. It includes “QM”, the information that no ASIL is assigned, the ASILs from “ASIL A” to “ASIL D” and the ASILs defined by a decomposition, e.g., “ASIL C(D)”. For each Class the stereotype Requirement with the requirement text as an attribute can be defined. The Safety Requirement is a special requirement with the attributes ASIL and Safe State. Safety Goals, Sub-Goals and Functional Safety Requirements are special safety requirements with additional attributes to be provided. For the different types of Functional Safety Requirements, specialized stereotypes (e.g., Fault and User Infor-mation Requirements) with the necessary attributes are defined. The profile is pre-sented in Beckers et. al. (2017) [8].

The UML profile establishes the basis for integrating the safety development ac-cording to ISO 26262 in the overall “Model-based Systems Engineering” (MBSE). The advantage of a model-based approach is that the different artifacts are explic-itly connected instead of having loosely coupled documents. On the overall model, consistency checks can be performed. These consistency checks can be specified with the Object Constraint Language. Thus, the approach provides a computer-aided technique to discover errors in the complete safety development process caused by inconsistencies or errors in one or more (UML) diagrams. In addition, the model-based approach enables us to re-use the models, or parts hereof, for sim-ilar projects assuming that the same tool base is used.

Changing the development process to a model-based approach is a necessary step to cope with the increasing technical complexity of the future ADAS systems, and the growing complexity of interactions and interfaces between the multiple organ-izations involved in the development of such features. However, the change from

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Summary 215

using spreadsheet-processing tools for development to creating models is a chal-lenging task for the involved engineers and requires good tool support and a suf-ficient amount of training and support by MBSE experts.

3.7 Summary

The historical development of Advanced Driver Assistance Features was clearly a kind of evolution, starting from simple and limited functions to more powerful functions. Also the accompanying Functional Safety Process was improved in an evolutionary way, based on “discrete” Safety Analyses, followed by an integrated Safety Process which is aligned to the system engineering V-Modell. The interna-tional automotive Functional Safety Standard ISO 26262 introduces a Functional Safety lifecycle, fitting to the needs of the automotive industry and suitable for de-velopment of distributed features by distributed organizations.

The roll-out of Model-Based Systems Engineering, including development of the Functional Safety artifacts needed for ISO 26262 compliance, appears more as a kind of revolution, but are key enablers for the future development of more com-plex systems pointing towards autonomous driving.

The UML profile developed contains all relevant elements for a hazard analysis, functional safety concept, technical safety requirements specification and safety V&V. Pilot projects are already started to extend the approach to Safety Analysis and Safety Management. Currently, Ford is implementing tool support in NoMag-ics MagicDraw. Ford is also creating import and export functionality for their cur-rent templates and is developing an interface to requirements management tools.

References

[1] C. Jung, M. Woltereck, Proposal of a Functional Safety Process for Distributed Develop-ment of Safety-related Systems, VDI-Berichte Nr. 1789, 2003

[2] IEC / EN 61508 Functional safety of electrical/electronic/programmable electronic safe-tyrelated systems

[3] F. Edler, T. Frese, Systematic Safety Design Process for Distributed Vehicle Systems. Im Tagungsband des 12. Internationalen Kongresses Elektronik im Kraftfahrzeug, CDI Be-richte, 1907, 225-235, Düsseldorf 2005

[4] ISO 26262, Road vehicles - Functional safety, First edition, 2011-11-15 [5] T. Frese, H.-J. Aryus, D. Hatebur, Deriving safety requirements according to ISO 26262

for complex systems: How to avoid getting lost? In: Elektronik im Kraftfahrzeug / 5. VDI-Tagung Baden-Baden Spezial 2012 / 2012, S. 67 – 80, ISBN: 978-3-18-092172-3

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216 Functional Safety Processes and Advanced Driver Assistance

[6] Dr T. Kelly, University of York, UK, GSN: A Systematic Approach to Safety Case Man-agement, 2003, available at http://www-users.cs.york.ac.uk/~tpk/04AE-149.pdf

[7] H.-J. Aryus, T. Frese, D. Hatebur, I. Côté, M. Heisel: Deriving Safety Requirements ac-cording to ISO 26262 for complex systems: A method applied in the automotive industry 6. Wissenschaftsforum Mobilität, 2016

[8] K. Beckers, I. Côté, T. Frese, D. Hatebur, M. Heisel: A structured and systematic model-based development method for automotive systems, considering the OEM/supplier in-terface. Rel. Eng. & Sys. Safety 158: 172-184 (2017)

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4 Herausforderungen bei der Integration einer zeitdiskreten in eine quasi-zeitkontinuierliche Verkehrsflusssimulation

H. Völker, Prof. Dr. T. Weis, Prof. Dr.-Ing. Dr. h.c. D. Schramm (Universität Duisburg-Essen)

4 Herausforderungen bei der Integration einer zeitdiskreten in eine quasi-zeitkontinuierliche Verkehrsflusssimulation 217

4.1 Einleitung und Motivation ........................................................................ 2184.2 Versuchsaufbau und Durchführung ........................................................ 2194.3 Verkehrsmodelle ......................................................................................... 2214.4 Das DisKo-Modell ....................................................................................... 2294.5 Fazit und Ausblick ...................................................................................... 235

Literatur ........................................................................................................................ 236

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_14

Page 221: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

218 Integration einer zeitdiskreten Verkehrsflusssimulation

4.1 Einleitung und Motivation

In einem Fahrsimulator muss für die Bewertung von Fahrsituationen ein realisti-sches Verkehrsaufkommen visualisiert werden. Mittels mikroskopischer, quasi-zeitkontinuierlicher Simulation kann die Fahrzeugdynamik jedes einzelnen Ver-kehrsteilnehmers beschrieben werden. Allerdings müssen auch Informationen wie Verkehrsaufkommen und -dichte situativ berechnet werden. Diese Informationen lassen sich aber nur bedingt aus der quasi-zeitkontinuierlichen Simulation ablei-ten.

Das hier beschriebene DisKo-Modell sieht die Kombination von quasi-zeitkontinu-ierlicher und zeitdiskreter Simulation vor, um sowohl die Fahrdynamik als auch das Verkehrsaufkommen realistisch darzustellen. Die Herausforderung dabei liegt im Übergang vom zeitdiskreten- zum quasi-zeitkontinuierlichen Modell, da aus den grobgranularen Daten des zeitdiskreten Modells einzelne Verkehrsteilnehmer in das quasi-zeitkontinuierliche Modell übernommen werden müssen

Abbildung 4.1 Fahrsimulator am Lehrstuhl für Mechatronik

Page 222: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Versuchsaufbau und Durchführung 219

4.2 Versuchsaufbau und Durchführung

Um einen Vergleich der unterschiedlichen Modelle durchführen zu können, wurde ein einheitlicher Versuchsaufbau gewählt.

Dafür müssen durch die Straßenführung entstehende Seiteneffekte auf die Ver-kehrsmodelle ausgeschlossen werden. Dies geschieht durch die Wahl einer einspu-rigen Ringstraße mit Überholverbot und ohne Abbiegemöglichkeiten. Die Ring-straße hat eine Länge von 7500 Meter Die zulässige Höchstgeschwindigkeit beträgt 135 km/h (37,5 m/s). Für alle Versuche werden 150 Fahrzeuge auf dieser Ringstraße platziert und in zwei Zeiträumen von 600 bzw. 14400 Sekunden simuliert. Jede Si-mulation ist dabei unfallfrei, das heißt ein ‚Durchfahren‘ anderer Fahrzeuge ist ausgeschlossen.

Um eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse zu gewährleisten, wurde eine Darstel-lung der Ergebnisse durch Streudiagramme gewählt. Diese geben eine Übersicht über den Geschwindigkeitsverlauf aller Fahrzeuge und lassen so einen objektiven Vergleich zu. Hierzu wird die Strecke in 1000 Segmente (Zellen) unterteilt, welche auf der Abszisse aufgetragen werden. Die Zeit wird auf der Ordinate dargestellt. In jeder Zelle wird dann sekündlich eine Geschwindigkeit farblich abgetragen, wie Abbildung 4.2 als Beispiel aufzeigt.

Abbildung 4.2 Beispiel Streudiagramm

Page 223: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

220 Integration einer zeitdiskreten Verkehrsflusssimulation

Um Fahrzeuge aus quasi-zeitkontinuierlichen Modellen ins Streudiagramm über-tragen zu können, muss für jedes Fahrzeug der Index einer Zelle bestimmt werden.

𝑍𝑒𝑙𝑙𝑒𝑛45678 = :;<=>=;5?7@@75AB7=>7

(4.3)

Zudem wird ein ZellenStatus ermittelt. Dieser resultiert aus der aktuellen Geschwin-digkeit des Fahrzeugs.

𝑍𝑒𝑙𝑙𝑒𝑛C>D>E< = F7<GHI=56=JK7=>?7@@AB7=>7

(4.4)

Beispielhaft ergibt sich für ein Fahrzeug an der Position 3750 Meter, das mit einer Geschwindigkeit von 14,5 m/s unterwegs ist, 𝑍𝑒𝑙𝑙𝑒𝑛45678 = 500 und 𝑍𝑒𝑙𝑙𝑒𝑛C>D>E< = 2

Dieser ZellenStatus wird als Farbwert im Diagramm an der Stelle ZellenIndex abgetra-gen.

Der beschriebene Versuch zeigt die Eigenschaften und Realitätsnähe der unter-suchten Modelle. Zum Beispiel sind im Ergebnis des Nagel-Schreckenberg-Mo-dells die auch im realen Verkehrsgeschehen auftretenden Stauwellen gut zu erken-nen. Hingegen zeigt das qModell mit zunehmender Laufzeit ein Konvergieren der einzelnen Verkehrsteilnehmer auf eine konstante Geschwindigkeit. Im DisKo-Mo-dell soll genau dieses Konvergieren durch das Nagel-Schreckenberg-Modell ver-hindert werden und sich im Ergebnis niederschlagen.

Page 224: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Verkehrsmodelle 221

4.3 Verkehrsmodelle

4.3.1 Klassifizierung

Abbildung 4.3 Klassifizierung von Verkehrsmodellen

Die makroskopischen Modelle betrachten den Zusammenhang zwischen Parame-tern wie Verkehrsstärke und -dichte sowie der durchschnittlichen Geschwindig-keit und zeichnen sich durch Algorithmen mit hoher Recheneffizienz aus, da keine einzelnen Fahrzeuge simuliert werden müssen.

Bei den mikroskopischen Modellen steht die Modellierung einzelner Fahrzeuge im Vordergrund. Diese Modelle konzentrieren sich unter anderem auf Individual-geschwindigkeit, Reaktion und Interaktion mit anderen Fahrzeugen und finden daher oft Anwendung bei der Simulation von Verkehr für Fahrsimulatoren.

Die submikroskopischen Modelle erhöhen die Simulationstiefe der mikroskopi-schen Simulation und liefern detailliertere Simulationsergebnisse zu jedem einzel-nen Fahrzeug. Zum Beispiel können verschiedene Antriebssysteme und der Ener-gieeffizienz simuliert werden [1].

Bei den mesoskopischen Modellen handelt es sich um eine Kombination aus mak-roskopischen und mikroskopischen Modellen. Dabei wird ein ausgewählter Be-reich, zum Beispiel eine Kreuzung mikroskopisch und der umgebende Bereich makroskopisch simuliert. Dies dient in erster Linie zur Steigerung der Simulations-effizienz.

Page 225: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

222 Integration einer zeitdiskreten Verkehrsflusssimulation

4.3.2 Zeitdiskrete und quasi-zeitkontinuierliche Simulation

Bei der computergestützten Simulation liegen immer zeitdiskrete Berechnungen vor. Nachfolgend wird das Nagel-Schreckenberg-Modell (kurz NaSch-Modell) und das qModell näher betrachtet.

Das NaSch-Modell berechnet Ergebnisse präzise im Sekundentakt. Das qModell hingegen hat eine Schrittweite, die um den Faktor 100 kleiner ist. Im direkten Ver-gleich kann man bei dem qModell daher von einem quasi-zeitkontinuierlichen Mo-dell sprechen. Das NaSch-Modell ist ein zeitdiskretes Modell.

Das NaSch-Modell kann, bedingt durch seinen Aufbau, kein kleineres Inkrement als Sekunde realisieren. Bei einem Einsatz im Fahrsimulator mit realen Probanden würde dies zu „springenden“ Fahrzeugen führen Des Weiteren sind auch die un-realistische Beschleunigung und Verzögerung (Kapitel 4.3.3.2 Funktionsweise) ein Problem.

Im direkten Vergleich dazu sendet das qModell, bedingt durch die relativ kleinen Schrittweiten von etwa zehn Millisekunden, ein quasi-zeitkontinuierliches Signal und eignet sich somit für den Einsatz in einem Fahrsimulator. Schwierigkeiten er-geben sich mit steigender Simulationstiefe oder Verkehrsdichte, denn eine größere Anzahl von Verkehrsteilnehmern oder eine höhere Simulationstiefe würde die mögliche Schrittweite vergrößern.

4.3.2.1 Weitere Verkehrsmodelle

Im Folgenden werden einige Verkehrsmodelle beschrieben, um einen Überblick zu gewinnen.

Das Newell-Modell ist der einfachste Vertreter der zeitdiskreten Modelle, der möglich ist. Seine Grundidee beruht darauf, dass ein Fahrzeug einen minimalen Raum und eine minimale Zeitspanne im fließenden Verkehr einnimmt und hält. Bezogen auf einen Bremsvorgang bedeutet dies, dass das nachfolgende Fahrzeug deutlicher abbremsen muss, um seinen minimalen Raum zu wahren. Vereinfacht gesprochen, wenn das vorausfahrende Fahrzeug seine Geschwindigkeit verrin-gert, ändert auch das nachfolgende Fahrzeug die Geschwindigkeit, um eine Kolli-sion zu verhindern. [2]

Das Payne-Modell aus dem Jahr 1971 wird aus dem Newell-Modell abgeleitet. An-nahme hierbei ist, dass in Abhängigkeit von der Verkehrsdichte eine Geschwin-

Page 226: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Verkehrsmodelle 223

digkeit existiert, die ein kollisionsfreies Fahren ermöglicht [3]. Es stellt ein Äquiva-lent zum Newell-Modell da.

Das Kerner-Konhäuser-Modell basiert im Gegensatz zum Newell- oder Payne-Modell, die auf einer Geschwindigkeitsfunktion beruhen, auf einer Beschleuni-gungsgleichung.

OPO>+ 𝑉 OP

O8= PR S TP

U− W

SOSO8+ X

SOYPO8Y

(4.5)

Die Gleichung ist dem eindimensionalen, kompressiblen Gas nachempfunden, mit einem konstanten Druck θ0 und einer Geschwindigkeitsdiffusion Dv = η/ρ, und wird daher auch als hydrodynamisches Modell bezeichnet. Die Geschwindigkeits-diffusion verhindert unrealistische Geschwindigkeitsverläufe, führt aber in vielen Fällen zu numerischen Instabilitäten. Diese verhindern eine effiziente Simulation [1] [4].

Das quasi-zeitkontinuierliche Intelligent-Driver-Modell (IDM) ist vermutlich das einfachste, vollständigste und unfallfärmste Modell, welches in allen Verkehrssi-tuationen realistische Beschleunigungswerte und ein zumindest plausibles Be-schleunigungsverhalten dokumentiert. Es beruht dabei auf den folgenden Punk-ten:

11. Die Beschleunigung gehorcht den allgemeinen Plausibilitätsbedingungen.

12. Der Gleichgewichtsabstand bei der Folgefahrt sollte einen durch einen Min-destabstand s0 und eine Zeitlücke T definierten „Sicherheitsabstand“ s0 + vT nicht unterschreiten.

13. Die Annäherung an langsame oder stehende Fahrzeuge bzw. Hindernisse ge-schieht mit einer kollisionsvermeidenden Bremsstrategie:

a. Ist die Situation „unter Kontrolle“, wird „weich“ gebremst, wobei eine ge-wisse komfortable Verzögerung allmählich aufgebaut und kurz vor dem Stillstand wieder abgebaut wird.

b. Ist die Situation kritisch, wird stärker als mit der komfortablen Verzöge-rung gebremst und so die Situation wieder unter Kontrolle gebracht. Da-nach wird ggf. mit der komfortablen Verzögerung weiter abgebremst.

14. Das Modell ist robust und besitzt anschauliche Modellparameter. Jeder Para-meter spiegelt jeweils nur einen Aspekt des Fahrverhaltens wider und nimmt nur plausible Werte an. [1] [5]

Page 227: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

224 Integration einer zeitdiskreten Verkehrsflusssimulation

4.3.3 Das Nagel-Schreckenberg-Modell

Als zeitdiskretes Simulationssystem wurde das Nagel-Schreckenberg-Modell aus-gewählt, da dieses bereits erfolgreich eingesetzt wird - so zum Beispiel seit Jahren im Bundesland Nordrhein-Westfalen (kurz NRW) zur Erstellung von Stauprogno-sen. [6] [7]

4.3.3.1 Aufbau

Bei dem Nagel-Schreckenberg-Modell (kurz NaSch-Modell) handelt es sich um ei-nen zellularen Automaten. Dies bedeutet, dass eine zu simulierende Strecke in gleichgroße Zellen (Abschnitte) unterteilt wird. Standardmäßig wird dabei eine Zellenlänge von 7,5 Meter gewählt. Diese resultiert aus dem durchschnittlichen Abstand, den ein Fahrzeug innerhalb eines Staus einnimmt. Für die Simulations-schrittweite wird eine Sekunde angenommen. Diese Zeitvorgabe orientiert sich an der durchschnittlichen Reaktionszeit eines Autofahrers. Jeder Zelle wird ein Status zugeordnet. Der Statuswert entspricht dabei der Anzahl der Zellen, die im letzten Schritt gesetzt (gefahren) werden. Des Weiteren kann eine belegte Zelle eine der folgenden Statusinformationen einnehmen.

■ Belegte Zelle Status 0 Geschwindigkeit 0 * 7,5 m/s

■ Belegte Zelle Status 1 Geschwindigkeit 1 * 7,5 m/s (27 km/h)

■ Belegte Zelle Status 2 Geschwindigkeit 2 * 7,5 m/s (54 km/h)

■ Belegte Zelle Status 3 Geschwindigkeit 3 * 7,5 m/s (81 km/h)

■ Belegte Zelle Status 4 Geschwindigkeit 4 * 7,5 m/s (108 km/h)

■ Belegte Zelle Status 5 Geschwindigkeit 5 * 7,5 m/s (135 km/h)

Eine nicht belegte Zelle besitzt keinen Status.

4.3.3.2 Funktionsweise

Das NaSch-Modell durchläuft bei jedem Simulationsschritt alle Zellen und be-stimmt den Status jeder Zelle auf ein Neues. Dabei ist die Statusbestimmung jeder

Page 228: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Verkehrsmodelle 225

Zelle unterteilt in vier elementare Funktionen: Beschleunigen, Bremsen, Trödeln und Fahren

Ausgangslage 5 4 2 1 1 …

Beim Beschleunigen wird der Status jeder Zelle um eins erhöht, wenn noch nicht der höchste Status fünf erreicht wurde.

5 5 3 2 2 …

Im nächsten Schritt erfolgt das Bremsen. Dabei wird geprüft, ob der eingenom-mene Status im letzten Schritt (Fahren) ausgeführt werden kann. Dabei darf kein Fahrzeug überholt oder durch das aktuelle Fahrzeug ersetzt werden. Ist dies nicht der Fall, wird der Status auf den letztmöglichen Wert (Distanz zur nächsten Zelle -1) gesetzt.

4 3 3 1 2 …

Trödeln ist der entscheidende Schritt, der zum Auftreten der sogenannten „Geis-terstaus“ führt. Dabei wird zufallsbasiert der Status mehrerer Zellen um eins redu-ziert.

4 3 3 0 1 …

Fahren ist der letzte Schritt. In diesem werden nun alle Statuswerte gesetzt. Im Beispiel der ersten Zelle mit dem Status vier wird diese Zelle um vier Zellen ver-schoben, der aktuelle Status wird beibehalten.

4 3 3 0 1 …

4.3.3.3 Ergebnisse

In Abbildung 4.4 sind die Ergebnisse für eine NaSch-Simulation zu sehen. Die einzelnen Stauwellen sind gut zu erkennen.

Page 229: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

226 Integration einer zeitdiskreten Verkehrsflusssimulation

Abbildung 4.4 NaSch-Modell 600 Sekunden

Auch wenn die NaSch–Simulation über einen längeren Zeitraum durchgeführt wird, kommt es immer wieder zu Stauwellen (s. Abbildung 4.5 ).

Abbildung 4.5 NaSch-Modell 14400 Sekunden

Page 230: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Verkehrsmodelle 227

4.3.4 Das qModell

Das an der Universität Duisburg-Essen (kurz UDE) entwickelte qModell ist quasi-zeitkontinuierlich und basiert auf einem Fahrer- sowie Fahrzeugmodell, die zu-sammen ein Fahrzeugobjekt ergeben. Dabei sind beide Modelle modular inte-griert. Diese können je nach Einsatzszenario beliebig ausgetauscht werden, um so verschiedenen Untersuchungsschwerpunkten gerecht zu werden.

4.3.4.1 Aufbau

Das Fahrermodell basiert auf einer Abstands- und Geschwindigkeitsregelung. Der (Wunsch-)Abstand setzt sich aus dem theoretischen Bremsweg und dem fahrer-spezifischen Abstandswunsch zusammen (4.4).

𝐷[E5<GH = 𝑆]B7^<I7J ⋅ 𝑃aA<>D56 = bcY

d⋅D⋅ 𝑃aA<>D56 (4.6)

Die Wunschgeschwindigkeit entspricht der zulässigen Höchstgeschwindigkeit und dem fahrerspezifischen Wunsch, diese zu über- oder unterschreiten (4.5).

𝑉[E5<GH = 𝑉eE@ä<<=J ⋅ 𝑃F7<GHI=56=JK7=> (4.7)

Der Wunschabstand ist dem Geschwindigkeitswunsch übergeordnet. Nur wenn der Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug größer als der Wunschabstand ist, wird versucht, die Wunschgeschwindigkeit zu erreichen. Andernfalls wird ein Bremsvorgang eingeleitet.

Das Fahrzeugmodell entspricht einem einfachen Punktmassemodell, das je nach Parametrisierung ein unterschiedliches Beschleunigungs- und Verzögerungsver-halten aufweist.

4.3.4.2 Funktionsweise

Das qModell durchläuft in einer Schleife jedes Fahrzeugobjekt. Dabei wird dem Fahrzeugobjekt ein Vorgänger- und ein Nachfolgerobjekt zugeordnet und wie im Aufbau 4.3.4.1 beschrieben geregelt.

4.3.4.3 Ergebnisse

Die Ergebnisse in Abbildung 4.6 zeigen innerhalb der ersten 600 Sekunden ein plausibles Bild.

Page 231: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

228 Integration einer zeitdiskreten Verkehrsflusssimulation

Abbildung 4.6 qModell – 600 Sekunden

Die Ergebnisse in Abbildung 4.7 zeigen jedoch, dass die Geschwindigkeit aller Fahrzeugobjekte im Laufe von etwa 2000 Sekunden gegen eine konstante Ge-schwindigkeit konvergiert. Mit zunehmender Simulationszeit wird dies immer deutlicher.

Erklärung hierfür ist, dass alle Fahrzeugobjekte sofort und unverzüglich reagieren. Staus aus dem Nichts, wie im NaSch-Modell, können so nicht entstehen. Durch die Wahl anderer Fahrzeugobjekte lässt sich lediglich die konstante Endgeschwindig-keit variieren, da sich die Simulation am langsamsten Fahrzeug ausrichtet.

Page 232: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Das DisKo-Modell 229

Abbildung 4.7 qModell 14400 Sekunden

4.4 Das DisKo-Modell

Aus den vorhergehenden Kapiteln ist abzulesen, dass sich weder das NaSch-Mo-dell noch das qModell für den Einsatz in Fahrsimulatoren eignen. Das NaSch-Mo-dell würde zu Darstellungsfehlern führen, das qModell bereits bei einer Fahrt von mehr als 2000 Sekunden (Abbildung 4.7 ) nur noch Fahrzeuge mit einer kon-stanten Geschwindigkeit simulieren. Um die Vorteile beider Modelle nutzen zu können, wurde das DisKo–Modell entwickelt. Dieses erlaubt sowohl den Einsatz in Fahrsimulatoren als auch beim Test hochautomatisierter Fahrzeugsysteme.

4.4.1 Aufbau

Für den Einsatz im Fahrsimulator ist es wichtig, dass die Verkehrsteilnehmer im direkten Sichtbereich des Probanden detailliert mit dem qModell dargestellt wer-den. Die anderen Verkehrsteilnehmer werden mittels NaSch-Modell simuliert.

Page 233: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

230 Integration einer zeitdiskreten Verkehrsflusssimulation

Abbildung 4.8 DisKo-Modell Konzept

Der grüne Kreis in der Abbildung 4.8 stellt den Sichtbereich des Probanden dar. Dieser wird im weiteren Verlauf dieser Arbeit „Area Of Interest“, kurz AOI, ge-nannt. Außerhalb der AOI wird eine zeitdiskrete Simulation verwendet.

4.4.2 Funktionsweise

In Gegensatz zu einem mesoskopischen Modell besitzt das DisKo-Modell einen ortsveränderlichen Bereich für die quasi-zeitkontinuierliche Simulation. Dieser ist gebunden an das Verhalten des Fahrers im Simulator und wird durch ein zeitdis-kretes Modell (hier NaSch-Modell) korrigierend beeinflusst. Das NaSch-Modell er-fährt jedoch keine Rückmeldung durch das qModell, um die NaSch-Simulation nicht zu verfälschen. Im Nachfolgenden wird die Initialisierungsphase und der ei-gentliche Simulationsschritt beschrieben.

Page 234: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Das DisKo-Modell 231

4.4.2.1 Initialisierungsphase

Zu Beginn wird das NaSch-Modell gestartet und die Initialisierung der einzelnen Zellen als Basis für die Initialisierung des qModells im AOI-Bereich genutzt. Dazu wurden die Informationen wie folgt überführt.

Fahrzeugposition FPos

𝐹:;< = 𝑍𝑒𝑙𝑙𝑒𝑛45678 ⋅ 𝑍𝑒𝑙𝑙𝑒𝑛𝑏𝑟𝑒𝑖𝑡𝑒 + 𝑍𝑒𝑙𝑙𝑒𝑛𝑏𝑟𝑒𝑖𝑡𝑒 ⋅ 0.5 (4.8)

Fahrzeuggeschwindigkeit FGeschwindigkeit

𝐹F7<GHI=56=JK7=> = 𝑆𝑡𝑎𝑡𝑢𝑠?7@@7 ⋅ 𝑍𝑒𝑙𝑙𝑒𝑛𝑏𝑟𝑒𝑖𝑡𝑒 (4.9)

Die Wahl des Fahrzeugmodells erfolgt zufallsbasiert. Dem DisKo-Modell stehen sechs Fahrzeugmodelle zur Verfügung. Aus diesen vordefinierten Modellen wird auf der Basis einer Gleichverteilung zufällig eines ausgewählt und gesetzt.

Abbildung 4.9 DisKo - Modell Initialisierungsverfahren

4.4.2.2 Simulationsschritt

Die zeitdiskrete Simulation (NaSch-Modell) wird standardmäßig ausgeführt. Bei der quasi-zeitkontinuierlichen Simulation (qModell) ändert sich das Verhalten an den Rändern der AOI. Die Position des letzten Fahrzeugobjekts (Ende der AOI Ab-bildung 4.10 ), wird in einen Indexwert (Formel 4.3) umgerechnet. Basierend auf diesem sucht ein Algorithmus die nächste belegte Zelle. Ist die Geschwindig-keit der gefundenen Zelle größer als die des Fahrzeugobjekts, wird diesem ein Vor-gänger übergeben, der keinen Einfluss ausübt. Falls die Geschwindigkeit der ge-fundenen Zelle kleiner ist als die des aktuellen Fahrzeugobjekts, wird zusätzlich

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232 Integration einer zeitdiskreten Verkehrsflusssimulation

noch der Wunschabstand des aktuellen Fahrzeugobjekts berücksichtigt. Dies ge-schieht, um eine kollisionsfreie Simulation zu gewährleisten. Ist der Wunschab-stand unterschritten, wird die nächste belegte Zelle gesucht und es erfolgt eine er-neute Prüfung.

Abbildung 4.10 Simulationsschritt: Übergänge

Das Einfügen neuer Fahrzeugobjekte erfolgt jeweils am Beginn oder Ende der AOI. Dazu muss eine belegte Zelle das Ende oder den Anfang der AOI berühren. Tangiert die Zelle den Beginn der AOI, wird geprüft, ob die Geschwindigkeit der Zelle größer ist als die Geschwindigkeit des ersten Fahrzeugobjekts in der AOI. Ist dies der Fall, wird der Zelle ein Fahrzeugobjekt zugeordnet und der Wunschab-stand zum ersten Fahrzeugobjekt geprüft. Ist dieser Abstand größer als der Wunschabstand, wird das Fahrzeugobjekt am Anfang der AOI hinzugefügt. Ähn-lich erfolgt das Einfügen am Ende der AOI. Dabei wird geprüft, ob die Geschwin-digkeit kleiner ist als die Geschwindigkeit des letzten Fahrzeugobjekts. Wenn dies der Fall ist, wird der Wunschabstand des letzten Fahrzeugobjekts zur Zelle ge-prüft. Ist der Abstand größer als der Wunschabstand, wird der Zelle zufällig ein Fahrzeugobjekt zugeordnet und dieses dann am Ende der AOI hinzugefügt.

Die Geschwindigkeitsprüfung verringert die Fluktuationsrate der eingefügten Fahrzeugobjekte. Ein ständiger Wechsel der Fahrzeugobjekte wäre nicht realis-tisch. Das resultierende Fahrzeugobjekt einer Zelle mit höherer Geschwindigkeit als die Geschwindigkeit des letzten Fahrzeugobjekts innerhalb der AOI würde dies nicht beeinflussen. Ähnlich verhält es sich mit Objekten am Anfang der AOI. Auch in diesem Fall würde das resultierende Fahrzeugobjekt einer Zelle mit langsamerer Geschwindigkeit als die Geschwindigkeit des ersten Fahrzeugobjekts innerhalb

Page 236: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Das DisKo-Modell 233

der AOI dieses nicht beeinflussen.

Die Abstandsprüfung erfolgt, um den Zufluss aus dem NaSch-Modell zu kontrol-lieren. Die Frequenz der Simulationsläufe des qModells ist um den Faktor 100 hö-her als die Frequenz des NaSch-Modells. Ohne Abstandsprüfung würde die Zelle mehrfach als Fahrzeugobjekt fehlerhaft hinzugefügt werden.

Das Löschen eines Fahrzeugobjekts erfolgt, wenn der Abstand des Fahrzeugob-jekts zum Mittelpunkt größer als der Radius der AOI ist, wenn also der Bereich der AOI verlassen wird.

4.4.3 Ergebnisse

Abbildung 4.11 zeigt deutlich den Einfluss des NaSch-Modells auf das qModell. Auch bei einer Simulationszeit von vier Stunden konvergiert das System nicht ge-gen eine konstante Geschwindigkeit. In den Bereichen der NaSch-Simulation, in denen es simulativ bedingt zu Geschwindigkeitseinbrüchen kommt, werden diese direkt in das qModell überführt.

Abbildung 4.11 DisKo-Modell Überlagerte Ergebnisse 600 Sekunden

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234 Integration einer zeitdiskreten Verkehrsflusssimulation

Um dies deutlicher zu zeigen, wurde das Geschwindigkeitsprofil des Fahrzeug-modells in der Mitte der AOI (Proband) in Abbildung 4.12 aufgezeichnet.

Abbildung 4.12 DisKo – Modell Geschwindigkeitsprofil ohne Korrektur

Deutlich ist zu erkennen, dass mit zunehmender Simulationszeit die Geschwindig-keit gegen eine konstante Geschwindigkeit konvergiert.

Page 238: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Fazit und Ausblick 235

Abbildung 4.13 DisKo – Modell Geschwindigkeitsprofil mit Korrektur

Hingegen zeigt sich dieses Verhalten mit der Korrektur durch das NaSch-Modell nicht.

4.5 Fazit und Ausblick

In der vorliegenden Arbeit kann durch entsprechende Versuche nachgewiesen werden, dass das DisKo–Modell nicht gegen eine konstante Geschwindigkeit kon-vergiert. Dies geschieht durch das geeignete Übergeben von Informationen aus dem NaSch-Modell in das qModell. Die vorliegende Arbeit weist nach, dass zeit-diskrete und quasi-kontinuierliche Modelle in einer Simulation zusammengeführt werden können. Die Echtzeitfähigkeit ist möglich und damit auch der Einsatz für die Verkehrsflusssimulation für Fahrsimulatoren mit menschlichem Fahrer.

An dieser Stelle ist anzumerken, dass die Geschwindigkeit eines von vielen Merk-malen sein kann, die mit Hilfe des DisKo–Modells korrigiert werden können.

Um andere Effekte, die sich zum Beispiel aus der Straßenführung ergeben können, innerhalb der Simulation ausschließen zu können, wird das ganze System nur mit

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236 Integration einer zeitdiskreten Verkehrsflusssimulation

einer Spur und ohne Überhol- und Abbiegemöglichkeit abgebildet. Dies soll durch die Implementierung weiterer Spuren, Zu- und Abfahrten erweitert werden.

Damit eröffnet sich die Möglichkeit, Auswirkungen verschiedener Fahrerklassen, unterschiedlicher Antriebssysteme und CAR 2 CAR Communication auf den Ver-kehrsfluss zu untersuchen.

Ein weiterer Aspekt sind Langzeittests, wie sie zur Absicherung von hochautoma-tisiertem Fahren notwendig sind. Diese können mit dem DisKo-Modell realitäts-nah durchgeführt und validiert werden.

Literatur

[1] M. Treiber und A. Kesting, Verkehrsdynamik und -simulation (Daten, Modelle und Anwendungen der Verkehrsflussdynamik), Berlin Heidelberg: Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 2010.

[2] N. G.F., „A simplified car-following theory: a lower order model.,“ Institute of Transportation Studies, University of California, Berkeley, 2002.

[3] W. Jin, Traffic Flow Models and their Numerical Soluations. PhD, California: University of California, 2000.

[4] P. D. H. R. Schwarz und . P. D. N. Köckler, Numerische Mathematik, Wiesbaden: Vieweg+Teubner Verlag, 2011.

[5] M. Treiber, A. Hennecke und D. Helbing, „Congested traffic states in empirical observations and microscopic simulations,“ 2000.

[6] Ministerium für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr, „https://www.verkehr.nrw/,“ 20 07 2017. [Online]. Available: https://www.verkehr.nrw/.

[7] M. S. K. Nagel, „A cellular automaton model for freeway traffic,“ in J. Phys. I France, 1992.

Page 240: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

5 Identifizierung von Range Extender Fahrten anhand realer Bewegungsprofile durch künstliche neuronale Netze

S. Blume, S. Reicherts, P. Driesch, S. Schweig, Prof. Dr.-Ing Dr. h.c. D. Schramm (Uni-versität Duisburg-Essen)

5 Identifizierung von Range Extender Fahrten anhand realer Bewegungsprofile durch künstliche neuronale Netze .......................... 237

Kurzfassung ................................................................................................................... 238Abstract ........................................................................................................................ 2385.1 Einleitung ..................................................................................................... 2385.2 Versuchsaufbau ........................................................................................... 2405.3 Künstliche neuronale Netze ...................................................................... 2455.4 Datenaufbereitung ...................................................................................... 2485.5 Validierung .................................................................................................. 2505.6 Zusammenfassung und Ausblick ............................................................. 256

Literatur ........................................................................................................................ 256

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_15

Page 241: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

238 Identifizierung von Range Extender Fahrten

Kurzfassung

Alternative Antriebe gewinnen zunehmend an Bedeutung. Bedingt durch den an-gestrebten Wandel weg von verbrennungsmotorisch angetriebenen Fahrzeugen hin zu emissionsfreien Antriebsvarianten auf Basis erneuerbarer Energien, werden bestehende synthetische Fahrzyklen für Hybridfahrzeuge erweitert. Anhand die-ser Fahrzyklen werden Richtwerte für den Kraftstoffverbrauch der Fahrzeuge be-stimmt. In der Realität hängen der Kraftstoffverbrauch sowie der Emissionsaus-stoß z.B. bei der Verwendung eines batterieelektrischen Fahrzeugs mit Reichwei-tenverlängerer in erster Linie von dem Betriebszustand des Verbrennungsmotors ab. In diesem Beitrag wird eine Methode auf Grundlage von künstlichen neurona-len Netzten vorgestellt, die diesen Betriebszustand erkennt. Als Datengrundlage dienen Messungen der Fahrzeuggeschwindigkeit und des Stroms der Traktions-batterie.

Abstract

Alternative drives become more important in our society continuously. Due to the target change of mobility from conventional to emission-free cars based on renew-able energies, existing synthetic driving cycles are extended to determine the fuel consumption of hybrid vehicles. In reality the fuel consumption and the green gas emission of for example a battery electric vehicle with range extender depend on the operational state of the range extender. In this paper a method based on artifi-cial neural networks is provided for the detection of the operational state of a range extender. The database for the training of the neural network contain measure-ments of the velocity of the car and the current of the traction battery

5.1 Einleitung

Im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte des Lehrstuhls für Mechatronik der Universität Duisburg-Essen werden die realen Bewegungsprofile von batterie-elektrischen und hybridelektrischen Fahrzeugen mit Hilfe von Datenloggern auf-gezeichnet. [1] [2] [3] Diese Datenlogger arbeiten völlig autark in den jeweiligen Fahrzeugen und werden durch das Niedervoltbordnetz mit Energie versorgt. Die Datensätze, die mittels Global System for Mobile Communications (GSM) an in der Universität platzierte Server gesendet werden, umfassen unter anderem die Fahr-zeuggeschwindigkeit, die GPS-Position, die Umgebungstemperatur sowie den

Page 242: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Einleitung 239

Strom der Traktionsbatterie.

Ein Großteil der elektrifizierten Fahrzeuge, die im Zuge der Forschungsprojekte vermessen werden, besitzt einen Reichweitenverlängerer (engl. Range Extender). Dabei handelt es sich um einen zusätzlichen Verbrennungsmotor, der im Bedarfs-fall einen Generator antreibt und damit den Ladezustand der Batterie möglichst konstant hält bzw. erhöht, so dass der Fahrbetrieb trotz niedrigem Ladezustands aufrecht gehalten werden kann. [4] Die Zuschaltung des Range Extenders (REX) kann entweder durch die vom Hersteller installierte Betriebsstrategie oder manuell durch den Fahrer erfolgen.

Der Betriebszustand des Verbrennungsmotors ist bei der Bestimmung des tatsäch-lichen Kraftstoffverbrauchs und Emissionsausstoßes von hybriden Fahrzeugen un-ter realen Nutzungsbedingungen von besonderem Interesse. Aktuelle Kraftstoff-verbräuche nach Herstellerangaben eines Plug-In-Hybridfahrzeugs in Liter pro 100 Kilometer basieren auf Messungen, die nach der ECE-Norm R 101 mit Hilfe von synthetischen Fahrzyklen, wie dem „Neuen Europäischen Fahrzyklus“ (NEFZ), auf Prüfständen bestimmt werden. Dabei wird die Annahme getroffen, dass zwischen zwei Ladevorgängen ausschließlich eine Strecke von 25 Kilometern mit laufendem Range Extender zurücklegt wird. [5] Da der reale Kraftstoffver-brauch und Emissionsausstoß der Elektrofahrzeuge mit Range Extender vorwie-gend von der Einsatzdauer des Verbrennungsmotors abhängig sind, kann eine re-alistische Betrachtung dieser Parameter ausschließlich durch die genaue Kenntnis des Betriebszustandes des REX erfolgen. [6]

In diesem wissenschaftlichen Beitrag wird eine Methode beschrieben, einen akti-ven Range Extender aus der Fahrzeuggeschwindigkeit und der aus der Traktions-batterie entnommenen Ladung zu detektieren. Dazu wird ein maschinelles Lern-verfahren, ein so genanntes künstliches neuronales Netz, genutzt, welches das Ein-schalten des REX während einer Fahrt mit einem batterieelektrischen Fahrzeug identifiziert. Maschinelle Lernverfahren, wie künstliche neuronale Netze (KNN), eignen sich für die Erkennung von Charakteristika, die zum Beispiel die Ein- und Ausschaltzeitpunkte eines Range Extenders definieren. [7] Dazu müssen die Mo-delle durch eine große Zahl von Daten trainiert werden. Insbesondere die Archi-tektur neuronaler Netze kann dazu genutzt werden, um Prozesswissen in die Mo-delle einzubringen. So können verschiedene Layer physikalische Eigenschaften nachbilden und so zu einer realitätsnahen Schätzung beitragen.

Die Datengrundlage zum Training des KNN stellen Messungen aus einem Ver-suchsaufbau mit einem BMW i3 60 Ah mit Range Extender dar, im Rahmen derer

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240 Identifizierung von Range Extender Fahrten

die Geschwindigkeit des Fahrzeugs, der Strom der Traktionsbatterie sowie die ge-nauen Ein- und Ausschaltzeitpunkte des Range Extenders erfasst wurden. Für das Training werden die aufgezeichneten Daten so modifiziert, dass die Information, ob der Range Extender eingeschaltet ist oder nicht, dem Trainingsalgorithmus zur Verfügung steht.

Das auf diese Weise erzeugte Modell soll zukünftig dazu genutzt werden, um für beliebige Fahrten, bei denen lediglich die Messwerte der Datenlogger zur Verfü-gung stehen, die Streckenabschnitte zu identifizieren, bei denen das Fahrzeug mit eingeschaltetem Range Extender gefahren ist. Auf Basis dieser Datengrundlage können dann Prognosen über realitätsnahe Verbräuche und Emissionsausstöße von Elektrofahrzeugen mit Range Extendern getroffen werden.

5.2 Versuchsaufbau

Zur Erfassung von realen Messdaten wurde ein BMW i3 mit einer Batteriekapazität von 60 Ah für Messfahrten aufbereitet. Dieses Fahrzeug ist Bestandteil des For-schungsprojektes PREMIUM in dessen Umfang Plug-In-, Range Extender- sowie Elektrofahrzeuge unter realen Mobilitätsumständen analysiert werden. [1]

Alle Projektfahrzeuge werden dazu mit einem Datenlogger ausgestattet, der unter anderem den GPS-Datensatz, die Außentemperatur sowie den Strom der Trakti-onsbatterie erfasst und mittels GSM an eine Datenbank sendet.

Page 244: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Versuchsaufbau 241

Abbildung 5.1 Messsensorik des Datenloggers aus PREMIUM

Die Strommesszange ist, wie Abbildung 5.2 auf der folgenden Seite verdeutlicht, zwischen der Traktionsbatterie des Elektrofahrzeugs und dessen Leistungselekt-ronik platziert. Dadurch können sowohl der Entlade- als auch der Ladestrom der Batterie gemessen werden. Die Gesamtheit des Entladestroms setzt sich zum einen aus dem Energiebedarf des Antriebsstrangs im aktuellen Fahrzustand sowie der elektrischen Leistung, die für die Versorgung der Nebenverbraucher aufgebracht werden muss, zusammen. Eine genaue Aufteilung dieser Strombedarfe kann auf Basis der zuvor genannten Messwerte lediglich geschätzt werden. Ähnliches gilt für den Ladestrom der Traktionsbatterie. Dieser wird zum einen durch bei Brems-vorgängen auftretende Rekuperation und zum anderen durch einen aktiven Range Extender in die Batterie zurückgespeist.

Page 245: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

242 Identifizierung von Range Extender Fahrten

Abbildung 5.2 Eine Topologie eines batterieelektrischen Fahrzeugs mit Range Extender

Dementsprechend kann keine belastbare Aussage über den Zustand des REX, der für eine genaue Bestimmung eines realistischen Kraftstoffverbrauchs und Emissi-onsausstoß unerlässlich ist, anhand der zuvor genannten Messgrößen getroffen werden. Um die vorhandene Datengrundlage durch diese Information zu erwei-tern, wurde das zuvor genannte Versuchsfahrzeug temporär mit zusätzlichen Sen-soren bestückt. Der gesamte Messaufbau ist nachfolgend in Abbildung 5.3 sche-matisch dargestellt. Dabei befindet sich der Range Extender im hinteren Motor-raum des Fahrzeugs.

Page 246: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Versuchsaufbau 243

Abbildung 5.3 Zusätzliche Messsensorik am Versuchsfahrzeug

Die Inertial-Messsensorik (IMU) im Frontbereich erfasst in Kombination mit zwei weiteren Beschleunigungssensoren links und rechts im Heckbereich des Fahrzeugs die Beschleunigungen um die drei Raumachsen. Zusätzlich wurde ein Mikrofon in der Nähe des Range Extenders verbaut, um den Zustand des Range Extenders über dessen Schallemission zu erfassen. Zur Synchronisation der Daten mit den PRE-MIUM-Daten wurde ein zweites GPS-Modul im Frontbereich integriert. Das IMU-Modul zur Messung der Beschleunigung an dieser Stelle beinhaltet zusätzlich ein Gyroskop sowie Sensoren zur Temperatur- und Luftdruckmessung. Letztere sind erforderlich um die GPS-Höhe zu korrigieren.

Drei Kameras in der Front des Fahrzeugs zeichnen Tacho, Bordcomputer und die Fahrersicht auf. Auf dem Display des Bordcomputers wird der Energiefluss des Fahrzeugs dargestellt, welcher auch den Zustand des Range Extenders aufzeigt, siehe Abbildung 5.4.

Page 247: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

244 Identifizierung von Range Extender Fahrten

Abbildung 5.4 Videoaufzeichnung des Bordcomputers

Wie die Darstellung in Abbildung 5.5 links zeigt, lässt sich ein aktivierter Range Extender durch die Visualisierung eines kleinen Verbrennungsmotors im hinteren Teil des Fahrzeugs detektieren.

Abbildung 5.5 Darstellung des Energieflusses auf dem Bordcomputer mit ak-tiviertem (links) und deaktiviertem (rechts) REX

Weitere Sensoren erfassen Beschleunigung, Orientierung und Winkel des Lenkra-des sowie die Stellungen von Gas- und Bremspedal.

Um eine ausreichend große und repräsentative Datenbasis zum Trainieren eines

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Künstliche neuronale Netze 245

künstlichen neuronalen Netzes aufzubauen, wurde ein Versuchsplan inklusive ei-ner Versuchsstrecke, die sowohl Stadt- als auch Land- als auch Autobahnanteile beinhaltet, ausgearbeitet. Der genaue Streckenverlauf ist in Abbildung 5.6 darge-stellt.

Abbildung 5.6 Versuchsstrecke zur Generierung einer repräsentativen Daten-basis [8]

Die dargestellte Strecke befindet sich im Großraum Duisburg. Neben der hier be-schriebenen Strecke wurden auch „freie“ Fahrten zurückgelegt, bei denen keine Route vorgegebenen waren. So wurden in einem Zeitraum von 4 Wochen durch 10 unterschiedliche Fahrer insgesamt 84 Fahrten getätigt. Daraus ergab sich eine zurückgelegte Gesamtkilometerzahl von ca. 2000 Kilometern, wobei der Range Ex-tender sowohl zu festgelegten Einschaltzeitpunkten als auch manuell aktiviert wurde.

5.3 Künstliche neuronale Netze

In diesem Beitrag wurden künstliche neuronale Netze verwendet, um das Zu- und Abschalten des REX zu identifizieren. Bei diesen Modellen handelt es sich um ge-wichtete, gerichtete Graphen, die die Eingänge nach verschiedenen Rechenopera-tionen auf die Ausgänge abbilden. [7]

Page 249: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

246 Identifizierung von Range Extender Fahrten

Für die weiteren Untersuchungen wurden vorwärtsgerichtete neuronale Netze verwendet. Diese Netze zeichnen sich dadurch aus, dass die enthaltenen Schichten nur mit den darauffolgenden Schichten verbunden und keine Rückführungen ent-halten sind.

Die Modelle besitzen drei verschiedene Arten von Schichten. Jedes Modell hat so-wohl eine Eingabe- als auch eine Ausgabeschicht. Die Anzahl der versteckten Schichten kann stark variieren. Abbildung 5.7 zeigt ein Netz mit einer versteckten Schicht. Dieses Netz wird als zweischichtiges Netz bezeichnet, da sowohl in der versteckten Schicht als auch in der Ausgabeschicht Rechenoperationen durchge-führt werden.

Abbildung 5.7 Zweischichtiges neuronales Netz

Das Grundmodell eines KNNs kann als gewichtete Summe der Eingänge 𝑥n, … , 𝑥q betrachtet werden

𝑎r = 𝑤r=

n 𝑥= + 𝑤r/nq

=tn , (5.10) wobei 𝑗 = 1, … ,𝑀(n) die Anzahl der Neuronen in der ersten Schicht ist. 𝑤r=

n bzw. 𝑤r/

n wird als Gewicht bzw. Schwellwert des Eingangs 𝑖 und des Neurons 𝑗 in Schicht 1 bezeichnet. Die so erhaltenen Werte 𝑎r werden anschließend mit einer differenzierbaren, nicht-linearen Aktivierungsfunktion

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Künstliche neuronale Netze 247

𝑧r = ℎ 𝑎r (5.11) transformiert. Bei diesen Aktivierungsfunktionen ℎ handelt es sich zumeist um sig-moide Funktionen, wie der logarithmischen Sigmoid-Funktion oder dem Tangens hyperbolicus. In diesem Beitrag wurden „Rectifier linear units“ (ReLu)

ℎ 𝑥 = max(0, 𝑥) (5.12) verwendet. [9] Weitere Schichten werden zum Netz hinzugefügt, indem man

𝑧r5Td = ℎ 𝑤r=

5Tn 𝑧r5Td + 𝑤r/

5Tn(ÄÅY)=tn (5.13)

berechnet, wobei 𝑗 = 1, … ,𝑀(5Tn) die Anzahl der Neuronen in der (𝑛 − 1) Schicht ist. Die Ausgabeschicht wird analog berechnet. Das heißt es ergibt sich für die Aus-gänge

𝑦K = 𝑤r=

5 𝑧=5Tn + 𝑤r/

5 ÄÅÉ=tn , (5.14)

wobei 𝑘 = 1,… , 𝐾 die Anzahl der Ausgänge des Modells ist.

Für das Training eines solchen Netzwerks werden die Gewichte mit Hilfe eines gradientenbasierten Optimierungsverfahrens solange angepasst bis die Fehler-funktion

𝐸 𝑾 = n

d𝒚 𝒙5,𝑾 − 𝒕5ã

5tn (5.15) minimal ist. Dabei ist 𝒕5 ein Zielvektor, auf den das Modell angepasst werden soll, 𝒚 𝒙5,𝒘 der Modellausgabevektor für einen Eingabevektor 𝒙5 und die aktuelle Gewichtungsmatrix 𝑾, die alle Gewichte und alle Schwellwerte aus allen Schich-ten enthält und 𝑛 = 1,… , 𝑁 die Anzahl der Trainingsdatensätze. Weitere Informa-tionen zum Training eines neuronalen Netzes können in [7] nachgelesen werden.

In diesem Beitrag wurde ein dreischichtiges neuronales Netz mit jeweils 100 Neu-ronen pro Schicht verwendet. Die Anzahl der Neuronen, die Anzahl der Layer und

Page 251: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

248 Identifizierung von Range Extender Fahrten

die verwendete Aktivierungsfunktion wurde mit Hilfe einer zuvor durchgeführ-ten Optimierung bestimmt. Für die Optimierung wurde nur eine kleine Zahl von Trainingsdaten verwendet und die Zusammensetzung aus Anzahl Layer, Anzahl Neuronen und gewählter Aktivierungsfunktion mit der besten Performance wurde ausgewählt und im weiteren Verlauf auf den gesamten Datensatz ange-wandt.

Als Eingänge dienten dem Netz die Geschwindigkeit 𝑣, die Beschleunigung 𝑎, der Batteriestrom 𝐼]D> und die zeitlich gefensterte elektrische Ladung 𝑄]D>,J@7=>. Das er-stellte Netz gibt für jedes zeitvariante Tupel (𝑣 𝑡 , 𝑎 𝑡 , 𝐼]D> 𝑡 , 𝑄]D>,J@7=> 𝑡 ) mit 𝑡 ∈0, 𝑡756 eine Wahrscheinlichkeit 𝑃ëíì,îB76 aus.𝑃ëíì,îB76 beschreibt die Wahr-

scheinlichkeit, ob der REX eingeschaltet ist.

Es wurde angenommen, dass das Modell den Range Extender als angeschaltet identifiziert, wenn die Wahrscheinlichkeit 𝑃ëíì,îB76 ≥ 0,5 ist.

5.4 Datenaufbereitung

Für die Identifikation der Range Extender Fahrten wurden folgende Daten ver-wendet:

■ GPS-Geschwindigkeit 𝑣 𝑡

■ GPS-Beschleunigung 𝑎 𝑡

■ Batteriestrom 𝐼]D> 𝑡

■ Elektrische Ladung 𝑄]D>,J@7=> 𝑡

Die GPS-Beschleunigung und die elektrische Ladung sind keine Sensorsignale, sondern künstlich erzeugte Eingänge. Da es sich bei den verwendeten künstlichen neuronalen Netzen um vorwärtsgerichtete Modelle handelt, werden auf diese Weise dem Modell zeitvariante Informationen zur Verfügung gestellt. Die GPS-Beschleunigung ist der Differenzenquotient zweier aufeinander folgender Ge-schwindigkeiten, d.h.

𝑎 𝑡 = b >ñH Tb >H

, (5.16) wobei ℎ = 0,1𝑠 die Aufzeichnungsrate ist.

Die elektrische Ladung 𝑄]D>,J@7=> 𝑡 wird durch das gleitende Integral des Batte-

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Datenaufbereitung 249

riestroms 𝐼]D> 𝑡 berechnet. Als gleitendes Integral wird in diesem Beitrag das In-tegral bezeichnet, welches nicht über die komplette Fahrt [0, 𝑡756] gebildet wird, sondern lediglich über ein Fenster der Größe 𝑑 um den betrachteten Zeitpunkt 𝑡. Formal heißt das

𝑄]D>,J@7=> 𝑡 = 𝐼]D> 𝜏 𝑑𝜏

ö >õ > , (5.17)

wobei 𝛼 𝑡 = 𝑡 − 𝑑 und 𝛽 𝑡 = 𝑡 + 𝑑 sind. Für 𝑡 < 𝑑 wird 𝑄]D>,J@7=> 𝑡 =𝑄]D>,J@7=> 𝑑 gesetzt und für 𝑡 > 𝑡756 − 𝑑 wird 𝑄]D>,J@7=> 𝑡 = 𝑄]D>,J@7=> 𝑡756 − 𝑑 ge-setzt.

In diesem Beitrag wurde eine Fenstergröße von 𝑑 = 100 Datenpunkten gewählt, was bei einer Aufzeichnungsrate von 0,1 Sekunden einem Zeitfenster von 10 Se-kunden entspricht. Diese Fenstergröße wurde innerhalb einer Optimierung ermit-telt.

Durch Normalisierung der Eingänge konnten Unterschiede in den Größenordnun-gen egalisiert werden.

𝑥5;B^ = 8T8†°Ä

8†¢£T8†°Ä, (5.18)

mit 𝑥 ∈ {𝑣, 𝑎, 𝐼]D>, 𝑄]D>,J@7=>}. Die Normalisierung führt dazu, dass alle Eingänge in einem Intervall von 0 bis 1 liegen.

Alle Daten wurden in Trainings-, Validierungs- und Testdaten eingeteilt. Eine ty-pische Aufteilung der Daten sieht 70% Trainingsdaten, 15% Validierungsdaten und 15% Testdaten vor. Diese Aufteilung dient dazu, eine Überanpassung zu ver-hindern. Das Modell wird also nur auf Basis der Trainingsdaten trainiert. Mit Hilfe der Validierungsdaten wird der Prädiktionsfehler und das Abbruchkriterium der Gewichtsoptimierung getestet. Die Testdaten sind völlig unabhängig vom Modell-training und geben eine unabhängige Aussage über die Qualität des Modells. [10]

Die in Kapitel 5.5 durchgeführte Validierung wurde auf Grundlage der Testdaten durchgeführt.

Page 253: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

250 Identifizierung von Range Extender Fahrten

5.5 Validierung

Zur Validierung der KNN bei der Identifizierung von REX Fahrten anhand realer Fahrdaten wird im Folgenden an einer exemplarischen Fahrt und durch Analyse der Wahrheitsmatrix basierend auf den Testdaten (siehe Absatz 5.3) die Vorher-sagequalität der Modelle analysiert.

Bei der Auswahl der exemplarischen Fahrt wurde darauf geachtet, dass es sich hierbei um eine Fahrt handelt, in der der Betriebszustand des REX mehrfach wech-selt. Ob die Wechsel des Betriebszustands in diesem Fall manuell oder automatisch getriggert wurden, war bei der Auswahl irrelevant. Dieses Wissen wurde weder beim Training noch bei der Validierung der KNN genutzt. Die betrachtete Mess-fahrt hat eine Gesamtdauer von über 2 Stunden bei einer gefahrenen Strecke von etwa 140 km und führt von Duisburg nach Arnsberg.

Im Rahmen dieses Beitrages kann nicht die gesamte Strecke im Detail beleuchtet werden, daher wird für eine detaillierte Diskussion der Zusammenhänge nur ein Ausschnitt der betrachteten Fahrt analysiert. Wie den folgenden Abbildungen ent-nommen werden kann, handelt es sich hierbei um das Ende der Fahrt im Zeitin-tervall [6000 s; 7500 s].

Zunächst werden die Eingänge 𝑣(𝑡), 𝑎(𝑡), 𝐼]D>(𝑡), 𝑄]D>,J@7=>(𝑡) in das KNN erläutert, diese sind in Abbildung 5.8 und Abbildung 5.9 dargestellt. Im Anschluss werden die gemessenen und prädizierten Betriebszustände des REX 𝑧ëíì,B7¶, 𝑧ëíì,îB76 so-wie die Wahrscheinlichkeit des KNN 𝑃ëíì,îB76 in Abbildung 5.10 und Abbildung 5.11 dargestellt.

In Abbildung 5.8 ist das Geschwindigkeits- 𝑣 𝑡 sowie das Beschleunigungsprofil 𝑎(𝑡) für den betrachteten Abschnitt dargestellt. Die mittlere Geschwindigkeit be-trägt für diesen Abschnitt 𝑣 = 95 K^

H. Im betrachteten Abschnitt liegen unter-

schiedliche Straßenprofile vor. Der Hauptanteil ist Autobahn. Neben dieser sind kleinere Abschnitte auf der Landstraße und in der Stadt Teil dieser Messung. Folg-lich können Geschwindigkeiten im gesamten Betriebsbereich des BMW i3 in die-sem Profil wiedergefunden werden. Die maximal gefahrene Geschwindigkeit liegt hierbei bei etwa 140 km/h. Inwiefern dieser Abschnitt eine repräsentative Fahrt für diese Untersuchung oder im Allgemeinen ist, soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden und ist für die Validierung irrelevant.

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Validierung 251

Abbildung 5.8 Gemessenes Geschwindigkeits- v(t) und Beschleunigungsprofil a(t) einer exemplarischen Messfahrt für den zeitlichen Ab-schnitt t=[6000 s:7500 s]

Wie dem Geschwindigkeitsprofil in Abbildung 5.8 entnommen werden kann, be-steht dieses aus insgesamt drei Bereichen. Im Zeitraum t = [6000 s; 6500 s] und von t = [7000 s; 7500 s] befindet sich das Fahrzeug auf der Autobahn bei Geschwindig-keiten 𝑣 deutlich über 100 km/h. Im mittleren Bereich zeigt sich im Geschwindig-keitsprofil ein Mix aus unterschiedlichen Geschwindigkeiten, bis teilweise in den Stand.

Der zeitliche Verlauf des Batteriestromes und der elektrischen Ladung wird in Ab-bildung 5.9 dargestellt. Eine vergleichbare Bereichsbildung wie im Geschwindig-keitsverlauf kann an dieser Stelle nicht erkannt werden. Es treten jedoch eindeutige Lastspitzen zu den Zeitpunkten 𝑡 = 6000𝑠 und 𝑡 = 7000𝑠 auf, an denen das Fahr-zeug auf die Autobahn fährt und folglich über einen längeren Zeitraum beschleu-nigen muss. Die geforderte Beschleunigung hat einen erhöhten Leistungsbedarf des Antriebstranges zur Folge und geht mit einem erhöhten Stromfluss einher. Für den betrachteten Abschnitt beträgt die durchschnittlich entnommene Stromstärke 𝐼]D> = 23𝐴.

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252 Identifizierung von Range Extender Fahrten

Interessanterweise ist beim Fahren des zweiten Autobahnabschnittes trotz ver-gleichbarer Geschwindigkeit wie beim ersten Autobahnabschnitt die gemessene Stromstärke 𝐼]D>im Schnitt fast 20 A niedriger. Dieses Phänomen kann damit er-klärt werden, dass im diesem Zeitabschnitt der REX aktiv war und folglich die ge-forderte Leistung von diesem zur Verfügung gestellt wurde (siehe Abbildung 5.10).

Abbildung 5.9 Gemessenes Verlauf des Batteriestroms I_Bat und künstlich berechneter abschnittsweise wandernder Verlauf der elektri-schen Ladung Q_(Bat,gleit) einer exemplarischen Messfahrt für den zeitlichen Abschnitt t=[6000 s:7500 s]

Als Ausgang des KNN wird die Wahrscheinlichkeit berechnet, mit der der REX eingeschaltet ist. Der prädizierte REX-Zustand 𝑧ëíì,îB76 und die Wahrscheinlich-keit des selbigen 𝑃ëíì,îB76 sind in Abbildung 5.11 dargestellt. Ferner wird der in der Realität gemessene Zustand 𝑧ëíì,B7¶ in Abbildung 5.10 gezeigt.

Aus den gemessenen Daten aus Abbildung 5.10 geht der REX-Zustand für die be-trachtete Zeitspanne hervor. Der REX ist ausgeschaltet für 𝑧ëíì,B7¶ = 0 und einge-schaltet für 𝑧ëíì,B7¶ = 1. Zu Beginn des Abschnittes ist der REX dauerhaft ausge-schaltet bis zum Zeitpunkt 𝑡 = 6650𝑠. Ab diesem Zeitpunkt ist der REX einge-schaltet mit drei Ausnahmen. Die Tatsache, dass der REX zum Ende der Fahrt dau-erhaft aktiviert ist, kann mit der Länge der Fahrt und der damit einhergehenden

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Validierung 253

sehr hohen Wahrscheinlichkeit eines niedrigen Ladelevels der Batterie erklärt wer-den. Zu den Zeitpunkten 𝑡 = 6750𝑠 und 𝑡 = 6950𝑠 ist der REX kurzzeitig ausge-schaltet. Zu diesen Zeitpunkten befindet sich das Fahrzeug allerdings auch im Stand (siehe Abbildung 5.8), evtl. auf Grund einer Ampelphase. Die dritte und auch längste Unterbrechung

Abbildung 5.10 Gemessenes Verlauf des Betriebszustandes des REX z_(REX,ref )einer exemplarischen Messfahrt für den zeitlichen Abschnitt t=[6000 s:7500 s]. Diese dienen als Referenzdaten für das Training und Validierung des KNN-Prädiktormodells

des REX Betriebes ist bei 𝑡 = 7100𝑠. Aus den aufgezeichneten und dargestellten Fahrzeugdaten ist kein eindeutiger Zusammenhang erkennbar, der einen ausge-schalteten REX plausibel erklären würde.

Das Modellverhalten des KNN wird in Abbildung 5.11 gezeigt. 𝑃ëíì,îB76 ist die Wahrscheinlichkeit mit der der REX eingeschaltet ist. Mit einer einfachen Schwell-werterkennung 𝑃ëíì,îB76 ≥ 0,5 wird aus der Wahrscheinlichkeit eine binäre Aus-sage über den Zustand des REX. Für 𝑃ëíì,îB76 ≥ 0,5 ist der prädizierte Zustand 𝑧ëíì,îB76 = 1, folglich ist der REX zugeschaltet.

Aus dem Vergleich von Abbildung 5.10 und Abbildung 5.11 geht hervor, dass die

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254 Identifizierung von Range Extender Fahrten

grundsätzliche Betriebsstrategie des REX von dem KNN prädiziert wird, aller-dings werden deutlich mehr Zustandswechsel vorhergesagt als in der Realität auf-treten. Die häufigen Wechsel des Betriebszustandes sind durch die hohen Gradi-enten im Wahrscheinlichkeitswert 𝑃ëíì,îB76 zu erklären.

Abbildung 5.11 Prädizierter Betriebszustandes des REX z_(REX,pred )und der Wahrscheinlichkeit des Betriebszustand P_(REX,pred )mit den Eingangsdaten der exemplarischen Messfahrt für den zeitli-chen Abschnitt t=[6000 s;7500 s]

Wie aus Abbildung 5.11 entnommen werden kann, ist die Dynamik des Prädiktor-modell so hoch, dass der Verlauf von 𝑃ëíì,îB76 annäherungsweise als sprunghaft bezeichnet werden kann. Charakteristisch ist neben der hohen Dynamik des Prä-diktormodells die Tendenz den Zustand des REX zu häufig als inaktiv zu prädi-zieren.

Die Charakteristik des KNN, welche in den exemplarischen Messdaten zum Vor-schein tritt, ist auch in den weiteren Validierungsdaten nachweisbar.

Die Qualität kann mit Hilfe der Wahrheitsmatrix (siehe Tabelle 1) bestimmt wer-den. In der Wahrheitstabelle werden die zwei Systemzustände der Referenzmes-

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Validierung 255

sung 𝑧ëíì,B7¶ ∈ {0; 1und die prädizierten Zustände 𝑧ëíì,îB7 ∈ 0; 1 gegenüberge-stellt.

Die Werte auf der Hauptdiagonalen müssen für eine hohe Prädiziergüte möglichst nahe 1 bzw. 100% liegen.. Die Werte auf der Gegendiagonalen müssen für eine hohe Prädiziergüte möglichst nahe 0 bzw. 0% liegen. Die Summe ist zeilenweise 1.

Die Modellgüte für den true negative-Wert ist mit 90,4% sehr gut. Der true negative-Wert besagt, dass das KNN zu über 90% richtig vorhersagt, dass der REX inaktiv ist, wenn der REX auch in Realität inaktiv ist.

Tabelle 5.1 Wahrheitsmatrix (engl. Confusion matrix)

𝒛𝑹𝑬𝑿,𝒑𝒓𝒆 = 𝟏 REX an

𝒛𝑹𝑬𝑿,𝒑𝒓𝒆 = 𝟎 REX aus

𝒛𝑹𝑬𝑿,𝒓𝒆𝒇 = 𝟏 REX an

true positive 67,1 %

false positive 32,9%

𝒛𝑹𝑬𝑿,𝒓𝒆𝒇 = 𝟎 REX aus

false negative 9,6 %

true negative 90,4 %

Der zweite Wert auf der Diagonalen, der true positive-Wert, gibt an, mit welcher Genauigkeit ein aktiver REX auch als solcher identifiziert wird. Die erreichte Ge-nauigkeit ist mit einem Wert von unter 70% nicht sonderlich hoch, folglich ist der false positive-Wert mit über 30% hoch. Die Folgen dieser beiden Werte kann auch in den exemplarischen Messdaten aus Abbildung 5.10 und Abbildung 5.11 erkannt werden. Das Modell prädiziert einen nicht aktiven REX obwohl die Messung be-sagt, dass dieser aktiv ist, mit der Folge häufiger Zustandswechsel.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Modelle in ihrer Charakteristik die realen Zusammenhänge abbilden allerdings als Vorhersagemodell für Verbrauchs-berechnung und Nutzungsverhalten in ihrer Qualität nicht ausreichend genau sind.

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256 Identifizierung von Range Extender Fahrten

5.6 Zusammenfassung und Ausblick

In diesem Beitrag wurde mit Hilfe künstlicher neuronaler Netze ein Prädiktions-werkzeug zur Identifizierung von Range Extender Fahrten erstellt. Das Modell wurde anhand von realen Fahrtdaten, die in einem Zeitraum von vier Wochen von 10 Fahrern aufgezeichnet wurden, erstellt. Insgesamt wurden dabei ungefähr 2.000 km zurückgelegt. Bei dem Modell handelt es sich um ein dreischichtiges, vorwärts-gerichtetes neuronales Netz, mit jeweils 100 Neuronen in den jeweiligen Schichten. Zur Identifizierung wurden sowohl GPS-Geschwindigkeits- und Beschleuni-gungsprofile als auch der Stromfluss zwischen Batterie und Leistungselektronik verwendet. Zusätzlich wurde ein gleitendes Integral über den Batteriestrom gebil-det, der eine zeitliche Information für den zu untersuchenden Zeitpunkt liefert.

Es wurde gezeigt, dass es möglich ist, mit einem solchen Netz das Ein- und Ab-schalten des Reichweitenverlängerers zu prädizieren. Die gewünschte Genauigkeit wird mit den in diesem Beitrag erstelltem Modell noch nicht erreicht, sodass wei-tere Untersuchungen vorgenommen werden müssen.

Die bisher untersuchten Modelle waren vorwärts gerichtete Netze ohne Rückfüh-rungsebene. Rückgekoppelte oder rekurrente neuronale Netze können Informati-onen aus vorangegangen Berechnung zum aktuellen Zeitpunkt überführen. Diese zusätzliche Information kann zur Qualität des Modells beitragen. Auch können zusätzliche Features die Genauigkeit des Modells erhöhen, in dem zusätzliche Informationen zum aktuellen REX-Zustand hinzugefügt werden.

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Zusammenfassung und Ausblick 257

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[10] T. Hastie, R. Tibshirani und J. Friedman, The Elements of Statistical Learning, New York: Springer-Verlag, 2009.

Page 261: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

6 Observing the Durability Effects of a Formula Student Electric Car using Acceleration and Strain Signals

Y.S. Kong, S. Abdullah, M.Z. Omar, S.M. Haris (Universiti Kebangsaan Malaysia), Prof. Dr.-Ing Dr. h.c. D. Schramm, Dr.-Ing. T. Bruckmann, F.E. Kracht (University of Duis-burg-Essen)

6 Observing the Durability Effects of a Formula Student Electric Car using Acceleration and Strain Signals ...................................................... 259

Abstract ........................................................................................................................ 2606.1 Introduction ................................................................................................. 2606.2 Methodology ................................................................................................ 2616.3 Results & Discussions ................................................................................. 2676.4 Conclusion and Future Works .................................................................. 279

References ...................................................................................................................... 279

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_16

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260 Observing the Durability Effects of a Formula Student Electric Car

Abstract

This paper presents the durability analysis of suspension system from an electric Formula Student race car using strain and acceleration signals. To have outstand-ing performance in a competition, the Formula Student car was required to have light weight but safe design. To evaluate the suspension design of the vehicle, strain and acceleration signals were collected under a vehicle double lane change event according to the ISO 3888 testing procedure. Strain signals were measured on the wheel carrier and lower control arm of the Formula Student car. Meanwhile, tri-axis accelerations were measured on the wheel and chassis of the vehicle during the testing. In addition, the wheel displacement relative to vehicle chassis was measured using laser sensors. The fatigue life of the lower arm and wheel carrier were predicted using the measured strain signals. Due to limited instrument, a quarter car model was simulated using wheel displacement signals to obtain spring force signals for fatigue estimation. The simulation model was validated using the measured chassis acceleration signal. Ride and whole-body vibration of the vehicle were also assessed using the measured acceleration signals. Through this analysis, the durability effects of the Formula Student car suspension system were identified. The Formula Student car suspension design could be improved through understanding the vibration behaviour.

6.1 Introduction

Formula student car competition is an event organised by the Society of Automo-tive Engineer (SAE) to foster interest among university students in designing a ve-hicle. The SAE static event was including presentation, cost and design analysis while the dynamic events were involving acceleration, skid pad, autocross and en-durance events. To participate in the SAE event, a Formula student car was de-signed and developed by University of Duisburg-Essen which was known as “A40-02”. This formula student car applied double wishbone front suspension system with two bone-shaped arms to locate the wheel. Same suspension system was ap-plied to the rear of the vehicle. Double wishbone suspension was adopted in this race car due to greater stability and road holding properties. As for the car assem-bly, this car was weighted approximately 300 kg excluding driver.

Stability of a Formula student car is the main challenge to become competitive in a racing event. Among the stability analysis, ISO 3888 double lane change is one of the procedure to provide guideline for vehicle stability analysis. In the ISO 3888 double lane change event, the stability of the vehicle was justified using obtained

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Methodology 261

lateral acceleration [1]. The lateral acceleration value was influenced by the sus-pension system of the Formula student car. The design of upper and lower control arm of the Formula student car significantly affected the kinematic and stability of the vehicle. Hence, during the suspension design stage, the loadings and strength of control arms were taking into consideration [2]. For suspension component strength analysis, another significant component to be considered was the wheel carrier. Both wheel carrier and lower arms were un-sprung. These components were preferred to be with low weight but stiff enough to hold the forces from tyres without changing the suspension geometry [3].

Since weight was the crucial factor to be considered, the design of the suspension components was analysed in terms of safety and durability. Jawad and Polega [4] proposed a safety factor of two for the wheel carriers, lower arm and rocker for static strength of a developed Formula student car. Meanwhile, durability is the following concern of a Formula student car because most of the components failed due to repeat cyclic loading. Dhillon et al. [5] analysis the fatigue life of a Formula student car bracket and optimised the design to be stiffer and lighter weight. Apart from structure, vibration effects of vehicle towards driver are also important. Pad-dan and Griffin [6] assessed the vibration of 14 categories of ground vehicle to as-sess the vibration limit. Long term exposure to vibrations causes back pain of the driver and suspension design is the system to control the vibrations [7]. Invari-antly, the vibration effects of Formula student car toward driver were needed to be considered.

In this analysis, the vibration and durability effects of a Formula student car was analysed under a dynamic double lane change event. As a race car, the Formula student car was not only required light weight but also good strength and durabil-ity. Considering the Formula student as a product, the components of this vehicle should possess high fatigue life which lasted for long time. Therefore, it is signifi-cant to identify the fatigue life of the suspension structures so that the design of the Formula student car could be improved. Meanwhile, as a vehicle, the driver expe-rienced the vibration especially during a racing event. The exposure of the drivers toward long duration of driving could detrimental to the driver’s health. Therefore, there was a need to know the limit of exposure to vibration from this vehicle.

6.2 Methodology

Durability analysis of this Formula student car involved numerous steps. The pro-cess flow of this analysis is plotted into Figure 6.1. The first step for this analysis

Page 264: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

262 Observing the Durability Effects of a Formula Student Electric Car

was to perform finite element analysis (FEA) of the suspension components which included lower arm, wheel carrier and coil spring. This analysis served to deter-mine the critical point for strain signal measurement. The components were meshed with 3D tetahedra elements. The lower arm consisted of 309487 elements and 73810 nodes while the wheel carrier was containing 1788430 elements and 318558 nodes. All the meshed components with the applied boundary conditions are shown in Figure 2. The boundary conditions were applied on the components. The bottom of the spring was fixed with a point constraint and 1000 N load was applied from the top of the spring to simulate spring compression. For the wheel carrier, the top and bottom were fixed with a point constraint. A 1000 N load was applied vertically (Y-axis) and horizontally (Z-axis) to simulate braking force. For the lower arm, one end of the arms was constrained while another end of the arms was applied with a vertical load of 1000 N. The vehicle was weighted 400 kg in-cluding driver and assumed that the weight was distributed evenly to each wheel. Hence, the applied forces were 1000 N for every condition.

Page 265: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Methodology 263

Figure 6.1 Process flow of Formula student car durability analysis

Materials were assigned to the component. The lower arm and coil spring were utilising SAE 5160 carbon steel while the wheel carrier was utilising aluminium grade 7075 alloy for weight reduction purpose. The monotonic and cyclic proper-ties of the SAE 5160 carbon steel and Al-7075 alloy are listed into Table 6.1. With the material properties as input, the components were analysed using FEA linear static analysis. After the critical location where the highest stress was determined, the experimental data collection for the components was performed. One rosette

Page 266: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

264 Observing the Durability Effects of a Formula Student Electric Car

strain gauge was attached to wheel carrier and lower control arm individually. On the other hand, a tri-axis accelerometer was attached to the wheel using a fabri-cated plate while another accelerometer was attached to the chassis of the vehicle as illustrated in Figure 6.2(a). The attachment location of the strain gauges is de-picted in Figure 6.2(b). In addition, a displacement laser sensor was attached at the vehicle body and pointing towards the lower arm of the vehicle to capture relative displacement between the wheel and chassis.

Table 6.1 Material properties for carbon steel and aluminium alloy [8, 9]

Properties SAE 5160 carbon steel Al-7075 alloy

Modulus of elasticity (GPa) 210 72

Poisson ratio 0.3 0.3

Density (kg/m3) 7900 2823

Yield strength (MPa) 669 503

Fatigue strength coefficient (MPa) 2063 971

Fatigue strength exponent -0.08 -0.07

Fatigue ductility coefficient 9.56 0.79

Fatigue ductility exponent -1.05 -0.99

Cyclic strain hardening 0.10 0.07

Page 267: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Methodology 265

Figure 6.2 Measurement setups: (a) acceleration and displacement sen-sors, (b) strain gauges

To obtain good displacement result, a reflective plate painted in grey was attached to the lower arm to reflect the laser light. All the sensors were connected to a data acquisition system for data sampling. A sampling rate of 500 Hz was applied for data recording because 500 Hz was sufficient to capture all the required dynamic information [10]. Once the setup of the of the sensor has been completed, the vehi-cle was prepared for ISO 3888 double lane change test. ISO 3888 double lane change is a vehicle dynamic test to measure the stability of a vehicle [11]. The overall length of the track was 62 m where it was divided into five sections. The formula student car was driven across the track with a constant speed of 10 km/hr. The required time from start to end of the testing was about 25 s.

After this test, the collected acceleration data was converted into frequency domain and then calculated for ISO 2631 ride index. Total ride quality was calculated as follows:

(6.19)

where aT is the total ride, kx and ky is the multiplying factor of horizontal and lateral axes, kz is the multiplying factor in vertical axes, ax is weighted acceleration in hor-izontal axes, ay is the weighted acceleration in lateral axes, az is the weighted accel-eration in vertical axes.

Then, the captured strain time histories were used for fatigue life prediction of the

(a) (b)

Page 268: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

266 Observing the Durability Effects of a Formula Student Electric Car

particular component. Three strain-life fatigue models like Coffin-Manson, Mor-row, Smith-Watson-Topper (SWT) were used. The Coffin-Manson model was de-fined as follows [12]:

(6.20)

where σf’ is the fatigue strength coefficient while b is the fatigue strength expo-nent. εp is the plastic strain, εf’ is the fatigue ductility coefficient, c is the fatigue ductility exponent. Subsequently, the Morrow fatigue model was written as below [12]:

(6.21)

where the mean stress, σmean is positive when the loading is tension and neg-ative when the loading is compression. Lastly, the SWT model was defined as fol-lows [12]:

(6.22)

SWT model has proven to be more robust when compared to Morrow model where the fatigue life prediction is higher [12]. Morrow model is acceptable for only steel while SWT model is better for general use [13].

Nevertheless, in this test, the measurement of strain time histories of spring was limited due to lack of data acquisition system. There was no available strain gauge channel for spring strain signals measurement. Moreover, the gap between the coil was very small and difficult for strain gauge attachment. As for alternative solu-tion, a quarter car model was constructed for force signal generation. The con-structed quarter car model is shown in Figure 6.3. In this model, the spring stiffness was 84 N/mm while the damping coefficient of the frontal suspension was 5000 N.s/m [14]. The measured wheel displacement during the double lane change event was used as the input to the quarter car model to simulate force time histories of spring for fatigue life prediction. Validation of this simulation model was per-formed through comparison of acceleration time histories.

Page 269: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Results & Discussions 267

Figure 6.3 Quarter car simulation model: (a) diagram view, (b) front view

(a) (b)

6.3 Results & Discussions

Stress results of the components were obtained from the FEA linear static analysis. The stress contour plots of the components are shown in Figure 5. Based on the observations, the stress level of the wheel carrier was relatively low when com-pared to the spring and lower arm. Maximum von Mises stress of the wheel carrier was 17.3 MPa while the yield strength of the AL-7075 alloy was 503 MPa. The wheel carrier design was quite safe with a very high safety factor of 29.1. On the other hand, the maximum von Mises stress of coil spring was 622 MPa where the mate-rial yield strength was 669 MPa. The safety factor for the spring to yield was 1.08. For the lower arm, the maximum von Mises stress was 487.2 MPa and a safety fac-tor of 1.37 was obtained. Subramanyam et al. [15] proposed that the suitable safety factor for Formula student car was between 1.5 to 2.5. To increase the safety factor, the components could be strengthened to reduce the stress level. The challenge is to maintain the weight while reducing the stress level.

Most of the automotive components did not fail under static event but under re-peated cyclic loadings [16]. Hence, the fatigue life of these spring, wheel carrier and lower arm were assessed. Fatigue life of the lower arm was assessed using strain-life fatigue model and obtained principal strain time histories. The collected rosette

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268 Observing the Durability Effects of a Formula Student Electric Car

strain gauge measurement is shown in Figure 6.5 and the corresponding maximum principal strain time history is shown in Figure 6.6. For the wheel carrier, the meas-ured rosette strain time history is shown in Figure 6.7 while the maximum princi-pal strain time history is shown in Figure 6.8. The maximum principal strain was calculated from all three-axes of the rosette measurement. The principal strain was calculated using the following equation [17]:

(6.23)

where εa, εb, εc are the raw strain readings. The maximum principal strain was used to calculate the fatigue damage of the components. In this case, all three strain life models were used to obtain the fatigue damage histograms for lower arm and wheel carrier were plotted into Figure 6.9 and Figure 6.10, respectively. The fatigue damage associated to the strain range and mean value were identified using these fatigue damage histograms. Based on the observation, the fatigue damage on the component were relatively small which ranged from 1.89 × 10-9 to 9.82 × 10-10.

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Results & Discussions 269

Figure 6.4 FEA stress contour plot for suspension components: (a) coil spring, (b) wheel carrier, (c) lower arm

(a) (b)

(c)

Page 272: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

270 Observing the Durability Effects of a Formula Student Electric Car

Figure 6.5 Strain time histories at lower arm: (a) epsilon a, (b) epsilon b, (c) epsilon c

Figure 6.6 Maximum principal strain for lower arm

Page 273: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Results & Discussions 271

Figure 6.7 Rosette strain time histories at wheel carrier: (a) epsilon a, (b) epsilon b, (c) epsilon c

Figure 6.8 Maximum principal strain for wheel carrier

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272 Observing the Durability Effects of a Formula Student Electric Car

Figure 6.9 Damage histogram of lower arm using strain life approaches: (a) Coffin-Manson, (b) Morrow, (c) SWT model

(a) (b)

(c)

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Results & Discussions 273

Figure 6.10 Damage histogram of wheel carrier using strain life ap-proaches: (a) Coffin-Manson, (b) Morrow, (c) SWT model

To estimate the fatigue life of all components simultaneously, it involved more testing equipment and strain gauges. In this test, there was limited data for coil spring fatigue life prediction. As for alternative solutions, a quarter car simulation was performed to extract force induced on the coil spring. The constructed quarter car simulation model required wheel displacement as input. Therefore, the meas-ured displacement time histories of wheel relative to chassis was used as the input to the simulation model. Collected displacement time history is shown in Figure 6.11. To verify the quarter car model, the simulated acceleration of the chassis of quarter car model was compared to the measured acceleration. The comparison between the simulated acceleration and experimental chassis acceleration is plot-ted into Figure 6.12. As observed in Figure 6.12, two signals possessed similar range of acceleration. For further analysis, the similarity of the time histories was investigated using a cross-correlation function. When two time histories have sim-ilarity, an obvious peak could be observed in the cross-correlation plot [18]. The cross-correlation plot is shown in Figure 6.13. A peak was observed at time -0.36 s which indicating that the simulation acceleration time histories was lagging with 0.36 s of the measured acceleration value with similarity. After confirmed the sim-ilarity between these two acceleration time histories, the quarter car model was used to extract spring force signal for fatigue life prediction. The extracted force

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274 Observing the Durability Effects of a Formula Student Electric Car

time history is shown in Figure 6.14. With the FEA of spring, the fatigue life of the spring was estimated.

Figure 6.11 Relative displacement between wheel and chassis

Figure 6.12 Comparison between simulation and experimental chassis ac-celeration

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Results & Discussions 275

Figure 6.13 Cross correlation between simulation and experimental chas-sis acceleration

Figure 6.14 Extracted spring force time history from quarter car model

The fatigue life of wheel carrier, lower arm, coil spring were predicted using all three strain life fatigue models which were Coffin-Manson, Morrow, Smith-Wat-son-Topper (SWT) model. The fatigue results are tabulated into Table 6.2. Based on the fatigue life of the component, the wheel carrier and lower possessed high life cycle where no failure shall occur in short term. However, the fatigue assess-ment of spring has shown lower fatigue life when compared to the wheel carrier and lower arm. In overall, the fatigue lives of wheel carrier were higher than lower arm while the fatigue lives of lower arm were higher than the coil spring. Similar

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276 Observing the Durability Effects of a Formula Student Electric Car

trend was shown during the FEA analysis of the structures where the safety factor of wheel carrier was the highest, followed by lower arm and coil spring. This has shown that the capability of the quarter car simulation model in producing suitable loading for fatigue analyses because the fatigue life was closely related to the stress level.

Table 6.2 Fatigue life of the components

Coffin-Manson (blocks to failure)

Morrow (blocks to failure)

SWT (blocks to failure)

Wheel carrier 2.24 × 109 1.08 × 109 5.29 × 108

Lower arm 7.35 × 109 8.53 × 108 1.56 × 108

Coil spring 1.93 × 108 1.52 × 108 1.28 × 108

Even though Formula student car was designed for racing competition, the ride dynamics of the Formula student car was also significant to be studied. It was note-worthy to know how good the suspension system in filtering the road excitations. For this purpose, the comparison between wheel and chassis acceleration was plot-ted into Figure 6.15. As observed, the acceleration amplitude of the vehicle chassis was lower than in wheel. To check the similarity of the response, the energies of the acceleration time histories were compared in the form of power spectrum (PSD). The plot of PSD accelerations is shown in Figure 6.16. Based on Figure 6.16, the suspension system has significantly filtered the vibration of vehicle in horizon-tal and vertical direction because the amplitudes of the chassis acceleration PSD were attenuated at low frequency. The filtering in vehicle lateral direction was not effective because the suspension was designed for vertical vibration filtering. For ride assessment, the measurement of chassis acceleration signals was processed into ISO 2631 ride index. ISO 2631 considered vibration in three axes. The indexed vibration in each axis were listed in Table 6.3. The vibration in vertical direction was the highest and affected the total ride quality.

In this case, the ride quality was classified as “very uncomfortable” as proposed by ISO 2631 because the total ride quality of 1.607 m/s2 [19]. The category of “very uncomfortable” was obtained because the vehicle was performing double lane change event. During the event, high dynamic excitation was induced in the vehi-cle suspension systems and chassis. Since driving a Formula student car was un-comforting, the weighted acceleration was used to find the human exposure limit.

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Results & Discussions 277

Based on the control of vibration at EU 2002, the daily ELV for whole body vibra-tion WBV was 1.15 m/s2 while daily exposure action value EAV was 0.5 m/s2 [20]. The time to reach the EAV under this vibration was 1 hour and 7 minutes. To reach ELV, the required time was 5 hours and 55 minutes. This guideline is important for the usage of this Formula student car. Exceed usage of this Formula student car could cause back pain and detrimental to driver’s health.

Figure 6.15 Comparison of measured acceleration time histories of vehi-cle directions: (a) horizontal, (b) vertical, (c) lateral

(a)

(b)

(c)

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278 Observing the Durability Effects of a Formula Student Electric Car

Figure 6.16 Comparison of PSD acceleration of vehicle directions: (a) hor-izontal, (b) vertical, (c) lateral

(a) (b)

(c)

Table 6.3 ISO 2631 weighted acceleration

horizontal vertical lateral Overall

Weighted ac-celeration

(m/s2)

0.518

1.336 0.7291 1.607

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Conclusion and Future Works 279

6.4 Conclusion and Future Works

This study analysed the durability and vibration effects of the Formula student race car suspension components. Based on the design analysis, the safety factors for wheel carrier, lower arm and coil spring were 2.91, 1.37 and 1.08. The fatigue life for the wheel carrier and lower arm with 5.29 × 108 and 1.56 × 108 blocks to failure using SWT model. The coil spring fatigue life was successfully predicted using a validated quarter car model simulated force time history with fatigue life of 1.28 × 108 blocks to failure. For vibration aspect, the total ride quality was 1.607 m/s2 which classified as very uncomfortable. Hence, the whole-body vibration analysis was performed and the duration to reach the EAV limit was 1 hour and 7 minutes. The time to achieve ELV limit was 5 hours and 50 minutes. For future works, vari-ous testing speed of the vehicle could be performed to seek for the limit of current suspension design. Then, the speed, suspension parameters and weighted acceler-ation could be modelled to provide estimation in components durability.

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280 Observing the Durability Effects of a Formula Student Electric Car

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[20] EU 2002 Directive 2002/44/EC of the European parliament and the council of 25 June 2002 on the minimum health and safety requirements regarding the exposure of workers to the risks arising from physical agents (vibration) (16th individual directive within meaning of article 16(1) of directive 89/391/EEC).

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7 Interaktive Fußgänger in Fahrsimulatorumgebungen

S. Schweig, Prof. Dr. D. Schramm (Universität Duisburg-Essen)

7 Interaktive Fußgänger in Fahrsimulatorumgebungen 281

Kurzfassung ................................................................................................................... 281Abstract ........................................................................................................................ 2817.1 Motivation .................................................................................................... 2827.2 Simulatoraufbau .......................................................................................... 2827.3 Fußgänger in Simulationen und Computerspielen ................................ 2847.4 Verbesserungen ........................................................................................... 2867.5 Fazit ............................................................................................................... 287

Literatur ........................................................................................................................ 288

Kurzfassung

Alternative Antriebe und Konzepte des öffentlichen Verkehrs gewinnen in unserer Gesellschaft stetig an Bedeutung. Bedingt durch die angestrebten Änderungen in der Verkehrslandschaft hin zur Elektromobilität sind umfangreiche Simulationen von Fahrzeugen in komplexen urbanen Szenarien erforderlich. Ein wichtiger Teil dieser Simulation ist das komplexe Verhalten der Fußgänger.

Abstract

Alternative drives and concepts of public transportation become more important in our society continuously. Due to the target change of mobility to electrified cars, extensive simulations of vehicles in complex urban scenes are required. A funda-mental part of these simulations is the complex behavior of pedestrians.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_17

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282 Interaktive Fußgänger in Fahrsimulatorumgebungen

7.1 Motivation

Im Jahr 2016 erreichte die Zahl der Verkehrsunfälle einen neuen Höchststand. Zeit-gleich sank die Zahl der Verkehrstoten auf einen neuen Tiefststand. Das Statisti-sche Bundesamt erfasste im Bereich Januar bis März 2017 rund 8015 Unfälle mit Fußgängern. [1] Zur Reduzierung dieser Unfallzahlen kann die Entwicklung und Verbesserung von Assistenzsystemen beitragen. Der Schwerpunkt aktueller Fuß-gängersimulationen liegt jedoch bei Dimensionierung und Evakuierungssimulati-onen von Gebäuden und Veranstaltungsgeländen mit einem hohen Fußgängerver-kehrsaufkommen. Für die Erprobung von Assistenzsystemen in einem Fahrzeug ist eine flexible und hochdynamische Simulation erforderlich. Die Forschung im Bereich der Fahrzeugtechnik an der Universität Duisburg-Essen setzt vielfach auf den Einsatz von Fahrsimulatoren. Die Simulationen in den verschiedenen Simula-tortypen am Lehrstuhl für Mechatronik ermöglichen neue Blickwinkel, um Assis-tenzsysteme unter echtzeitfähigen Bedingungen zu erproben. Zudem sind die Ver-suchsfahrten auf Grund fehlender reeller Störeinflüsse von außen, wie z. B. dem Wetter, beliebig reproduzierbar und bei groß angelegten Versuchsreihen deutlich günstiger als auf der Straße. Zusätzlich lassen sich gefährliche Situationen erpro-ben, ohne Probanden und potentielle Unfallopfer in der Realität zu gefährden. Die Simulation erfordert neben dem Probandenfahrzeug die komplexe, interaktive Be-rechnung weiterer Teilnehmer am Straßenverkehr. Zu dem gewohnten Straßen-bild gehören neben den diversen motorisierten Fahrzeugen auch Radfahrer und Fußgänger. Das Ziel ist es eine umfangreiche interaktive Simulation von Fußgän-gern in Fahrsimulatoren zu integrieren.

7.2 Simulatoraufbau

Die Simulatoren am Lehrstuhl für Mechatronik sind flexibel und modular konzi-piert. Im Gegensatz zu einem Einsatz von kommerziellen Lösungen besitzt der Lehrstuhl für Mechatronik die volle Kontrolle über alle Teile der Simulation. Von der Bewegungssteuerung über die Simulationsmodelle der Fahrzeuge bis hin zur Visualisierung wird alles eigenständig entwickelt und liegt mit Quellcode für Än-derungen vor. Die modulare Bauweise ermöglicht es, verschiedene Simulatoren mit identischer Software und reduziertem Konfigurationsaufwand zu betreiben.

Page 285: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Simulatoraufbau 283

Abbildung 7.1 Simulatoraufbau

Kernpunkt des Aufbaus ist, dass die verschiedenen Programme/Simulationen auf verschiedenen Computern berechnet und über ein Netzwerk (Abbildung 7.1) syn-chronisiert werden [2]. Für das EGO-Fahrzeug berechnet ein zentraler Computer alle erforderlichen Parameter und übermittelt Position, Orientierung sowie weitere sichtbare Merkmale (Licht, Blinker, etc.) über das Netzwerk an alle angeschlosse-nen Computer. Die Verkehrssimulation errechnet diese Parameter für eine größere Anzahl von Fahrzeugen in der künstlichen Welt. Die Parameter der 20 Fahrzeuge, die die geringste Distanz zum EGO-Fahrzeug aufweisen, werden ebenfalls übers Netzwerk verbreitet. Dabei beachten die simulierten Fahrzeuge das EGO-Fahr-zeug und passen ihre Manöver entsprechend an. Vergleichbar funktioniert die Si-mulation der Passanten. Neben Position und Orientierung wird jedoch zusätzlich noch der Bewegungsablauf für die sichtbaren Fußgänger berechnet. Die für Visu-alisierung zuständigen Instanzen rendern die Szenerie mit den übermittelten Da-ten. Neben der einfachen Handhabung des Systems bietet diese Struktur einen weiteren Vorteil. Den angeschlossenen Simulationssystemen stehen nicht mehr In-formationen zur Verfügung als im reellen Verkehr. D. h. virtuelle Sensorik und Assistenzsysteme erfordern identische Algorithmen zur Erkennung der Umge-bung im Vergleich der Endanwendung im reellen Fahrzeug.

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284 Interaktive Fußgänger in Fahrsimulatorumgebungen

7.3 Fußgänger in Simulationen und Computerspielen

Im Bereich der Computerspiele und –simulationen haben sich eine Reihe von Stan-dardverfahren entwickelt. [3]

Ein Ansatz ist die Bewegung von Passanten durch das Szenario auf Grund zufällig generierter Wege, Ziele oder Richtungsvorgaben (Random-Walk-Modell). Je nach Modellimplementierung bedeutet dies, dass an Kreuzungen oder spezifischen Wegpunkten (Random-Waypoint) eine neue Entscheidung zur Wegfindung gefällt wird. Das Modell ist zu Füllzwecken nutzbar, um in beträchtlicher Entfernung eine größere Anzahl an Passanten zu zeigen, da auf Grund einer realitätsfremden Rou-tenplanung der Fußgänger ein untypisches Bewegungsmuster entsteht. So besteht z. B. die Möglichkeit, dass eine Person am Wegepunkt der nächsten Entscheidung eine Kehrtwende vollzieht und den Weg zurück läuft.

Page 287: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Fußgänger in Simulationen und Computerspielen 285

Abbildung 7.2 Beispielszene für Clipping-Probleme

Weitaus detailliertere Ergebnisse bieten Modelle, die auf Potentialfeldern oder Kräftegleichgewichten basieren, wie das bekannte Social-Force Modell von Dirk Helbing [4] in welchem Personen sich wie physikalische Teilchen verhalten. Mit diesen Modellen ist die Abbildung von Menschenansammlungen und deren Be-wegungsverhalten darstellbar. Ein Nachteil ist das fehlende Entscheidungssystem einzelner Personen [5].

Ein nicht zu unterschätzendes Problem ist die Rechenzeit der Modelle. Insbeson-dere bei Simulationen in Echtzeit oder Computerspielen sind quasikonstante Zeit-intervalle zur Berechnung erforderlich. In Computerspielen werden daher i.d.R. nur sichtbare Passanten berechnet und verdeckte bzw. nicht sichtbare Personen gelöscht (clipping). Für einen Fahrsimulator ist dieses Verfahren nicht geeignet, wie die Szene in Abbildung 7.2 zeigt. Sobald die Schüler abgebogen sind und vom

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286 Interaktive Fußgänger in Fahrsimulatorumgebungen

EGO-Fahrzeug auf Grund des Gebäudes/Hindernisses nicht mehr optisch wahr-genommen werden können, werden die Personen entfernt. Der Fahrer kann in der Realität aber damit rechnen, dass nach dem Abbiegemanöver Schüler die Fahrbahn kreuzen, im Computerspiel fehlen nach dem Manöver die erwarteten Störungen. Ggf. werden auf den Fußwegen „neue“ Passanten positioniert, welche sich evtl. nicht an der erwarteten Position befinden.

7.4 Verbesserungen

Für eine realistische Simulation ist ein mesoskopischer Ansatz erforderlich.

Abbildung 7.3 Mesoskopischer Ansatz (Karte: OpenStreetMap)

Zur Vermeidung von Clipping-Problemen muss die Simulation Fußgänger in ei-nem Bereich um das EGO-Fahrzeug berechnen, selbst wenn diese gerade nicht sichtbar sind. In dieser Zone wird ein mikroskopisches Modell verwendet, welches ähnlich wie ein Teilchenmodell die Bewegung abbildet aber Entscheidungen zu-lässt. Neben der Bewegung muss im sichtbaren Bereich auch die Animation der 3D-Objekte berechnet werden. Durch die Verfügbarkeit der Fahrzeugpositionen im Netzwerk kann die Simulation mit dem Verkehr interagieren. Die untypischen Routen der Random-Walk-Modelle lassen sich durch eine globale Simulation mit

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Fazit 287

festen Routen vermeiden. Dazu werden über einen großen Teil des Szenarios Fuß-gänger verteilt und mit Routen ausgestattet. Das Abarbeiten dieser Routen erfolgt mittels makroskopischer Modelle und einfachen Navigationsalgorithmen wie z. B. dem Djkstra-Algorithmus [1].

Um über die gesamte Simulation hinweg eine konstante Performance zu gewähr-leisten existieren zwei Cluster mit jeweils einer festen Anzahl von Teilnehmern. Das eine Cluster enthält alle Passanten mit makroskopischem Modell, während die mikroskopischen Instanzen der Passanten Teil des zweiten Clusters sind. Unter-halb einer definierten Entfernung einer Person zum EGO-Fahrzeug wird die Simu-lation von makroskopisch auf mikroskopisch umgestellt, d. h. das entsprechende Objekt wird von Cluster eins in Cluster zwei verschoben, wenn dieser genügend freien Plätze enthält. Auf Grund der Begrenzung der Cluster-Plätze ist es erforder-lich, dass die entsprechenden Bereiche (Abbildung 7.3) in größeren Szenarien re-gelmäßig an die Position des EGO-Fahrzeug angepasst werden. Sobald mehrere Simulatoren zusammengeschlossen werden, muss die Simulation die beiden Be-reiche, die es für jedes EGO-Fahrzeug gibt, ggf. fusionieren bzw. aufteilen, um für die Teilnehmer eine optimale Lastverteilung in der Simulation zu erzielen.

Eine Integration des ÖPNV in die Simulation beeinflusst die Fußgängersimulation in einem größeren Umfang als die Verkehrssimulation. Straßenbahnen und Busse emittieren eine größere Anzahl von Passanten an den Haltestellen, welche auch nicht immer sichtbar sind. Passiert das EGO-Fahrzeug eine Haltestelle und muss außer Sichtweite für eine längere Zeit anhalten, ist eine Personengruppe, die sich von der Haltestelle bewegt, plausibel. Der Aufwand für die Durchführung des ÖPNV reduziert sich mit dem verwendeten Verfahren auf das verändern von Po-sition und Routen einer Teilmenge von Objekten im ersten Cluster.

7.5 Fazit

Die Simulation von Fußgängern ist ein essentieller Bestandteil jeder Verkehrssimu-lation, da diese, wie alle Verkehrsteilnehmer, das Geschehen aktiv beeinflussen. Eine sinnvolle Abbildung der Realität kann nur durch Kombination von verschie-denen Methoden erfolgen. Im Gegensatz zu Evakuierungssimulationen bei Veran-staltungen muss die Simulation der Passanten jedoch in weicher Echtzeit möglich sein.

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288 Interaktive Fußgänger in Fahrsimulatorumgebungen

Literatur

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Track 3 Digitalization in Urban Mobility

Page 292: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Kurzfassung

Prof. Dr.-Ing. Alexander Schmidt (Universität Duisburg-Essen), Prof. em. Dr. techn. Jörg Schönharting (TRC Transportation Research & Consulting GmbH)

Die Forschung im Bereich „Digitalization in Urban Mobility“ beschäftigt sich mit den Anforderungen und Möglichkeiten, die mit dem Eintritt der Digitalisierung in die Mobilitätswelt verbunden sind. Neue Dienstleistungen für eine intelligente Nutzung von Mobilitätsangeboten erfordern deren Vernetzung. Einzelne Bau-steine sind bereits verfügbar, neue Lösungen werden von Startups auf den Mobi-litätsmarkt gebracht. Was sich davon durchsetzen wird, muss die Praxis zeigen. Aktuell sind die meisten Anbieter von einer Wirtschaftlichkeit noch weit entfernt.

Andererseits kann das gesellschaftspolitische Ziel einer Abkehr von einer Mobili-tät mit fossilen Brennstoffen nur erreicht werden durch neue Lösungen, die vor-handene Angebote vernetzen und diese dem Verkehrsteilnehmer leichtverständ-lich zugänglich machen. Die Städte, die mit Luftqualitätsproblemen kämpfen, sind aufgefordert, den öffentlichen Raum neu zu organisieren und damit nachhaltige Mobilitätsformen zu unterstützen.

Die Beiträge befassen sich vor diesem Hintergrund in den drei Themenfeldern

■Nahverkehr und Politikberatung

■ Digitalisierung in der Logistik

■ Elektromobilitätsbezogene Geschäftsmodelle

mit den Herausforderungen, mit Geschäftsmodellen und Kundenlösungen, die durch die Digitalisierung und die Vernetzung möglich geworden sind.

Im einem Vortrag zum ersten Themenfeld Nahverkehr und Politikberatung er-läutern Matthias Klötzke, Mascha Brost, Eva-Maria Fraedrich, Laura Gebhardt, Katharina Karnahl, Gerhard Kopp, Alexandra König, Anna-Maria Ademeit, Ale-xander Müller, Tim Sippel und Frank Ulmer das „Reallabor Schorndorf“, das den Nahverkehr durch Digitalisierung bürgerfreundlicher gestalten soll. Im Beitrag wird über ein haltestellenloses Quartierbussystem berichtet. Ziel des Forschungs-projekts ist es, die Auswirkungen einer Flexibilisierung des Nahverkehrs in mittel-großen Städten, die meist über einen wenig attraktiven haltestellenbasierten Nah-

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292 Kurzfassung

verkehr verfügen, auf das Mobilitätsverhalten zu ermitteln. Die Autoren konzent-rieren sich auf die Darstellung des Bedienkonzepts und des Fahrzeugkonzepts. Eine Pilotphase des Betriebs ist für Dezember 2017 vorgesehen.

Die Verknüpfung des klassischen Nahverkehrs mit weiteren Mobilitätsangeboten über einen Mobilitäts-Hub ist Gegenstand der Untersuchungen von M. Rehme, S. Richter, A. Temmler und U. Götze. Urbane Mobilitäts-Hubs werden zukünftig die Basis eines digital vernetzten und multimodalen Personenverkehrsangebots dar-stellen. Die Autoren systematisieren die verschiedenen Formen eines Mobilitäts-Hubs, entwerfen Kriterien für die Standortplanung und entwickeln einen Ansatz zur Geschäftsmodellgestaltung. Am Beispiel der Universitätsstandorte in Chem-nitz werden Ansätze für eine Verknüpfung von Car- und Bike-Sharing mit dem ÖPNV in einem Pilotversuch erprobt.

Kathrin Viergutz und Florian Brinkmann erforschten die Anforderungen an digi-tale Fahrgastinformationen im Nahverkehr. Dazu studierten sie die derzeitige Nut-zung von Fahrgastinformationen im Linienverkehr. Aus den Ergebnissen der Stu-die leiten sie neue Anforderungen an mobile sowie stationäre Informationsmedien ab.

Ann-Kathrin Seemann und Sebastian Knöchel befassten sich mit den Auswirkun-gen einer Stellplatzschlüsselreduktion in Wohngebieten. Die empirische Studie legt offen, unter welchen Voraussetzungen eine Wohnung ohne eigenen Stellplatz von potentiellen Mietern akzeptiert würde.

Digitalisierung in der Logistik bildet das zweite Themenfeld. In diesem Bereich dominieren Forschungen zu technischen Entwicklungen und den dazu gehören-den Geschäftsmodellen

Andreas Arnegger, Markus Voeth und Anouk Pätzold berichten über das For-schungsprojekt „Urban Freight Logistics: Betroffene Geschäftsmodelle und deren Fähigkeit zur Transformation am Beispiel des Gesundheitssektors“. Urban Freight Logistics (UFL) ist ein Rahmenkonzept für den städtischen Güterverkehr, das um-weltbezogene Ziele in Konzepte und Geschäftsmodelle einbezieht. Am Beispiel der Lieferungen im Gesundheitssektor werden alternative Konzepte und kooperative Geschäftsmodelle analysiert und bewertet.

Digitalisierung in der Logistik ist Voraussetzung für die Automatisierung von Ab-läufen. Thomas Hanke, Matthias Klumpp, Bernd Noche, Klaus Krumme und Joachim Kochsiek forschen an der Automatisierung von Kommissionier- und Um-schlaglösungen in der Logistik. Sie erläutern und begründen den gewählten Lö-

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Kurzfassung 293

sungsansatz im Projekt ADINA, mit dem Automatisierung und Ergonomie zu ei-ner neuen Lösung verbunden werden.

Markus Ziegler stellt am Beispiel der Last-Mile-Lösung pakadoo dar, welche Chan-cen Corporate Startups Traditionsunternehmen bei der Annäherung an den digi-talen Wandel eröffnen, indem neue Ideen durch die Gründung eines internen Un-ternehmens den benötigten Freiraum zur eigenständigen Entwicklung haben.

Im dritten Themenfeld wurden elektromobilitätsbezogene Geschäftsmodelle entwickelt und untersucht. Die Forschungen bilden einen breiten Rahmen ab, von der Konzeption von Fahrzeugen in einem digitalen Umfeld über die Analyse der Schlüsselfaktoren für die Verbreitung der Elektromobilität bei Nutzern bis zu den Erfolgsfaktoren von elektromobilitätsbezogenen Geschäftsmodellen.

Nora Becker, Philipp Spichartz, Erol Şanal, und Constantinos Sourkounis beschäf-tigen sich mit einem Geschäftsmodell für die kooperative Nutzung eines multi-funktionalen Elektromobils, das im urbanen Ballungsraum eingesetzt werden soll. Eine Besonderheit ist dabei die Kopplung des Geschäftsmodells für kooperative Mobilitätsnutzung mit der Bereitstellung der Energie.

Marcel Schwartz und Dominik Kolz analysieren die Schlüsselfaktoren für eine breitere Entwicklung der Elektromobilität.

Michael Pielen, Tessa Flatten und Thilo Röth befassen sich mit den Erfolgsfakto-ren künftiger Geschäftsmodelle von urbanen, geteilten Mobilitätsdienstleistungen.

Ralf Wörner, Harald Braun, Guy Fournier, Daniela Schneider und Mauro Eckhardt erforschen die Anforderungen für eine öffentliche E-Mobility Ladeinfrastruktur auf Autobahnen auf europäischer Ebene.

Als Fazit aus den Vorträgen und Diskussionen lässt sich ableiten, dass Digitalisie-rung und Multimodalität prägende Trends der Mobilitätswelt von morgen sein werden. Noch allerdings steht die Entwicklung am Anfang. In dieser Phase sind aus Simulationen abgeleitete ex-ante Prognosen zum Mobilitätsverhalten für Kom-munen wie auch für Anbieter neuer Lösungen von großem Wert. Einen weiteren Schritt gehen Realexperimente, mit denen Auswirkungen von neuen Angeboten auf das Mobilitätsverhalten empirisch erfasst werden. Kommunen und Anbieter sollten ermutigt werden, vermehrt neue Lösungsansätze in Realexperimenten zu erproben.

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1 Reallabor Schorndorf. Bürgernahe Entwicklung eines haltestellenlosen Quartiersbussystems

M. Klötzke, M. Brost, E.-M. Fraedrich, L. Gebhardt, K. Karnahl, Dr. G. Kopp, A. König, A.-M. Ademeit (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V.), Prof. Dr. A. Müller (Hochschule Esslingen), T. Sippel (Universität Stuttgart), F. Ulmer (Kommunikations-büro Ulmer)

1 Reallabor Schorndorf. Bürgernahe Entwicklung eines haltestellenlosen Quartiersbussystems 295

1.1 Einleitung ..................................................................................................... 2961.2 Grundlagen des ‚Reallabors Schorndorf‘ 2971.2.1 Bürger- und Stakeholder-Beteiligung ...................................................... 2971.2.2 Nutzerperspektive ...................................................................................... 2981.3 Bedienkonzept 2991.3.1 Ausgangssituation ...................................................................................... 3001.3.2 Rechtliche Rahmenbedingungen für das Bedienkonzept ..................... 3011.3.3 Entwicklung des Bedienkonzepts ............................................................. 3021.4 Fahrzeugkonzept 3041.4.1 Anforderungen an ein Fahrzeugkonzept für den Einsatz als

haltestellenloser Quartiersbus. .................................................................. 3051.4.2 Umsetzung des Fahrzeugkonzepts .......................................................... 305

Literatur 307

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_18

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296 Bürgernahe Entwicklung eines haltestellenlosen Quartiersbussystems

1.1 Einleitung

Derzeit gibt es zunehmend Anzeichen für eine Veränderung des städtischen Mo-bilitätsverhaltens. Der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV), aber auch das Zu-fußgehen und Fahrradfahren erfreuen sich wachsender Beliebtheit, während die Nutzung des Pkw innerhalb der Stadt zurückgeht, insbesondere bei jungen Men-schen (vgl. [1], [2], [3], [4]). Der wachsenden Komplexität des Verkehrssystems durch das Hinzukommen neuer Mobilitätsangebote, insbesondere in Städten, wird u.a. auch mit der Bereitstellung von Informationsplattformen begegnet. Mit Hilfe von Smartphone-Apps können z.B. einzelne Verkehrsmittel flexibler genutzt und einfach miteinander kombiniert werden, da z.B. durchgängige verkehrsmittelüber-greifende Reiserouten besser geplant werden können und Informationen über de-ren Verfügbarkeit bereitgestellt werden. Das bringt gleichzeitig hohe Anforderun-gen an die Bereitstellung solcher Plattformen und Dienste mit sich. Diese müssen zum Teil Informationen verschiedener Verkehrsanbieter zusammenführen und eine dauerhafte Verfügbarkeit sicherstellen. Zudem sind Zugangshürden zu mini-mieren.

Bei der Entwicklung neuer Mobilitätsangebote stehen häufig Ballungszentren und Metropolen im Fokus, während Mittelstädte und kleinere Gemeinden im Umland von Großstädten häufig vernachlässigt werden. Diesen Aspekt greift das Projekt BOOLEAN (Bürgerorientierte Optimierung der Leistungsfähigkeit, Effizienz und Attraktivität des Nahverkehrs) auf. In der im Agglomerationsraum Stuttgart lie-genden Stadt Schorndorf wird im Rahmen des Projektes ein bedarfsorientiertes, digitalgestütztes Konzept für den Öffentlichen Nahverkehr entwickelt, das ohne feste Haltestellen und Fahrpläne auskommt und damit diesen Teil des Nahver-kehrs an die individuellen Ansprüche der NutzerInnen anpasst. Dabei reagiert das Projekt auch auf den Wunsch der Zivilgesellschaft nach mehr Gestaltungsmöglich-keiten bei der Entwicklung neuer Angebote im Bereich des öffentlichen Verkehrs [5].

Die Kreisstadt Schorndorf mit etwa 40.000 EinwohnerInnen repräsentiert als Mit-telzentrum einen typischen Siedlungsraum für Baden-Württemberg. Kommunen dieser Art sind derzeit im Bereich des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert. Dies betrifft Pendlerverkehre in nahegelegene Zentren, die derzeit größtenteils mittels motorisiertem Individual-verkehr (MIV) zurückgelegt werden ([6], [7]). Gleichzeitig wird gerade der ÖPNV, insbesondere außerhalb der Hauptverkehrszeiten, häufig als wenig attraktiv emp-funden. Die Bedienkonzepte sind dabei aus der Perspektive von NutzerInnen durch mangelnde Flexibilität und aus Sicht der Betreiber zum Teil durch fehlende

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Grundlagen des ‚Reallabors Schorndorf‘ 297

Wirtschaftlichkeit gekennzeichnet. Ein haltestellenloses Quartiersbussystem soll dabei helfen, in diesem Spannungsfeld das Angebot des ÖPNV einerseits besser auf die Bedürfnisse der BürgerInnen abzustimmen und andererseits nachhaltige und wirtschaftliche Lösungen für die Betreiber zu entwickeln.

1.2 Grundlagen des ‚Reallabors Schorndorf‘

Das Projekt BOOLEAN wird im Format eines Reallabors umgesetzt. Ein Reallabor – als ein zunehmend populäres Format der transformativen Forschung – ermög-licht, Interventionen im Sinne von Realexperimenten durchzuführen und beglei-tend zu evaluieren, um soziale Dynamiken und Prozesse zu verstehen und für die Entwicklung von Produkten zu nutzen. Hierbei wird unter anderem das Ziel ver-folgt, mit den Ergebnissen der Realexperimente nachhaltige und gesellschaftlich getragene Veränderungsprozesse anstoßen zu können [8].

Im Gegensatz zu vielen anderen echtzeit-nachfrageorientierten Konzepten für den öffentlichen Personennahverkehr, die derzeit umgesetzt werden, zielt das Projekt BOOLEAN darauf ab, ein Konzept zu entwickeln und zu erproben, welches nicht nur einen kleinen speziellen Nutzerkreis als Zielgruppe hat, sondern die Hetero-genität der NutzerInnen des ÖPNV zu berücksichtigen. Damit muss dieses System nicht nur von technik-affinen BürgerInnen genutzt werden können, sondern auch von solchen, die mit neuen Medien nicht vertraut sind. Zudem schließt das auch Personen ein, die besonders auf den ÖPNV angewiesen sind, wie zum Beispiel mo-bilitätseingeschränkte Menschen. Ebenfalls im Gegensatz zu einigen der derzeit entwickelten und angekündigten Lösungen wird im Projekt BOOLEAN kein Sys-tem entwickelt, welches ergänzend zu dem bestehenden ÖPNV umgesetzt wird. Das neue Bedienkonzept wird in seinen Betriebszeiten den bestehenden ÖPNV substituieren, das heißt, in dieser Zeit wird innerhalb des Bediengebietes kein wei-terer Verkehrsträger des ÖPNV fahren.

1.2.1 Bürger- und Stakeholder-Beteiligung

Die aktive Beteiligung sowohl der relevanten Stakeholder wie auch der Zivilgesell-schaft ist ein elementarer Bestandteil des Reallabors. Somit wird sichergestellt, dass nachhaltige Transitionsprozesse, die von einer breiten Mehrheit getragen werden, entwickelt und umgesetzt werden. Das Beteiligungskonzept gliedert sich in meh-rere Stufen. In einem ersten Schritt werden die relevanten Interessenvertreter und BürgerInnen über das Vorhaben informiert und zur Beteiligung animiert. Ein wichtiger Aspekt ist dabei, nicht nur vorbehaltlos unterstützende Positionen zu

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298 Bürgernahe Entwicklung eines haltestellenlosen Quartiersbussystems

involvieren, sondern auch kritische Stimmen zu erfassen und zu berücksichtigen. Der zweite Schritt besteht im Kern aus der Beteiligung der Stakeholder und Nut-zerInnen an der Entwicklung der Systeme des neuen Bedienkonzepts. Hierbei wird das neue ÖPNV-Konzept generell sowie der Bestell- und Buchungsvorgang im Speziellen adressiert. Zudem werden im Rahmen von Co-Creation-Workshops Anforderungen an ein neues Fahrzeugkonzept ermittelt und Lösungsansätze dis-kutiert.

Auch ist es im Rahmen eines Reallabors unabdingbar, die betroffenen BürgerInnen kontinuierlich über die Entwicklungen des Projekts zu informieren. Hierfür ist ne-ben einer Projektwebseite eine Bürgersprechstunde eingerichtet, wobei jeweils die Möglichkeit besteht, Informationen zum Quartiersbus zu erhalten sowie Feedback zu geben. Verschiedene öffentliche Veranstaltungen, wie der Wochenmarkt, wer-den genutzt, um mit Informationsständen über das Projekt zu informieren und BürgerInnen für die Teilnahme an den Nutzerworkshops zu motivieren.

Während der Erprobung des neuen Systems werden einzelne Nutzer über die ge-samte Pilotphase hinweg begleitet, um deren Erfahrungen und Rückmeldungen aufzunehmen und das System darauf basierend zu verbessern.

1.2.2 Nutzerperspektive

Zu Beginn werden potentielle Nutzergruppen identifiziert und deren Anforderun-gen an das bedarfsgerechte Buskonzept analysiert. Anschließend werden die Ent-würfe und Lösungsansätze sowohl für das Bedien- wie auch für das Fahrzeugkon-zept gemeinsam mit BürgerInnen entwickelt und evaluiert und darauf basierend die Konzepte weiter ausgestaltet. Zur Exploration der Nutzerperspektive werden Co-Creation-Workshops mit Schorndorfer BürgerInnen durchgeführt. Im Rahmen des ersten Workshops werden die Anforderungen an das neue System durch die teilnehmenden BürgerInnen anhand verschiedener Phasen konkret artikuliert:

■ Phase 1: NutzerInnenprofile werden anhand von sogenannten „Personas“ ausgearbeitet [9],

■ Phase 2: Für vier unterschiedliche Zielgruppen („Personas“) werden typische Reiseabläufe mit einem Bus erstellt (Bedarfsermittlung, Reiseplanung und Reisedurchführung),

■ Phase 3: Potenzielle Abholpunkte und Betriebszeiten werden definiert

■ Phase 4: Die in Kleingruppenarbeiten entstandenen Ergebnisse werden im Plenum vorgestellt und anschließend diskutiert

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Bedienkonzept 299

Eine „Persona“ ist die möglichst realitätsnahe prototypische Beschreibung einer Person, die es auch tatsächlich geben könnte (in diesem Fall als EinwohnerIn der Stadt Schorndorf, vgl. Abbildung 1.1 ). Um zu einer solchen Beschreibung zu gelangen, werden Einstellungen, Eigenschaften, Verhaltensweisen, etc. einer Personengruppe gesammelt und in der Persona vereint. Personas sollen im Ent-wicklungsprozess dabei helfen, sich lebensnah in die Lage potenzieller NutzerIn-nen zu versetzen.

Abbildung 1.1 Beispiel einer Persona aus dem Workshop

1.3 Bedienkonzept

Das bedarfs- und nutzerorientierte Bedienkonzept des Quartiersbusses wird im Rahmen des Reallabors und somit in enger Zusammenarbeit mit den BürgerInnen und Stakeholdern der Stadt Schorndorf entwickelt, umgesetzt und erprobt. Die Idee des neuen Bedienkonzepts basiert auf dem Verzicht von Haltestellen und Fahrplänen, sodass der Quartiersbus bedarfsgesteuert verkehrt. Fahrtwünsche werden mit Hilfe einer Smartphone-App und eines telefonischen Bestellservices

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300 Bürgernahe Entwicklung eines haltestellenlosen Quartiersbussystems

erfasst. Auf Basis dieser Fahrtwünsche, deren Start und Ziel innerhalb eines fest-gelegten Bediengebietes liegen, werden dynamisch Routen erstellt, um möglichst viele Fahrtwünsche bündeln zu können. Über die genauen Abhol- und Absetz-punkte sowie die entsprechenden -zeiten werden die Nutzer wiederum informiert. Neben der intelligenten Routenführung und der Disposition umfasst das Bedien-konzept auch die Entwicklung der Oberflächen und Kommunikationskanäle, die die Bestellung des Busses ermöglichen.

Im Reallabor ergeben sich spezifische Anforderungen. Diese beziehen sich auf rechtliche Rahmenbedingungen, Anforderungen der NutzerInnen und der Stadt-verwaltung, des Verkehrsbetreibers sowie des übergeordneten Verkehrsverbun-des. Die Anforderungen der BürgerInnen und NutzerInnen werden im Rahmen der Bürgerbeteiligung erfasst und fortlaufend aktualisiert. Die Berücksichtigung der Anforderungen von Seiten der Stadtverwaltung, des Verkehrsbetreibers und des -verbundes werden durch die Integration dieser Partner in das Projektkonsor-tium sichergestellt.

1.3.1 Ausgangssituation

Schorndorf repräsentiert einen Städtetyp, der mit ca. 40.000 EinwohnerInnen in Deutschland stark verbreitet ist und über ein gut ausgebautes ÖPNV-Netz verfügt. Das Durchschnittsalter der SchorndorferInnen beträgt 44,3 Jahre(Stand 2015, [10]). Im Vergleich zu bestehenden Rufbus-Systemen in Deutschland zeigt sich insbe-sondere beim Bediengebiet ein deutlicher Unterschied. So verkehrt ein Großteil der betrachteten Rufbusse in ländlichen Bediengebieten mit einer durchschnittlichen Einwohnerdichte von 243 Einwohnern pro km² [11]. In dem Schorndorfer Bedien-gebiet wohnen im Mittel auf derselben Fläche knapp 689 Einwohner [12]. Damit wird im Rahmen des Projekts ein Anrufbussystem umgesetzt, welches auch in Zei-ten und Räumen moderater bis mittlerer Nachfrage funktionieren muss. Das Ge-biet umfasst einen Raum, der bisher mit zwei fahrplanbasierten Buslinien bedient wurde. Zudem liegt mit dem Bahnhof nicht nur der Umstiegspunkt zwischen den Linien innerhalb des Bediengebiets, sondern auch die Möglichkeit, auf die S-Bahn in Richtung Stuttgart umzusteigen. Mit der Stadt Schorndorf wurde bewusst ein Mittelzentrum mit gutem Anschluss an ein Oberzentrum gewählt. Schorndorf ist Teil des Verkehrs- und Tarifverbunds Stuttgart und durch Regionalbahnen sowie eine S-Bahnlinie das das Oberzentrum angeschlossen. Die Kernstadt verfügt über 3 Buslinien. Dennoch ist der Anteil der Verkehrsteilnehmer, die innerhalb der Stadt selbst oder als Mitfahrer mit dem eigenen Auto unterwegs sind, mit 64% ver-gleichsweise hoch (Bundesweiter Durchschnitt: 58%) ([13], [14]). Im Jahr 2009 lag der Anteil der ÖPNV-Nutzer mit rund 9,6 % auf demselben Niveau wie im

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Bedienkonzept 301

deutschlandweiten Durchschnitt (9%). Deshalb wurde zur Steigerung der Attrak-tivität des Nahverkehrs in Schorndorf die Betriebsleistung des Stadtverkehrs 2014 nahezu verdoppelt. Dies führt jedoch zu Beschwerden aus einigen Wohnstraßen hinsichtlich des Missverhältnisses zwischen der geringen Nutzung und der großen Fahrzeugkapazität außerhalb der Hauptverkehrszeiten.

Die befragten ExpertInnen in Schorndorf sind sich einig, dass eines der Probleme im Schorndorfer ÖPNV die teilweise langen Zugangswege sind. Lange Wege scheinen besonders für SeniorInnen ein Hindernis, den ÖPNV zu nutzen. Gleich-zeitig werden die SeniorInnen als wichtigste Nutzergruppe in Schorndorf gesehen. Mit einem verbesserten Bussystem könnte die Attraktivität und damit die Nach-frage gesteigert werden. Die Anforderungen der Nutzergruppen, die in den Mobi-litätswerkstätten identifiziert und beschrieben werden, spielen eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Bedienkonzepts, denn der Quartiersbus soll vom jugend-lichen Schüler ebenso wie von der weniger technikaffinen Seniorin genutzt werden können. Ebenso wie die Anforderungen, die die lokalen Akteure an das neue Bus-system stellen, existieren rechtliche Rahmenbedingungen, die bei der Konzeption und dem Betrieb des Quartiersbusses berücksichtigt werden müssen.

1.3.2 Rechtliche Rahmenbedingungen für das Bedienkonzept

Die Systemeigenschaften von flexiblen Bedienformen weisen signifikante Unter-schiede gegenüber dem herkömmlichen Linienverkehr auf. Während im Linien-verkehr der Fahrplan und das Haltestellennetz auf Basis von punktuell durchge-führten Erhebungen aufgestellt wird, kann bei der angestrebten flexiblen Bedien-form kurzfristig auf die Nachfrage reagiert werden, nicht nur hinsichtlich der Ka-pazität, sondern auch in Bezug auf Routen und Frequenz. Für die Sicherstellung der Genehmigung des Pilotbetriebes und der Möglichkeit, das entwickelte System auch im Anschluss an die Pilotphase umsetzten zu können, liegt ein Hauptaugen-merk auf der Analyse und Einhaltung der rechtlichen Rahmenbedingung. Rele-vant hierfür sind neben dem Grundgesetz das Personenbeförderungsgesetz (PBefG), die Verordnung über den Betrieb von Kraftfahrunternehmen (BOKraft), das Straßenverkehrsgesetz (StVG), die Straßenverkehrsordnung (StVO), die Stra-ßenverkehrszulassungsordnung (StVZO), die Verordnung zur Durchführung des Fahrpersonalgesetztes (FPersV), das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und die Verordnung über die Allgemeinen Beförderungsbedingungen für den Straßen-bahn- und busverkehr sowie den Linienverkehr mit Kraftfahrzeugen (BefBedV). Das Personenbeförderungsgesetz (PBefG) beinhaltet Anforderungen an Verkehrs-unternehmen und an die Verkehrsdurchführung. Das PBefG stellt damit eine

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302 Bürgernahe Entwicklung eines haltestellenlosen Quartiersbussystems

wichtige gesetzliche Grundlage für eine Genehmigung dar. Im PBefG besteht keine klare Regelung für flexible Verkehre. Es gibt aber die sogenannte Experimentier-klausel (PBefG § 2 Abs. 7), die dem Linienverkehr ähnelnde Verkehrsarten und Verkehrsmittel zur Erprobung erlaubt. Diese Experimentierklausel dient der prak-tischen Erprobung neuer Verkehrsarten- und Verkehrsmittel und ermöglicht auf Antrag Abweichungen von den Vorschriften des PBefG für eine Genehmigungs-dauer von vier Jahren, soweit öffentliche Verkehrsinteressen nicht entgegenstehen.

1.3.3 Entwicklung des Bedienkonzepts

Die für die konkrete Umsetzung des Konzepts notwendige Detaillierung der An-forderungen erfolgt im Rahmen eines Bürgerworkshops sowie in enger Zusam-menarbeit mit dem Verkehrsverbund, wobei zum Beispiel Betriebszeiten, Abhol-/Haltepunkte, Routenplanung, Reiseplanung und der Bestellprozess thematisiert werden. Hierbei kommen die in Kapitel 1.2.2 beschriebenen Personas zum Einsatz, anhand derer in Kleingruppen ein prototypischer Bestell- und Buchungsprozess entwickelt wird. Die Abbildung 1.2 stellt einen prototypischen Bestellprozess für die Persona Hans Lehmann dar. Für die unterschiedlichen Zielgruppen werden er-wartungsgemäß unterschiedliche Anforderungen definiert (z.B. die Notwendig-keit einer telefonischen Bestellmöglichkeit). Gemeinsamkeiten finden sich in den Anforderungen an die Rückmeldungen durch das System und den damit verbun-denen Status der einzelnen Buchungen. Zudem soll es möglich sein, auf der App den aktuellen Standort des Busses darzustellen, womit eine hohe Transparenz her-gestellt werden soll. Es zeigt sich aber auch, dass sich das Nutzungsverhalten der einzelnen Nutzergruppen unterscheidet. Während „Senioren“ und „mobilitätsein-geschränkte Personen“ ein eher geplantes Mobilitätsverhalten aufweisen, zeigen „regelmäßige Bus-NutzerInnen“ und „regelmäßige Pkw-NutzerInnen“ ein eher spontanes Mobilitätsverhalten. Damit darf zum Beispiel die Vorlaufzeit für die Bu-chung nicht zu lange gewählt werden, gleichzeitig muss eine frühzeitige Bestel-lung des Busses gewährleistet sein. Darüber hinaus ist den NutzerInnen wichtig, dass sie sich in dem Bus wohlfühlen können und die Fahrzeuge ein Mindestmaß an Komfort bieten

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Bedienkonzept 303

Abbildung 1.2 Beispiel eines prototypischen Bestellprozesses für mobilitäts-eingeschränkte Person

Eigene Abbildung

Basierend auf der Beschreibung der Nutzergruppen wird das Bedienkonzept des Quartiersbusses entwickelt, indem nutzergruppenspezifische Szenarien beschrie-ben werden, aus denen dann wiederum Anwendungsfälle abgeleitet werden. Zu-dem werden die Rollen- und Interaktionsbeziehungen analysiert und typische Stö-rungen des Betriebs identifiziert, sowie Empfehlungen für erfolgreiches Vorgehen im jeweiligen Störungsfall erarbeitet. Aus den vorhergehenden Arbeitsschritten leiten sich nutzerzentrierte Anforderungen an das Bedienkonzept ab. Die notwen-digen IT-Systeme, wie beispielsweise die Buchungs-App, werden in den die Hin-tergrundsysteme des Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart (VVS) integriert, um den Fahrgästen eine einfache Auskunft und intermodale Reiseketten zu ermögli-chen. Im Zuge dessen wird auch der VVS-Tarif für den Quartiersbus angewandt, wodurch beispielsweise auch Schülertickets oder Monatskarten für die Fahrt im Quartiersbus akzeptiert werden. Mögliche Abholorte wurden in Form von virtuel-len Haltestellen erfasst, die einen maximalen Fußweg von 200 Metern zum Ein-stiegsort garantieren sollen (Abbildung 1.3).

Der Betrieb in der Pilotphase im Dezember 2017 wird eng durch das Konsortium begleitet. Dies ermöglicht eine schnelle Erkennung von Problemen und dient einer zeitnahen Lösungsfindung. Die Änderungen fließen direkt in die Praxis / Pilotbe-trieb.

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304 Bürgernahe Entwicklung eines haltestellenlosen Quartiersbussystems

Abbildung 1.3 Geplante virtuelle Abholpunkte (braune Punkte) mit Integra-tion der bestehenden Linienhaltestellen (gelbe Punkte) und befahrbaren Straßennetz

Eigene Abbildung

1.4 Fahrzeugkonzept

Neben den Entwicklungen neuer Mobilitätsangebote und Bedienkonzepte spielen neuartige Fahrzeugkonzepte und technologische Weiterentwicklungen eine ent-scheidende Rolle und ihrerseits wiederum die Nachfrage. Um hierbei systemati-sche Synergieeffekte in der Zukunft zu erzielen, wird parallel zu den Arbeiten ein visionäres Fahrzeugkonzept für das beschriebene Bedienkonzept virtuell entwi-ckelt und mit unterschiedlichen Modellen visuell dargestellt. Die Anforderungen, die sich aus der Partizipation sowie dem Bedienkonzept ergeben, finden hierbei zentrale Berücksichtigung. Zur Visualisierung und Präsentation der Ergebnisse werden Visualisierungshilfen für z.B. Details wie das Interieur oder das Einstiegs-konzept angefertigt. Zudem wird ein Demonstrator aufgebaut, der das Erschei-nungsbild des Fahrzeugs sichtbar und erlebbar macht.

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Fahrzeugkonzept 305

1.4.1 Anforderungen an ein Fahrzeugkonzept für den Einsatz als haltestellenloser Quartiersbus.

Aus dem Ansatz, dass das neue Bedienkonzept auf Haltestellen verzichtet, ergeben sich weitreichende Anforderungen an das Fahrzeugkonzept. Zudem werden Nut-zerInnen in der Anforderungs- und Konzeptionsphase eng eingebunden, um ein Fahrzeugkonzept zu realisieren, das neben den Anforderungen, sie sich aus dem Verzicht auf Haltestellen ergeben, auch die Wünsche und Anforderungen der Nut-zerInnen so weit wie möglich erfüllen kann. Auf Basis der Analyse bestehender Bus- und Fahrzeugkonzepte für den ÖPNV können folgende Gruppen unterschie-den werden:

■ Omnibusse (z.B. Mercedes Benz Citaro, MAN Lion’s City)

■ Kleinbusse auf der Nutzfahrzeugbasis (z.B. VW Crafter, Ford Transit, Merce-des Benz Sprinter)

■ Prototypen für autonom fahrende Shuttles (z.B. Olli, Navya Arma)

Der nutzer- und bedarfsorientierte ÖPNV erfordert auf Grund der infrastrukturel-len Rahmenbedingungen wendige und bedarfsgerechte Fahrzeuge, um insbeson-dere in Wohngebieten operieren zu können. Dies bedeutet auch, dass die Fahr-zeuge vergleichsweise klein ausfallen und auch flexibel auf unterschiedliche Infra-strukturen hinsichtlich der Haltestellen/-punkte reagieren müssen.

Die initialen Anforderungen dienen als Ausgangsbasis, auf welcher Skizzen und Konzepte entwickelt werden, die anschließend mit NutzerInnen und den relevan-ten Stakeholdern analysiert und optimiert werden. Hierbei kommt das House of Quality in Anlehnung an [15], [16], [17] zum Einsatz, wobei der Konzeptions- und Entwicklungsprozess in die Themenfelder „Gesamtfahrzeug“, „Karosserie“, „Interi-eur/Exterieur“ und „Antrieb/Fahrwerk“ unterteilt wird.

1.4.2 Umsetzung des Fahrzeugkonzepts

Die Ableitung des Fahrzeugkonzepts basiert auf quantifizierbaren Anforderungen und konzeptbestimmenden Eigenschaften, die sowohl mittels analytischen Ausle-gungsmethoden (z.B. Längsdynamik für die Antriebsstrangauslegung) als auch geometrischen Beschreibungen umgesetzt werden. Für die Abbildung des Gesamt-fahrzeugpackages wird ein Maßkonzept entwickelt, worunter die maßliche Di-mensionierung der Summe aller notwendigen Fahrzeugabmessungen unter Be-rücksichtigung der anthropometrischen Eigenschaften der Fahrzeuginsassen ver-

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306 Bürgernahe Entwicklung eines haltestellenlosen Quartiersbussystems

standen wird. Um Anforderungen im Bereich Sicherheit, Komfort oder Barriere-freiheit zu adressieren, wird ein Karosseriekonzept entwickelt. Um auch Anforde-rungen hinsichtlich der Reduktion von Emissionen und Energieverbrauch erfüllen zu können, werden hierbei, neben den vorgesehenen alternativen Antriebssys-teme, verschiedene Leichtbaukonzepte und unterschiedliche Werkstoffe, wie zum Beispiel Kunststoffe und auch Sandwichwerkstoffe berücksichtigt. (siehe auch [18], [19])

Die Innenraumgestaltung und unter anderem daraus resultierend die Fahrzeug-länge, -breite und-höhe, werden zentrifugal und nutzerzentriert entwickelt. Sie ba-sieren auf der physischen Berücksichtigung der Fahrzeugnutzer mit dem digitalen Menschmodell RAMSISTM. Aus Beobachtungen zum heutigen Nutzungsverhalten werden vier verschiedene Nutzungsszenarien, die sich aus dem Fahrzeugbetrieb zu unterschiedlichen Uhrzeiten ergeben, abgeleitet. Verschiedene Nutzertypen be-anspruchen hierbei den Fahrzeuginnenraum auf unterschiedliche Weise, woraus folgende vier Nutzungsszenarien für die virtuelle Innenraumauslegung erstellt werden [17]:

1. Maximale Auslastung der Sitz- und Stehplätze (Hauptverkehrszeiten, mor-gens):

‒ Vollbelegung mit 10 Berufspendlern

2. maximale Auslastung der Multifunktionsfläche (vormittags):

‒ ein Elternteil mit Kinderwagen, ‒ zwei bewegungseingeschränkte Personen mit Rollatoren und ‒ zwei Personen mit Gepäck,

3. Auslegung bezüglich Barrierefreiheit (nachmittags):

‒ zwei Personen mit Rollatoren, ‒ eine Person mit Rollstuhl und ‒ zwei Berufspendler,

4. Auslegung bezüglich Raumfunktionalität und Raumgefühl, (später Abend):

‒ drei Personen von/zur Abendveranstaltung und ‒ ein Berufspendler.

Durch einen rein elektrischen Antrieb soll die Lärm- und Schadstoffemissionen deutlich reduziert werden. Die Grobauslegung des Antriebs erfolgt auf Grundlage der aufgezeichneten Fahrstrecken der innerstädtischen Buslinien, wobei eine ana-lytische Verbrauchsabschätzung mit Hilfe von Längsdynamiksimulationen durch-

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Fahrzeugkonzept 307

geführt wird, welche in Verbindung mit der erforderlichen Reichweite für die Di-mensionierung der Batterie notwendig ist.

Zur bürgernahen Präsentation der Entwicklungsergebnisse und zur weiteren Spe-zifikation der Konzeptideen wird neben digitalen Modellen ein Mock-Up des Fahr-zeugs im Maßstab 1:5 aufgebaut und beispielsweise im Rahmen des Co-Creation-Workshops den BürgerInnen und NutzerInnen vorgestellt. Die Beurteilung der äu-ßeren Anmutung des Fahrzeugkonzeptes steht dabei im Vordergrund. Das Interi-eur wird abstrahiert dargestellt und gemeinsam mit den Nutzern weiter entwi-ckelt.

Abbildung 1.4 Darstellung des 1:5 Buskonzept-Modells mit Nutzungsszenario 1

Disclaimer

Das Reallabor Schorndorf wird gefördert vom Ministerium für Wissenschaft, For-schung und Kunst Baden-Württemberg.

Literatur

[1] Ahrens, G.-A.; Klotzsch, J. & Wittwer, R. (2014): Auto nutzen, statt besitzen. Treiber des multimodalen Verkehrsverbunds. In: Zeitschrift für die gesamte Wertschöpfungskette Automobilwirtschaft 17 (2), S.6-21.

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308 Bürgernahe Entwicklung eines haltestellenlosen Quartiersbussystems

[2] Heinrichs, Dirk & Oostendorp, Rebekka (2015): Urbane Mobilität – in Zukunft Intermo-dal? In: ATZ extra, Springer Verlag 20 (4), S.18-21.

[3] Kuhnimhof, Tobias (2012): Mobilitätstrends junger Erwachsener. In: Internationales Ver-kehrswesen 64 (2), S.53- 54.

[4] Institut für Mobilitätsforschung (2011): Mobilität junger Menschen im Wandel –multi-modaler und weiblicher. In: Ifmo-Bericht der BMW Group.

[5] BMBF (Bundesministerium für Bildung und Forschung) (2015): Bürger wünschen mehr wissenschaftliche Beratung der Politik. Abrufbar unter: http://www.bmbf.de/de/27059.php (Letzter Zugriff: 22.06.2015).

[6] HWWI (Hamburgisches WeltWirtschaftsInstitut) (2013): Pendeln in Hamburg. In: Policy Paper 83. Abrufbar unter: http://www.hwwi.org/uploads/tx_wilpubdb/HWWI-Po-licy_Paper_83.pdf (Letzter Zugriff: 30.01.2017).

[7] Winkelmann, Ulrike (2012): Die Pendlermobilität steigt überall in Baden-Württemberg. In: Statistisches Monatsheft (2). Stuttgart. S. 25-28.

[8] Schneidewind, U. (2014): Urbane Reallabore – ein Blick in die aktuelle Forschungswerk-statt. In: PND online. Abrufbar unter: http://www.planung-neu-denken.de/images/sto-ries/pnd/dokumente/3_2014/schneidewind.pdf (25.06.2015).

[9] Mayas, C.; Hörold, S.; Krömker, H. (2012): Meeting the Challenges of Individual Passen-ger Information with Personas. In: Stantin, N. (Hrsg.). Advances in Human Aspects of Road and Rail Transportation. CRC Press, S. 882-831.

[10] Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (2017). Bevölkerung im Überblick. Stadt Schorndorf. Durchschnittsalter und Altersgruppen nach Geschlecht. Abrufbar unter: http://www.statistik-bw.de/BevoelkGebiet/Alter/01035100.tab?R=GS119067 [Letzter Zu-griff: 24.08.2017].

[11] König, A. & Grippenkoven, J. (2016). From public mobility on demand to autonomous public mobility on demand – Learning from dial-a-ride services in Germany. Mobility in a Globalised World 2016. 26./27.09.2016, Wien, Österreich.

[12] Statistisches Landesamt Baden-Württemberg (2017). Bevölkerung im Überblick. Stadt Schorndorf. Bevölkerung, Gebiet und Bevölkerungsdichte. Abrufbar unter: http://www.statistik-bw.de/BevoelkGebiet/Bevoelkerung/01515020.tab?R=GS119067 [Letzter Zugriff: 24.08.2017].

[13] Verband Region Stuttgart (2011): Begleituntersuchungen zur Fortschreibung des Re-gi-onalverkehrsplans – Band 1: Mobilität und Verkehr in der Region Stuttgart 2009/2010 Regionale Haushaltsbefragung zum Verkehrsverhalten. Abrufbar unter: Abrufbar un-ter: https://www.region-stuttgart.org/index.php?eID=tx_nawsecuredl&u=0&g=0& t=1771439982&hash=b3b81039dc5f1933c93c8205dd2a4f7dce3abf8d&file=fileadmin/regi-onstuttgart/04_Informationen_und_Download/04_01_Veroeffentlichungen/04_04_03_ Schriftenreihe/schriftenreihe_29.pdf [Letzter Zugriff: 24.08.2017]

[14] Mobilität in Deutschland (MID) (2008): Eigenen Auswertung auf Basis des Datensat-zes „Mobilität in Deutschland 2008 (MiD 2008)“. Abrufbar unter : http://daten.clearingstelle-verkehr.de/223/ [Letzter Zugriff: 24.08.2017].

[15] Horst Wildemann, H:: Kundenorientierte Produktentwicklung in der Automobilindust-rie, erschienen in: Schwarz, E. S. (Hrsg.): Innovationsmanagement, Wiesbaden 2004, S. 381-408; https://www.tcw.de/uploads/html/publikationen/standpunkte/files/ Arti-kel_27_Kunden.pdf, Download am 09.09.2016

[16] Schaaf, A.: Marktorioentiertes Entwicklungsmanagement in der Automobilindustire – Ein kundennutzenorientierter Ansatz zur Steuerung des Entwicklungsprozesses, Dis-sertation Universität Bayreuth, DeutscherUniversitätsVerlag, 1999, ISBN 978-3-8244-

Page 309: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Fahrzeugkonzept 309

6846-1 [17] Bors, M.: Ergänzung der Konstruktionsmethodik um Quality Function Deployment –

ein Beitrag zum qualitätsorientierten Konstruieren, Dissertation TU Berlin, Carl Hanser Verlag, München, 1994, ISBN 3-446-18098-2]

[18] Kopp, Gerhard und Müller, Alexander und Deißer, Oliver und Beyer, Stefanie (2017) Innovative Kunststoffanwendungen für ein kleines Stadtbuskonzept. VDI Verlag GmbH, Düsseldorf 2017. ISBN 978-3-18-234347-9

[19] Brost, M.; Klötzke, M.; Kopp, G.; Deißer, O.; Fraedrich, E.; Karnahl, K.; Sippel, T.; Müller, A.; Beyer, S. (2017): Development, Implementation (Pilot) and Evaluation of a Demand Responsive Transport System. EVS30 – Electric Vehicle Symposium, Stuttgart, Oktober 2017

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2 Urbane Mobilitäts-Hubs als Fundament des digital vernetzten und multimodalen Personenverkehrs

Ein Ansatz zur Geschäftsmodellgestaltung mit Fallbeispiel

M. Rehme, S. Richter (Institut für Vernetzte Mobilität gGmbH), A. Temmler, Prof. Dr. U. Götze (Technische Universität Chemnitz)

2 Urbane Mobilitäts-Hubs als Fundament des digital vernetzten und multimodalen Personenverkehrs .............................................................. 311

2.1 Motivation .................................................................................................... 3122.2 Charakterisierung und Systematisierung von Mobilitäts-Hubs .......... 3132.3 Standortstrukturplanung und Geschäftsmodellgestaltung von

Mobilitäts-Hubs ........................................................................................... 3172.4 Fallbeispiel Chemnitz ................................................................................. 3232.5 Ausblick ........................................................................................................ 3272.6 Danksagung ................................................................................................. 328

Literatur ........................................................................................................................ 328

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_19

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312 Fundament des digital vernetzten und multimodalen Personenverkehrs

2.1 Motivation

Die auf eine 130-jährige Geschichte zurückblickende Automobilindustrie sieht sich gegenwärtig mit einer Zeitenwende der Mobilität konfrontiert, deren globale Ent-wicklungen diverse ökologische, ökonomische und gesellschaftliche Problemfel-der adressieren und die auf den Märkten viele Gewinner, aber auch Verlierer her-vorbringen wird (vgl. [7], S. 13; [23], S. 3). Digitalisierung, Elektrifizierung, Auto-matisierung und Shareconomy verändern im Zusammenspiel die Art und Weise, wie wir uns fortbewegen, grundlegend und werden insbesondere in Städten zur Etablierung innovativer Mobilitätskonzepte für den Nahverkehr führen. Vor allem der Einbindung von gemeinschaftlich genutzten Elektrofahrzeugflotten in Reise-ketten für die Alltagsmobilität kommt dabei eine entscheidende Rolle zu.

Für das Funktionieren entsprechender innovativer Konzepte werden Verkehrs-, Energie- und Kommunikationsinfrastrukturen zu integrierten, cyber-physischen Systemen verschmelzen und sich klassische Verkehrseinrichtungen, wie Flughä-fen, (Bus-)Bahnhöfe und Haltestellen, zu digital vernetzten Drehkreuzen für mul-timodale Mobilität weiterentwickeln müssen. Solche Mobilitäts-Hubs werden vo-raussichtlich auf verschiedenen Hierarchieebenen − und heterogen hinsichtlich ih-rer funktionellen Ausstattung − in eine räumliche Gesamtsystemarchitektur einge-bettet sein. Aufgrund der Komplexität und Neuartigkeit multimodaler Systeme besteht eine Herausforderung darin, die kooperativ genutzten (physischen und di-gitalen) Infrastrukturen für Hubs sowohl für die Infrastrukturbetreiber als auch für potentielle Mobilitätsanbieter und deren Kunden ökonomisch attraktiv auszuge-stalten und dies bereits im Planungsprozess zu berücksichtigen.

Der vorliegende Beitrag widmet sich daher der wirtschaftlich Erfolg versprechen-den Konzipierung von Mobilitäts-Hubs im Sinne funktionierender Geschäftsmo-delle. Hierzu werden zunächst in Abschnitt 2.2 Mobilitäts-Hubs anhand ihrer cha-rakteristischen Merkmale abgegrenzt und hinsichtlich verschiedener Ausgestal-tungsoptionen systematisiert. Auf dieser Basis wird anschließend in Abschnitt 2.3 ein Ansatz zur Gestaltung von Geschäftsmodellen für Mobilitäts-Hubs entwi-ckelt, der die Entscheidungsfindung bezüglich der zu realisierenden Infrastruktur-spezifikationen und der damit verbundenen Ausrichtung von Geschäftsmodell-Elementen unterstützen soll. Die Anwendung des Ansatzes wird schließlich in Ab-schnitt 2.4 am Fallbeispiel der Stadt Chemnitz unter Einbeziehung von derzeit in der Nachwuchsforschergruppe ECoMobility ‒ Connected E-Mobility entwickelten Lösungsansätzen veranschaulicht, bevor ein Ausblick auf die weiteren Perspekti-ven von Mobilitäts-Hubs den Beitrag abschließt.

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Charakterisierung und Systematisierung von Mobilitäts-Hubs 313

2.2 Charakterisierung und Systematisierung von Mobilitäts-Hubs

Die Tatsache, dass klassische Verkehrseinrichtungen den Anforderungen zur Rea-lisierung multimodaler Wegeketten und folglich dem Anspruch bzw. Bedürfnis, weitgehend nahtlose Übergänge zwischen verschiedenen Verkehrsträgern und Fortbewegungsmitteln zu schaffen, nicht mehr genügen, hat in der jüngsten Ver-gangenheit zahlreiche Forschungsaktivitäten zu multimodalen Verkehrskonzep-ten hervorgerufen. In verschiedenen Studien, Forschungs- und Pilotprojekten wurde und wird sich der Erarbeitung von Lösungsansätzen gewidmet, und einige Konzepte mit neuartigen Mobilitätsstationen befinden sich bereits in der prakti-schen Anwendung. Umgesetzt wurden zum einen städtebaulich integrierte Mo-delle zur Förderung der Nahmobilität (Verknüpfung von (elektrifizierten) Car- und Ride-Sharing-Angeboten) in Sichtnähe zum öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV), ohne dessen expliziter Integration. Zu nennen sind hier bspw. die Mobil-stationen in Bremen und Mettingen [21], [24], [29]. Zum anderen kommen multi-modale Mobilitätskonzepte mit integrierter ÖPNV-Anbindung, unter anderem in den Städten Berlin, Offenburg, Kassel und Würzburg, bereits zum Einsatz [4], [8], [12], [27].

Für die Verknüpfung von Verkehrsknotenpunkten existiert eine Begriffsvielfalt, sodass sich in der fachlichen Community neben „Mobilitäts-Hub“ auch synony-me Termini – wie Mobility Hub, Mobil(itäts)station bzw. -punkt, Mobility Point, Share & Move, Mobilhof, Public Ride Point (PRP) und Smart Station [3], [6], [21], [22] – manifestiert haben. Ebenso mannigfaltig stellt sich das Begriffsverständnis hinsichtlich Inhalt und Ausgestaltungsformen von Mobilitäts-Hubs dar (zu den verschiedenen Definitionen vgl. u. a. [3], [15], [31]). Allen Begriffsabgrenzungen gemein ist die Auffassung des Hubs als ein Verknüpfungs- oder Knotenpunkt in den Wegeketten, an dem unterschiedliche Mobilitätsdienstleistungen bereitgestellt werden. Die Ausgestaltungen reichen von einer engen Interpretation von Mobili-tätsstationen als Verknüpfungselemente des Verkehrssystems im lokalen Kontext, die durch räumliche Konzentration einen einfachen örtlichen Wechsel zwischen einer Vielzahl von Verkehrsmitteln ermöglichen (vgl. [3], S. 6), bis hin zu einer sehr weit gefassten Auslegung als „places of connectivity where different modes of transportation – from walking to riding transit – come together seamlessly and where there is an intensive concentration of working, living, shopping and/or play-ing“ ([20], S. 4). Angelehnt an das weitgefasste Begriffsverständnis werden Mobi-litäts-Hubs im Rahmen dieses Beitrages als Transit-/Umstiegsstationen mit den sich angrenzenden, fußläufig erreichbaren Bereichen (d. h. etwa innerhalb eines 800-Meter-Radius [20]) aufgefasst. Ausgehend von ihrer charakteristischen

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Konnektivitätsfunktion können Mobilitäts-Hubs in Analogie zur Funktionsweise des biologischen Nervensystems als cyber-physische Funktionselemente („Sy-napsen“) für die Verknüpfung von Mobilitätsketten aufgefasst werden. Mobilitäts-Hubs setzen in diesem Zusammenhang an den neuralgischen Punkten des Ver-kehrssystems an, indem sie komplementäre Angebote zusammenführen und naht-lose Übergange zwischen Verkehrswegen und -trägern gestalten, um eine multi-modale Ende-zu-Ende-Mobilität zu realisieren [14]. Für Mobilitätsnutzer, deren tägliche Herausforderung darin besteht, aus den verfügbaren Optionen das kos-ten- und zeiteffizienteste Verkehrsmittel zu identifizieren, bieten Mobilitäts-Hubs daher vor allem den Vorteil, dass sich verschiedene Mobilitätsangebote bequem miteinander verbinden lassen und somit eine bedürfnisindividuelle Nutzung op-timal gestaltet werden kann. Die Möglichkeiten zur Ausgestaltung von Hubs sind ebenso vielfältig wie die Intensität ihrer städtebaulichen Implementierung.

Abbildung 2.1 Mobilitäts-Hubs als Fundament Intelligenter Verkehrssysteme

Quelle: eigene Darstellung

Während sich bisherige Untersuchungen bei der Einbindung von Mobilitäts-Hubs in die Verkehrsinfrastruktur meist lediglich auf physische Zugangssysteme kon-zentrieren (vgl. u. a. [15], [20]), werden dem Verständnis der Autoren folgend zwei Dimensionen ‒ eine physische und eine digitale ‒ als unabdingbar für die Reali-sation multimodaler Mobilität erachtet und stellen damit die zwei grundlegenden Seiten von Mobilitäts-Hubs dar. Während die physische Verknüpfung eine not-wendige Basis für kollaborative Geschäftsmodelle mehrerer Mobilitätsakteure dar-stellt, werden signifikante Anreize zur Nutzung komplementärer Mobilitäts-

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Charakterisierung und Systematisierung von Mobilitäts-Hubs 315

dienste erst durch digitale Schnittstellen und Dienste geschaffen. Die beiden Di-mensionen sind in Abbildung 2.1 visualisiert und werden im Folgenden hinsicht-lich ihrer individuellen Ausgestaltungsmöglichkeiten näher erläutert.

Mobilitäts-Hubs schaffen die physischen Zugangspunkte zu einer Reihe an Mo-bilitätsangeboten und vernetzen diverse Dienstleistungen, indem sie als Dreh-kreuze möglichst nahtlose Übergänge zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln er-möglichen. Ein Aufbau von Mobilitäts-Hubs muss im Stadtgebiet und in den an-zubindenden ländlichen Randgebieten dezentral verteilt und modular (in ver-schiedenen Größen und Ausstattungsvarianten) erfolgen. Bisherige Typologien teilen Mobilitäts-Hubs in verschiedene Größenklassen ein (vgl. u. a. [9], [15]), dif-ferenzieren nach deren Standort (neighborhood, central und regional [22], S. 7 f.) oder nehmen eine duale Unterscheidung hinsichtlich der durchlaufenden Perso-nenfrequenz (Anker-Hubs vs. Zugangs-Hubs [20], S. 6) vor. Mit Fokus auf den Kerngedanken der primären Funktionserfüllung erscheint aber eine weiterfüh-rende Klassifizierung in die nachfolgend dargestellten fünf Hub-Typen, welche unterschiedlich im Stadtumfeld integriert werden können, erforderlich und sinn-voll:

‒ Zentral-Hub: Fokus auf Anbindung des öffentlichen Verkehrs (ÖV) und die Verbindung der Kernstadt mit dem (über)regionalen Verkehr,

‒ Transit-Hub: Optionale Transferpunkte bei der Verbindung des Stadt-kerns mit den Stadtteilquartieren,

‒ Quartiers-Hub: Erster bzw. letzter Umstiegspunkt der Ende-zu-Ende-Ket-ten mit Fokus auf mikromobile Konzepte, d. h. kleine zusätzliche Statio-nen in weniger dicht besiedelten Wohnquartieren,

‒ Peripherie-Hub: Neudefinition bzw. Weiterentwicklung von Park & Ride-Angeboten, z. B. um Lademöglichkeiten für Elektromobilität,

‒ Point-of-Interest-Hub: Verbindung zu hochfrequentierten Einzeldestinati-onen, z. B. Universitäten, Flughäfen, Shopping Malls.

In Abhängigkeit von Urbanisierungsgrad, Lage, Frequentierung und Bedarf sind verschiedene Dimensionierungen von Micro- bis hin zu Macro-Hubs möglich, in-nerhalb derer die Kapazität der angebundenen Verkehrsmittel variieren kann. Auch sind neben der (verkehrs-)infrastrukturellen Auslegung für die Kernfunk-tion als Drehkreuz der Fahrgastbeförderung weitere optionale Infrastrukturaus-stattungen denkbar. Hierbei können Angebote aufgegriffen werden, die eine hö-here Nutzerakzeptanz und mehr Komfort schaffen (z. B. Kiosk, WLAN-Hotspot), zur Verbesserung der Wirtschaftlichkeit des Betriebs beitragen (z. B. Packstatio-nen, Lastenräder) oder eine engere Kopplung mit anderen Infrastruktursegmenten begünstigen (z. B. Lademöglichkeiten, virtuelles Kraftwerk, Parkmöglichkeiten für

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Car-Sharing oder motorisierten Individualverkehr (MIV)).

Neben den physischen Komponenten erfordern Mobilitäts-Hubs als Bestandteile Intelligenter Verkehrssysteme digitale Zugangspunkte, die neben Informationen über die verfügbaren Mobilitätsformen (z. B. über Anzeigetafeln, Selbstbedie-nungsterminals oder Hotline) zusätzlich die anbieterübergreifende Buchung und Abrechnung (Ticketing) über z. B. Smartphone-Apps und dahinter liegende Platt-formen integrieren. Darüber hinaus sind elektronische Zugangsmedien zur Au-thentifizierung, z. B. über Mobilitätskarten oder andere Karten mit RFID-Chip (Personalausweis, EC-/Kreditkarte etc.), ein wesentlicher Bestandteil für Bu-chungs- und Bezahlvorgang sowie den schlüssellosen Zugriff auf die Fahrzeuge. Das Mobilitätsangebot kann zudem optional um Komfortfunktionen, wie digitale Fahrplanauskünfte, Verkehrsmeldungen und intelligente Routenführung, ergänzt werden.

Abbildung 2.2 Ausgestaltungsoptionen von Mobilitäts-Hubs

Quelle: eigene Darstellung

Mobilitäts-Hubs können auch als funktionelle Einheiten von Geschäftsmodellen

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Standortstrukturplanung und Geschäftsmodellgestaltung von Mobilitäts-Hubs 317

aufgefasst und dann anhand ihrer verschiedenen (physischen und digitalen) Ge-staltungsoptionen sowie unter Einbeziehung der Interessen unterschiedlicher Marktakteure (Kundensegmente und Schlüsselpartner) differenziert werden. In diesem Zusammenhang existieren vielseitige Ausgestaltungsoptionen, z. B. hin-sichtlich der Finanzierungs- und Erlösquellen sowie der Verantwortlichkeiten für den Bau und Betrieb der Anlagen.

Zusammenfassend vermittelt der morphologische Kasten in Abbildung 2.2 – ohne die komplette Bandbreite möglicher Merkmale und Ausprägungen vollständig und abschließend darzustellen – einen Überblick über die Gestaltungsoptionen von Mobilitäts-Hubs und verdeutlich die Komplexität der mit ihrer Konzipierung verbundenen Entscheidungssituationen.

Um Mobilitäts-Hubs als Verkehrsinfrastrukturelemente und als Funktionseinhei-ten von Geschäftsmodellen bereits ex ante ökonomisch attraktiv zu konzipieren, wird im folgenden Abschnitt ein integrierter Ansatz für die Standortstrukturpla-nung sowie die Entwicklung und Gestaltung Erfolg versprechender Geschäftsmo-delle vorgestellt.

2.3 Standortstrukturplanung und Geschäftsmodellgestaltung von Mobilitäts-Hubs

Wie bereits in Abschnitt 2.2 deutlich wurde, ist die zielführende Gestaltung einzel-ner Mobilitäts-Hubs einschließlich ihrer Einbettung in eine für Anbieter und Nut-zer attraktive Gesamtsystemarchitektur eine komplexe Aufgabe mit einer Vielzahl aufeinander abzustimmender Faktoren und Wechselwirkungen. Sie fällt primär in den Zuständigkeitsbereich der öffentlichen Raum- und Verkehrsplanung und wird von politischen Zielsetzungen (mit-)bestimmt. Bei der Aufgabenbewältigung sind aber frühzeitig auch Verkehrsunternehmen, Mobilitätsdienstleister, private Akteure im Infrastrukturbereich sowie die Bedürfnisse der potentiellen zukünfti-gen Nutzer einzubeziehen. Da Verkehrsinfrastrukturprojekte in der Regel für ei-nen langen Zeithorizont angelegt sind und zumeist enorme Infrastrukturkosten binden, sind die einhergehenden Fragestellungen von strategischer Relevanz und erfordern aufgrund ihrer Komplexität daher ein systematisches Vorgehensmodell. Ein adäquates Vorgehensmodell wird unter dem Blickwinkel der Standortstruk-tur- sowie Geschäftsmodellgestaltung vorgestellt.

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318 Fundament des digital vernetzten und multimodalen Personenverkehrs

Die Planungsprobleme im Zusammenhang mit Mobilitäts-Hubs beziehen sich ei-nerseits auf deren Standortstruktur und andererseits auf die Konzeption der zuge-hörigen Geschäftsmodelle. Die Entscheidungsräume der Standortstruktur umfas-sen dabei eine räumliche Makroebene sowie die räumliche Mikroebene von Ein-zelstandorten. Die geschäftsmodellbezogenen Entscheidungen, also solche über die Art und Weise der Wertgenerierung, -verteilung und -vereinnahmung, stehen in einem engen Zusammenhang mit den vorgenannten Entscheidungsräumen und verfolgen primär wirtschaftliche Zielsetzungen. Diesen Gedanken folgend können die einzelnen planerischen Gestaltungsaufgaben den Modulen Standortverteilung und Ausgestaltung einzelner Hubs (im Folgenden unter der Bezeichnung Stand-ortstrukturplanung zusammengefasst) sowie Geschäftsmodellkonzeption zuge-ordnet werden. Unter dem wirtschaftlichen Blickwinkel auf die Realisierung und den Betrieb der (physischen und digitalen) Infrastrukturen sind bei der Standort-strukturplanung ökonomische Zielgrößen zu optimieren. Hinzu kommen gegebe-nenfalls weitere (nicht-ökonomische) Ziele, die mit den Mobilitäts-Hubs verfolgt werden und dann zu multikriteriellen Entscheidungsproblemen führen. Um best-mögliche Entscheidungen bezüglich aller Teilprobleme zu treffen, werden voraus-gehende Analysen bzw. Prognosen des relevanten Mobilitätsmarktes benötigt, die sich sowohl auf die Mobilitätsnachfrage als auch auf die -angebote beziehen. Dar-über hinaus muss zu Beginn zunächst das Untersuchungsfeld für alle weiteren Schritte abgegrenzt werden. Während und nach der Umsetzung der Planungen sollte eine strategische Kontrolle stattfinden, um gegebenenfalls erforderliche An-passungen an den realisierten Zuständen vornehmen zu können.

Insgesamt ergibt sich damit das in Abbildung 2.3 dargestellte Vorgehen für die Konzipierung von Mobilitäts-Hubs. Bei den folgenden Erläuterungen zu den Teil-schritten der Aufgabenmodule kann an dieser Stelle aufgrund des Umfangs der Gesamtaufgabe nur auf ausgewählte Elemente in gebührender Tiefe eingegangen werden.

Im Rahmen der Abgrenzung des Untersuchungsfeldes ist das geographische Ein-zugsgebiet, für das mit Hilfe von Hubs multimodale Personenverkehrsangebote ermöglicht werden sollen, räumlich abzustecken. In diesem Zusammenhang sind auch die raumspezifischen Charakteristika des Gebietes (z. B. Topographie, Topo-logie des örtlichen Verkehrsnetzes, relevante Verkehrsträger, Siedlungsdichten, demographische Kennzahlen) herauszuarbeiten. Ferner ist zu bestimmen, welche übergeordneten Ziele (mit welchen Prioritäten) bei der Konzipierung der Hub-Ar-chitektur zu berücksichtigen sind. Auch die zu beachtenden Restriktionen, welche die möglichen Handlungsalternativen einschränken (z. B. rechtlicher Art aus dem Personenbeförderungsgesetz (PBefG) oder technologischer Art hinsichtlich aktu-eller Technologiereifegrade), sind vorab festzulegen.

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Standortstrukturplanung und Geschäftsmodellgestaltung von Mobilitäts-Hubs 319

Abbildung 2.3 Vorgehen zur Standortstrukturplanung und Geschäftsmodell-gestaltung von Mobilitäts-Hubs

Quelle: eigene Darstellung

Bei der Analyse der Mobilitätsnachfrage sind die heutigen Verkehrsströme hin-sichtlich ihrer Quelle-Ziel-Beziehungen, des Verkehrsaufkommens und sonstiger Beschreibungsattribute zu untersuchen und gemeinsam mit den zu ergründenden Bedürfnissen (z. B. schnelle und kostengünstige Arbeitswege) und Präferenzen

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320 Fundament des digital vernetzten und multimodalen Personenverkehrs

(z. B. für bestimmte Verkehrsmodi) der Mobilitätsnutzer in Prognosen bzw. Sze-narien der künftigen Nachfrage zu überführen. Die Analyse vorhandener Mobi-litätsangebote richtet sich neben den einzelnen Mobilitätsprodukten und ergän-zenden Diensten auch auf die sie erbringenden Anbieter und die vorzufindende Marktstruktur. Sie sollte in eine Herleitung zukünftiger Erweiterungs- und Ergän-zungsmöglichkeiten des heutigen Angebotes münden. Ein Abgleich der Mobili-tätsangebote und -nachfrage erlaubt es zunächst, grundsätzliche Möglichkeiten zur Bildung attraktiver multimodaler Reiseketten zu identifizieren. Dabei ist an die zuvor bestimmten räumlichen Charakteristika, Ziele und Restriktionen zu denken. Die Analysen der Angebots- und Nachfrageseite können in Standortstrukturanfor-derungen überführt werden, die dann den Ausgangspunkt der Standortstruktur-planung bilden, d. h. einer zielorientierten Festlegung der räumlich-strukturellen Gesamtheit von Standorten und der langfristigen Zuordnung von Funktionen, Leistungen und Ausstattungen zu diesen (vgl. [10], S. 50).

Im Rahmen der Planung der Standortverteilung ist auf der Makroebene eine für die spezifischen Gegebenheiten des Untersuchungsfeldes geeignete Netzstruktur bzw. Netzhierarchie festzulegen. Dabei ist auf den raumstrukturellen und -funkti-onellen „Fit“ des konzipierten Netzes von Mobilitätsstationen zu den vorgefunde-nen Strukturen zu achten. Neben der typischen Hub-and-Spoke-Architektur kön-nen hier gegebenenfalls auch Point-to-Point-Verbindungen oder Mischformen (Grid) sinnvoll sein. Gleichzeitig sind die Netzdimensionierung und die erforder-liche bzw. optimale Netzdichte (Anzahl an Verkehrsstationen) zu bestimmen. Auf diesen Grundlagen aufbauend kann dann eine geographische Standortwahl mit Blick auf die verfolgten Ziele getroffen werden. Dieser Auswahlprozess wird im Folgenden etwas näher betrachtet.

Mit dem Prozessschritt der Standortwahl wird beabsichtigt, innerhalb des räum-lich abgegrenzten Einzugsgebietes und unter Berücksichtigung der zuvor festge-legten Zielkriterien (z. B. Schnelligkeit und Kostengünstigkeit von Verkehrsverbin-dungen) und Nebenbedingungen die „bestmöglichen“ Standorte für Mobilitätssta-tionen zu bestimmen. Als Blaupause hierfür können Vorgehen der Industrie-standortlehre zur Planung von Unternehmensstandorten (vgl. z. B. [10]) – adaptiert auf die Probleme und Erfordernisse der Verkehrsplanung (vgl. z. B. [18]) – dienen.

Die bereits zuvor durchgeführte Definition von (erfolgskritischen) Standortfakto-ren bezieht sich zunächst auf alle entscheidungsrelevanten Eigenschaften, an de-nen sich im späteren Schritt die Auswahl geeigneter Standorte orientieren muss. Sie ist somit zentraler Ausgangspunkt der geographischen Standortwahl. Unter den relevanten Faktoren sind neben der Deskription des Raumsystems und der Siedlungsstruktur insbesondere auch wirtschaftliche Faktoren, örtliche Faktoren

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Standortstrukturplanung und Geschäftsmodellgestaltung von Mobilitäts-Hubs 321

von Mobilitätsnachfrage und -angebot sowie reglementierende Faktoren des recht-lichen Rahmenwerkes (wie z. B. § 45 PBefG für die Genehmigungspflicht von Hal-testellen) zu subsumieren (vgl. Abbildung 2.4). Anhand der Festlegung von Soll-Zielgrößen sollen die Standortfaktoren in wünschenswerte Ausprägungen opera-tionalisiert werden, um Anforderungsprofile ableiten zu können. Diese Profile be-ziehen sich sowohl auf bestimmte Typen und Hierarchiestufen von Hubs (z. B. Mindestgröße) als auch auf die in Summe resultierende Gesamtsystemarchitektur (z. B. Zielwerte für die Standortdichte).

Abbildung 2.4 Rahmenbedingungen und Standortfaktoren für die Planung von Mobilitäts-Hubs

Quelle: eigene Darstellung

Anschließend sind die in Betracht kommenden Standortalternativen im Entschei-dungsraum zu identifizieren und es ist deren jeweilige Eignung anhand der zuvor definierten Standortfaktoren zu bestimmen. Hierzu können im Allgemeinen ver-schiedene methodische Ansätze zur Anwendung kommen. Die Bandbreite reicht dabei von Checklisten über Mehrzielverfahren (Scoring-Modelle) bis zu monetäre

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Zielsetzungen beurteilenden Investitionsrechenverfahren. Für einen generellen Überblick sei auf die einschlägige Literatur (vgl. z. B. [10], [11], [17], [29]) verwie-sen. Einschränkungen für die Eignung möglicher Verfahren ergeben sich aus der mehrkriteriellen Entscheidungsproblematik bei der Standortwahl von Mobilitäts-Hubs, wenn nicht nur nach einer ökonomischen Zielgröße, sondern nach mehreren – auch nicht-ökonomischen – Zielgrößen optimiert werden soll, die keinen direk-ten Einfluss auf die Wirtschaftlichkeit des Mobilitäts-Hubs ausüben (z. B. Erreich-barkeit durch Abokunden des Öffentlichen Verkehrs). Als ein einfach anwendba-res Verfahren sei an dieser Stelle auf den Standortprofilvergleich verwiesen (vgl. [5], S. 162f.). Hierbei werden aus den gegebenenfalls gewichteten Standortfaktoren Ist-Profile für die identifizierten Standorte erzeugt und mit den Soll-Werten der Anforderungsprofile – die den Idealstandort kennzeichnen – verglichen. Standorte mit der geringsten Diskrepanz aus Soll- und Ist-Werten sind schließlich auszuwäh-len. Visualisierungsinstrumente, wie z. B. Profil- oder Netzdiagramme, können den Auswahlprozess unterstützen, indem sie die Eignung einzelner Standortalter-nativen hinsichtlich der Anforderungsprofile in strukturierter und übersichtlicher Weise aufzeigen.

Nach der Auswahl der optimalen Standorte für Mobilitätsstationen ist auf der Mik-roebene die Ausgestaltung der einzelnen Hubs zu planen. Ausgehend von der strategischen Funktion des jeweiligen Knotenpunktes innerhalb der Gesamtsyste-marchitektur (vgl. Abschnitt 2.2) umfasst dies zunächst die Bestimmung der anzu-bindenden Verkehrsmittel sowie die Definition der Hub-Größe (Macro-, Meso-, Micro-Hub) bzw. die Dimensionierung einzelner Infrastrukturbestandteile (z. B. Parkplatzgröße und Anzahl der Bussteige). Dabei ist auch über die Art und Weise der Angebots- und Anbieterintegration zu entscheiden, indem die konkrete (phy-sische bzw. digitale) Ausstattung am Standort sowie die damit ermöglichten Mo-bilitäts- und Ergänzungsleistungen festgelegt werden.

Die Geschäftsmodellkonzeption für Mobilitäts-Hubs muss parallel zur Standort-strukturplanung erfolgen, da sich die infrastrukturbezogenen Optionen direkt auf die möglichen Muster der Geschäftstätigkeit auswirken. Einzelne Mobilitäts-Hubs stellen Funktionseinheiten integrierter und zugleich kollaborativer Geschäftsmo-delle dar. Deshalb ist es sinnvoll, sie als ein zusammenhängendes Netz – sowohl aus der Perspektive der (bzw. des) Infrastrukturbetreiber(s) als auch aus den Be-trachtungswinkeln der sie nutzenden Mobilitätsanbieter – zu betrachten. Dabei sind alle Grundkomponenten, welche die Funktionsweise des wirtschaftlichen Be-triebs von Hubs als Verkehrssystemelemente beschreiben, zu berücksichtigen. Be-zogen auf Geschäftsmodelle allgemein existieren in diversen Ansätzen verschiede-ner Autoren etliche Ordnungsrahmen (vgl. [16], S. 106 ff.), die hierfür nutzbar sind. Hier wird vorgeschlagen, sich an den fünf Geschäftsmodell-Dimensionen von

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Fallbeispiel Chemnitz 323

SCHALLMO – die Leistungs-/Nutzen-, die Wertschöpfungs-, die Partner-, die Kun-den- und die Finanzdimension (vgl. [26], S. 119) – zu orientieren. Die digitale Hub-Integration über geeignete Schnittstellen und Kanäle stellt dann einen wichtigen Schwerpunkt innerhalb der Partner- und Kundendimension dar. Dafür sind auch geeignete Kommunikationskonzepte zu entwickeln, um die Nutzung der Hub-An-gebote (und einen eventuellen Umstieg von monomodalen Verkehrsformen, wie dem MIV) voranzutreiben.

Im Zusammenhang mit der Finanzdimension stellen sich wichtige Fragen bezüg-lich der ökonomischen Vorteilhaftigkeit existierender Ausgestaltungsvarianten (für das Gesamtsystem, die einzelnen Hubs und die zugehörigen Geschäftsmodell-Komponenten) sowie hinsichtlich des „richtigen“ Trägermodells für die zu errich-tenden und zu betreibenden Infrastrukturen. Trägermodelle regeln die Eigen-tumsverhältnisse sowie die Zuständigkeiten für die Bauleistungen, den späteren Betrieb und die Finanzierung der Infrastruktur über deren Lebenszyklus hinweg. Sie können hinsichtlich der grundsätzlichen Kooperationsformen und -grade in Eigenleistungen der öffentlichen Hand, Outsourcingmodelle, Konzessi-ons-/Betreibermodelle und strategische Kooperationsmodelle unterschieden wer-den (vgl. [13], S. 459 und Abbildung 2.2). Insbesondere bei den Konzessions-/Be-treibermodellen existiert im Infrastrukturbereich eine ausgesprochen große Viel-falt an Umsetzungsvarianten (z. B. Build-Operate-Transfer- und Build-Own-Ope-rate-Modelle, vgl. [17], S. 89 ff.). Jedes Modell weist spezifische Vor- und Nachteile auf und ist im konkreten Einzelfall unter den gegebenen Rahmenbedingungen mit Hilfe perspektivenspezifischer Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen und Risikoabwä-gungen auf seine Sinnhaftigkeit und Attraktivität zu prüfen. Dazu und zur Bestim-mung der bestmöglichen weiteren Ausgestaltungsvarianten sollten frühzeitig öko-nomische Lebenszyklusrechnungen und Vorteilhaftigkeitsvergleiche (sowie bei Bedarf entsprechende Anpassungen an den bisherigen Planungen) durchgeführt werden. Auch während der Realisierung und des sich anschließenden Betriebs der Hub-Infrastrukturen sind Überprüfungen der Standortstruktur, des Geschäftsmo-dells und seiner Wirtschaftlichkeit sowie gegebenenfalls Nachsteuerungen vorzu-nehmen.

2.4 Fallbeispiel Chemnitz

Die Anwendung des vorgestellten Ansatzes soll nun anhand ausgewählter Ele-mente am Beispiel der Stadt Chemnitz veranschaulicht werden. Im Rahmen der Abgrenzung des Untersuchungsfeldes bietet sich hier neben der Kernstadt auf-grund der Stellung als eine Stadtregion auch eine Berücksichtigung des stadtnahen

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Umlandes an. Hinsichtlich seiner raumspezifischen Charakteristika weist Chem-nitz eine typische radial-ringförmige Stadtmorphologie, eine für den nicht-motori-sierten Verkehr herausfordernde hügelige Topographie und im Vergleich zu den anderen deutschen Großstädten eine mittlere Bevölkerungszahl, eine unterdurch-schnittliche Bevölkerungsdichte und Kaufkraft sowie ein vergleichsweise hohes Durchschnittsalter auf. Die Stadtverwaltung verfolgt bereits seit langem eine nach-haltige Verkehrsgestaltung und hat sich frühzeitig den Themen Klimaschutz und Energiewende gewidmet. Die dahingehend vereinbarten städtischen Ziele ökolo-gischer, aber auch verkehrspolitischer, raumplanerischer, ökonomischer und sozi-aler Art sind in zahlreichen Dokumenten, wie den Konzepten für die städtebauli-che Entwicklung, den Radverkehr, den Parkraum und die Elektromobilität, dem Nahverkehrs- und Verkehrsentwicklungsplan sowie dem integrierten Klima-schutzprogramm für Chemnitz, fixiert. Einen Schlüsselfaktor für die Erreichung der vereinbarten Ziele soll die Ausweitung und Attraktivitätsverbesserung der ÖV-Angebote darstellen.

Zur Verbesserung der Stadt-Umland-Anbindung existiert mit dem „Chemnitzer Modell“ bereits ein Regionalstadtbahnsystem, welches seit der Neugestaltung des Hauptbahnhofes 2013 sukzessive ausgebaut wird. Als ÖPNV-Rückgrat bietet es einzigartige Weiterentwicklungsmöglichkeiten, um eine nachhaltige Anbindung der suburbanen und peripheren Räume zu ermöglichen und um multimodale Rei-seketten, auch über die Stadtgrenzen hinweg, zu realisieren. Darüber hinaus lassen sich im heutigen Mobilitätsangebot der Stadt prinzipiell alle modernen Nutzungs-formen, vom Car- und Bikesharing, über Peer-to-Peer-Sharing, Fernbus- und Ride-sharing-Angebote bis hin zu Elektroautovermietungen, wiederfinden. Bisher fehlt es jedoch an einem übergeordneten interkommunalen Mobilitätskonzept, welches Wege aufzeigt, um mehrgliedrige Mobilitätsketten nachhaltig und komfortabel zu gestalten und dabei die differenzierten Möglichkeiten der Elektromobilität in den verschiedenen Raumstrukturen einzubeziehen.

Ein Blick auf das Verkehrsmittelwahlverhalten der Chemnitzer Einwohner ver-deutlicht ausgeprägte Nutzungsanteile des MIV an deren täglichen Wegen. Gemäß der mobilitätsverhaltensbezogenen Zeitreihenuntersuchung „Mobilität in Städten – SrV“ (vgl. [2], [1]) zeigt sich über alle Mobilitätszwecke hinweg, dass der Pkw für die durchschnittlich zurückgelegten 3,6 Wege pro Person und Tag das am häufigs-ten genutzte Verkehrsmittel darstellt und dessen Anteil zwischen 51 % (für Freizeit sowie Einkaufs-/Dienstleistungswege) und 71 % (für Wege zum Arbeitsplatz) an der Gesamtwegezahl variiert. Demnach entfallen insgesamt ca. 81 % der Verkehrs-leistung allein auf die Pkw-Nutzung. Dies bestätigt sich auch bei der Betrachtung der räumlichen Gliederung nach Stadtteilen, wobei in den peripheren Stadtrand-lagen erwartungsgemäß ein größerer Nutzungsanteil auf den Pkw entfällt (ca.

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Fallbeispiel Chemnitz 325

68 %) als im Zentrumsbereich (42 % MIV ggü. 40 % zu Fuß). Als eine wesentliche Ursache für die ausgeprägte MIV-Nutzung ist u. a. das hohe Aufkommen von Pen-delverkehren zu benennen. So stellt die Stadt Chemnitz den zentralen Punkt für Pendlerströme in Südwestsachsen dar (vgl. [25]). Ein Vergleich von Landkreisen und kreisfreien Städten offenbart, dass Chemnitz mit knapp 45 % die höchste Ein-pendlerquote in Sachsen verzeichnet (vor Landkreis Nordsachsen mit ca. 38 %). Auch der Anteil an Auspendlern nimmt mit ca. 30 % – im Vergleich zu Dresden (ca. 25 %) und Leipzig (ca. 27 %) – das größte Aufkommen unter den sächsischen Großstädten an, woraus sich zugleich der größte Pendlersaldo in Südwestsachsen ergibt. Aufgrund der vergleichsweise geringen Nutzung anderer Verkehrsmodi ist zu schlussfolgern, dass ein großer Teil der täglich ca. 74.000 Pendler mit dem eige-nen Pkw verkehrt.

Zukunftsprojektionen zeigen, dass das Medianalter der Chemnitzer weiter zuneh-men und die Gesamtpopulation bis 2030 schrumpfen wird (vgl. [28]). Der bisherige Trend verdeutlicht zudem eine steigende Pkw-Verfügbarkeit auch in der Bevölke-rungsgruppe der Senioren sowie eine Zunahme des MIV am Modal Split, sodass bei Fortschreibung und Auftreten von Kohorteneffekten angenommen werden kann, dass der Pkw das wichtigste Fortbewegungsmittel der Chemnitzer bleiben wird. Um bewusst einen Modal Shift herbeizuführen, sollten Maßnahmen auf eine attraktivere Ausgestaltung relevanter Kriterien der Verkehrsmittelwahl abzielen – so z. B. die Erhöhung der Verfügbarkeit von (e)Bike-Sharingkonzepten (auch für Unternehmen) sowie der attraktiveren Ausgestaltung von ÖV-Angeboten, u. a. durch deren Verfügbarkeit an relevanten Quell- und Zielorten von Pendelbewe-gungen (insbesondere in den Landkreisen Mittelsachsen und Erzgebirgskreis so-wie der Stadt Zwickau).

Neben der konsequenten Fortführung des Chemnitzer Modells ist der Zugang in Form von Mobilitäts-Hubs sicherzustellen, um möglichst nahtlose Übergänge zum Zielort zu realisieren. An Bildungs- und Forschungseinrichtungen wird kontinu-ierlich an solchen innovativen Mobilitätslösungen für den urbanen Raum ge-forscht. So wurden und werden bspw. an der Technischen Universität Chemnitz im Rahmen der Forschungsvorhaben fahrE und des Nachfolgeprojektes ECoMo-bility – Connected E-Mobility alltägliche Mobilitätsbedürfnisse von Personen, die globalen und individuellen Aspekte der Akzeptanzerhöhung alternativer Mobili-tätskonzepte sowie deren wirtschaftliche Gestaltung untersucht. Die Systemarchi-tektur zum Projekt ECoMobility ist in Abbildung 2.5 dargestellt und wird in den nachfolgenden Ausführungen näher betrachtet.

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326 Fundament des digital vernetzten und multimodalen Personenverkehrs

Abbildung 2.5 Physische und digitale Systemkomponenten im Projekt ECoMobility

Quelle: eigene Darstellung

Das Projekt ECoMobility – Connected E-Mobility ist ein Anwendungsbeispiel für ein nachhaltiges multimodales Mobilitätskonzept, welches E-Car- und Ride-Sha-ring mit dem ÖPNV-Angebot verbindet. Den Mitarbeitern und studentischen Hilfskräften der TU Chemnitz wird derzeit der Zugang zu einer Mobilitätsplatt-form gewährt, die es ermöglicht, mittels Nutzung unterschiedlicher Mobilitätsträ-ger zwischen den vier Universitätsstandorten, innerhalb des Stadtgebietes sowie in das angrenzende Umland zu pendeln. Für ihre Dienstwege werden den Mitar-beitern vier Smart Electric Drive, acht Pedelecs sowie der ÖPNV-Zugang entgelt-frei zur Verfügung gestellt (physische Dimension). An jedem der vier Universi-tätsstandorte wurde für die Fahrzeuge ein Mobilitäts-Hub errichtet – bestehend aus vier Ladesäulen mit jeweils zwei eigens für Elektrofahrzeuge vorgesehenen Stellflächen. Fahrtantritt und -ende der E-Smarts und Pedelecs müssen stets an ei-nem der Hubs erfolgen. Um das Energienetz zu entlasten und gleichzeitig einen

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Ausblick 327

Beitrag zur Energiewende zu leisten, ist perspektivisch die Einbindung eines stati-onären Energiespeichers zur Speicherung und Einspeisung regenerativ erzeugter Energien in die Fahrzeuge vorgesehen. Die Mitarbeiter können ihre Fahrten über einen Mobilitätsassistenten an der Ladesäule, via Web oder Smartphone buchen und verwalten (digitale Dimension). Als Authentifizierungsmedium für die Bu-chung der Fahrten und für den schlüssellosen Zugang zu den Fahrzeugen via RFID-Reader in der Windschutzscheibe dienen RFID-gestützte Karten, wie z. B. Kreditkarten, Studenten- oder Mitarbeiterausweise. Ergänzt wird das Mobilitäts-angebot zudem um die Komfortfunktionen Support-Hotline, eine im Mobilitätsas-sistenten integrierte Fahrplanauskunft des ÖPNV und die Ortungsfunktion der Fahrzeuge via GPS. Das Forschungsvorhaben verfolgt zwar den Anspruch, multi-modale Angebote im praktischen Feld zu untersuchen. Aufgrund der Beschrän-kung auf innerbetriebliche Anwendungsfälle können jedoch nur bedingt Aussagen hinsichtlich der sozialen, rechtlichen und gesellschaftlichen Relevanz der Ergeb-nisse getroffen werden. Es bedarf daher künftig noch weiterer Forschungsanstren-gungen, um eine anwendungs- und realitätsnahe Bewertung und Verbesserung einer ganzheitlichen Vision urbaner multimodaler Mobilität der Zukunft realisie-ren zu können. Nächste Schritte können zum einen in der Öffnung für außeruni-versitäre Nutzerkreise und zum anderen in einer infrastrukturellen Erweiterung (Ausbau des bestehenden Hub-Netzes und Verknüpfung mit weiteren inner- und außerstädtischen Mobilitätsstationen) bestehen.

2.5 Ausblick

Digitalisierung und Multimodalität gehören zweifelsohne zu den prägenden Trends der Mobilitätswelt von morgen – insbesondere für den Personenverkehr in urbanen Zentren. Noch ist allerdings nicht seriös abschätzbar, in welchem Umfang diesbezügliche Veränderungen der Mobilitätspräferenzen und des Mobilitätsver-haltens tatsächlich stattfinden werden und damit, wie hoch der zukünftige Bedarf an einer Errichtung neuer (bzw. einer Aufrüstung bestehender) Infrastrukturele-mente zur Schaffung multimodaler Knotenpunkte sein wird. Daher erscheinen fundierte und lokalspezifische Bedarfsprognosen bzw. -szenarien als unabding-bare Grundlage für die Anwendung des vorgestellten Ansatzes. Letzterer sollte künftig an realen Projekten in der Praxis validiert und mit den dabei gewonnenen Erkenntnissen weiterentwickelt werden. Auch die sich als praktikabel und markt-fähig erweisenden Muster für Geschäftsmodelle der typischerweise beteiligten Partner sollten empirisch ergründet werden. Weitere konzeptionelle Forschungs-arbeiten sollten sich vor allem mit den Erweiterungsmöglichkeiten des hier be-

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328 Fundament des digital vernetzten und multimodalen Personenverkehrs

trachteten Hub-Konzeptes beschäftigen und den daraus resultierenden Anpas-sungs- bzw. Konkretisierungsbedarf bestimmen. Zum einen kann der Gedanke ur-baner Drehkreuze der Multimodalität auch auf ländliche Regionen mit ihren spe-zifischen Problemlagen und auf Logistikkonzepte (bzw. integrierte Personenbeför-derungs- und Gütertransportkonzepte) übertragen werden. Zum anderen treffen Hub-Konzepte mit weiteren aktuellen Technologietrends, wie Elektromobilität und automatisiertes Fahren, zusammen, was wiederum Auswirkungen auf die Standortstrukturplanung und Geschäftsmodellkonzeption hat. So bieten sich auch vertiefte Untersuchungen der Schnittstellen zu Elektrofahrzeugen und der Spezi-fika von automatisierten Fahrzeugen für die Personenbeförderung (autonome Shuttles), wie sie derzeit bereits in Forschungs- und Pilotprojekten erprobt werden, an.

2.6 Danksagung

Diese Arbeit wurde unterstützt durch die Europäische Union (Europäischer Sozi-alfonds ESF), die Sächsische AufbauBank (SAB) und durch den Freistaat Sachsen im Rahmen des Forschungsprojektes ECoMobility – Connected E-Mobility. Die Autoren danken den Fördermittelgebern.

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Danksagung 329

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330 Fundament des digital vernetzten und multimodalen Personenverkehrs

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3 Anforderungen von Nutzern flexibler öffentlicher Mobilitätskonzepte an digitale Fahrgastinformationen mit Echtzeitdaten

K. Viergutz, F. Brinkmann (Deutsches Zentrum für Luft- und Raumfahrt e.V.)

3 Anforderungen von Nutzern flexibler öffentlicher Mobilitätskonzepte an digitale Fahrgastinformationen mit Echtzeitdaten 331

Abstract ........................................................................................................................ 3323.1 Ziel und methodisches Vorgehen ............................................................. 3323.2 Charakterisierung bedarfsorientierter Mobilitätskonzepte .................. 3343.3 Dynamische Fahrgastinformationen mit Echtzeitdaten im

Nahverkehr .................................................................................................. 3343.4 Studie zu Nutzungsgewohnheiten von Fahrgastinformationen im

Linienverkehr ............................................................................................... 3363.5 Ableitung neuer Anforderungen an mobile Informationsmedien ...... 3413.6 Ableitung neuer Anforderungen an stationäre Informationsmedien . 3433.7 Zusammenfassung der Ergebnisse und Beschreibung von

Zukunftsszenarien ...................................................................................... 345

Literatur ........................................................................................................................ 345

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_20

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332 Anforderungen an digitale Fahrgastinformationen mit Echtzeitdaten

Abstract

Flexible öffentliche Mobilitätskonzepte mit Eigenschaften wie der Haustürbedie-nung und digitaler Vernetzung mit Live-Tracking, die sich flexibel an den indivi-duellen Mobilitätsbedarf von Fahrgästen anpassen, gewinnen zusehends an Be-deutung. Daraus ergeben sich neue Herausforderungen an Informationen über verfügbare Mobilitätsangebote. Der Informationsbedarf für die Nutzung des be-darfsorientierten ÖPNV unterscheidet sich von jenem Informationsbedarf zur Nut-zung von auf Linien und Fahrplänen basierenden öffentlichen Verkehrsmitteln. Zur Analyse dieser neuen Anforderungen an Fahrgastinformationen werden in diesem Beitrag die Ergebnisse einer Studie des Instituts für Verkehrssystemtechnik des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt e.V. (DLR) präsentiert. Die Stu-die mit 1.354 Teilnehmern hatte zum Ziel, Erkenntnisse über die Informationsbe-schaffung von Fahrgästen im fahrplanbasierten ÖPNV sowie deren Anforderun-gen an dynamische Fahrgastinformationen mit Echtzeitdaten zu gewinnen. Dabei beschäftigte sich die Befragung insbesondere mit Anzeigen an Haltestellen und mobilen Anwendungen (Smartphone-Apps). Die Ergebnisse dieser Studie gehen ein in die Erforschung innovativer Mobilitätskonzepte: Bei der Frage, wie Fahr-gäste sich bei der Nutzung eines haltestellenlosen Nahverkehrssystems über den aktuellen Betriebsablauf informieren würden, spielen insbesondere die Erkennt-nisse über die Nutzung mobiler Anwendungen eine wichtige Rolle. Für den vor-liegenden Beitrag werden die gewonnenen Erkenntnisse aus der Anforderungs-analyse speziell auf flexible Mobilitätskonzepte der Städte von morgen übertragen, wodurch das Bild zukünftiger Nutzer und ihrer Anforderungen illustriert werden kann.

3.1 Ziel und methodisches Vorgehen Heutzutage besitzen Verkehrsteilnehmer hohe Ansprüche an die Individualisie-rung ihrer Mobilität (Winterhoff et al, 2009). Mobilitätsangebote, die sich flexibel an den individuellen Mobilitätsbedarf anpassen, gewinnen zusehends an Bedeu-tung (Mulley & Nelson 2009; Kleinhückelkotten & Neitzke 2011). Zudem präferie-ren Verkehrsteilnehmer Angebote, die sich spontan in ihren Alltag integrieren las-sen. Dies zeigt sich an der steigenden Verfügbarkeit bedarfsorientierter Mobilitäts-angebote mit Eigenschaften wie der Haustürbedienung und digitalem Live-Tra-cking. Insbesondere in ländlich geprägten Gemeinden sind diese flexiblen Bedien-formen seit einigen Jahrzehnten etabliert (König & Viergutz 2017). Dabei leisten diese bedarfsgesteuerten Bedienformen als Mischform aus öffentlichem und Indi-vidualverkehr (Laws 2009) nicht nur einen Beitrag zur Daseinsvorsorge, sondern

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Ziel und methodisches Vorgehen 333

besitzen zudem das Potenzial, insbesondere während Zeiten geringerer Verkehrs-nachfrage zur Kostendeckung und damit zur langfristigen Erhaltung des Ver-kehrsangebots beizutragen (Dalkmann & Ötting 2004; Enoch, Potter, Parkhurst, & Smith 2004). Dieser Effekt reduziert gleichzeitig die Schadstoffemission der Fahr-zeuge (Iacometti, Setti, Scholliers, Gorini & Eloranta 2003). Sowohl in urbanen wie auch in dispersen Räumen ist ein Trend zu bedarfsorientierten Mobilitätsangebo-ten erkennbar.

Große Veränderungen technologischer Mittel ermöglichen neue Ansätze der Ge-staltung von Mobilitätskonzepten (Schnieder 2014; Mulley & Nelson 2009). Fort-schreitende Digitalisierung sowie die Allgegenwart mobiler Geräte, wie zum Bei-spiel Smartphones und Tabletcomputer, stellen als Enabler die technischen Mittel zur Verfügung, die neuartige Möglichkeiten bewirken. Der vorliegende Beitrag versucht Antworten auf zentrale Fragen hinsichtlich der Änderungen der Anfor-derungen an digitale Fahrgastinformationen bei bedarfsorientierten Bedienformen im Nahverkehr zu geben. Dabei wird aufgezeigt, inwiefern sich die Mobilitätsbe-dürfnisse der Zukunft ändern. Zudem findet eine Beschreibung der Auswirkun-gen dieser Entwicklung auf digitale Fahrgastinformationen statt.

Abbildung 3.1 Methodisches Vorgehen der Untersuchung

Zur Nutzung des bedarfsorientierten ÖPNV sind andere Informationen erforder-lich als zur Nutzung von auf Linien und Fahrplänen basierenden öffentlichen Ver-kehrsmitteln. Zur Analyse dieser neuen Anforderungen an Fahrgastinformationen werden in diesem Beitrag die Ergebnisse einer Studie mit 1.354 Teilnehmern prä-sentiert, die zum Ziel hatte, Erkenntnisse über die Informationsbeschaffung von Fahrgästen im fahrplanbasierten ÖPNV sowie deren Anforderungen an dynami-sche Fahrgastinformationen mit Echtzeitdaten zu gewinnen. Dabei beschäftigte sich die Befragung insbesondere mit Anzeigen an Haltestellen und mobilen An-

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334 Anforderungen an digitale Fahrgastinformationen mit Echtzeitdaten

wendungen (Smartphone-Apps). Auf Basis der durch die Studie gewonnenen Er-kenntnisse werden Anforderungen von Nutzern flexibler Mobilitätskonzepte ab-geleitet (Abbildung 3.1).

3.2 Charakterisierung bedarfsorientierter Mobilitätskonzepte

Konventionelle öffentliche Verkehrssysteme besitzen überwiegend ex-ante aufge-stellte Fahrpläne. Diese Soll-Fahrpläne geben an, zu welcher Zeit die im Verkehrs-netz entlang definierter Linienwege verorteten Haltestellen bedient werden. Um das Verkehrsangebot auf eine variable Nachfrage anzupassen, kann von diesen festgelegten Haltestellen, Linienwege und Bedienzeiten abgewichen werden, so-dass bedarfsorientierte Verkehrsangebote (engl. demand responsive transport) entstehen (Atasoy, Ikeda & Ben-Akiva 2014). Hierbei sind vielfältige Grade der Fle-xibilisierung des Angebots möglich. Eine sehr einfache Form der Flexibilisierung ermöglicht der Bedarfslinienverkehr, wie zum Beispiel Anruf-Sammel-Taxis (Bun-desministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 2009). Die größte Flexibi-lität ermöglicht der Bedarfsverkehr im Flächenbetrieb (Mehlert 2001). Nutzer die-ses Verkehrssystems können Start- und Zielpunkte ihrer Reise sowie die ge-wünschte Abfahrts- oder Ankunftszeit innerhalb eines bestimmten Bediengebiets und innerhalb bestimmter Bedienzeiten weitestgehend selbst bestimmen. Für die Fahrgäste resultiert durch die Tür-zu-Tür-Merkmale eines Bedarfsbusses ein hö-herer Komfort im Sinne einer Mobility on Demand. Damit wird den Anforderun-gen von Fahrgästen nach stärkerer Individualisierung ihrer Mobilität Rechnung getragen (Bültemann, Viergutz & Scheier 2016). Die Integration des Mobility on Demand Systems (MODS) als Zu- oder Abbringer zu einem auf Bündelungseffekte ausgerichteten angebotsorientiert bedienten Verkehrssystem berücksichtigt das Bedürfnis der Fahrgäste nach einer zuverlässigen Realisierung von über das Quar-tier hinausgehenden Mobilitätsbedarfen. Bedarfsorientierte Systeme stellen damit eine flächenhafte Ergänzung zum Linienverkehr mit präformierten Fahrplänen dar (Dalkmann & Ötting 2004).

3.3 Dynamische Fahrgastinformationen mit Echtzeitdaten im Nahverkehr

Fahrgastinformationen erlauben Fahrgästen die Informationsgewinnung über Ab-fahrten und Verbindungen vor, während und nach der Durchführung einer Reise

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Dynamische Fahrgastinformationen mit Echtzeitdaten im Nahverkehr 335

(Scheier 2013). Dabei werden Solldaten, die festgelegte Fahrplandaten widerspie-geln sowie Echtzeitdaten, die Auskunft über die aktuelle Fahrplanlage geben, un-terschieden. Echtzeiten werden oft in Form von Restzeiten ausgegeben. Ihre Dar-stellung erfolgt demnach nicht als absolute Uhrzeiten, sondern als „Countdown“ bis zur Abfahrt (Viergutz 2016). Die Sortierreihenfolge entspricht dabei meist der chronologischen Reihenfolge ab dem aktuellen Zeitpunkt. Angezeigte Uhrzeiten hingegen geben in der Regel die Fahrplansolldaten an (Gängrich 2015; Zweckver-band Verkehrsverbund Bremen/ Niedersachsen 2013). So kann bei Verspätungen oder fehlenden Standortsignalen der Fahrzeuge eine Kombination aus Echtzeit- und Fahrplansolldaten vermittelt werden. Weit verbreitet ist die Restzeitanzeige in ganzen Minuten, eine sekundengenaue Angabe ist jedoch auch möglich (Abbil-dung 3.2). Echtzeitangaben können auch in Form von Entfernungsangaben des Fahrzeugs zur betreffenden Haltestelle angegeben werden. Aus der Information über die Anzahl der Haltestellen, die zwischen dem Fahrgast und dem Fahrzeug liegen, kann der Fahrgast die prognostizierte Dauer bis zum Eintreffen des Fahr-zeugs ableiten. Neben bahnsteig- und gleisspezifischen Anzeigen können Ab-fahrtstafeln auch die Abfahrten mehrerer Gleise, beispielsweise an Knotenpunk-ten, enthalten. Solche Abfahrtstafeln, welche sich nicht direkt am Bahnsteig, jedoch in dessen Nähe befinden, werden auch „Near-Stop-Displays“ genannt (Viergutz 2016). Insgesamt tragen digitale Fahrgastinformationen zur durch den Nutzer wahrgenommenen Zuverlässigkeit des Gesamtsystems Nahverkehr bei (Dziekan & Kottenhoff 2006).

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336 Anforderungen an digitale Fahrgastinformationen mit Echtzeitdaten

Abbildung 3.2 Beispiele verschiedener Anzeigeformate: Echtzeitdaten wer-den meist als Countdown angezeigt, Solldaten in Form von Uhrzeiten.

3.4 Studie zu Nutzungsgewohnheiten von Fahrgastinformationen im Linienverkehr

Abbildung 3.3 Demografische Angaben der Studienteilnehmer.

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Studie zu Nutzungsgewohnheiten von Fahrgastinformationen im Linienverkehr 337

Die Online-Befragung wurde im Untersuchungszeitraum vom 24.11.2016 bis 11.12.2016 unter 1.354 Studienteilnehmern durchgeführt. Rund 78 Prozent davon sind männlichen Geschlechts. Zudem ist ein Großteil der Befragten (68 Prozent) unter 41 Jahren alt. Insgesamt leben die Befragten eher in großen Städten und nut-zen häufig öffentliche Verkehrsmittel (Abbildung 3.3).

Abbildung 3.4 Informationsbeschaffung im ÖPNV: Mobile Anwendungen, Stadtplanauskünfte und Suchanfragen per Webseiten führen die Befragten zum Ziel.

In der Studie wurden Anwendungsfälle verschiedener Auskunftsmedien beim Wayfinding im Nahverkehr untersucht. Die Befragten sollten anhand eines Szena-rios entscheiden, wie sie sich Informationen zur Erreichung eines ihnen unbekann-ten Zieles in der Umgebung beschaffen würden (Abbildung 3.4). Dabei waren Mehrfachangaben möglich. Rund 73 Prozent der Befragten würden eine mobile Anwendung zur Informationsgewinnung nutzen. Webseiten eines Verkehrsunter-nehmens, die mithilfe eines mobilen oder stationären Ausgabegerätes aufgerufen werden, würden rund 62 Prozent zurate ziehen. Rund 49 Prozent würden sich

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338 Anforderungen an digitale Fahrgastinformationen mit Echtzeitdaten

durch eine dynamische Onlinekarte (Stadtplanauskunft) unterstützen lassen. Au-ßerdem sind die eigenständige, nicht technikgestützte Generierung von Verbin-dungen anhand eines Liniennetzplanes (37 Prozent) sowie die Befragung einer an-deren Person (z.B. Bekanntenkreis, Mitarbeiter des Verkehrsunternehmens, neun Prozent) häufig gewählte Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung. Bei der Dif-ferenzierung der Antworten nach Altersklassen wird deutlich, dass Apps und Webseiten in allen Altersklassen beliebte Auskunftsmedien darstellen. Dabei nut-zen Befragte bis zum Alter von 40 Jahren etwas häufiger Apps zur Informations-gewinnung, wohingegen Befragte ab einem Alter von 41 Jahren etwas häufiger Webseiten nutzen. Auch bei der Aufschlüsselung der Antworten nach Geschlech-tern zeigt sich, dass sowohl männliche wie auch weibliche Befragte vor allem die Nutzung mobiler Anwendungen sowie von Webseiten von Verkehrsunternehmen angaben. Dabei ist die Nutzung mobiler Anwendungen bei männlichen, die Nut-zung von Webseiten dagegen bei weiblichen Studienteilnehmern etwas stärker ausgeprägt.

Abbildung 3.5 Nutzungshäufigkeit von mobilen Anwendungen und öffentli-chen Verkehrsmitteln: Wer häufig den ÖPNV nutzt, nutzt auch häufig Smartphone-Apps dafür.

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Studie zu Nutzungsgewohnheiten von Fahrgastinformationen im Linienverkehr 339

Mobile Anwendungen für öffentliche Verkehrsmittel werden von den Studienteil-nehmern im Alltag für gewöhnlich häufig genutzt: Ein Anteil von 40,3 Prozent der Befragten gab an, täglich Apps zu nutzen, 21,9 Prozent mehrmals wöchentlich.

Die vorangegangene Frage hat ergeben, dass auf unbekannten Verbindungen ins-besondere mobile Anwendungen sowie Webseiten zur Auskunft genutzt werden. Diese Erkenntnis legt den Verdacht nahe, dass mobile Anwendungen insbeson-dere dort als nutzenstiftend empfunden werden, wo eine geringe System- und Ortskenntnis seitens des Nutzers vorherrscht. Die Kombination der Nutzungshäu-figkeit von öffentlichen Verkehrsmitteln mit der Nutzungshäufigkeit von Apps zeigt jedoch, dass 62,7 Prozent der Befragten, die angaben, mehr als zwölfmal wö-chentlich öffentliche Verkehrsmittel zu nutzen, (fast) täglich Apps zur ÖPNV-Aus-kunft nutzen (Abbildung 3.5). Insgesamt korreliert die Nutzungshäufigkeit von öffentlichen Verkehrsmitteln also mit der Nutzungshäufigkeit von Apps. Dieses Ergebnis zeigt, dass mobile Anwendungen nicht nur in unbekannter Umgebung eingesetzt werden, sondern gerade dort Nutzen stiften, wo Anwender bereits über System- und Ortskenntnis verfügen. Ein Erklärungsansatz für dieses Studiener-gebnis könnte sein, dass Nutzer bei der Informationsgewinnung ein gewohnheits-mäßiges Verhalten zeigen und bewährte Informationsquellen immer wieder zu-rate ziehen (Naab 2013).

Mobile Anwendungen erlauben zwei Arten von Abfragen: Bei der Abfahrtsaus-kunft werden aktuelle Abfahrten an ausgewählten Haltestellen und Linien abge-fragt. Bei der Verbindungsabfrage werden Auskünfte von einem beliebigen Start- zu einem beliebigen Zielpunkt erteilt, wodurch eine Reiseplanung im Voraus mög-lich ist. Die Studie hat ergeben, dass 30,3 Prozent der Befragten hauptsächlich Ver-bindungsauskünfte in Apps nutzen. Für 45,4 Prozent sind beide Auskunftsarten gleich wichtig (Abbildung 3.6).

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340 Anforderungen an digitale Fahrgastinformationen mit Echtzeitdaten

Abbildung 3.6 Bevorzugte Auskunftsarten in mobilen Anwendungen: Verbin-dungsauskünfte werden häufiger genutzt als Abfahrtsaus-künfte – beide Auskunftsarten ergänzen sich jedoch.

Neben Anforderungen an mobile Anwendungen wurden die Studienteilnehmer auch um Feedback bezüglich Haltestellenanzeigen gebeten. Bei Haltestellenanzei-gen handelt es sich um stationäre Informationssysteme, die eine kollektive Nutzer-schaft bedienen. Die Befragung ergab, dass rund 84,5 Prozent der Befragten der Aussage „[…] Diese Anzeigen halte ich für sinnvoll und nützlich“ voll und ganz zustimmten. Weitere 12,2 Prozent der Befragten gaben an, dieser Aussage eher zu-zustimmen.

Ein besonders prägnantes Ergebnis der Befragung ist die gleich hoch eingeschätzte Wichtigkeit der beiden Informationssysteme Apps und Haltestellenanzeigen. Für 40,1 Prozent der Befragten stellen Anzeigen an Haltestellen die wichtigste Fahrgas-tinformation dar. Nicht auf Auskünfte per mobiler Anwendung verzichten möch-ten 40,2 Prozent der Befragten (Abbildung 3.7).

Page 340: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Ableitung neuer Anforderungen an mobile Informationsmedien 341

Abbildung 3.7 Fazit: Wichtigste Fahrgastinformation aus Fahrgastsicht ‒ die Kombination ist wichtig.

Die Studie ergab, dass Haltestellenanzeigen trotz der ständigen Verfügbarkeit von Smartphones immer noch wichtige Informationsmedien im ÖPNV sind und dass Apps und Haltestellenanzeigen nicht alleine ausreichen sondern sich gegenseitig ergänzen. Daraus resultieren neue Anforderungen an haltestellenlose Nahver-kehrssysteme.

3.5 Ableitung neuer Anforderungen an mobile Informationsmedien

Im Folgenden werden auf Basis der Erkenntnisse aus der beschriebenen Studie An-forderungen an mobile Informationsmedien zur Nutzung bedarfsorientierter Mo-bilitätskonzepte abgeleitet.

Die Vielfalt von Fahrgastinformationen wird wertgeschätzt.

Unterschiedliche Fahrgastinformationen bieten unterschiedliche Funktionen. Den größten Nutzen stiftet eine sinnvolle Kombination kollektiver und indivi-dueller Ausgabemedien, welche entsprechend dem aktuellen Informationsbe-darf eingesetzt werden.

Bei fehlender Orts- und Systemkenntnis bieten insbesondere mobile Anwen-dungen Unterstützung.

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342 Anforderungen an digitale Fahrgastinformationen mit Echtzeitdaten

Mobile Anwendungen sollen sich weiterentwickeln von der reinen Verbin-dungsauskunft hin zum individualisierbaren, intelligenten und echtzeitbasier-ten Informationsmedium. Das Smartphone wird zum Reiseassistenten.

Mobile Anwendungen werden häufig zur Informationsbeschaffung im Nah-verkehr genutzt.

Fahrgäste sind geübt in der Nutzung mobiler Anwendungen. Dies kann darauf hindeuten, dass erweiterte Funktionalitäten mobiler Anwendungen nutzenstif-tend sein könnten.

Ortung auf dem Stadtplan und Umgebungsinformationen können in mobilen Anwendungen zusätzlichen Nutzen stiften.

Zur erweiterten Funktionalität mobiler Anwendungen könnte die Umgebungs-information zählen. Dabei erhält der Nutzer beispielsweise Informationen über Points of Interest, Einkaufsmöglichkeiten, die aktuelle Verkehrslage oder Veran-staltungen in seiner Umgebung.

Befragte, die häufig Nahverkehrsmittel nutzen, nutzen auch häufig mobile Anwendungen dafür.

Mobile Anwendungen stiften nicht nur in unbekannter Umgebung Nutzen, son-dern dienen ebenso der Information über den aktuellen Betriebsablauf auf ge-wohnten Verbindungen. Denkbar wäre also die Erweiterung bisheriger Funkti-onalitäten mobiler Anwendungen um Informationen, die insbesondere für Nut-zer mit guter System- und Ortskenntnis von Interesse sein könnten.

Mithilfe mobiler Anwendungen werden bevorzugt Verbindungsauskünfte abgefragt. Echtzeitdaten und Informationen über die aktuelle Betriebslage werden als wichtig empfunden.

Individualisierte und aktuelle Auskünfte sind Fahrgästen wichtig. Auch zur Be-friedigung dieses Bedürfnisses kann die Weiterentwicklung mobiler Anwen-dungen zu Reiseassistenten beitragen.

Page 342: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Ableitung neuer Anforderungen an stationäre Informationsmedien 343

3.6 Ableitung neuer Anforderungen an stationäre Informationsmedien

Die Auswertung der Studie hat ergeben, dass stationäre Informationsmedien (trotz mobiler Anwendungen) derzeitig unverzichtbare Funktionen in bestehenden Nah-verkehrskonzepten erfüllen. Da die beschriebenen bedarfsorientierten Mobilitäts-konzepte keine festgelegten und gekennzeichneten Haltestellen besitzen, sondern den Zustieg auch abseits markierter Haltestellen ermöglichen, bietet sich hierbei keine Möglichkeit zur Einrichtung von Haltestellenanzeigen. Zur Befriedigung dieses bestehenden Informationsbedarfs, der aus Nutzersicht nicht allein durch mobile Auskunftsmedien abgedeckt werden kann, muss deshalb ein Äquivalent gefunden werden, welches die Aufgabe der Informationsbereitstellung am Ab-fahrtsort übernimmt, wodurch keine Nutzeraktivität erforderlich ist sondern ge-botene Informationen lediglich konsumiert werden können. Hierdurch könnte auch dem Problem begegnet werden, dass nicht jeder Nutzer über ein mobiles Ge-rät verfügt.

Hierfür eignen sich Informationsmedien im öffentlichen Raum, die kollektiv nutz-bar sind und den Abruf echtzeitbasierter und individualisierter Auskünfte ermög-lichen. Eine Möglichkeit zur Bereitstellung dieser stationären Informationsmedien sind sogenannte Public Displays, die in manchen Linienverkehrssystemen bereits existieren.

Public Displays sind stationäre Bildschirme im öffentlichen Raum (Viergutz 2016). Dabei handelt es sich um kollektive Auskunftsmedien, welche die nächsten Ab-fahrten öffentlicher Verkehrsmittel an mehreren Haltestellen in der Umgebung präsentieren. Individuelle Auskünfte über Abfahrten zu einem späteren Zeitpunkt oder an anderen Orten sind nicht möglich. Abbildung 3.8 zeigt Beispiele solcher Public Displays im Linienverkehr.

Page 343: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

344 Anforderungen an digitale Fahrgastinformationen mit Echtzeitdaten

Abbildung 3.8 Beispielhafte Public Displays im Linienverkehr.

Die 1.354 Teilnehmer der beschriebenen Studie wurden um ihre Einschätzung des Nutzwerts von Public Displays im Linienverkehr gebeten. Dabei stimmten 54 Pro-zent der Befragten der Aussage „Public Displays halte ich für sinnvoll und nütz-lich“ voll und ganz zu, weitere 29 Prozent stimmten der Aussage eher zu.

Zur Nutzung bedarfsorientierter Mobilitätskonzepte kann eine Erweiterung der Funktionalität dieser Public Displays die bisher nutzenstiftenden Haltestellenan-zeigen ersetzen. So könnten sich Public Displays zu Buchungsterminals weiterent-wickeln. Eine echtzeitbasierte Auskunft über die aktuelle Betriebslage sowie die Möglichkeit zur Buchung von Fahrten, beispielsweise anhand eines Touch-Termi-nals, würde auch ohne den Einsatz mobiler Anwendungen die uneingeschränkte Nutzung des Verkehrssystems ermöglichen. Dadurch könnten auch stationäre In-formationsmedien die identifizierten Anforderungen individualisierter Fahrgast-informationen erfüllen. Stationäre Informationsmedien würden durch diese Er-gänzung der bereits vorhandenen kollektiven Information durch die Möglichkeit zur Interaktion zwischen Nutzer und Informationsmedium zudem auch individu-elle Informationsbedürfnisse erfüllen.

Page 344: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Zusammenfassung der Ergebnisse und Beschreibung von Zukunftsszenarien 345

3.7 Zusammenfassung der Ergebnisse und Beschreibung von Zukunftsszenarien

Die in diesem Beitrag vorgestellte Studie ergab unter anderem, dass sowohl mobile wie auch stationäre Informationsmedien von Fahrgästen geschätzt werden. Durch die unterschiedlichen Funktionen und Wege der Informationsgewinnung erfüllen mobile und stationäre Informationsmedien unterschiedliche Nutzungszwecke und ergänzen sich zu einem ganzheitlichen und komfortablen Informationsbündel.

Bedarfsorientierte Mobilitätskonzepte sehen eine stärkere Individualisierung von Fahrtwünschen vor. Aus dieser erweiterten Funktion von Verkehrssystemen erge-ben sich neue Anforderungen an Informationsmedien, die in diesem Beitrag be-schrieben wurden.

Zukünftig wird Fahrgastinformationen eine neue Rolle zukommen. Sie dienen nicht mehr lediglich der Information über Abfahrten und Verbindungen sondern erfüllen die Funktionen eines individualisierbaren Reiseassistenten. Dabei werden Auskünfte, die auf Echtzeitdaten basieren, immer wichtiger (Scheier 2013). Insge-samt werden individuelle Auskünfte gegenüber kollektiven Informationen ein im-mer höheres Gewicht bekommen (Schnieder 2014).

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346 Anforderungen an digitale Fahrgastinformationen mit Echtzeitdaten

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Page 346: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

4 Auswirkungen einer Stellplatzschlüsselreduktion in Wohngebieten

Jun.-Prof. Dr. A.-K. Seemann, S. Knöchel (Universität Freiburg)

4 Auswirkungen einer Stellplatzschlüsselreduktion in Wohngebieten 347

4.1 Einleitung ..................................................................................................... 3484.2 Theorie: ......................................................................................................... 3494.3 Methode ........................................................................................................ 3514.4 Ergebnisse ..................................................................................................... 3554.5 Interpretation der Ergebnisse, Fazit, Limitationen &

Forschungsausblick ..................................................................................... 358

Literatur ........................................................................................................................ 359

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_21

Page 347: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

348 Auswirkungen einer Stellplatzschlüsselreduktion in Wohngebieten

4.1 Einleitung

Das 21. Jahrhundert wird maßgeblich durch die Thematik der Urbanisierung ge-prägt, denn mittlerweile leben weltweit betrachtet mehr als die Hälfte aller Men-schen in Städten. Prognosen gehen davon aus, dass es bis 2050 sogar über 70 % der Weltbevölkerung sein wird. Das <wiederkehrende Interesse für das Wohnen in der Stadt ist unter anderem auf die zahlreichen sozialen, Bildungs-, Kultur- und Kon-sumangebote, die räumliche Nähe zum Arbeitsplatz sowie eine gute Infrastruktur zurückzuführen. Die anhaltende Migration von ländlichen zu urbanen Gebieten hat zur Folge, dass in vielen Städten Deutschlands, besonders in Metropolregio-nen, Groß- und Universitätsstädten, bezahlbarer, adäquater Wohnraum knapp wird. Kommunen und Bauträger versuchen mit Hilfe von Verdichtung, urbane Räume so effizient wie möglich zu gestalten und die gegebenen Ressourcen best-möglich ausnutzen. Da parallel zum Wohnraum auch der Parkraum immer be-grenzter wird, sind insbesondere Tiefgaragenlösungen erforderlich um die gesetz-lich geforderte Anzahl an Stellplätzen zur Verfügung zu stellen. Solche Tiefbau-vorhaben sind jedoch mit hohen Kosten verbunden, die sich in erhöhten Kosten für Wohnungsbau und damit in Miet- und Kaufpreisen zeigen.

In den letzten Jahren wurden aufgrund dieser Herausforderungen neue verkehrs- und parkraumreduzierte Wohnkonzepte entwickelt, welche insbesondere bei der Entwicklung und Gestaltung neuer Stadtquartiere zur Anwendungen kommen. Zusätzlich zu dem Motiv der Kostensenkung spielt auch Anreizwirkung zur PKW-Reduktion und damit die Gestaltung einer nachhaltigeren Verkehrssituation eine wesentliche Rolle. Stellplatzverordnungen bilden dabei eine zentrale Steuerungs-funktion. Es wird angenommen, dass mit Hilfe einer Reduktion der Stellplatz-schlüssel geringere Baukosten und damit günstigere Mieten und Kaufpreise sowie die Förderung umweltfreundlicher Mobilität mit positiven Auswirkungen für Mensch, Umwelt und Stadtbild realisiert werden kann. Werden neue Stellplatzver-ordnungen momentan vor allem politisch unterstützt, zeigt sich auf Seiten der An-wohner häufig ein anderes Stimmungsbild. Argumente gegen eine Absenkung der Stellplatzschlüssel werden unter anderem hinsichtlich der befürchteten Konse-quenz eines erhöhten Parkdrucks in den Wohngebieten und einer Übernutzung der öffentlichen Straßenräume geäußert. Der Gegenstand des vorliegenden Bei-trags hinterfragt daher die Attraktivität von Wohnungsangeboten aus der Sicht po-tentieller Anwohner bei einer Reduktion des Stellplatzschlüssels.

Page 348: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Theorie 349

4.2 Theorie

4.2.1 Wohnen & Mobilität

Der Wohnungsmarkt steht insbesondere in der jüngeren Vergangenheit unter ei-nem starken Wandel, welcher eng mit sozialen und gesellschaftlichen Veränderun-gen zusammenhängt. Die zunehmende Nachfrage nach maßgeschneiderten Indi-viduallösungen und Selbstverwirklichung prägen dieses Prozess und stellen neue Herausforderungen für die zukünftige Wohnungsnachfrage dar (Tummers, 2016). Neben dem demografischen Wandel muss die städtebauliche Entwicklung den Wohnbedarf auch mit Hinblick auf die zunehmende Zahl der Haushalte angehen. Bestehende Wohnungsbestände sind in der Regel unzureichend, um den derzeiti-gen Wohnungsbedarf adäquat zudecken, da viele Wohneinheiten in Bezug auf den Trend zu kleineren Haushalten und mehr Menschen, die alleine leben, überdimen-sioniert sind, während andere zu klein sind, um für Wohngemeinschaften ange-messen zu sein (Fedrowitz & Gailing, 2003; Schürt, 2010). Die kommunale Stadt-entwicklung trägt die Verantwortung für die Entwicklung geeigneten Wohn-raums. Dabei gilt es nicht nur die veränderten Wohnbedürfnisse zu beachten, son-dern auch die Mobilitäts- und gesteigerten Nachhaltigkeitsbedürfnisse der Bewoh-ner miteinzubeziehen.

Autoreduziertes Bauen, bzw. autofreies Wohnen stellt eine solche nachhaltige Op-tion dar, die vermehrt in den Fokus von Stadtplanern, aber auch Bürgern rückt (Ornetzeder et al., 2008). Scheurer (2001) sieht in diesen Projekten die Möglichkeit zu einer Weiterentwicklung von einer autofreundlichen hin zu einer fußgänger-freundlichen Stadt. Es existieren hierbei verschiedene Formen von autoreduzierten Wohnkonzepten, die auf unterschiedliche Weise mit dem Fahrzeugbesitz der An-wohne umgehen. Im GWL-Terrein in Amsterdam können die Anwohner bspw. an einer Lotterie um begrenzte Parkplätze teilnehmen, in Vauban, Freiburg werden die Autos in Sammelgaragen am Quartiersrand geparkt (Kushner, 2005). Wohn-standortbezogene, ergänzende Mobilitätsdienstleistungen, wie beispielsweise ein exklusives Carsharing-Angebot für die Bewohner im Haus, Fahrradstellplätze o-der auch ein unmittelbarer ÖPNV-Zugang, bilden hierbei die notwendige Grund-voraussetzung (Stiewe, 2015). Das Angebot von autoreduzierten Wohnkonzepten ermöglicht es den Bürgern, zielgerichtete Entscheidungen zu treffen, Wohnungs-alternativen miteinander zu vergleichen und dabei die Kosten für den Besitz eines Autos , als auch die Vorteile eines autoreduzierten Umfelds in ihr Entscheidungs-verhalten miteinzubeziehen (Kushner, 2005).

Page 349: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

350 Auswirkungen einer Stellplatzschlüsselreduktion in Wohngebieten

4.2.2 Parken, Stellplatzverordnung & Stellplatzschlüssel(-reduktion)

Der zunehmende Verkehrsanstieg und die wachsende Zahl an Kraftfahrzeugen stellen eine wesentliche Herausforderung für Städte dar, die Mithilfe innovativer Mobilitätskonzepte eingegrenzt werden soll. Eine Vielzahl von Studien identifi-zierte das Parkangebot als wesentlichen Einflussfaktor auf die individuelle Wahl des Verkehrsträgers (Ison, 2006; Shoup, 1995). In seiner Studie zeigt Weinberger (2012) bspw. den positiven Zusammenhang zwischen einem zur Wohnung gehö-renden Parkplatz und der Wahrscheinlichkeit der Autonutzung auf, da das Auto so als vorteilhafter im Vergleich zum ÖPNV wahrgenommen wird. Während des letzten Jahrhunderts wurde als Reaktion auf rasch ansteigenden PKW Zahlen der benötigte Parkraum mittels neueingeführter Stellverordnungen generiert (Weinberger & Kaehny, 2010). Diese verkehrspolitische Maßnahme, geprägt durch das Konzept der autogerechten Stadt, wirkte dementsprechend wie ein Katalysator auf den innerstädtischen PKW-Bestand und führte zu Raumproblemen und stei-gendem Parkdruck. Durch die breit angelegte Bereitstellung von öffentlichem Parkraum, förderten die Kommunen wiederum den steigenden PKW-Bestand (Mukhija & Shoup, 2006; Weinberger et al., 2008). Durch diese Maßnahmen wur-den die Anstrengungen für einen umweltfreundlicheren Modal Split sowie einer allgemeinen Verkehrs- und Schadstoffreduzierung konterkariert (Hensher & Brewer, 2000; Sterner, 2003) und führten nach Willson (2005) sogar dazu, dass die Parkraumbeschaffung den Ausbau des ÖPNV behinderte. Mit der phasenweisen Erprobung einer Stallplatzreduzierung, kommt es nun zu dem Versuch eine ge-genläufige Entwicklung in Gang zu setzen. Folglich besteht die Notwendigkeit, den Parkraum nach dem tatsächlichen Bedarf auszurichten und parallel dafür Sorge zu tragen, dass keine anderen verkehrspolitischen Ziele negativ beeinträch-tig werden (McDonnell et al., 2011). Parkraumregulierung stellt demnach ein wich-tiges Instrument für die Stadtplanung dar, mit dessen Hilfe die PKW-Reduzierung sowie der Umstieg auf umweltfreundlichere Verkehrsträger intensiviert werden kann (Timmermans, 2013).

Mindestparkraumanforderungen verlangen seitens der Kommunen, dass neue Im-mobilienvorhaben eine bestimmte Anzahl an Parkplätzen umfassen. Die Kommu-nen gewährleisten somit, dass der durch die neugeschaffenen Immobilien gestie-gene Nachfrage nach Parkraum Rechnung getragen und die betreffende lokale Parksituation nicht verschärft oder das Problem auf benachbarte Stadtquartiere verlagert wird (McDonnell et al., 2011). Konkret regeln die Stellplatzverordnun-gen, wie viele Stellplätze für Kraftfahrzeuge und Fahrräder beim Neubau eines Gebäudes auf dem Grundstück oder in der Nähe nachgewiesen werden müssen.

Page 350: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Methode 351

Die Zahl der vorgeschriebenen Stellplätze hängt von der Art der Nutzung und von der Anzahl der Nutzer/Bewohner des betreffenden Gebäudes ab. Nach Cuddy (2007) und Litman (2007) sollen nicht nur diese Faktoren ausschlaggebend für den Stellplatzschlüssel sein, sondern auch die äußeren Gegebenheiten des Umfeldes, wie bspw. die Reichweite zum nächsten ÖPNV-Anschluss, für die Bewertung mit einbezogen werden.

In Deutschland gibt es keine ganzheitlichen Regelungen zur Schaffung von Stell-plätzen. Die Anzahl der zu schaffenden Stellplätze ergibt sich aus der Bauordnung des jeweiligen Bundeslandes. In der Baden-Württembergischen Landesbauord-nung wird dies in § 37 „Stellplätze für Kraftfahrzeuge und Fahrräder, Garagen“ geregelt. In diesem Beispiel muss grundsätzlich für eine Wohneinheit auch genau ein Stellplatz geschaffen werden, wobei es egal ist, ob es sich hierbei um eine Ga-rage oder einen anderweitigen Stellplatz handelt. Es besteht jedoch die Möglichkeit bis zu einem Viertel der zu schaffenden Stellplätze durch entsprechende Fahrrad-stellplätze zu ersetzen, wobei ein PKW-Stellplatz durch vier Fahrradstellplätze er-setzt werden muss. Auf die Schaffung von Stellplätzen kann verzichtet werden, wenn nachweislich kein Bedarf hieran besteht. Allerdings müssen in diesem Fall entsprechende Flächen reserviert werden, damit eine nachträgliche Errichtung möglich ist. Zudem ist ein Trend zu landesweit uneinheitlichen Stellplatzpflichten erkennbar. Dies bedeutet, dass Kommunen eigene Stellplatzsatzungen erlassen können. Dies gilt insbesondere für Gebiete, welche durch den ÖPNV besonders gut erschlossen sind.

Generell zeigt sich eine positive Auswirkung der Stellplatzschlüsselreduktion auf die Baukosten. Diverse Studien (Jia & Wachs, 1999; Litman, 2009; McDonnell et al., 2011; Rowland, 2010) kritisieren die hohen Baukosten für die Bereitstellung von Stellplätzen und weisen auf enorme Einsparungspotentiale hin. Ein weiterer wich-tiger Aspekt, der in der Forschung bisher nur unzureichend berücksichtigt wurde, ist nach Weinberger (2012) die lokale Selbstzuordnung. Es ist davon auszugehen, dass Personen mit einem größeren Bedarf zur Nutzung von motorisiertem Indivi-dualverkehr, eher Wohnangebote mit entsprechender Parkplatzsituation bevorzu-gen. Dieser Aspekt soll in der nachfolgenden Studie untersucht werden.

4.3 Methode

Im Kontext einer Reduzierung des Stellplatzschlüssels soll mit Hilfe einer „Choice-Based-Conjoint-Analyse (CBC) ermittelt werden, über welche Präferenzen poten-tielle Bewohner bezüglich verfügbarer unterschiedlicher Wohnangebote verfügen.

Page 351: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

352 Auswirkungen einer Stellplatzschlüsselreduktion in Wohngebieten

Bei einer „Choice-Based-Conjoint-Analyse“ wird der Proband mit einem kurzen Set von Descrete Choice Fragen konfrontiert. Jede Frage vergleicht die Attribute dreier Produkte, welche jeweils unterschiedliche Ausprägungen aller Produktei-genschaften aufweisen. Ein Beispiel für eine solche Frage zeigt Abbildung 4.1. Der Proband entscheidet sich nach eigener Präferenz zwischen den gezeigten Konzep-ten, hat allerdings auch die Möglichkeit keines der zur Verfügung stehenden Kon-zepte auszuwählen und damit zu zeigen, dass keines seinen Präferenzen ent-spricht.

Abbildung 4.1 Beispiel Choice-Set

Tabelle 4.1 zeigt die verwendeten Produkteigenschaften inklusive der verschiede-nen Ausprägungen auf, die die Grundlage für die Choice Sets bilden.

Page 352: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Methode 353

Tabelle 4.1 Übersicht Produkteigenschaften und Ausprägungen

Produkteigenschaft Ausprägung

Verkehrskonzept Garage am/im Haus Gemeinschaftsgarage Wohnen ohne eigenen Stellplatz

Stellplatzschlüssel Größer eins Gleich eins Kleiner eins

Mobilitätsdienstleistung Carsharing Bikesharing Taxistand

ÖPNV Anschluss 400 m 600 m 800 m

Einrichtungen des täglichen Bedarfs 500 m 1.500 m 2.500 m

Quadratmeterpreis 7,20 € 8,50 € 9,80 €

Die Datenerhebung wurde via Panel der Firma SSI sowie über soziale Netzwerke (Facebook und Xing) über einen Zeitraum von drei Wochen im März 2017 durch-geführt. 457 Antworten waren verwertbar. Tabelle 4.2 zeigt die Probandencharak-teristika.

Tabelle 4.2 Sample Charakteristika

Charakteristika Gruppe Häufigkeit %

Geschlecht

Alter

männlich

weiblich

18 - 24 Jahre

25 - 44 Jahre

45 und älter

243

214

82

274

99

53,2

46,8

17,9

60,0

21,7

Page 353: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

354 Auswirkungen einer Stellplatzschlüsselreduktion in Wohngebieten

Schulabschluss

Wohnsituation

Mobilität

Hauptschulabschluss

Realschulabschluss

Fachholschul- oder Hoch-

schulreife

Haus, Reihenhaus etc.

Wohnung

Führerschein

Fahrrad

ÖPNV-Ticket

20

67

367

97

351

427

367

160

4,4

14,7

80,3

21,2

76,8

93,4

80,3

35,0

Für die Marksimulation wurden im Vorfeld der Ergebnisanalyse fünf unterschied-liche Ausgangsprodukte definiert, welche miteinander verglichen wurden. Durch das Verändern einzelner Attribute können Erkenntnisse über die jeweiligen Präfe-renzen der Kunden mittels Marktsimulationen gewonnen werden. Das Idealpro-dukt P 1 charakterisiert sich durch das Wohnen ohne einen Stellplatz, wobei der Stellplatzschlüssel bei kleiner als eins liegt. Weiter verfügt das Wohnangebot über integriertes Carsharing, der nächste ÖPNV-Anschluss befindet sich in maximal 400 m Entfernung und die Einrichtungen des täglichen Bedarfs sind rund 1,5 km ent-fernt. Der Quadratmeterpreis für ein derartiges Konzept wurde auf 8,50 € veran-schlagt. Die Attributausprägungen der Konkurrenzprodukte können Tabelle 4.3 entnommen werden. Produkt P2, bildet hierbei die typische Vorort-Situation mit eigener Garage ab, Produkt P3 bezieht sich auf ein Wohnkonzept in bester Stadt-lage, was sich im Preis pro Quadratmeter und dem geringen Stellplatzschlüssel niederschlägt. Produkt P4 beschreibt ein mobilitätsreduziertes Wohnkonzept mit Gemeinschaftsgarage am Quartiersrand, Produkt P5 bezieht sich wiederum auf Wohnen in hochwertiger Stadtlage, allerdings mit eigener Garage im / am Haus.

Page 354: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Ergebnisse 355

Tabelle 4.3 Übersicht Ausgangsprodukte mit verschiedenen Eigenschafts-ausprägungen

4.4 Ergebnisse

Die Analyse der Ergebnisse zeigt, dass der Quadratmeterpreis mit 22,6 % relativer Wichtigkeit, die zentralste Rolle bei der Kaufentscheidung einnimmt, gefolgt von der Lage der Einrichtungen des täglichen Bedarfs (21,0 %) sowie dem Verkehrs-konzept (19,9 %). Der Stellplatzschlüssel nimmt mit 14,1 % einen mittleren Rang

Produkt- eigenschaft

Ausprägung P1 P2 P3 P4 P5

Verkehrskonzept

Garage im / am Haus X X

Gemeinschaftsgarage am Quar-tiersrand

X

Wohnen ohne eigenen Stellplatz X X

Stellplatzschlüssel

Mehr als ein Stellplatzplatz pro Wohnung

X

Ein Stellplatz pro Wohnung X X

Weniger als ein Stellplatz pro Wohnung

X X

Wohnstandortbe-zogene Mobilitäts-dienstleistung

Carsharing X X X X

Bikesharing

Taxistand X

Wegstrecke zum nächsten ÖPNV-Anschluss

400 m X

600 m X X X

800 m X

Einrichtungen des täglichen Bedarfs

500 m X X

1500 m X X X

2500 m

Quadratmeterpreis (Miete)

Bis 7,20 € / m²

Bis 8,50 € / m² X X X

Bis 9,80 € / m² X X

Page 355: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

356 Auswirkungen einer Stellplatzschlüsselreduktion in Wohngebieten

ein. Als weniger wichtig werden die Produkteigenschaften Wohnstandortbezo-gene Mobilitätsdienstleistungen (12,0 %) sowie überraschenderweise die Weg-streckte zum nächsten ÖPNV-Anschluss bewertet (10,4 %). Die Wichtigkeiten fas-sen die Auswirkungen jeder Produkteigenschaft auf Produktpräferenz zusammen.

Der Nutzenbeitrag hingegen gibt darüber Auskunft, welchen Teilnutzen die ein-zelnen Produktausprägungen auf den Gesamtnutzen eines Produktes leisten. Bei der Betrachtung des Nutzen zeigt sich, dass die Entfernung zu den Einrichtungen des täglichen Bedarfs mit einer Spannweite von 113,5 Nutzeneinheiten (60,45- (-53,05) = 113,5) am wichtigsten ist. Gefolgt wird diese Eigenschaft von dem vorhandenen Verkehrskonzept mit einer Spannweite von 97,21 Nutzeneinheiten. Überraschender Weise folgt der Quadratmeterpreis erst an dritter Stelle mit einer Differenz von 90,79 Nutzeneinheiten. Erfolgt die Betrachtung auf Basis soziode-mografischer Merkmale muss angemerkt werden, dass im Großen und Ganzen die gleichen Wichtigkeiten vorherrschen.

Tabelle 4.4 Übersicht Nutzen und Wichtigkeit

Produkteigen-schaft

Ausprägung Nut-

zen

Standard

Devia-

tion

Relative

Wichtigkeit

(%)

Verkehrskonzept

Garage im / am Haus Gemeinschaftsgarage am Quartiers-rand Wohnen ohne eigenen Stellplatz

54.28

-11.35

-42.93

52.17

41.10

46.92

19.92 %

Stellplatzschlüssel

Mehr als ein Stellplatz pro Wohnung Ein Stellplatz pro Wohnung Weniger als ein Stellplatz pro Woh-nung

19.73

19.31

-39.04

34.52

31.32

42.27

14.14 %

Wohnstandortbe-

zogene Mobili-

tätsdienstleistun-

gen

Carsharing Bikesharing Taxistand

11.95

-3.24

-8.71

38.69

36.73

40.21

11.97 %

Wegstrecke zum

nächsten ÖPNV-

Anschluss

400 m 600 m 800 m

17.47

2.22

-19.69

32.80

28.06

30.56

10.38 %

Page 356: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Ergebnisse 357

Einrichtungen des

täglichen Bedarfs

500 m 1500 m 2500 m

60.45

-7.40

-53.05

50.92

33.52

42.59

20.95 %

Quadratmeter-

preis (Miete)

Bis 7,20 € / m²

Bis 8,50 € / m²

Bis 9,80 € / m²

39.21

12.37

-51.58

55.04

42.48

60.31

22.64 %

In der Folge werden nun mittels der Marktsimulation unterschiedliche realitäts-nahe Szenarien betrachtet (vgl. Tabelle 4.5). Die resultierenden Marktanteile geben dabei Rückschlüsse auf die Präferenzen potentieller Mieter bezüglich der verschie-denen Produkte. Im Fokus steht dabei jeweils das Referenzprodukt im P1 mit Va-riationen der Produkteigenschaften im Vergleich zu möglichen Konkurrenzpro-dukten:

Szenario 1 (Grundszenario): alle Produkte werden wie in Tabelle 4.3 dargestellt.

Szenario 2: P1 bei einem verminderten Preis

Szenario 3: P1 mit eigener Garage im / am Haus

Szenario 4: P1 mit kürzerem Weg zu Einrichtungen des täglichen Bedarfs

Szenario 5: P1 mit kürzerem Weg zu Einrichtungen des täglichen Bedarfs und nied-rigerem Preis

Szenario 6: P1 mit weiterer Entfernung zu den Einrichtungen des täglichen Bedarfs

Tabelle 4.5 Übersicht Marktsimulationen mit jeweiligen Marktanteil der Produkte in %

Szenario P1 P2 P3 P4 P5 None-

Option

1 7,98 26,5 5,74 15,56 35,00 9,21

2 13,08 25,38 5,14 14,52 33,41 8,47

3 15,81 23,18 6,2 14,11 31,91 8,79

4 17,37 25,24 3,50 14,47 31,3 8,11

5 23,49 24,12 2,99 13,6 28,58 7,22

6 5,92 27,11 6,11 16,5 35,04 9,31

Page 357: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

358 Auswirkungen einer Stellplatzschlüsselreduktion in Wohngebieten

4.5 Interpretation der Ergebnisse, Fazit, Limitationen & Forschungsausblick

Trotz gegenwärtiger Anstrengungen seitens der Kommunen die PKW-Reduktion in den Städten voranzutreiben, ist für viele Haushalte die Verfügbarkeit einer ei-genen Garage im oder am Haus essentiell, was durch den hohe Nutzen von 54.28 belegt wird. Der Stellplatzschlüssel spielt bei Entscheidungen in den verschiede-nen Szenarien eine eher untergeordnete Rolle. Betrachtet man die aufgrund der geringeren Bereitstellungspflicht für Stellplätze möglichen Einsparungspotentiale im Wohnungsbau, die gegebenenfalls über einen niedrigeren Mietpreis dem End-verbraucher direkt zu Gute kommen, kann der reduzierte Stellplatzschlüssel je-doch zu einem beachtenswerten Faktor werden. Ein günstiger Preis für die betref-fende Wohneinheit (Szenario 2) reicht allerdings nicht aus um eine hohe Nachfrage zu generieren. Nur wenn zusätzlich die Voraussetzungen wie kurze Entfernung zu den Einrichtungen des täglichen Bedarfs sowie der ÖPNV-Anschluss im nahen Umkreis erfüllt werden (vgl. Szenario 5, indem P1 fast die Werte von P2 und P5 erreicht), ist eine Bereitschaft auf das Auto zu verzichten, dargestellt durch das Wohnen ohne eigenen Stellplatz, deutlich erkennbar. Der kürzere Weg zu Einrich-tungen des täglichen Bedarfs sorgt ebenso in Szenario 4 für eine Bevorzugung von P1 gegenüber P4. Eine weitere Entfernung zu den Einrichtungen des täglichen Be-darfs wirkt sich negativ auf P1 (Szenario 6) aus, wodurch die wichtige Rolle der Reichweite nochmals verdeutlich wird. Die Szenarien liefern noch weitere Er-kenntnisse.

Die Studie trägt dazu bei, den Wissensstand hinsichtlich der Auswirkungen einer Stellplatzschlüsselreduktion in Wohngebieten zu erweitern. Die Ergebnisse zeigen, dass potentielle Mieter durchaus dazu bereit sind, eine Wohnung mit reduziertem Stellplatzschlüssel und damit verbunden ohne eigenen Stellplatz auszuwählen, so-fern Voraussetzungen wie kurze Entfernung zu den Einrichtungen des täglichen Bedarfs sowie der naher ÖPNV-Anschluss erfüllt werden. Dies bedeutet für die Praxis, dass eine an dem Bedarf ausgerichtete Stellplatzreduktion in betreffenden Wohngebieten durchaus über ein gewisses Potential für eine Reduktion der PKW-Anzahl verfügt. Für die Akteure auf dem Wohnungsmarkt sowie die Stadtplanung bedeutet dies, mittels Aufklärungsarbeit auf die betreffenden Wohnangebote hin-zuweisen, deren Anforderungen transparent darzustellen sowie die Voraussetzun-gen der kurzen Wege auszubauen um weitere Potentiale zu bilden.

Die Aussagekraft der Studie wird durch einige Limitationen eingeschränkt. Die gewonnenen Daten bilden nicht exakt die deutsche Grundgesamtheit ab. So befin-

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Interpretation der Ergebnisse, Fazit, Limitationen & Forschungsausblick 359

den sich überdurchschnittlich viele gut ausgebildete Individuen unter den Proban-den. Eine weitere Limitation ist die niedrige Anzahl der verwendeten Choice-Sets, um eine hohe Abbruchrate oder das einfach Durchklicken seitens der Probanden zu vermeiden. Die Anzahl der Choice-Sets liegt jedoch noch im Rahmen der von Sawtooth vorgegebenen Empfehlung. Die Studie basiert auf einer Marktanalyse und verfügt somit über keine realen Daten aus dem Wohnungsmarkt. Aus diesem Grund sollten sich zukünftige Forschungsanstrengungen darauf abzielen diese Daten zu generieren. Zudem können auf Grundlage der in dieser Studie erhobenen Daten Mehrzahlungsbereitschaften berechnet werden. Weitere Forschungsan-strengungen könnten die Auswirkungen unterschiedlicher Persönlichkeitsmerk-male und sozio-kultureller Lifestyles analysieren oder kommunale Maßnahmen der Stellplatzschlüsselreduktion systematisch erfassen und darstellen.

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5 Urban Freight Logistics: Betroffene Geschäftsmodelle und deren Fähigkeit zur Transformation am Beispiel des Gesundheitssektors

A. Arnegger, Prof. Dr. M. Voeth, A. Pätzold (Universität Hohenheim)

5 Urban Freight Logistics: Betroffene Geschäftsmodelle und deren Fähigkeit zur Transformation am Beispiel des Gesundheitssektors 361

5.1 Einleitung ..................................................................................................... 3625.2 Urban Freight Logistics als Konzept für den städtischen

Güterverkehr ................................................................................................ 3625.3 Beschreibung der empirischen Untersuchung ........................................ 3675.4 Geschäftsmodelle und Logistikprofile im Gesundheitssektor ............. 3685.5 Eignung der Geschäftsmodelle ................................................................. 3705.6 Fazit ............................................................................................................... 372

Literatur ........................................................................................................................ 373

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_22

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362 Urban Freight Logistics

5.1 Einleitung

Urbanisierung und Wirtschaftswachstum führen bei privaten und gewerblichen Abnehmern zu einer zunehmenden Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen [1]. Der Güterverkehr hat einen Anteil von 20-30% an den städtisch zurückgelegten Kilometern, verursacht 40% der Luftverschmutzung und ca. 70% der Emissionen [15], [17], [26]. Urban-Freight-Logistics (UFL)-Konzepte18 sollen dazu beitragen, die Güterlogistik in Städten effizienter, flüssiger und nachhaltiger zu gestalten und so eine funktionierende Logistikinfrastruktur sicherzustellen [6], [20], [30], [33]. Neben der Urbanisierung führt die zunehmende Überalterung der Bevölkerung zu einem steigenden Bedarf an medizinischer Versorgung [32], [34], sowie zu einer höheren Bedeutung von Gesundheitsleistungen und im speziellen Arzneimitteln [23]. Bisher wird UFL-Konzepten für einzelne Branchen, wie dem Gesundheitssek-tor, nur wenig Beachtung geschenkt.

Das übergeordnete Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, aktuelle UFL-Konzepte zu analysieren und darauf basierend innovative Warenverkehrskonzepte aufzuzei-gen, die sich für den Gesundheitssektor eignen oder transformieren lassen. Der Schwerpunkt liegt auf der Entwicklung und Konkretisierung von zehn Kompo-nenten des UFL-Geschäftsmodells, die überwiegend aus dem Business Model Can-vas von Osterwalder und Pigneur (2010) abgeleitet werden.

5.2 Urban Freight Logistics als Konzept für den städtischen Güterverkehr

Innerhalb von Ballungsräumen ist die letzte Meile durch die Lieferung von Waren mit kleinen Sendungsvolumen und hoher Lieferfrequenz charakterisiert [1]. Dabei wird die urbane Ver- und Entsorgung in B2C-Transporte zum Endkonsumenten sowie in B2B-Transporte für den Händler oder Unternehmen eingeteilt. Externe Warenbewegungen finden statt, wenn Güter in die Stadt eingeführt werden, sie verlassen oder durchqueren, während interne Bewegungen innerhalb der Stadt-grenzen durchgeführt werden [35]. Infolge steigender Warenströme profitieren Ballungsräume zwar von positiven Einkommens- und Beschäftigungseffekten,

18 Urban Goods Transport, Urban Goods Movement, Urban Freight Logistics, und Urban

Freight Transport werden in der Literatur synonym verwendet (European Communities, 2006, S.2)

Page 362: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Urban Freight Logistics als Konzept für den städtischen Güterverkehr 363

hingegen nehmen negative Auswirkungen, wie höhere Verkehrs- und Umweltbe-lastungen, zu [29]. Ökonomische Auswirkungen sind vor allem die sinkende Wett-bewerbsfähigkeit von Städten durch steigende Logistikkosten [8], [19], [25]. Öko-logische Auswirkungen sind insbesondere steigende Luftverschmutzung sowie Kohlenstoffdioxidausstoß [19], [33]. Mit Emissionen gehen soziale Folgen einher, die sich in einer sinkenden Lebensqualität und Straßenverkehrssicherheit der Stadtbewohner niederschlagen.

Tabelle 5.1 Kategorisierung von UFL-Konzepten

Kategorie Maßnahme(n)

Gesetzliche und organisa-torische Maßnahmen

Einsatz von kooperativen logistischen Systemen Unterstützung von Nachtzustellungen Aufbau von öffentlich-privaten Partnerschaften

Regulierungsmaßnahmen zur Emissionsreduktion

Zugangsbeschränkungen Mautgebühren Gewichtsbeschränkungen Lieferzeitfenster für Transportfahrzeuge.

Flächennutzungsplanung Einrichtung von gewerblichen Zonen für kommerzielle Akti-vitäten

Infrastrukturmaßnahmen Verlagerung des Güterverkehrs auf nachhaltigere Ver-kehrsträger Bau von städtischen Sammel- und Verteilzentren (Konsoli-dierungszentren, unterirdische Güterverkehrsnetze, Zu-sammenführung von Personen- und Gütertransport)

Informationsbezogene und technologische Maßnah-men

Optimierter Datenaustausch zwischen Transportunterneh-men und Spediteuren hinsichtlich Routenplanung Einsatz umweltfreundlicher und schadstoffneutraler Trans-portfahrzeuge Erprobung, Entwicklung und Einsatz zukünftiger Fahrzeug-technologien

Quelle: [18], [25], [26],[29], [31].

Zusätzlich zu den externen Gegebenheiten und globalen Entwicklungen ergeben sich für UFL Herausforderungen wie kleine Sendungsvolumen, Just-in-Time-Be-lieferungen, geringe Auslastungsgrade der Lieferfahrzeuge und Engpassprobleme beim Be- und Entladen an Laderampen [8]. Durch die Weiterentwicklung intermo-

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364 Urban Freight Logistics

daler Verkehrskonzepte sollen Transportvorgänge mit zwei oder mehr Verkehrs-trägern verbessert werden [3]. Lösungen sind notwendig, um die Interessen von Anspruchsgruppen wie Versendern, den Transportunternehmen, den Endkunden, der Stadtbevölkerung, der öffentlichen Verwaltung und den Umweltverbänden wahrzunehmen und zu vereinen [25].

Vor dem Hintergrund der unterschiedlichen und teilweise entgegengesetzten An-liegen können UFL-Konzepte in fünf Maßnahmen kategorisiert werden, die die In-teressen der Anspruchsgruppen in unterschiedlichem Ausmaß widerspiegeln (siehe Tabelle 5.1).

In Anlehnung an die aufgeführten Begriffserklärungen bezieht sich UFL im vorlie-genden Beitrag auf den internen und externen Warentransport, das heißt Liefe-rung, Abholung, Verteilung und Lagerung von Waren an Endkunden im Gesund-heitssektor in innerstädtischen Regionen. Ziel ist es, die Effizienz des Warenver-kehrs für Stadtgebiete unter Berücksichtigung ökonomischer, ökologischer und so-zialer Auswirkungen zu optimieren [2], [7].

5.2.1 Geschäftsmodelle zur strategischen Analyse von Logistikkonzepten

Unter Geschäftsmodellen wird oftmals die „Logik“ hinter der Art und Weise ver-standen, wie Unternehmen funktionieren, Nutzen generieren und Wert schaffen [4], [5]. Zott und Amit (2010, S.217) stellen fest, dass ein „conceptual toolkit“ erfor-derlich ist, um sowohl zukünftige Geschäftsmodelle zu entwerfen als auch beste-hende zu analysieren und zu verbessern. Ein Geschäftsmodellansatz dient zur ganzheitlichen und integrierten Beschreibung der Unternehmensaktivitäten, in-dem sowohl unternehmensinterne als auch externe Faktoren mithilfe voneinander abhängiger Dimensionen berücksichtigt und visualisiert werden können. [4]. Das Business Model Canvas (BMC) von Osterwalder und Pigneur (2010, siehe Abbil-dung 5.1) ist der bekannteste und am weitesten verbreitete Geschäftsmodellansatz und erhält in der Forschung sowie in der Praxis großen Zuspruch [12]. Insgesamt erfüllt das BMC durch die Spezifikation der Dimensionen sowie deren Interrela-tion wichtige Voraussetzungen für die weitere Analyse von Geschäftsmodellen im Kontext von UFL.

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Urban Freight Logistics als Konzept für den städtischen Güterverkehr 365

Abbildung 5.1 Das revidierte UFL-Geschäftsmodell

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Osterwalder/Pigneur (2010, S.44)

Aus der Analyse des BMC geht hervor, dass das Geschäftsmodell auf Grundlage der Einnahmequellen und Kostenstruktur gewinnorientiert ist. Wie allerdings deutlich wird, liegt in Bezug auf UFL das Hauptinteresse der Anspruchsgruppen darauf, die negativen Auswirkungen durch die Warenverkehrsströme zu minimie-ren. Infolgedessen setzen UFL-Lösungen gezielt daran an, negative ökologische und soziale Auswirkungen zu reduzieren und dadurch ein Wertversprechen für die Gesellschaft zu schaffen [22]. Dazu muss das Ausmaß der externen Effekte im Rahmen der Geschäftsmodellanalyse erfasst und bei der anschließenden Bewer-tung berücksichtigt werden. Die Komponenten des Business Model Canvas wer-den deshalb für die Analyse von UFL-Geschäftsmodellen teilweise angepasst so-wie um eine zehnte Komponente – Externalitäten – ergänzt [19].

5.2.2 Charakteristika der Logistikbranche im Gesundheitssektor

Logistikanforderungen variieren zwischen den einzelnen Anwendungs- und Dienstleistungsbereichen der Gesundheitswirtschaft und verlangen nach passge-nauen Konzepten [13]. Die Distributionslogistik beinhaltet alle logistischen Dienstleistungen für den Vertrieb von pharmazeutischen Produkten. Hierzu zäh-len Arzneimittel, Medizinprodukte und medizinische Gebrauchsgüter, wie Ver-

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366 Urban Freight Logistics

bandsmaterialen und Bedarfe von Sanitätshäusern, sowie nichtmedizinische Ge-brauchsgüter. Zu den logistischen Dienstleistungen für ambulante und stationäre Einrichtungen zählen die Versorgungs- und Entsorgungslogistik sowie die inner-betrieblichen Prozesse für die Materialwirtschaft, Ablaufsteuerung und Organisa-tion von Gesundheitseinrichtungen. Alle sonstigen Formen logistischer Dienst-leistungen umfassen den Knowhow-Transfer zwischen Gesundheitseinrichtungen und vereinbarte Forschungskooperationen, beispielsweise zur Telemedizin. Durch die Nutzung von Informationstechnologien und Telematik-Entwicklungen sollen auch im Gesundheitssektor künftig logistische Abläufe unterstützt werden [16], [24].

Der pharmazeutische Großhandel stellt die effektive und effiziente Versorgung si-cher [14], [27]. Die Feinverteilung an den Endkunden ist vor allem durch eine hohe Flexibilität, relativ kleine Sendungsvolumen pro Zustellort, heterogene Sendungs-pakete und kurze Tagestouren geprägt. Mit Einführung der Good-Distribution-Practice (GDP)-Richtlinie soll eine angemessene Lagerung und Distribution erzielt werden [10] und damit alle am Vertrieb beteiligten Akteure für die Umsetzung einer validen und absolut sicheren Supply Chain verantwortlich gemacht werden. Vor allem die Temperaturerfassung während des Transports stellt eine entschei-dende und weitreichende Veränderung in der Pharmalogistik dar [28].

Tabelle 5.2 Definition von Logistikprofilen

Merkmal

Produkteigenschaften Leichtigkeit der Handhabung Spezielle Charakteristika (z.B. Kühlbedarf)

Logistische Anforderungen Dringlichkeit der Lieferungen Häufigkeit der Lieferungen Menge der Lieferungen

Merkmale des Stadtgebiets Dichte der gewerblichen Nutzung Homogenität des Gewerbes Logistische Zugangsbedingungen Lieferinfrastruktur der Stadtgebiete Lieferzeitfenster

Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Macario et al. (2011, S.56)

Page 366: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Beschreibung der empirischen Untersuchung 367

Um homogene Produktgruppen im Gesundheitssektor zu identifizieren, ist die De-finition von Logistikprofilen [18] notwendig (siehe Tabelle 5.2). In diesem Beitrag werden lediglich Aktivitäten, die sich auf den internen und externen Warentrans-port zum Endkunden, sowohl B2B als auch B2C, in städtischen Regionen beziehen, betrachtet. Entsorgungslogistik, Personen- und Patiententransporte sowie die in-nerbetrieblichen Logistikprozesse werden nicht näher beleuchtet. Die Logistikpro-file werden für homogene Produktgruppen Arzneimittel, Medizinprodukte, medi-zinische Gebrauchsgüter und Online-Arzneimittel definiert. Grund hierfür ist, dass in dieser Arbeit der Fokus auf den unterschiedlichen innerstädtischen logisti-schen Prozessen für verschiedene Warengruppen des Gesundheitssektors und ih-ren spezifischen Anforderungen liegt.

5.3 Beschreibung der empirischen Untersuchung

Die UFL-Konzepte wurden in Form von Fallstudien detailliert untersucht und an-schließend in Zusammenhang mit den Erkenntnissen der Logistikprofile des Ge-sundheitssektors gebracht.

Abbildung 5.2 Auswahl der zu untersuchenden Fälle

Quelle: Eigene Darstellung

Page 367: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

368 Urban Freight Logistics

Mit der Anwendung von Fallstudien sind unterschiedliche Zielsetzungen wie Ex-ploration, Beschreibung und Erklärung von realen Sachverhalten verbunden [9]. Mit multiplen Fallstudien können fallübergreifende Ergebnisse gewonnen werden [36]. Die vergleichende Fallstudienforschung erlaubt einen kontrollierten Ver-gleich über verschiedene Fälle hinweg, ohne die besonderen Charakteristika der einzelnen Fälle zu vernachlässigen.

5.4 Geschäftsmodelle und Logistikprofile im Gesundheitssektor

Bei der detaillierten Beschreibung von alternativen Transportmitteln und Trans-portzustellwegen stehen technologische, organisatorische und infrastrukturbe-dingte Konzepte im Mittelpunkt.

Tabelle 5.3 UFL-Geschäftsmodelle

Geschäfts-modell

Wertangebot Externalitäten

Elektrofahr-zeuge

Ausweitung der Lieferzeitfenster Klimaneutrales Image

Reduktion von Emissionen Steigerung von Lebensqualität

E-Lasten-fahrräder

Ausweitung der Lieferzeitfenster Flexible Warenzustellung Klimaneutrales Image

Reduktion von Emissionen Steigerung von Lebensqualität

Drohne Eil- und Notfalllieferungen Lieferung unabhängig von Stra-ßenauslastung und Zeitfenster

Reduktion von Emissionen und Fahrzeugbewegungen Rechtliche Hindernisse und Sicher-heitsbedenken

On-demand-Online-Lie-ferdienste

On-demand-Services Günstig & Schnell Online-Vermittlungsplattform Unmittelbare Lieferung

Reduzierte Fahrzeugkilometer Reduktion von Emissionen Entlastung des Straßenverkehrs durch kombinierte Fahrten

Alternative Zustell-punkte

Vermeidung mehrerer Zustellver-suche, Entkopplung von Lieferung und Empfang 24/7-Service

Reduktion unnötiger Fahrten Entlastung des Verkehrs Gesteigerte Kundenzufriedenheit

Quelle: Eigene Darstellung

Page 368: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Geschäftsmodelle und Logistikprofile im Gesundheitssektor 369

Die fünf Fallstudien Elektrofahrzeug, E-Lastenfahrrad, Drohne, On-demand-On-line-Lieferflotte und alternative Zustellpunkte werden anhand der zehn Geschäfts-modellkomponenten detailliert untersucht. Der Fokus liegt hierbei zum einen auf dem Wertangebot, um nutzenstiftende Leistungspakete für die Kunden anzubie-ten. Zum anderen werden die Externalitäten als Wertversprechen gegenüber der Gesellschaft beschrieben (siehe Tabelle 5.3).

Bei den alternativen Transportmitteln weisen besonders die Geschäftsmodelle der Elektrofahrzeuge und E-Lastenfahrräder eine hohe Praktikabilität auf. Drohnen gelten hingegen noch als visionär und unterliegen strengen regulatorischen Aufla-gen, besitzen aber ein großes Potenzial für die Lieferung eiliger Waren. Aus den Fallstudien zur alternativen Transportzustellung wird deutlich, dass diese Lösun-gen sich hauptsächlich für die B2C-Zustellung von Sendungen eignen.

Tabelle 5.4 Logistikprofile im Gesundheitssektor

Logistikprofile Arzneimittel Medizinprodukte Gebrauchsgüter Online-Arznei-mittel

Produkteigenschaften

Größe Klein Groß/Mittel/Klein Mittel/Klein Klein

Gewicht Leicht Schwer bis Leicht Mittel/Leicht Leicht

Kühlbedarf Ja; GDP-konform Ja; GDP-konform Nein Nein

Logistische Anforderungen an die Transportunternehmen

Dringlichkeit Relevant/ Eilig Relevant/Eilig Relevant Relevant

Häufigkeit Hoch Gering/Mittel/Hoch Gering/Mittel Hoch

Mengen Einige/Wenige Einige/Wenige Viele/Einige Wenige

Stadtstruktur

Dichte gewerblicher Nutzung Mittel

Homogenität des Gewerbes Gering/Mittel

Stauneigung Hoch

Logistische Zugangsbedingungen Schwierig

Lieferzeitfenster Ja

Quelle: Eigene Darstellung

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370 Urban Freight Logistics

Auf Basis der Produkteigenschaften, der logistischen Anforderungen an die Trans-portunternehmen und der Stadtstruktur wurden die Logistikprofile für den Ge-sundheitssektor bestimmt (siehe Tabelle 5.4). Der Status quo und die Herausfor-derungen der Gesundheitslogistik bilden dabei entscheidende Ansatzpunkte.

5.5 Eignung der Geschäftsmodelle

5.5.1 Anwendbarkeit der UFL-Geschäftsmodelle

Durch Elektromobilität, Sharing-Angebote, Online-Transportvermittlung und zu-nehmende Vernetzung wird sich die Logistik grundlegend verändern. Ergänzend zu den Megatrends bestätigen die Ergebnisse der Fallstudien die Bedeutung von Elektromobilität und Fahrrädern für den innerstädtischen Warenverkehr sowie das Potenzial von On-demand Online-Lieferflotten (siehe Abbildung 5.3).

Beim Einsatz von Elektrofahrzeugen, ebenso wie bei herkömmlich motorisierten Nutzfahrzeugen, liegen kaum Einschränkungen bezüglich der Größe und des Ge-wichts der zu transportierenden Waren vor. Anforderungen der Produktkatego-rien an die Liefermengen stellen kein Hindernis für den Einsatz dar. Allerdings sind Elektrofahrzeuge ebenso von der Verkehrssituation abhängig wie konventio-nell angetriebene Lieferfahrzeuge. Ambient- und Chilled-Produkte können auch in Elektrofahrzeugen in Thermoboxen ausgeliefert werden, für Frozen-Produkte stehen momentan jedoch keine Elektrofahrzeuge mit GDP-konformer Ausstattung zur Verfügung. Durch die geräuscharme Belieferung können Lieferzeitfenster aus-geweitet und flexibler genutzt werden. Beeinträchtigungen durch Lärm, Kohlen-stoffdioxid und Feinstaub können vermindert werden. E-Lastenfahrräder eignen sich für alle vier Produktkategorien, mit Einschränkungen hinsichtlich der Liefer-umfänge und der Kühlfähigkeit. Durch die geringeren Maße der Fahrzeuge kön-nen selbst Abladeorte außerhalb von Straßen erreicht und Radwege genutzt wer-den. Das Geschäftsmodell bietet durch eine zuverlässige und vom Verkehrsauf-kommen relativ unabhängige Zustellung den Vorteil, Eillieferungen von Arznei-mitteln und Medizinprodukten zu ermöglichen. Relativ zu den anderen Transport-mitteln gesehen, liefert das E-Lastenfahrrad einen starken Beitrag zur Reduzierung negativer ökologischer Einflüsse. Drohnen eignen sich vor allem für Eiltransporte von Arzneimitteln und Medizinprodukten, da sie sich unabhängig vom Straßen-netz bewegen und damit Lieferzeiten verkürzt werden können. Restriktionen be-stehen vor allem hinsichtlich Größen- und Gewichtsbeschränkungen, der Kühlfä-higkeit sowie momentan bestehender rechtlicher Hindernisse. On-demand-Liefer-flotten sind lediglich für den Transport von Online-Arzneimitteln geeignet, da

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Eignung der Geschäftsmodelle 371

diese Produkte in der Regel klein und leicht sind, und nicht den GDP-Leitlinien unterliegen. Alternative Zustellpunkte bestechen durch eine erhöhte Flexibilität, Unabhängigkeit und Effizienz bei der Warenzustellung an die Endkunden. Vor al-lem bei Online-Arzneimitteln profitieren Kunden und Transportunternehmen von der Unabhängigkeit der Zustellung und der Eliminierung von Warte- und Abhol-zeiten. Bei Arzneimitteln und der Distribution von Medizinprodukten sind die Notwendigkeit der GDP-konformen Warenlagerung an den Zustellpunkten und der persönlichen Lieferung an den Empfänger Hauptschwierigkeiten.

Abbildung 5.3 Anwendbarkeit der UFL-Geschäftsmodelle auf Logistikprofile des Gesundheitssektors

Quelle: Eigene Darstellung

Die Anwendbarkeit der UFL-Geschäftsmodelle variiert je Produktkategorie sowie innerhalb der einzelnen Produktkategorien stark. Die Produktkategorie Online-Arzneimittel weist die höchste Kompatibilität auf. Dies resultiert daraus, dass es weder Einschränkungen in Bezug auf die Produkteigenschaften noch auf die logis-tischen Anforderungen an die Transportunternehmen gibt. Die differenzierte Be-trachtung von alternativen Transportmitteln und Möglichkeiten der Transportzu-stellung zeigt, dass die alternativen Transportmittel für den Gesundheitssektor e-her geeignet sind, da der Fokus nicht auf der Abwicklung von B2C-Transporten liegt.

Page 371: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

372 Urban Freight Logistics

5.5.2 Transformierbarkeit der Geschäftsmodelle

UFL-Geschäftsmodelle sind teilweise ohne Transformation anwendbar. Hierzu zählt das Geschäftsmodell zur Belieferung mit dem Elektrofahrzeug. Allerdings gibt es starke, voneinander abweichende Einschränkungen, die mit den Merkmals-ausprägungen der Logistikprofile verbunden sind und Transformationen erfor-dern (siehe Tabelle 5.5). Auf Basis der Charakteristika aus den Logistikprofilen lassen sich zwar verschiedene Transformationsmöglichkeiten aufzeigen, um die Einsatzmöglichkeiten der Geschäftsmodelle zu erweitern. Die Untersuchung zeigt aber, dass der Großteil der Transformationen in der Praxis aufgrund eingeschränk-ter technischer Umsetzbarkeit oder wirtschaftlicher Unrentabilität unwahrschein-lich ist.

Tabelle 5.5 Transformationsmöglichkeiten der UFL-Geschäftsmodelle

Geschäftsmodell Übergreifende Transforma-tionsmöglichkeiten

Spezifische Transformationsmöglichkei-ten

E-Lastenfahrräder

Aktive/passive Kühlsysteme

Synergien durch intermodale Verkehrskonzepte

Individualisierung von Transportaufbauten

Erweiterung der Transportkapazitäten

Drohnen Fokus auf Eillieferungen

Erhöhung der Nutzlast

On-demand-Online-Lieferflotten

Eignung hauptsächlich für Online-Arzneimittel

Entwicklung einer Plattformlösung für GDP-konformen Transport

Alternative Zustell-punkte

Lieferoptionen entwickeln

Partnerschaften mit dem Lebensmitteleinzel-handel („Kühlschrank-Packstation“)

Quelle: Eigene Darstellung

5.6 Fazit

In diesem Beitrag konnte mithilfe von Fallstudien gezeigt werden, dass UFL-Ge-schäftsmodelle auch für den Gesundheitssektor von Bedeutung sind und in unter-schiedlichem Ausmaß angewendet werden können. Während Elektrofahrzeuge uneingeschränkt verwendet werden können, ergibt sich für die weiteren unter-

Page 372: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Fazit 373

suchten Konzepte ein differenziertes Bild. Zwar gibt es verschiedene Transforma-tionsmöglichkeiten für die untersuchten Geschäftsmodelle, diese sind allerdings nur teilweise oder gar nicht realisierbar. Die Möglichkeiten zur Transformation setzen vor allem daran an, neuartige Kühllösungen für Transport und Lagerung von Arzneimitteln und Medizinprodukten zu entwickeln. Weitere Ansätze kon-zentrieren sich auf eine flexible Laderaumgestaltung und erweiterte Transport- und Lagerkapazitäten. Es stellt sich heraus, dass ein Großteil der Transformationen aufgrund von rechtlichen Auflagen, wirtschaftlichen oder technischen Hürden mit einem enormen Umsetzungsaufwand verbunden wäre. Zu den umsetzbaren Transformationsmöglichkeiten zählt zum Beispiel die Kooperation des Gesund-heitssektors mit der Lebensmittelbranche beim Aufbau alternativer Zustellpunkte mit Kühlfunktion. Insgesamt konnte durch die Analyse und die Diskussion der Ergebnisse gezeigt werden, dass eine Kombination aus verschiedenen UFL-Kon-zepten zu empfehlen ist, um den innerstädtischen Warentransport für den Ge-sundheitssektor effizient und nachhaltig zu gestalten.

Der Ansatz, die Produkteigenschaften als Ausgangspunkt zur Klassifizierung zu wählen, stellt eine neue Vorgehensweise dar. Diese veränderte wissenschaftliche Sichtweise auf die Logistikprofile sollte jedoch mit weiteren Studien empirisch ve-rifiziert werden, da keine Gewichtung der Bewertungskriterien beim Vergleich der UFL-Geschäftsmodelle und der Logistikprofile vorgenommen wurde. Die Spezifi-zierung der Logistikprofile anhand der Produkteigenschaften und der logistischen Anforderungen an die Transportunternehmen sowie die Beschreibung der Stadt-struktur wurden zwar aus der Literaturrecherche abgeleitet, sollten aber mit wei-teren Studien empirisch überprüft werden. Weitere Studien könnten sich damit beschäftigen, durch Kombination des Personen- und Güterverkehrs neue Lösungs-ansätze für den Stadtverkehr sowie für umweltschonendere und kostengünstigere Lieferverkehre zu entwickeln.

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Fazit 375

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Page 375: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

6 Automatisierungstechnik und Ergonomieunterstützung für innovative Kommissionier- und Umschlagkonzepte der Logistik

Prof. Dr. T. Hanke, Prof. Dr. M. Klumpp (FOM Hochschule Essen), Prof. Dr.-Ing. B. No-che, K. Krumme (Universität Duisburg-Essen), J. Kochsiek (Fraunhofer IML)

6 Automatisierungstechnik und Ergonomieunterstützung für innovative Kommissionier- und Umschlagkonzepte der Logistik 377

6.1 Einführung ................................................................................................... 3786.2 Stand der Forschung ................................................................................... 3796.3 Restriktionen und Innovationspotenziale ............................................... 3826.4 Praxisrelevanz .............................................................................................. 3876.5 Lösungsansatz im Projekt ADINA ........................................................... 389

Literatur ........................................................................................................................ 391

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_23

Page 376: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

378 Automatisierungstechnik und Ergonomieunterstützung

6.1 Einführung

Konzepte der Citylogistik und urbanen Mobilität sind in der Vergangenheit unter anderem an fehlenden Möglichkeiten bzw. zu hohen Kosten eines stadtnahen Um-schlags gescheitert. In Zukunft könnte diese Hürde durch die Einführung automa-tisierter Kommissionier- und Umschlagverfahren deutlich gesenkt werden, was Modelle der kooperativen urbanen Mobilität zumindest für den gewerblichen Transport ermöglichen wird (Böckenkamp et al., 2016).

Logistiklösungen sind notwendigerweise nachhaltig zu gestalten, um gesellschaft-lich akzeptiert zu werden (Athanassopoulos et al., 2016, Clausen et al., 2016). Im Zuge eines zweiten Strukturwandels in Nordrhein-Westfalen werden aktuell und in den kommenden Jahren die zunehmend entfallenden Arbeitsplätze in den Be-reichen Stahl und Produktion (Bsp. Opel Bochum) durch qualifizierte Dienstleis-tungstätigkeiten, wie in der Logistik, ersetzt.19 Der Duisburger Hafen hat die Transformation von einem auf die Montanindustrie ausgelegten Binnenhafen in einen modernen Logistikknoten des Containerumschlags und von logistischen Mehrwertdienstleistungen geschafft und entwickelt sich aktuell zu einem Start-punkt der durch China vorangetriebenen neuen Seidenstraße (vgl. u.a. Deutsche Verkehrszeitung vom 12. Juni 2017). Um die Wirtschaftlichkeit und Wettbewerbs-fähigkeit der Logistikprozesse im nationalen und internationalen Vergleich sowie im Kontext der Wandlungsprozesse der Digitalisierung und im Hinblick auf In-dustrie 4.0-Konzepte zu erhalten, sind allerdings eine Reihe von Herausforderun-gen zu bewältigen: Die demografische Entwicklung und der Anstieg von Men-schen mit Migrationshintergrund in der Bevölkerung wird insbesondere für die Logistik sowie Automatisierungs- und Unterstützungstechniken für den Bereich der Umschlagprozesse in der Logistik gravierende Folgen haben (vgl. Klumpp et al., 2014, S. 95ff.). Die rund 1,3 Mio. Beschäftigten [rund 284.000 in NRW] in Lagerei und Umschlag machen einen Großteil der 2,8 Mio. [610.000 in NRW] Logistik-Be-schäftigten aus. Für diese gelten ähnliche Prognosen und Problemstellungen wie beispielsweise für die Gruppe der Berufskraftfahrenden, wo mehr als 25% der Be-schäftigten in den kommenden zehn Jahren die Arbeitstätigkeit altersbedingt ver-lassen werden und für welche kaum die notwendigen Nachwuchskräfte zu finden sind. Dieses liegt sowohl an der Attraktivität des Fahrerberufs (lange Arbeitszei-ten, unter der Woche kein Kontakt zur Familie, etc.) als auch an den Kosten für den

19 So sind am 2015 geschlossenen Produktionsstandort von Opel in Bochum bereits 600 neue Arbeits-

plätze durch einen DHL-Standort zugesagt, vgl. http://www.derwesten.de/wirtschaft/logistiker-schaf-fen-hunderte-stellen-im-ruhrgebiet-id11508894.html.

Page 377: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Stand der Forschung 379

Erwerb des Führerscheines (zahlreiche Fahrer haben vor einigen Jahren den Füh-rerschein bei der Bundeswehr erwerben und diesen dann zivilberuflich nutzen können (vgl. u.a. https://www.frachtraum.com/de/blog/kraftfahrer-fahrerman-gel/). So galt die Bundeswehr in den 90er Jahren als die größte Fahrschule). Inzwi-schen reicht allerdings die Füherscheinklasse C1, C1E oder CE nicht mehr aus, son-dern es werden (teure) Zusatzausbildungen benötigt um am Gewerblichen Güter-kraftverkehr in Deutschland teilnehmen zu können. Einige Speditionen haben be-reits eigene Fahrschulen eingerichtet um Nachwuchskräfte zu generieren. Ent-scheidend wird sein, dass Fahrer künftig im Rahmen der Lenk- und Ruhezeiten mehr fahren als sich zum Beispiel mit formellen oder Be- und Entladetätigkeiten zu beschäftigen. Prozesse an den Werkstoren müssen effizienter werden. Hier bie-ten Automatisierungslösungen und ergonomische Erleichterungen eine Vielzahl von Möglichkeiten.

Untersuchungen von Transportberufen hinsichtlich der demographischen Ent-wicklung zeigen, dass insbesondere für die gewerblichen Berufsfelder der Logistik ein hoher Problem- und Innovationsdruck entstehen wird, was vor allem die Fahr-berufe sowie die Tätigkeiten im Bereich Lager und Umschlag betrifft (vgl. Klumpp et al., 2015). Bei linearer Fortschreibung der prozentualen Verteilung der Alters-gruppen wird ersichtlich, dass die Bedarfe in dieser Berufsgruppe bei aktueller Nachwuchssituation nicht gedeckt werden können.

Die Ergebnisse von qualitativen und quantitativen Erhebungen weisen auf hohe Arbeitsanforderungen bei Beschäftigten im Bereich der Transportlogistik sowie produktions- und lagernahen Prozessen (Umschlag, Kommissionierung, Ein- und Auslagerung etc.) hin (vgl. Klumpp et al., 2014, Klumpp, 2015, S. 89ff.). Es werden allerdings auch zahlreiche Potenziale bei der Arbeit deutlich, die dazu beitragen können, die Arbeitsfähigkeit der Logistikbeschäftigten zu erhöhen sowie die At-traktivität des entsprechenden Berufsbildes zu verbessern und somit dem Fach-kräftemangel gezielt entgegenzuwirken. Unter anderem lassen sich bei Einbin-dung der unterschiedlichen organisatorischen und personellen Interessen an einer guten Arbeitsgestaltung maßgeschneiderten partizipativen Lösungen entwickeln (vgl. Hellert, 2014).

6.2 Stand der Forschung

Technische Entwicklungen wie die eines Regalbediengera ̈ts auf Basis der Stewart-Gough-Plattform tragen dazu bei, dass Leistungszuwa ̈chse sowie Kosten- und Energieeinsparungen realistisch erreichbar sind. Diese preiswerteren, neuartigen

Page 378: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

380 Automatisierungstechnik und Ergonomieunterstützung

Regalbediengera ̈te, die sich problemlos auch in bestehende Systeme integrieren lassen, können vornehmlich bei kleinen und mittelsta ̈ndischen Unternehmen in der Intralogistik eingesetzt werden (Salah et al. 2011a, Salah et al. 2011b).

Technische Automatisierungslösungen bieten neben dem Aspekt der physischen Arbeitserleichterung auch Möglichkeiten zur Überwindung von sprachlichen Bar-rieren (Migrationshintergrund) und für Motivationseffekte der Modernität und Technikaffinität – besonders auf jüngere Beschäftigte (vgl. Günthner, Freudl, 2000). Die Zielsetzung der Pilotierung und Anpassung von Automatisierungs- und Ergo-nomieunterstützungslösungen für Umschlagsprozesse resultiert im Hinblick auf die bestehende Altersstruktur in einer alternsgerechten Arbeitsgestaltung zur Ver-besserung von Sicherheit und Gesundheit von Mitarbeitern in den Bereichen der Transportlogistik sowie Umschlag und Kommissionierung. Dies kann durch ziel-gruppenspezifische Maßnahmen zur Förderung der Arbeitsfähigkeit – u. a. durch Automatisierungslösungen, sprachunabhängigen Unterstützungstechniken – prä-ventiv durchgeführt werden. Diese Erkenntnisse bezüglich notwendiger und un-terstützender Maßnahmen sind zumindest in Teilen auf Beschäftigte in Intra- und Interlogistik übertragbar.

Bisherige Untersuchungen haben gezeigt, dass Unternehmen der gleichen Branche sowie mit vergleichbarer Größe und Struktur zum Thema Demografiefestigkeit und Integration völlig unterschiedlich aufgestellt sein können. Weitere Einfluss-faktoren auf die Problematik des Fachkräftemangels auch im Bereich der gewerb-lichen Beschäftigten der Logistik sind nachfolgend dargestellt:

Page 379: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Stand der Forschung 381

Abbildung 6.1 Wirkungsmodell Fachkräftemangel

Diese Faktoren beeinflussen sich gegenseitig. So können sich beispielsweise die Arbeitsbelastungen und deren Sichtbarkeit in der Gesellschaft auch auf das Image der Logistikberufe und damit auf den Nachwuchsmangel auswirken. Die Förde-rung von Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit im demografischen Wandel und/ oder für Menschen mit Migrationshintergrund ist vor allem eine gruppenspezifi-sche Herausforderung. Deshalb spielt eine fokussierte Betrachtung der Berufs-gruppe der Umschlagmitarbeiterinnen und -mitarbeiter der Intralogistik (Beschäf-tigte in Depot und Lager) sowie der Interlogistik (Beschäftigte in multimodalen Knotenpunkten und Verkehren) eine bedeutende Rolle für die zukünftige Wettbe-werbsfähigkeit der Logistikunternehmen. Dies betrifft in erster Linie kleine und mittelgroße Unternehmen an verschiedenen Produktions-, Logistik- und Hafen-standorten, wenn diese selbst nicht über die Ressourcen verfügen, um umfangrei-che Tests und Anpassungen durchzuführen.

Nach Schätzungen des Bundesamtes für Güterverkehr (BAG 2012, S. 20f.) unterlie-gen Bescha ̈ftigte in Lagern einer hohen ko ̈rperlichen Belastung. Lagerbescha ̈ftigte bewegen nach Erkenntnissen des Bundesamtes mitunter mehrere Tonnen pro Tag, wenngleich die physischen Belastungen in Abha ̈ngigkeit vom Einsatzgebiet vari-ieren. Kommissioniertätigkeiten in Lagern des Einzelhandels gelten in diesem Zu-sammenhang als besonders beanspruchend, da die Bescha ̈ftigten hierbei teilweise schwere Gegensta ̈nde heben und bewegen mu ̈ssen. Dies gilt als wesentlicher Grund dafu ̈r, dass für diese Tätigkeiten u ̈berwiegend ma ̈nnliche Arbeitskra ̈fte ein-

Page 380: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

382 Automatisierungstechnik und Ergonomieunterstützung

gesetzt werden. Erleichterungen der Arbeitsabla ̈ufe kann durch die Automatisie-rung der Arbeitsprozesse erreicht werden. Geringere ko ̈rperliche Belastungen, wie etwa im Stu ̈ckgutumschlag, können durch Hilfsinstrumente wie z. B. Gabelstapler unterstützt werden. Allerdings gelten Be- und Entladevorga ̈nge an den Rampen oder auch das Andocken und Lo ̈sen des Fahrzeugs als Situationen, in denen La-germitarbeiter besonders gefa ̈hrdet sind.

Mit Blick auf kleine und mittlere Unternehmen (KMU) besteht zudem eine Not-wendigkeit zu einer einfachen und effizienten Steuerung sowie von Pilotierungs-vorlagen für Automatisierungslösungen, da viele kleinere Unternehmen keine ei-genständigen Selektions- und Testprozesse durchführen können. Gleichzeitig kann dieser Themenkreis auch für größere Unternehmen (Logistikdienstleister, In-tegratoren, 4PL, Industrie) interessant sein um eine Verbesserung auf der Ebene einzelner Standorte und Teams (Umschlagsegment/Depot) zu erreichen. Insbeson-dere wird die Industrie 4.0, mit der skizzierten stärkeren Orientierung an kleinen Produktionsgrößen (bis Losgröße 1) und der Selbststeuerung von flexiblen (klei-nen) Einheiten auch bei großen Produktionsunternehmen, die ursprünglich aus den Eigenschaften der Serienfertigung standardisierter Produkte mit teuren Ma-schinen, die im Gegenzug auch Mindestlosgrößen benötigen, zu einer Orientie-rung an Methoden und Techniken von KMU veranlassen.

6.3 Restriktionen und Innovationspotenziale

Grundlage der nachstehenden Überlegungen bildet das Projekt ADINA.20 Im Kern werden hier erste Innovationsansätze für eine Automatisierung in Kommis-sionier- und Umschlagsprozessen vorgestellt, eine Bewertung erfolgt mittels logis-tischer, betriebswirtschaftlicher, ergonomischer und sozialer Kriterien, Beispielan-wendungen zeigen spezifische Problemstellungen auf. Dies wird weiterführend in den Kontext von urbaner Logistik und Digitalisierung gestellt, da hier umfangrei-che Interaktionen und Synergien vorhanden sind.

Die fachliche Innovation besteht in der Pilotierung, Anwendung und spezifischen Anpassung der neuesten verfügbaren Techniken (u. a. aus der Produktionstech-nik) zur Automatisierung für die spezifischen Anwendungsfelder im Bereich der Lager- und Umschlagprozesse in der Logistik. Derartige Automatisierungs- und

20 Das Projekt ADINA (Automatisierungstechnik und Ergonomieunterstützung für innova-

tive Kommissionier- und Umschlagkonzepte der Logistik) wird durch das Land NRW (Projektnummer EFRE-0800863) sowie durch EU-EFRE-Mittel (Ziel 2) gefördert.

Page 381: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Restriktionen und Innovationspotenziale 383

Unterstützungstechniken in Richtung Ergonomie sind im Bereich der Produktion, insbesondere der Automobilproduktion oder der Herstellung sogenannter „Wei-ßer Ware“, schon weit fortgeschritten.

Abbildung 6.2 Beispielsituation Kontraktlogistik: Kommissionierung und Ad-ded Services

Quelle: Projekt ADINA

Abbildung 6.3 Palettenwendegerät Als Hilfsmittel zur Optimierung der Ab-läufe in der Kommissionierung

Quelle: Projekt ADINA

Page 382: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

384 Automatisierungstechnik und Ergonomieunterstützung

Für den Anwendungsbereich der Lager- und Umschlagprozesse in der Logistik ist dies jedoch trotz ähnlich belastender Tätigkeiten noch deutlich unterrepräsentiert – der größte Teil der Arbeiten besteht noch aus kaum unterstützten manuellen Pro-zessen der Fachkräfte. Lediglich für Teilbereiche der Kommissionierung (Picking, Ware-zum-Mitarbeiter-Prinzip) sind bereits elaborierte Automatisierungslösun-gen in der Anwendung. Dies hat beispielsweise auch dazu geführt, dass der Anteil von weiblichen Beschäftigten in diesem Bereich deutlich angestiegen ist, da die körperliche Belastung rückläufig ist. Ähnliches wäre auch für den Umschlagbe-reich zu erwarten. Mit einem höheren Automatisierungsgrad sind voraussichtlich vermehrt weibliche sowie jüngere Arbeitnehmer für diese Tätigkeiten zu gewin-nen, was den Herausforderungen des demografischen Wandels positiv entgegen-wirken kann.

Für Anpassungen in den relevanten Lager- und Umschlagbereichen der Logistik müssen Automatisierungstechnik und Digitalisierungsgrad berücksichtigt wer-den. Im Fokus der Betrachtung stehen insbesondere die Bereiche Co-Packing, Kommissionierung und Ausgangsabfertigung in der Kontraktlogistik sowie der Umschlag in der Produktionsausgangslogistik sowie bei schienengebundenen und multimodalen Transporten.

So werden beispielsweise in den bis dato durch viel belastende Handarbeit gepräg-ten Logistikprozessen der Ein- und Auslagerung, der Kommissionierung (Pi-cking), des Umschlags und der Value Added Services gemeinsam mit den einschlä-gigen Herstellern neue Anwendungstechniken und Instrumente entwickelt. Diese Innovationen werden zur Verbesserung im Sinne der großen Zahl gewerblicher Logistikbeschäftigte genutzt, was insgesamt die Arbeit in diesem Segment attrak-tiver und effizienter macht. Einsetzbar sind eine Vielzahl von Techniken wie z. B. automatisierter Niveauausgleich und Palettenwendegeräte bei der Kommissionie-rung sowie der Einsatz von stationären und mobilen Hebehilfen, Informationssys-teme zur Füllstandsüberwachung von Bereitstellungsflächen und zur Steuerung von Betriebsabläufen, Hilfsmittel für den ergonomisch sinnvollen Einsatz von Identifikationssystemen und der Dokumentation von Prozessen oder Maschinen zur automatisierten Volumenvermessung von Produkten, Fächern, Rollwagen und Laderäumen bis hin zur automatisierter Verpackungssysteme bei der Erstel-lung von Kits.

Als konkretes Beispiel dient hier der Einsatz bestehender Flurförderfahrzeuge in der Auslagerung (Order Picking): Hierbei befinden sich die Lagerwaren in der Re-gel auf Palettenhöhe (unterste Regalebene im Lager, ca. 0,80 bis 1,20 m), während die Transportebene des Fahrzeugs sich in Bodenhöhe (ca. 0,20 bis 0,30 m) befindet. Dadurch entstehen in der manuellen Kommissionierung und Fortbewegung des

Page 383: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Restriktionen und Innovationspotenziale 385

entsprechenden Logistikmitarbeiters umfangreiche Bück- und Hebevorgänge, was nicht als ergonomisch und alternsgerecht eingestuft werden muss.

Die Anforderung besteht darin, einen automatisierten Niveauangleich zu entwi-ckeln (inkrementelle Innovation): Hierbei würde das Flurförderfahrzeug mittels Laser- oder Radar-Abstandsmessung die Packhöhe im Regal/Lager erkennen und die Transportpalette auf dem Flurförderfahrzeug automatisch vor dem Pickvor-gang auf die gleiche Höhe anheben. Dadurch könnte die Hebearbeit des Logistik-beschäftigen auf ein Minimum reduziert werden (ebenfalls das „Bücken“), da die Übernahme vom Lagerort zum Kommissionierfahrzeug auf gleichem Höhenni-veau ausgeführt würde (siehe nachfolgende Abbildung). Weitere derartige An-wendungen und Anwendungsfelder der Lager- und Umschlagsprozesse sind zu identifizieren, Ansatzpunkte für Innovationen zu entwickeln und zu pilotieren.

Abbildung 6.4 Innovationsbeispiel

Quelle: FOM ild, Projekt ADINA

Page 384: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

386 Automatisierungstechnik und Ergonomieunterstützung

In einem weiteren Beispiel können zunächst stark arbeitsteilig organisierte und von daher zum Teil monotone Tätigkeiten abwechslungsreicher (sowohl von den Bewegungsabläufen um einseitige Belastungen zu vermeiden als auch bzgl. Ar-beitsinhalt) und attraktiver (bspw. mehr Eigenverantwortung, Umgang mit mo-derner Technologie und deren individuellen Konfigurierungsmöglichkeiten) ge-staltet werden. Bei der Palettierung der kommissionierten Packstücke in Richtung Versand besteht Bedarf für ergonomische Optimierungen im Bereich von Bück- und Hebevorgängen, die derzeit noch nicht (teil-)automatisiert oder technisch un-terstützt stattfinden (vgl. nachfolgende Abbildungen). Derzeit erfolgt die Palettie-rung in diesen Bereichen unter teilweise hohem Zeitdruck rein manuell. Zu be-rücksichtigen ist ebenso die optimierte Anbindung an die bestehende Fördertech-nik.

Abbildung 6.5 Beispiele: Bedarf zur Ergonomieunterstützung

Quelle: Projekt ADINA

Planerische Ansätze zur Automatisierung dieser Tätigkeit scheiterten bisher an der mangelnden Flexibilität solcher Lösungen in Bezug auf Platzbedarf, aber vor allem in Bezug auf den Umgang mit einer Vielzahl verschiedener Packstücktypen. Bisher können auf dem Markt kaum geeigneten Automatisierungslösungen gefunden werden. Ziel ist deshalb, neue Ansätze zur Teil- oder Vollautomatisierung erarbei-tet und bewertet werden. Im Bereich der Unterstützungstechniken für die Über-windung von Sprachbarrieren oder auch für die Einbindung von ungelerntem Per-sonal kann beispielhaft die bereits etablierte Technik, Pick-by-Light, angeführt werden. Innovative Ansätze bietet hier die augmented reality, die durch die Erwei-terung der Realitätswahrnehmung gezielte Informationshilfen bieten. Die visuelle

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Praxisrelevanz 387

Darstellung von Informationen (Bilder, Videos, Animationen) können bei Men-schen mit Migrationshintergrund Arbeitsabläufe unterstützen, Fehler verringern und/oder die Einarbeitung beschleunigen.

Weitere Lösungen liegen in der Entwicklung sensorbasierter neuronal-adaptive Produkte (Beispiel: SNAP21) und stationärer und mobiler Mess- und Sensorsys-teme, mit arbeitstypische Bewegungsvorgänge mit und ohne den Einsatz von Un-terstützungssystemen (z. B. Exoskelette, Robotik-Systeme) analysiert werden kön-nen. Durch die Messung kinetischer und kinematischer Parameter kann die Wir-kung der Unterstützungssysteme auf Bewegungsvorgänge und Belastungen (z. B. Bodenreaktionskräfte, Gelenkwinkel der unteren Extremitäten, plantare Druckver-teilung) untersucht werden. Aus den Daten können entsprechende Leistungsbe-rechnungen, z. B. zur Leistungsbestimmung in den Gelenken, vorgenommen wer-den. Ebenso können begleitende EMG- und EEG-Messungen durchgeführt wer-den.

Ein letzter Wichtiger Punkt ist zudem die Informationsaufbereitung für die an den genannten Arbeitsplätzen beschäftigten. So ist Informationsüberflutung durch ge-eignete (software-)ergonomische Aufbereitung der relevanten Informationen zu vermeiden, um eine mentale Überforderung zu vermeiden. Zum anderen kann ge-eignete Informationsbereitstellung den Mitarbeiter auch eine höhere Eigenverant-wortlichkeit und damit größere Arbeitszufriedenheit oder zumindest einen (verar-beitbaren und sinnvollen) Überblick über das Geschehen und damit ein besseres Verständnis für Abläufe und zusammenhang und damit u.U. ebenfalls Arbeitszu-friedenheit geben. Zudem regt die sinnvolle und erweiterte Informationsversor-gung die Mitarbeiter auch stärker an, Verbesserungsvorschläge zu entwickeln, was zum einem den Unternehmenserfolg erhöht und dem Mitarbeiter hoher motiviert, Erfolgserlebnisse schafft und ihn befähigt seinen Arbeitsablauf gesund zu gestal-ten.

6.4 Praxisrelevanz

Bei Anwendungsprozessen der Kontraktlogistik (Kommissionierung, Ein- und Auslagerung, Value Added Services) können beispielsweise Automatisierungs-techniken geprüft und auch fallweise eingesetzt werden, beispielsweise in Anla-geninvestitionen für die Palettenverpackung und Flaschenbearbeitung (Kontrakt-Kunde Getränke). Weiterführend sind umfangreiche Potenziale für den Einsatz

21 SNAP GmbH Bochum, http://www.snap-gmbh.de/index.php/de/

Page 386: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

388 Automatisierungstechnik und Ergonomieunterstützung

moderner Automatisierungstechnik, insbesondere vor dem Hintergrund zuneh-mender Schwierigkeiten in der Personalgewinnung für derartige Prozesse im Be-reich der Kontraktlogistik.

Weiterhin werden in der Kontraktlogistik logistische Teilprozessen (maßgeblich) durch manuelle Kommissionier- und Co-Packing-Tätigkeiten bestimmt (etwa in der FMCG-Branche). Insbesondere die aktuell manuellen Teilprozesse können ggf. durch Automatisierung, insbesondere aber auch durch ergonomische Arbeitswei-sen, herbeigeführt oder unterstützt durch den Einsatz von technischen Hilfsmit-teln, gezielt optimiert werden. Dies kann nicht nur zu einer Effizienzsteigerung in den logistischen Abläufen führen, sondern begünstigt insbesondere die Arbeits-qualität für das gewerbliche Lagerpersonal, da die heutigen Arbeitsabläufe, trotz aktiver Nutzung vieler bereits etablierter Lagerhilfsmittel (Gabelstapler, Hand-hubwagen, unterstützte Hebe- und Senkvorgänge etc.), als schwere körperliche Arbeit einzustufen ist (Albrecht, 2016).

Abbildung 6.6 Beispiel: Automatisierungstechnik

Quelle: Bohnen Logistik

Page 387: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Lösungsansatz im Projekt ADINA 389

Produktionsunternehmen berichten über Erfahrungen mit den Prozessen der Pro-duktionsausgangslogistik und mit Distributionskonzepten. In Investitionsvorha-ben werden beispielsweise Technikelemente der Prozessautomatisierung einge-setzt. Sind weitere Erweiterungsinvestitionen (wie etwa Logistikgebäude und Lo-gistikanlagen) geplant, kann ein hohes Interesse und eine ausgeprägte Investiti-onsbereitschaft in diesem Bereich unterstellt werden, konkrete Beispiele dafür sind etwa der Einsatz von Hilfsmitteln und/oder Automatisierungslösungen zur Palet-tierung von Packstücken oder die (vollständige) Automatisierung im Bereich des Wareneingangs durch Standardisierung eines eigenen Behälterkonzeptes das Depalettieren bereits vollständig automatisieren und somit die körperliche Belas-tung der Mitarbeitenden auf ein Minimum reduzieren. Ebenso existieren Beispiele im Bereich der Kommissionierung durch die Umsetzung des Prinzips „Ware-zum-Mitarbeiter“ ein sehr hoher Automatisierungsgrad und damit einhergehend eine deutliche Reduzierung körperlich anstrengender Arbeiten erreicht.

Abbildung 6.7 (Links) Beispiel: Automatisierungslösungen zur Palettierung (Rechts) Beispiel: Ergonomische Optimierung durch Automati-sierung

Quelle: Projekt ADINA

6.5 Lösungsansatz im Projekt ADINA

Die übergeordnete Zielsetzung des Projekts ADINA liegt in der verbesserten Vor-bereitung der Logistikwirtschaft auf den bevorstehenden demografischen Wandel, was direkt die Wettbewerbsfähigkeit der Logistikunternehmen und indirekt die

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390 Automatisierungstechnik und Ergonomieunterstützung

Wettbewerbsfähigkeit aller Unternehmen (durch geringere Logistikkosten) stei-gert. Die Überlegungen setzen dazu im Handlungsbereich der technischen Auto-matisierung und Digitalisierung von Prozessen zur Ergonomieunterstützung an, die für die gewerblichen Umschlagprozesse (und andere Bereiche, bspw. Kommis-sionierung) vielversprechend sind, da gleichzeitig konkrete Teilziele verfolgt wer-den können:

■ Verbesserung der Arbeitsergonomie und dadurch präventiver Gesundheits-schutz sowie alternsgerechtes Arbeiten für die Beschäftigten, was Beschäftigte länger und in späteren Lebensjahren zur Arbeit in diesen Logistikprozessen befähigt;

■ Indirekt damit auch Motivation der Beschäftigten sowie Erleichterung der physischen Anforderungen und damit Geschlechter-Gleichstellung, verbes-serte Informationsaufbereitung und Teilhabe am Informationsprozess sowie eine Unterstützung der Integration älterer oder auch körperlich eingeschränk-ter Beschäftigter in die gewerblichen Logistikprozesse;

■ Optimierung der Arbeitseffizienz und damit auch eine signifikante Prozess- und Stückkostenreduktion für die Unternehmen – damit indirekt weitere Er-höhung der Wettbewerbsfähigkeit der Logistik-, Industrie- und Handelsun-ternehmen.

Finales Ziel der Projektarbeiten ist es, mit den beteiligten Projektpartnern beste-hende Automatisierungs- und Unterstützungssysteme (Ergonomie, sprachbarrie-refrei) zu testen und im Projektverlauf an die spezifischen Einsatzanforderungen in der Logistik anzupassen. Insbesondere der Logistikbereich Umschlag und Kom-missionierung bietet hierzu ein geeignetes und hoch innovatives Forschungs- und Anwendungspotenzial, dessen Nutzung die ergonomische Arbeitssituation in der Logistik verbessern soll. Dadurch werden Tätigkeiten in diesem Bereich attraktiver und effizienter gemacht. Ebenso können durch höheren Technik- und Automati-sierungseinsatz neue Arbeitskraftpotenziale erschlossen, Prozesskosten in Um-schlag und Kommissionierung gesenkt werden, Arbeitsunfälle, Gesundheitsschä-den und Ausfallzeiten reduziert und nicht zuletzt die Attraktivität und soziale Teilhabe der gewerblichen Berufsbilder in der Logistik gesteigert werden. Die Er-gebnisse der ergonomischen Systemunterstützung im Bereich Umschlag und Kommissionierung eignen sich weiterhin, um in einem Leitfaden zusammenge-fasst zu werden, der neben der Vorstellung der Techniken und Instrumente einen Vorgehensplan zur Implementation enthält und Hilfestellung zur Beurteilung der Amortisationsrechnung liefert. Dieses Dokument könnte auch zur Erarbeitung von Richtlinien dienen, die die Lücke zwischen ergonomischen Anforderungen und technischen Systemlösungen schließt.

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Lösungsansatz im Projekt ADINA 391

Innovationsprozesse setzen an verschiedenen Punkten an, zentral jedoch ist die Kooperation im Verbund von Unternehmen und Forschungseinrichtungen.

■ Über Forschungspartner wird das fachliche und technische Wissen und Erfah-rungswerte für eine Steuerung technischer Prozessinnovationen zur Verfü-gung gestellt, was bei Anwendungspartnern in dieser spezifischen Konfigura-tion (Logistiktechnik, ergonomische und sprachliche Anforderungen, Einbin-dung Logistikkontext globaler Supply Chains) nicht immer in entsprechender Form vorliegt. Die Entwicklung und Verbreitung von Vorschlägen, die in ei-nem Leitfaden münden könnten, ist ebenfalls eine Kernaufgabe der For-schungspartner.

■ Anwendungspartner führen gesteuerte Tätigkeiten des planmäßigen und kri-tischen Forschens zur Gewinnung neuer Kenntnisse und Fertigkeiten mit dem Ziel durch, neue Produkte, Verfahren oder Dienstleistungen zu entwickeln o-der zur Verwirklichung erheblicher Verbesserungen bei bestehenden Produk-ten, Verfahren oder Dienstleistungen im Bereich der Lager und Umschlag-technik nutzen zu können. Dabei werden u.a. auch Teile komplexer Systeme, die für die Validierung von technologischen Grundlagen notwendig sind, ent-wickelt und gemeinsam mit den assoziierten Partnern (Technikanbieter) ge-testet und verbessert.

■Weitere Partner aus dem Bereich der Lager- und Umschlagtechnik beteiligen sich am Projekt, u. a. in der Form der Bereitstellung von technischen Geräten. Die Hersteller selbst profitieren als kommerzielle Anbieter von den möglichen Produkt- und Prozessinnovationen, was ein langfristig verbessertes Angebot-sportfolio (Absatzmarkt) für den spezifischen Bereich der Logistikprozesse in Lager, Kommissionierung und Umschlag ermöglicht.

Die Unterstützung im Rahmen des bewilligten Förderprogramms versetzt die Pro-jektpartner konkret in die Lage, die ausgeführten Innovationen für die gewerbliche Logistik zu realisieren.

Literatur

[1] Albrecht, T. (2016): Schwere Lasten präzise bewegen: Sicherer und exakter Einsatz fah-rerloser Transportfahrzeuge im Aluminium-Recycling-Werk, in: Hebezeuge und För-dermittel 55 (2016), Nr.1-2, S. 34-36.

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392 Automatisierungstechnik und Ergonomieunterstützung

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Page 391: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

7 Corporate Startups: Unternehmensinterner Nährboden für digitale Geschäftsmodelle - dargestellt am Beispiel der Last Mile Lösung pakadoo

M. Ziegler (LGI Logistics Group International GmbH)

7 Corporate Startups: Unternehmensinterner Nährboden für digitale Geschäftsmodelle - dargestellt am Beispiel der Last Mile Lösung pakadoo 393

7.1 Innovationsgeist und Digitalisierung in Deutschland: Status quo ...... 3947.2 Mit Startup-Geist zum digitalen Unternehmen? .................................... 3957.3 Die Last Mile-Lösung pakadoo ................................................................. 399

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_24

Page 392: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

394 Corporate Startups

7.1 Innovationsgeist und Digitalisierung in Deutschland: Status quo

Die fortschreitenden Digitalisierung beeinflusst nicht nur unseren Alltag und die Arbeitswelt, sondern auch zunehmend die Art und Weise, wie Innovationen ent-stehen. Gerade für Unternehmen bieten neue digitale Technologien ein großes Po-tenzial. Durch die ständige und zudem einfache Verfügbarkeit von Informationen und die zahlreichen Möglichkeiten der Vernetzung sind sie in der Lage, noch schneller und besser auf die Bedürfnisse der Kunden einzugehen. Dabei sind es zuletzt meist datengetriebene Geschäftsmodelle, die nun auf den Markt rücken und dort neue Umsatzpotenziale erschließen. Diese Ansätze stellen die Wirtschaft völlig auf den Kopf – und rütteln an den einst so stabilen Strukturen der etablierten Wertschöpfungsketten. Es gilt sich also völlig neu auszurichten, bevor alles in sich zusammenfällt. Viele Länder haben schon längst die Notwendigkeit erkannt, den Wandel nicht nur passiv abzuwarten, sondern aktiv mitzugestalten.

Deutschland, früher als Land der Denker und Erfinder bekannt, hinkt der Entwick-lung nach wie vor hinterher. Weder in Sachen Innovationen, noch bei der Digitali-sierung wird hierzulande ausreichend getan. Zu diesem Ergebnis kam zuletzt auch das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI in seinem Inno-vationsindikator 201722. Die Studie zeigt, dass die viertgrößte Volkswirtschaft Eu-ropas beim Digitalisierungs-Indikator im internationalen Vergleich weit abge-schlagen auf Rang 17 liegt. Große Schwächen gibt es zudem im gesamten Digital-bereich – egal ob in der Wirtschaft, Bildung oder Forschung. Dahingegen schneidet Deutschland beim Thema Innovation deutlich besser ab. Und verbesserte sich mit Platz vier im Vergleich zum Innovationsindikator 2015 immerhin um einen Platz.

7.1.1 Großer Nachholbedarf bei Politik und in der Wirtschaft

Nicht nur die Studie des Fraunhofer-Instituts macht deutlich, dass dringender Handlungsbedarf besteht, um die Digitalisierung nicht völlig zu verschlafen. Im Zugzwang sind aber nicht nur die Politik, sondern auch die Unternehmen. Allzu-oft halten diese an alten Strukturen fest und sind Neuerungen gegenüber zu skep-tisch eingestellt. Nur wenige sind bislang bereit, unbekanntes Terrain zu betreten und sich den noch schwer einschätzbaren Dimensionen der Digitalisierung zu öff-nen. In den meisten Fällen sind es die großen Konzerne, die ohnehin international 22 http://www.innovationsindikator.de/2017/home/#!/home

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Mit Startup-Geist zum digitalen Unternehmen? 395

tätig sind, die einen Vorstoß wagen und so den digitalen Wandel aktiv vorantrei-ben möchten.

Im Großen und Ganzen wirkt die deutsche Wirtschaft jedoch eher träge, was die Innovationsfreudigkeit hinsichtlich digitaler Geschäftsmodelle anbelangt. Und wartet scheinbar, wenn auch durchaus interessiert beobachtend, lieber ab, anstatt es selbst zu versuchen. Derzeit existiert der Wandel einzig in den Köpfen und auf den Agenden von Politik und Wirtschaft. Um auch in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben, müssen allerdings den Worten Taten folgen – und das möglichst bald. Das bedeutet für die Politik mehr Investionen in Forschung und Bildung, um In-novationen zu fördern. Und die Wirtschaft sollte ebenfalls dringend investieren – neben Geld, auch ein wenig Mut und Neugier auf die vielen Möglichkeiten, die sich durch die Digitalisierung auftun.

7.2 Mit Startup-Geist zum digitalen Unternehmen?

Für Unternehmen bedeutet die Digitalisierung nicht nur eine veränderte Arbeits-weise, sondern auch eine deutliche Veränderung der bisherigen Marktstrukturen. In Zukunft zählen weniger Produkte und deren technischen Fähigkeiten, sondern Geschäftsmodelle, die sich an den Kundenbedürfnissen orientieren. In der Regel gelingt diese Denke Startups viel besser, da diese sich erst definieren und so eine viel feinere Ausrichtung bekommen. Traditionsunternehmen neigen hingegegen durch ihre starren Strukuren zu einer Schwerfälligkeit, die sie daran hindert, schnell auf Veränderungen reagieren zu können. Während Konzerne derzeit vor der Herausforderung stehen, sich neu ausrichten zu müssen, haben Startups den Vorteil, ihre Geschäftsideen im Schwung der Aufbruchstimmung zu entwickeln, auf den Markt zu bringen und bei Bedarf auch schnell anzupassen.

Eine der Stärken der Startup-Kultur liegt darin, dass sie durch kreative – oftmals auch unkonventionelle – Ansätze Lösungen für Probleme der Gesellschaft entwi-ckeln. Mit ihrem unverbrauchten Blick auf die (Wirtschafts-Welt haben sie meist ein besonderes Feingefühl, um frühzeitig Zukunftsmärkte zu erkennen und inno-vative Lösungen als Antwort zu liefern. So entstehen solche serviceorientierten Ge-schäftsmodelle, die in Zukunft verstärkt gefragt sind. Dazu erlauben flache Hie-rarchien und schlanke Abläufe eine agile Handlungsweise, die sich auch immer mehr große Unternehmen zu eigen machen möchten. Neben Beteiligungen an För-derprogrammen für Startups oder externen Neugründungen, lagern einige Unter-

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396 Corporate Startups

nehmen ihre Mitarbeiter samt kreativen Ideen aus und gründen eigene, soge-nannte „Corporate Startups“.

7.2.1 Verjüngungskur für’s Unternehmen

Abgesehen von einem erfolgreichen Geschäftsmodell kann das unternehmensin-terne Startup auch viel frischen Wind in den Mutterkonzern bringen und ein wenig vom angesetzten Staub aufwirbeln. Diese Hoffnung besteht nicht zu unrecht: Denn die „jungen Wilden“ umgibt in der Regel ein frischer, kreativer Spirit und sie spru-deln nur so vor Ideen. Da sie aus der Unternehmensstruktur herausgelöst sind und unabhängig(er) agieren können, sind sie außerdem experimentierfreudiger, was neue digitale Tools angeht. Während die abgesicherte IT-Landschaft in großen Un-ternehmen es erschwert, neuartige Technologien einzuführen, punkten Corporate Startups auch hier mit ihrer Flexibilität. Kurze Entscheidungswege, gepaart mit Neugier und Tatendrang, tun ihr Übriges und so werden verschiedene Methoden und neue Hilfsmittel auf ihre Praxistauglichkeit getestet.

Hoch im Kurs in der Startup-Szene stehen cloud-basierte Tools, die – unabhängig von Zeit und Ort – eine Zusammenarbeit an Projekten und den Zugriff auf Doku-mente ermöglichen. Selbst in kleinen Teams ist eine schnelle Kommunikation wichtig, um sich über die Konkurrenz oder Produkt- und Marktentwicklungen auszutauschen. Für Corporate Startups bietet sich hier der Vorteil, dass dank der finanziellen Unterstützung des Mutterkonzerns anstatt auf günstige Tools auch auf hochwertige, kostenintensive Technologien zurückgegriffen werden kann. Un-ter Umständen erweisen sich die neuartigen Hilfsmittel nicht nur praktisch für das interne Unternehmen, sondern sind auch für den Mutterkonzern eine Alternative zu den bisherigen Tools. Somit nimmt die Experimentierfreude des Corporate Star-tups die erste Hürde in Sachen Digitalisierung.

7.2.2 Statt gegen- lieber miteinander

Es ist nicht neu, dass Jungunternehmer die Wirtschaftswelt ordentlich aufwirbeln. Mit ihren innovativen Ideen und ungebremsten Tatendrang sind sie durchaus ernstzunehmende Konkurrenten für die Alteingesessenen und in der Lage, ihnen früher oder später auch große Martkanteile streitig zu machen. Vor allen Dingen ihre Experimentierfreudigkeit und viel beschworene Flexibilität sind es, mit der Startups gerade bei der Digitalisierung auftrumpfen. Es muss aber nicht zwingend ein Gegeneinander – ein Old gegen New Economy – sein. Der allgegenwärtige Startup-Kult ist vielmehr der längst überfällige Weckruf. Etablierte Unternehmen sollten ihn als Chance sehen, um die digitale Transformation voran zu treiben. Im

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Mit Startup-Geist zum digitalen Unternehmen? 397

Wissen um dieses Potenzial beginnen viele Konzerne damit, sich an Inkubatoren und Accelerator Programmen zu beteiligen. Durch dieses Engagement haben sie die Möglichkeit, die für sie neuen Prozesse, Organisationsstrukturen und Metho-den kennenzulernen.

Es sind aber nicht nur neuartigeTools oder Abläufe, die frischen Schwung in das Alltagsgeschäft der Traditionsunternehmen bringen. Die Jungunternehmer bieten auch bei der Arbeitsweise viele neue Ansätze, die eigene, möglicherweise festge-fahrene aus einem anderen Blickwinkel zu betrachen und nochmals zu überden-ken. Durch einen aktiven Austausch, beispielsweise in gemeinsamen Workshops, lässt sich feststellen, welche dieser Eigenschaften zum Mutterkonzern passen und wie sie sich am besten übertragen lassen. Auch von der für Startups typischen Feedbackkultur können Traditionsunternehmen profitieren, indem sie einen Dia-log herstellen und die Meinungen der Mitarbeiter einholen. So ist ein Corporate Startup nicht nur positiv für ein „hippes“ Image – mit einem Startup unter dem eigenen Dach eröffnen sich zum Teil völlig unbekannte Perspektiven, die tiefgrei-fende Veränderungen der gesamten Unternehmenskultur auslösen können.

7.2.3 Kein alter Wein in neuen Schläuchen

Ist die Entscheidung gefallen, ein Corporate Startup aufzuziehen, dann braucht es für das „Unternehmen im Unternehmen“ vor allem klare Grenzen zwischen Mut-terfirma und Startup.Wenn beispielsweise das Management des Mutterkonzerns zu sehr im Geschehen involviert ist, besteht die ständige Gefahr, dass die Gründer zu stark bevormundet und ausgebremst werden könnten. Daher ist eine operative, im besten Fall auch räumliche Trennung vom Kerngeschäft ein entscheidender Er-folgsfaktor. Indem sie aus den bestehenden Unternehmensstrukturen herausgelöst werden, bekommen die firmeninternen Neugründer ausreichend Freiraum zum Agieren.

Diese Freiheit ist wichtig, um Ideen zu generieren und sie ohne großen Verwal-tungs- und Abstimmungsakt auszuprobieren – zunächst einmal unabhängig vom Ergebnis. Wie bei regulären, externen Startups auch, richtet sich die Corporate-Va-riante dadurch flexibler aus und passt sich den Bedürfnissen der Märkte schneller an. Diese Entscheidungsfreiheit zahlt sich auch in Fragen über Budgets aus, wo sie ohne langwierige Prozesse in einem gewissen Rahmen frei schalten und walten können. Dadurch entwickelt sich in viel kürzerer Zeit eine Dynamik, die das Inno-vationspotenzial deutlich erhöht.

Page 396: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

398 Corporate Startups

7.2.4 Neu gründen mit Netz und doppeltem Boden

Die Nähe zum Konzern bringt gleichzeitig entscheidende Vorteile mit sich. Bei-spielsweise kann das Corporate Startup bei administrativen Themen, wie zum Bei-spiel aus den Bereichen Finanzen und Personal, auf bestehende Funktionen des Mutterkonzerns setzen und muss keine eigenen integrieren. Vor allen Dingen ist das Unternehmen im Hintergrund aber in finanzieller Hinsicht eine große Stütze und bietet gleich von Beginn an eine Grundsicherheit, die externen Startups fehlt. Ohne diesen Existenzdruck im Nacken, können sich die internen Neugründer voll und ganz auf ihre Geschäftsidee konzentrieren. Außerdem bietet der Mutterkon-zern wertvolles Wissen und Erfahrung, die den Neugründern eine große Hilfe in Unternehmensfragen sein können. Ebenso wertvoll ist auch das Netzwerk an Ge-schäftskontakten und Kunden, die dem internen Startup zur Verfügung stehen.

Trotz all dieser Vorzüge, die das Corporate Startup genießt, muss es dennoch eines Tages auf eigenen Füßen stehen und wirtschaftlich unabhängig werden. Wann die-ser Zeitpunkt erreicht ist, muss jedes Unternehmen individuell festlegen. Zieht sich jedoch der unprofitable Zeitraum über eine längere Dauer hinweg, droht dem Mut-terkonzern am Ende nicht nur ein Scheitern des Projekts an sich, sondern unter Umständen auch ein finanzieller Verlust. Daher muss rechtzeitig abgewägt wer-den, ab wann das junge Unternehmen den Break-Even erreichen und schwarze Zahlen schreiben sollte.

7.2.5 Ohne Plan geht es nicht

Auch ein großes Unternehmen als Schirmherr kann nicht allein den Erfolg der Ge-schäftsidee garantieren. Es ist durchaus denkbar, dass das Corporate Startup schon nach kurzer Zeit scheitert, wie es bei vielen anderen Neugründungen der Fall ist. Um das Risiko weitestgehend zu minimieren, sollte zu Beginn ein Business Plan mit der Zielsetzung erstellt und mit allen Beteiligten abgestimmt werden. Ein Zeit-plan legt fest, ab wann das Geschäft profitabel zu sein hat. Da dieser Moment von der jeweiligen Branche abhängig ist, sollte die Planung so offen wie möglich gehal-ten und mehrere Zwischenziele definiert werden. Ein sorgfältiges Monitoring und regelmäßige Meetings gewährleisten eine hohe Transparenz – sowohl was die Ge-schäftsentwicklung angeht, als auch im Umgang zwischen dem jungen und „alten“ Unternehmen. Dadurch können mögliche Probleme frühzeitig erkannt und besei-tigt werden.

Page 397: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Die Last Mile-Lösung pakadoo 399

7.2.6 Kommunikation schafft Transparenz

Komplikationen können sich unter Umständen unter den Mitarbeitern beider Un-ternehmen ergeben. Besonders in Sachen Budgets herrscht häufig ein Konkurrenz-kampf. Die Finanzierung eines neuen Geschäftsfelds, dazu mit unklarem Erfolgs-potenzial, könnte von den anderen Abteilungen kritisch hinterfragt werden. Ins-besondere, wenn das Corporate Startup nicht mit dem Hauptgeschäft zusammen-hängt. Daher ist es nicht ratsam, die Neugründer trotz aller Unabhängigkeit völlig von den Kollegen zu isolieren, um interne Unruhen und unnötige Rivalitäten unter dem Dach des Mutterkonzerns zu vermeiden. Der Schlüssel ist hier eine offene Kommunikation, sei es in Form von regelmäßigen Besprechungen oder Mailings, die alle Mitarbeiter adressieren. Auch gemeinschaftlich genutzte Arbeits- oder Be-sprechungsräume sowie Veranstaltungen bauen mögliche Barrieren ab und schaf-fen gegenseitiges Verständnis.

7.2.7 Das Beste aus zwei Welten

Während die Beteiligung in Startup-Förderungsprogrammen bereits recht weit verbreitet ist, sind deutsche Unternehmen bislang noch etwas zögerlich, was das Gründen von internen Startups angeht. Dabei sind Corporate Startups die gemä-ßigtere Variante im Vergleich zu externen Neugründungen und bieten eine gute Mischung aus beiden Welten. Das Unternehmen bietet dem Startup ein stabiles Sicherheitsnetz, wohingegen das Startup im Idealfall eine Verjüngungskur für das Mutterunternehmen ist, es insgesamt vorwärts bringt und fit für die Zukunft macht. Damit dies in der Praxis funktioniert, dürfen sich die jeweiligen Unterneh-menskulturen nicht gegenseitig ausbremsen. Damit beide Seiten profitieren, muss gemeinsam ein Mittelweg gefunden werden, der sich möglicherweise erst mit der Zeit herauskristallisiert. Doch es lohnt sich: Denn mit einem Konsens auf der einen und ausreichend Freiraum auf der anderen Seite entstehen neue Konzepte und nicht nur eine kleine Kopie des Mutterkonzerns.

7.3 Die Last Mile-Lösung pakadoo

Wie das Ganze in der Praxis funktionieren kann, zeigt das Beispiel von pakadoo. Das Corporate Startup der LGI Logistics Group International GmbH, einem der zehn größten deutschen industriellen Kontraktlogistiker, wurde 2015 gegründet und hat eine digitale Zustelllösung entwickelt, die das Empfangen und Retournie-

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400 Corporate Startups

ren von Privatpaketen – unabhängig vom Paketdienstleister – am Arbeitsplatz er-möglicht. Während die LGI als Logistikkonzern mit über 20-jähriger Erfahrung Lö-sungen für Kontrakt- und Transportlogistik im B2B-Bereich anbietet, konzentriert sich pakadoo ausschließlich auf den Empfang privater Pakete.

Das Alleinstellungsmerkmal des Zustellservices ist der Fokus auf die sogenannte „letzte Meile“. Diese ist in der Paketbranche schon seit Langem eine der größten Herausforderungen. Denn durch die wachsende Beliebtheit des Onlinehandels ist das Paketvolumen in den vergangenen Jahren mehr als deutlich angestiegen und wird in den nächsten Jahren weiter rasant wachsen. Inzwischen sind es täglich über acht Millionen Sendungen, die an die Endkunden zugestellt werden müssen. Das Resultat ist ein höheres Aufkommen an Lieferverkehr und damit Emissions-ausstöße. Für die Logistikbranche ist die letzte Meile daher nicht allein aus wirt-schaftlicher Sicht ein wichtiges Dauerthema.

7.3.1 Zur falschen Zeit am falschen Ort: das Problem vieler Paketzusteller

Dazu kommen die wachsenden Anforderungen der Kunden. Diese erwarten eine ebenso reibungslosen, wie perfektionierten Paketempfang. Bei einer wachsenden Zahl an Singlehaushalten und zunehmender Berufstätigkeit von Frauen sinkt je-doch die Chance einer erfolgreichen Zustellung beim ersten Versuch. Der Grund: Pakete werden dann ausgeliefert, wenn die wenigsten Menschen zuhause sind.Die Folge sind zahlreiche Mehrfahrten der Lieferanten, aber auch der Kunden, die ihre Lieferung beim Postamt, in Paketshops oder Paketstationen abholen müssen. Knapp die Hälfte aller Pakete landet erst dort, anstatt direkt beim Empfänger.

So kam die Idee, Sendungen dort zuzustellen, wo sich der Empänger tagsüber auf-hält – in der Arbeit. Das ist jedoch nicht in jedem Unternehmen erlaubt. Die Gründe sind ganz unterschiedlich, meist ist es die mangelnde Sicherheit oder der Mehrauf-wand durch die privaten Sendungen, weshalb der Empfang grundsätzlich verbo-ten wird. Genau hier setzt pakadoo an. Mit dem Service können Privatpakete über einen einfachen Prozess sicher im Unternehmen empfangen werden. Dadurch können die Mitarbeiter ihre im Internet gekaufte Ware an einen zuvor festgelegten Ort im Unternehmen, dem sogenannten pakadoo point, in der Mittagspause oder nach Feierabend auf dem Heimweg abholen. Die privaten Lieferungen werden ein-fach per App erfasst und über eine persönliche Identifikationsnummer dem Emp-fänger zugeordnet. Dieser erhält automatisch eine E-Mail-Benachrichtigung mit ei-nem QR-Code und verifiziert sich beim Abholen des Pakets zusätzlich über die

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Die Last Mile-Lösung pakadoo 401

Eingabe einer persönlichen PIN. Auch Retouren lassen sich über den Service auf-geben.

7.3.2 Mehr Zeit, weniger Fahrten

Durch die sofortige Identifizierung der privaten Lieferung besteht keine Gefahr, dass unautorisierte Sendungen ins Unternehmen gelangen. Damit wird die Sicher-heit im Unternehmen erhöht und gleichzeitig die Poststelle entlastet, da diese sich nicht um das Verteilen der Privatpakete kümmern muss. Zudem ist der Service sowohl für Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer gratis – die Kosten tragen allein die Lieferdienste. Diese sparen über die gebündelte Zustellung privater Pakete mit ge-schäftlichen Lieferungen nicht nur Zeit, sondern auch die vielen Fahrten zu den einzelnen Privatadressen. Somit hilft pakadoo dabei, CO2-Emissionen einzusparen und den Lieferverkehr in den Ballungszentren und Wohngebieten zu reduzieren. Arbeitnehmer sparen durch den Service ebenfalls viel Zeit und unnötige Wege, denn sie können ihre Pakete direkt aus dem Büro mit nach Hause nehmen. Nicht zuletzt leisten die Arbeitgeber dadurch einen Beitrag zur Work-Life-Balance ihrer Mitarbeiter.

7.3.3 Existenzgründer im eigenen Unternehmen

Die Idee zu pakadoo hatte LGI-Mitarbeiter Kris van Lancker im Jahr 2014 und auch die Geschäftsleitung war sofort vom Potenzial der Lösung überzeugt. Und so wurde sie ein Jahr später in die Tat umgesetzt - mit einem hauseigenen Startup. Um dem neuen Geschäftsmodell direkt zu Beginn die bestmöglichen Vorausset-zungen zu bieten, wurde pakadoo gleich nach der Gründung von der LGI ausge-gliedert. Mit dem Umzug auf eigene Etage innerhalb des Firmengebäudes wurde die konsequente operative Trennung auch nach innen und außen sichtbar. Für das zu dem Zeitpunkt 4-köpfige pakadoo-Team begann eine spannende Zeit. Vorher noch Teil eines traditionellen Konzerns, spürten sie direkt die Vorteile eines klei-nen Unternehmens: Sie konnten sich eigenständig ausrichten, ihre Budgets flexibel handhaben und viele ihrer Ideen austesten.

Noch bevor es jedoch richtig losging, erstellte pakadoo einen Business-Plan und stimmte diesen gemeinsam mit der Geschäftsführung und den Gesellschaftern ab. Eine Roadmap berechnete den Zeitpunkt, ab wann die Gewinnschwelle erreicht werden würde. Dadurch stand das Langzeitziel zwar schon von Anfang an fest, die Zwischenstände werden dennoch in regelmäßig stattfindenden Meetings mit der Geschäftsleitung besprochen. Zum einen hat das Logistikunternehmen so die

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402 Corporate Startups

Möglichkeit, die aktuellen Entwicklungen stets im Blick zu haben – trotz der Un-abhängigkeit seines Startups. Aber auch für pakadoo sind diese Treffen hilfreich, da die LGI bei der Geschäftsentwicklung immer wieder unterstützend zur Seite steht. Neben der Erfahrung des Mutterkonzerns setzt das pakadoo-Team ganz Startup-typisch auch auf digitale Hilfsmittel, beispielsweise mit einem speziellen Business Intelligence und einen Collavoration-Tool.

7.3.4 Das richtige Maß Nähe und Abstand

Für die Akzeptanz von pakadoo innerhalb des Unternehmens sorgen interne Newsletter und persönliche Ansprachen, die die LGI-Kollegen über die Entwick-lung von pakadoo informieren. Und auch im Arbeitsalltag bieten gemeinsam ge-nutzte Räumlichkeiten, wie die Kaffee-Ecken und Besprechungsräume, gute Gele-geheiten, sich zwischendurch unter vier Augen und in ungezwungener Atmo-sphäre auszutauschen. Ebenso wie bei Weihnachts- und Firmenfeiern, die gemein-sam verbracht werden. Dadurch herrscht insgesamt unter der Belegschaft eine ent-spannte Stimmung und das firmeninternen Startup verkörpert für die Mitarbeiter viel eher einen weiteren Geschäftsbereich. Sowohl die LGI als auch pakadoo haben dadurch einen gesunden Mittelweg gefunden, um neben- bzw. miteinander zu existieren.

Was das Alltagsgeschäft betrifft, unterscheidet sich dieses bei pakadoo kaum von denjenigen gewöhnlicher Startups. Aufgrund des noch kleinen Teams mit 11 Mit-arbeitern im Jahr 2017, wurden das Marketing und Teile der IT an externe Dienst-leister ausgelagert. Was die Bereiche Finanzen oder Personal betrifft, wird auf die bewährten Basisfunktionen der LGI zurückgegriffen. Wiederum haben sich einige der neuen Tools, die pakadoo eingeführt hat, inzwischen auch bei der LGI durch-gesetzt, darunter die web-basierte Projektmanagementsoftware Trello. Damit geht der Logistiker Schritt für Schritt in Richtung Digitalisierung.

7.3.5 Aufbruch in innovative Zeiten

Corporate Startups eröffnen Traditionsunternehmen eine zusätzliche Chance, sich dem digitalen Wandel anzunähern. Durch die Gründung eines internen Unterneh-mens haben neue Ideen den benötigten Freiraum, um sich eigenständig entwickeln zu können. Die Erfahrung von pakadoo zeigt, wie hilfreich die operative und auch räumliche Trennung vom Mutterkonzern ist, damit Innovationen mit der notwen-digen Geschwindigkeit und Agilität vorangetrieben und umgesetzt werden kön-nen. Gleichzeitig bietet die Mischung aus Konzernumfeld und Startup-Kultur bei-

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Die Last Mile-Lösung pakadoo 403

den Unternehmen die Möglichkeit, voneinander zu lernen und von den gegensei-tigen Vorteilen zu profitieren. Und auch wenn sich dieses Modell bislang noch nicht durchgesetzt hat, wird jetzt schon klar: Eine solche Zusammenarbeit von Tra-ditionsunternehmen und jungen Visionären wird sicherlich schon bald einen Pa-radigmenwechsel in der Wirtschaftswelt hervorrufen.

Page 402: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

8 Multifunktionales Elektromobil: Elektromobile im urbanen Ballungsraum

N. Becker, P. Spichartz, E. Şanal, Prof. Dr.-Ing. C. Sourkounis (Ruhr Universität Bochum)

8 Multifunktionales Elektromobil: Elektromobile im urbanen Ballungsraum 405

8.1 Einführung ................................................................................................... 4068.2 Identifikation der Nutzer und Nutzerprofile .......................................... 4068.3 Geschäftsmodelle ........................................................................................ 4128.4 Zusammenfassung ...................................................................................... 419

Literatur ........................................................................................................................ 419

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_25

Page 403: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

406 Multifunktionales Elektromobil: Elektromobile im urbanen Ballungsraum

8.1 Einführung

Elektrofahrzeuge besitzen die technische Reife, um im Alltag sowohl auf der Kurz-strecke als auch im Mischbedarf (Kurz- und Langstrecke) energieeffizient und öko-logisch sinnvoll eingesetzt zu werden. Aktuelle Verkaufs- und Kfz-Zulassungszah-len belegen jedoch, dass immer noch Hemmnisse und Restriktionen bestehen, ein konventionell betriebenes Fahrzeug durch ein Elektrofahrzeug zu ersetzen. Neben der Reichweitenfrage sind der hohe Anschaffungspreis und die fehlende Infra-struktur wesentliche Gründe für die Kaufzurückhaltung. Auch wenn die Elektro-mobilität bereits vereinzelt im täglichen Straßenverkehr stattfindet, entspricht dies noch nicht dem Ziel, das sich die Bundesregierung in Deutschland gesetzt hat. Im Jahr 2020 sollen bereits eine Million Elektrofahrzeuge auf deutschen Straßen unter-wegs sein [1]; hierzu wurde im Jahr 2009 ein Nationaler Entwicklungsplan Elekt-romobilität [2] veröffentlicht. Aktuelle Zahlen des Kraftfahrt-Bundesamtes belegen jedoch, dass Deutschland von diesem Ziel mit 34.022 gemeldeten rein batterie-elektrischen Fahrzeugen und 165.405 gemeldeten Hybrid-Pkw am 1. Januar 2017 noch weit entfernt ist [3]. In 2016 wurden im Vergleich zum Vorjahr etwa 7,7 % weniger reine Elektrofahrzeuge angemeldet, die Zahl an Hybridfahrzeugen jedoch nahm mit 47.996 Neuzulassungen um 42,7 % im Vergleich zum Vorjahr deutlich zu [4]. Auch wenn in Zukunft eine Angleichung an den Kaufpreis von konventio-nellen Fahrzeugen stattfinden wird, muss ein Konzept für die Übergangsphase ge-schaffen werden, welches zum einen die Einsatzmöglichkeiten eines Elektrofahr-zeugs, nicht nur im konventionellen Sinn, aufzeigt und zum anderen Anreize zum infrastrukturellen Ausbau schafft. Durch die Entwicklung von branchenübergrei-fenden Geschäftsmodellen mit dem Ziel der multifunktionalen Nutzung von Elektrofahrzeugen, besonders in Ballungsräumen, können die Ausnutzung und damit die Wirtschaftlichkeit erhöht und schließlich auch die gesellschaftliche Ak-zeptanz gesteigert werden.

8.2 Identifikation der Nutzer und Nutzerprofile

Als Basis für die Entwicklung von Geschäftsmodellen wird zunächst das Mobili-tätsverhalten der Nutzer untersucht. Aufbauend auf dieser Analyse werden Nut-zerprofile identifiziert. Die durchschnittliche Fahrleistung eines deutschen Pkw lag im Jahr 2015 bei 14.074 km. Die Summe der Gesamtfahrleistung aller Kraftfahr-zeuge lag bei 716,2 Milliarden km und wies somit im Vergleich zum Vorjahr einen

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Identifikation der Nutzer und Nutzerprofile 407

leichten Zuwachs auf [5]. Dabei liegt der Großteil der durchschnittlich in Deutsch-land gefahrenen Strecken im Bereich unter 50 km. Nur etwa 12,5 % liegen im Be-reich zwischen 51 und 100 km und nur rund 8 % bei Strecken über 100 km [6]. Grundlegend können in der Pkw-Nutzung im täglichen Straßenverkehr zwei Nut-zergruppen identifiziert werden, die privaten Nutzer und die institutionellen Nut-zer. Der private Nutzer ist in der Regel Eigentümer des Fahrzeugs und gleichzeitig auch Nutzer des selbigen. Die Nutzung beschränkt sich auf den Privatverkehr, etwa privater Güterverkehr und Privatreisen [7]. In Unternehmen ohne Firmenwa-genregelung zählt auch der klassische Pendler zu dieser Gruppe. Bei der instituti-onellen Nutzung ist eine Institution, wie z.B. ein Unternehmen, eine Kommune o-der ein Verein, der Eigentümer des Fahrzeugs. Das Fahrzeug wird überwiegend für Personentransporte und Nutzfahrten, wie Auslieferungen, eingesetzt. Diese Nutzung wird unter dem Begriff Wirtschaftsverkehr zusammengefasst und um-fasst den gewerblichen Güterverkehr, Werkverkehr, Service- und Dienstleistungs-verkehr sowie Geschäfts- und Dienstverkehr [7].

Um die Nutzerprofile beider Nutzergruppen zu ermitteln, wurden in den For-schungsprojekten „Alltagstauglichkeit von Elektromobilität – Langstreckeneig-nung und -akzeptanz“ (LEM) und „Multifunktionales Elektromobil – Entwicklung von Geschäftsmodellen zur multifunktionalen Nutzung von Elektrofahrzeugen“ (MultEMobil) Feldtests mit unterschiedlichen Betrachtungsschwerpunkten der Nutzung vorgenommen.

8.2.1 Identifizierung der Fahrprofile privater Nutzer – Feldtest im Projekt LEM

Im Projekt LEM lag der Fokus auf der Betrachtung von Mittel- und Langstrecken-pendlern, die in ihrem Alltag regelmäßig Strecken von 60 bis 200 km pro Tag zu-rücklegen. Eingesetzt wurden reine Elektrofahrzeuge mit Gleichstromschnelllade-möglichkeit (BEVs) und Elektrofahrzeuge mit Range Extender (EREVs) zur Unter-suchung der Nutzung und Auslastung der Fahrzeuge, sowie zur Identifikation der Ladeprofile. Zur Erhebung der Daten wurden die Fahrzeuge mit GPS-Empfängern und verschiedenen Sensoren ausgestattet. Über 500 Testnutzer nahmen am Projekt teil und erreichten eine Gesamtfahrleistung von 785.000 km [8]. Die Teilnehmer im Projekt erzielten im Vergleich zur durchschnittlichen Jahres-fahrleistung überdurchschnittliche Werte. Mit den BEVs wurde fast die 1,5-fache Durchschnittsfahrleistung erreicht und mit den EREVs mehr als die doppelte (Ta-belle 8.1).

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408 Multifunktionales Elektromobil: Elektromobile im urbanen Ballungsraum

Tabelle 8.1 Durchschnittliche jährlich gefahrene Strecken und Energie- sowie Benzinverbräuche der Pendler im Projekt LEM

BEVs EREVs

Gesamtstrecke 19.586 km 28.018 km

- davon elektrisch gefahren 19.586 km 14.861 km

Elektrischer Energiever-brauch vor dem Ladegerät

14,8 kWh/100 km 21,6 kWh/100 km

Benzinverbrauch (im Range-Extender-Betrieb)

- 7,1 l/100 km

Rein elektrische Fahrten - 53 %

Fahrten mit Range Exten-der

- 47 %

Quelle: [9]

Für die typische Pendelstrecke mit den BEVs legten die Testfahrer 20 bis 70 km zurück. Diese konnten von allen in der Testflotte eingesetzten BEV-Modellen mit einer Vollladung realisiert werden. Abhängig von der Außentemperatur, dem Streckenprofil und dem Fahrverhalten der Testnutzer lagen die Reichweiten der BEVs bei 75 bis 140 km. Vor allem nach der Arbeit wurden häufig noch kürzere Fahrten unternommen, so dass die Tagesfahrleistung meist eine einfache Reich-weite der Fahrzeuge überschritt. Fast 50 % der Gesamtfahrleistung der Pendler wurde mit Tagesstrecken von über 80 km erbracht. Anzumerken ist, dass in diesem Projekt viele Arbeitgeber bereit waren, das Projekt zu unterstützen und die Ladung am Arbeitsplatz zuzulassen, wodurch eine größere Tagesreichweite zur Verfü-gung stand (vgl. Abbildung 8.1 (1); Abbildung 8.2 (1)).

Die EREVs im Projekt verfügten durch den Range Extender über eine Reichweite von mehr als 500 km. Abhängig von der Jahreszeit, den damit verbundenen Au-ßentemperaturen aber auch von dem Streckenprofil und dem Fahrstil stand eine rein elektrische Reichweite von 30 bis 80 km zur Verfügung. Hier zeigte sich im Feldtest, dass 50 % der täglichen Fahrstrecken über 64 km lagen. Einige rein elekt-rische Tagesfahrten von 100 km und mehr zeigen, dass auch hier teilweise die Mög-lichkeit der Zwischenaufladung bestand (vgl. Abbildung 8.1 (2); Abbildung 8.2 (2)).

Page 406: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Identifikation der Nutzer und Nutzerprofile 409

Abbildung 8.1 Verteilung der im Projekt LEM von Langstreckenpendlern ge-fahrenen Tagesstrecken (Klassenbreite 20 km) normiert auf die jeweilige Gesamtstreckenlänge für BEVs (1) und EREVs (2)

(1) (2)

Quelle: (1) [10]; (2) [11]

Abbildung 8.2 Kumulierte Anzahl täglicher Fahrstrecken von Langstrecken-pendlern im Projekt LEM – BEVs (1) und EREVs (2)

(1) (2)

Quelle: (1) [10]; (2) [11]

Die Auswertung des Feldtests gab zusätzlich Aufschluss über den Einsatz der Fahrzeuge bezogen auf die Tageszeit. Je nach Wochentag belief sich die durch-schnittliche Nutzung der Fahrzeuge auf nur 4 % bis maximal 11 % der Tageszeit, den Rest der Zeit verblieben die Fahrzeuge stationär. Dabei standen die Fahrzeuge mehr als die Hälfte der Zeit an oder in der Nähe eines Ladepunktes, teilweise sogar länger als 18 Stunden. In dieser Zeit steht das Fahrzeug für weitere Nutzungen, z.B. für Netzdienstleistungen oder für kooperative Nutzung, zur Verfügung [12].

Page 407: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

410 Multifunktionales Elektromobil: Elektromobile im urbanen Ballungsraum

8.2.2 Identifizierung der Fahrprofile institutioneller Nutzer – Feldtest im Projekt MultEMobil

Im Projekt MultEMobil wurde zur Identifizierung und Erfassung der Nutzerpro-file von institutionellen Nutzern mit Fahrzeugpools ein Feldtest mit sechs Fahrzeu-gen durchgeführt. Dabei wurden drei Fahrzeuge in den kommunalen Einsatz bei der Stadt Bochum übergeben, zwei Fahrzeuge wurden von einem Pflegedienst (ASB) für den Einsatz in der täglichen häuslichen Versorgung eingesetzt und ein Fahrzeug wurde der Industrie- und Handelskammer Mittleres Ruhrgebiet zur Ver-fügung gestellt. Bereits die ersten Monate im Feldtest zeigten deutliche Unter-schiede zwischen der Nutzung der Pendler im Projekt LEM und der Nutzung auf institutioneller Basis, sowohl in der Tagesfahrleistung als auch im Ladeverhalten.

Die maximale Tagesfahrleistung liegt bei den unterschiedlichen Institutionen bei 60 bis maximal 80 km. Die typische elektrische Reichweite von 100 km wird somit in keinem Anwendungsfall überschritten (vgl. Abbildung 8.3). Auch das Ladever-halten weist eine andere Charakteristik auf. So werden die Fahrzeuge nicht regel-mäßig während des Tages zwischengeladen, sondern hauptsächlich nach Durch-führung der Gesamttagesstrecke. Beim Pflegedienst ist dies in der Regel nach einer Pflegeschicht, da während einer Schicht kurz hintereinander mehrere Haushalte mit zu pflegenden Personen entsprechend einer vorgeplanten, zeitlich eng getak-teten Tour angefahren werden müssen. Eine Zwischenladung ist hier aus organi-satorischen Gründen nicht möglich. Bei der Stadt Bochum hingegen kann zwi-schen einzelnen Touren bei entsprechenden Standortvoraussetzungen eine Zwi-schenladung erfolgen. Die Abbildung 8.4 zeigt die Verteilung des Batteriezustan-des der eingesetzten Elektrofahrzeuge zu einem regelmäßigen Messzeitpunkt (16 Uhr). Es wird deutlich, dass bei beiden Institutionen der Batterieladezustand der eingesetzten Fahrzeuge auch nach der institutionellen Nutzung noch sehr hoch ist. Bei der Stadt Bochum liegt der Ladezustand in 70% der Fälle über 80%. Beim Pfle-gedienst dieser Anteil immerhin auch bei über 50 %. D.h. nach Abschluss der in-stitutionellen Nutzung der Fahrzeuge verfügen die Fahrzeuge an fast jedem Tag noch über mehr als 50 % der Batterieladung. Hier wird das Potenzial für die ko-operative Nutzung deutlich.

Page 408: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Identifikation der Nutzer und Nutzerprofile 411

Abbildung 8.3 Verteilungen der von institutionellen Nutzern gefahrenen Ta-gesstrecken (Klassenbreite 20 km) normiert auf die jeweilige Gesamtstreckenlänge – Stadt Bochum (1) und ASB (2)

(1) (2)

Quelle: (1) und (2) [13]

Abbildung 8.4 Verteilung des Batterieladezustandes der eingesetzten Elekt-rofahrzeuge um 16 Uhr – Stadt Bochum (1) und ASB (2)

(1) (2)

Quelle: (1) und (2) [13]

Die Gesamtjahresfahrleistungen lassen sich aus den ermittelten Messdaten (Mess-zeitraum: sechs Monate) auf ein Jahr hochrechnen und ergeben sich bei beiden In-stitutionen auf rund 6.000 km pro Jahr, wie in Tabelle 8.2 dargestellt.

Page 409: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

412 Multifunktionales Elektromobil: Elektromobile im urbanen Ballungsraum

Tabelle 8.2 Durchschnittliche jährlich gefahrene Strecken (skaliert: basie-rend auf sechs Monaten Betrieb) und Energieverbräuche im Projekt MultEMobil

Stadt Bochum ASB Pflegedienst

Gesamtstrecke 5.390 km 5.920 km

Elektrischer Energiever-brauch vor dem Ladegerät

14,2 kWh/100 km 16,9 kWh/100 km

Quelle: [13]

Es wird deutlich, dass die unterschiedlichen Nutzerprofile, die in den Feldtests der beiden Projekte identifiziert wurden, ein hohes Potenzial für innovative Konzepte aufweisen.

8.3 Geschäftsmodelle

Die Entwicklung innovativer Geschäftsmodelle stellt einen Schwerpunkt im Pro-jekt MultEMobil dar. Hierzu werden drei Kernbereiche untersucht: die Koopera-tive Nutzung von Fahrzeugen, die Überregionale Aufladung und das Koopera-tive Energiemanagement. In diesen Bereichen wurden jeweils Geschäftsmodelle mit dem Ziel entwickelt, die Auslastung von Elektrofahrzeugen zu erhöhen und die Nutzung zu vereinfachen, um somit Hemmnisse abzubauen und die Wirt-schaftlichkeit sowie die Akzeptanz zu steigern. Ein weiterer wichtiger Gesichts-punkt ist die Organisation, Koordination und Abrechnung der in den Geschäfts-modellen aufgezeigten Nutzung. Ein übergreifendes Geschäftsmodell wird entwi-ckelt, welches den Individualaufwand minimieren und somit zur Durchsetzung der einzelnen Geschäftsmodelle beitragen soll. Nachfolgend werden für jeden Kernbereich das Standardgeschäftsmodell und das umfangreichste Geschäftsmo-dell dargestellt, das im Projekt entwickelt wurde.

8.3.1 Kooperative Nutzung

Die Kooperative Nutzung basiert auf der Idee, ein Elektrofahrzeug über den gan-zen Tag hinweg zu nutzen und somit unwirtschaftliche Standzeiten zu minimie-ren. Die Ergebnisse aus den Feldtests haben gezeigt, dass ein Fahrzeug eines Pend-lers im Normalfall für die Fahrt zur Arbeit eingesetzt wird, hier dann während der

Page 410: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Geschäftsmodelle 413

Arbeitszeit eine lange Standzeit aufweist und nach der Arbeit für die Fahrt nach Hause und/oder für private Erledigungen einsetzt wird. Die Fahrzeuge im institu-tionellen Einsatz dagegen kommen üblicherweise parallel zur Standzeit der Pend-lerfahrzeuge zum Einsatz. Dabei kann die Art der Einsätze vielfältig sein. Wie der Feldtest der institutionellen Nutzer im Projekt MultEMobil zeigt, sind es aber eher kurze Strecken, die über den Tag hinweg zurückgelegt werden. Aufbauend auf einem bereits heute typischen Fahrzeugpool in einem Unternehmen (vgl. Abbil-dung 8.5) kann durch einen übergreifenden Aggregator die Realisierung eines gro-ßen Fahrzeugpools möglich gemacht werden, der die Nutzung von unterschiedli-chen Fahrzeugen von unterschiedlichen Eigentümern koordiniert und durch die höhere Auslastung die Kosten für jeden einzelnen Akteur minimiert (vgl. Abbil-dung 8.6).

Abbildung 8.5 Kooperative Nutzung – Standardmodell eines institutionellen Fahrzeugpools (Institution als Eigentümer)

Quelle: [13]

Dabei ist das Ziel der Entwicklung, nicht ausschließlich auf die unterschiedlichen Nutzungszeiten einzugehen, wie beim Standardmodell der kooperativen Nut-zung, sondern die individuellen Anforderungen und Bedürfnisse der einzelnen Akteure, d.h. der Nutzer, des Mobilitätsanbieters und des Aggregators, zu berück-sichtigen. Grundvoraussetzung ist vor allem die Bereitschaft der Nutzer, sowohl der privaten als auch institutionellen, das eigene Fahrzeug einem Fahrzeugpool gegen eine entsprechende Vergütung zur Verfügung zu stellen.

Page 411: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

414 Multifunktionales Elektromobil: Elektromobile im urbanen Ballungsraum

Abbildung 8.6 Kooperative Nutzung – Im Projekt MultEMobil entwickeltes Geschäftsmodell (Nutzung und Bereitstellung verschiedener Fahrzeugtypen durch diverse Eigentümer, gekoppelt durch den Aggregator)

Quelle: [13]

8.3.2 Kooperatives Energiemanagement

Die deutsche Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, dass bis zum Jahr 2025 40 % bis 45 % des verbrauchten Stroms aus erneuerbaren Energiequellen stammen soll. Dieser Anteil lag in 2009 bei nur 6 %. Um die erneuerbaren Energien zu för-dern, wurde eine entsprechende Gesetzgebung verabschiedet, die unter anderem den Bau von Photovoltaik-Anlagen subventionierte [14]. In den letzten Jahren ist die Einspeisungsvergütung stark gesunken, daher könnte es in Zukunft für den privaten Besitzer einer PV-Anlage, etwa auf dem Hausdach oder auf seinem Car-Port, oder eines kleinen Windenergiekonverters von wirtschaftlichem Interesse sein, einen möglichst hohen Anteil seines eigens umgewandelten Stroms selbst zu verbrauchen. Da der Akkumulator eines Elektroautos eine hohe Leistung und eine hohe Energiekapazität bietet, stellt dieser einen optimalen Energiespeicher dar. Diese Nutzungsmöglichkeit kann im Kleinen zunächst für den privaten Pkw rele-vant sein (vgl. Abbildung 8.7), aber auch im größeren Sinn für dezentrale Energie-speicherung zur Stützung und damit auch zur Entlastung

Page 412: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Geschäftsmodelle 415

Abbildung 8.7 Kooperatives Energiemanagement – Mögliche Standardvari-ante zur Bereitstellung von Fahrzeugbatterien als dezentraler Speicher

Quelle: [13]

Abbildung 8.8 Kooperatives Energiemanagement – Im Projekt MultEMobil entwickeltes Geschäftsmodell zur Nutzung von Elektrofahr-zeugen – Aggregator als zentrale Organisationseinheit für das Abrechnungswesen und den Energiebezug

Quelle: [13]

Page 413: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

416 Multifunktionales Elektromobil: Elektromobile im urbanen Ballungsraum

des elektrischen Verteilnetzes. In dem in Abbildung 8.8 dargestellten Geschäfts-modell organisiert und koordiniert der Aggregator alle organisatorischen Dienst-leistungen, etwa Bezug, Bereitstellung und Abrechnung von Energie. Die Nutzer beziehen bzw. liefern über die Ladeinfrastruktur, sind aber nur über den Aggrega-tor mit den anderen Akteuren verbunden. Der Aggregator bündelt mehrere Fahr-zeuge zu einer für den Energieversorger oder Netzbetreiber relevanten Speicher-größe.

8.3.3 Überregionale Aufladung

Die Nutzung von Elektromobilität und die Etablierung der zuvor vorgestellten Ge-schäftsmodelle setzt eine Lademöglichkeit voraus. Diese kann auf unterschiedliche Arten realisiert werden. Jedes Elektroauto ist mit einem Ladekabel ausgestattet, welches an eine in Deutschland haushaltsübliche Schuko-Steckdose angeschlossen werden kann. Somit kann ein Elektrofahrzeug überall zuhause geladen werden, wo eine Steckdose in der Nähe des Fahrzeugs zur Verfügung steht, etwa in der Garage, am Haus, im Garten oder im Keller. Da nicht jeder Nutzer diese Möglich-keit besitzt, wie z.B. Mieter einer Etagenwohnung, setzt eine flächendeckende Nut-zung von Elektromobilität auch eine flächendeckende öffentliche Ladeinfrastruk-tur voraus (vgl. Standardmodell der ersten öffentlichen Ladesäulen in Deutsch-land, Abbildung 8.9). Um im Alltag eine Alternative zu konventionell betriebenen Fahrzeugen darzustellen, muss in Zukunft auch die Möglichkeit der barrierefreien überregionalen Nutzung von Ladeinfrastruktur geschaffen werden. In Abbildung 8.10 ist das im Projekt MultEMobil entwickelte Geschäftsmodell mit dem höchsten Grad an Unabhängigkeit für den Aggregator dargestellt. Der Aggregator fungiert nicht nur als überregionaler Stromhändler, sondern auch als Pächter und Betreiber von Ladeinfrastruktur. Somit können Preise und Angebote flexibler gestaltet und beworben werden.

Page 414: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Geschäftsmodelle 417

Abbildung 8.9 Überregionale Aufladung – Standardmodell der ersten öffentli-chen Ladesäulen in Deutschland – Regionale Energieversorger stellen gleichzeitig auch Ladeinfrastrukturanbieter dar

Quelle: [13]

Abbildung 8.10 Überregionale Aufladung – Im Projekt MultEMobil entwickeltes Geschäftsmodell mit Aggregator als überregionaler Stromhändler sowie Pächter und Betreiber von Ladeinfra-struktur

Quelle: [13]

Page 415: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

418 Multifunktionales Elektromobil: Elektromobile im urbanen Ballungsraum

8.3.4 Kopplung der Geschäftsmodelle durch den Key2ME – Schlüssel zu Mobilität und Energie

Um die Inanspruchnahme der zuvor vorgestellten Geschäftsmodelle nicht nur zu ermöglichen, sondern diese für den Nutzer möglichst unkompliziert zu gestalten, muss eine Kopplung der Geschäftsmodelle vorgenommen werden. Hierzu wurde ein Integrator entwickelt, der dem Nutzer den Zugang zu den Kernbereichen Ko-operative Nutzung, Überregionale Aufladung und Kooperatives Energiemanage-ment ermöglicht. Der Integrator übernimmt mittels Key2ME sowohl die Koordi-nation von Mobilität und Energie durch die Prüfung der Verfügbarkeit von Fahr-zeugen und Ladeinfrastruktur als auch die Realisierung des Zugangs zu Fahrzeu-gen und Energie. Zusätzlich werden die gesamten Abrechnungsmodalitäten über den Integrator organisiert, was zu einer Vereinfachung der Nutzung führt. So stellt der Key2ME in jedem der drei Bereiche den Verknüpfungspunkt zu den anderen Geschäftsmodellen dar (vgl. Abbildung 8.11).

Abbildung 8.11 Key2ME – Koppelung der Geschäftsmodelle durch den Schlüs-sel zu Mobilität und Energie

Quelle: [13]

Bei der Umsetzung des Key2MEs sind unterschiedliche Lösungsvarianten denk-bar. Dabei stellen die Geschäftsmodelle der drei betrachteten Kernbereiche zur

Page 416: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Zusammenfassung 419

multifunktionalen Nutzung von Elektrofahrzeugen unterschiedliche Anforderun-gen an die Funktionalität. Ziel der Entwicklung des Key2ME ist der Bogenschluss von der Optimierung der einzelnen Geschäftsbereiche hin zu einem Nutzungssys-tem, welches Synergien optimiert und Divergenzen minimiert.

8.4 Zusammenfassung

Die Untersuchung der Nutzerprofile im privaten und institutionellen Einsatz weist ein hohes Potenzial für eine multifunktionale Nutzung in urbanen Ballungsräu-men auf. Die im Verbundprojekt MultEMobil identifizierten Nutzerprofile von in-stitutionellen Nutzern, wie Kommunen und Pflegediensten, lassen sich zu einem Großteil ohne Einschränkungen auf die Nutzung mit den bereits im Projekt LEM identifizierten Nutzerprofilen von privaten Nutzern und Pendlern verbinden. Durch die Entwicklung branchenübergreifender Geschäftsmodelle zur multifunk-tionalen Nutzung eines Elektrofahrzeugs, in klassischer Form als Fortbewegungs-mittel, als überregionaler Verbraucher und als dezentraler Energiespeicher, lässt sich die Auslastung von Elektrofahrzeugen erhöhen und damit die Wirtschaftlich-keit steigern. In Kombination mit einer Zugangsvereinfachung für den Nutzer durch den vorgestellten Integrator werden Hemmnisse aktiv abgebaut und somit zusätzlich die gesellschaftliche Akzeptanz der Elektromobilität in Zukunft erhöht. Deutlich wird, dass in urbanen Ballungsräumen die Basis für multifunktionale Nutzung von Elektrofahrzeugen bereits teilweise geschaffen ist. Grundvorausset-zung hierfür ist die individuelle Bereitschaft der Akteure, sich von bestehenden Konventionen zu lösen (etwa dem Besitz eines eigenen Fahrzeugs) und sich für innovative Mobilitätskonzepte zu öffnen.

Die Autoren bedanken sich beim Bundesministerium für Bildung und Forschung für die Förderung und Unterstützung (FKZ 02K12A109/02K12A110 MultEMobil).

Literatur

[1] Bundesregierung, „Energiewende - Mobilität der Zukunft - Neue Kraftstoffe und An-triebe – sauber und kostengünstig,“ [Online]. Available: https://www.bundesregie-rung.de/Webs/Breg/DE/Themen/Energiewende/Mobilitaet/mobilitaet_zu-kunft/_node.html. [Zugriff am 11. März 2017].

[2] BMBF Bundesministerium für Bildung und Forschung, , „Nationaler Entwicklungsplan Elektromobilität,“ [Online]. Available: https://www.bmbf.de/files/nationaler_entwick-lungsplan_eletromobilitaet.pdf. [Zugriff am 11. März 2017].

Page 417: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

420 Multifunktionales Elektromobil: Elektromobile im urbanen Ballungsraum

[3] Kraftfahrt-Bundesamt, „Bestand,“ [Online]. Available: http://www.kba.de/DE/Statis-tik/Fahrzeuge/Bestand/bestand_node.html;jsessio-nid=1E4284ADD35C46E0033730C809950124.live21304. [Zugriff am 11. März 2017].

[4] Kraftfahrt-Bundesamt, „Neuzulassungen,“ [Online]. Available: http://www.kba.de/DE/Statistik/Fahrzeuge/Neuzulassungen/neuzulassun-gen_node.html. [Zugriff am 11. März 2017].

[5] Kraftfahrt-Bundesamt, „Durchschnittliche Fahrleistung auf Vorjahrniveau,“ [Online]. Available: http://www.kba.de/DE/Statistik/Kraftverkehr/VerkehrKilometer/ver-kehr_in_kilometern_node.html. [Zugriff am 11. März 2017].

[6] infas, DIW, „Mobilität in Deutschland: Ergebnisbericht,“ Projekt-Nr. 70.0736/2003, Bun-desministerium Verkehr, Bau- und Wohnungswesen, Bonn, Berlin, 2004.

[7] T. Gnann, P. Plötz, F. Zischler und M. Wietschel, „Elektromobilität im Personenwirt-schaftsverkehr - eine Potenzialanlayse,“ Fraunhofer ISI, [Online]. Available: http://publica.fraunhofer.de/eprints/urn_nbn_de_0011-n-2141358.pdf. [Zugriff am 11. März 2017].

[8] P. Spichartz, P. Dost, N. Becker und C. Sourkounis, „Experiences with Long Distance Electromobility in Metropolitan Areas,“ in IECON 2015 - 41st Annual Conference of IEEE Industrial Electronic Society, Yokohama, Japan, 2015.

[9] P. Spichartz, P. Dost und C. Sourkounis, „Utilisation of Battery Electric Vehicles and Extended Range Electric Vehicles in a Field Test,“ in Renewable Energy Research and Application (ICRERA), 2015 International Conference on, Palermo, Italien, 2015.

[10] P. Dost, P. Spichartz und C. Sourkounis, „Langstreckenelektromobilität in Ballungsräu-men,“ in EnInnov 2016 - 14. Symposium für Energieinnovation - Energie für unser Eu-ropa, Graz, Österreich, 2016.

[11] P. Spichartz, P. Dost, C. Sourkounis und D. Balzer, „Energy Consumption and User Be-haviour in a Field Test Based Evaluation of Frequent Drivers Utilising Extended Range Electric Vehicles,“ in MELECON 2016 - 18th IEEE Mediterranean Electrotechnical Con-ference, Limassol, Zypern, 2016.

[12] P. Dost, P. Spichartz, C. Sourkounis, „Evaluation of Potentials for Peak Load Shiftings by Means of Electric Vehicles Based on Field Test Mesasurements,“ in MELECON 2016 – 18th IEEE Mediterranean Electrotechnical Conference, Limassol, Zypern, 2016.

[13] Multifunktionales Elektromobil (MultEMobil) - Geschäftsmodelle für ein multifunktio-nale Nutzung von Elektrofahrzeugen - Schlussbericht Phase I, 2017.

[14] BMWI Bundesministerium für Wirtschaft und Energie, „Erneuerbare Energien,“ [On-line]. Available: https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Dossier/erneuerbare-ener-gien.html. [Zugriff am 11. März 2017].

Page 418: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

9 Schlüsselfaktoren für die Entwicklung der Elektromobilität

M. Schwartz, D. Kolz (FIR)

9 Schlüsselfaktoren für die Entwicklung der Elektromobilität 421

Zusammenfassung ........................................................................................................ 4229.1 Einleitung ..................................................................................................... 4229.2 Stand der Forschung ................................................................................... 4239.3 Methodische Vorgehensweise ................................................................... 4249.4 Ergebnisse ..................................................................................................... 4259.5 Zusammenfassung und Ausblick ............................................................. 4329.6 Danksagung ................................................................................................. 432

Literatur ........................................................................................................................ 433

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_26

Page 419: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

422 Schlüsselfaktoren für die Entwicklung der Elektromobilität

Zusammenfassung

Die Elektromobilität bildet die Grundlage eines fundamentalen Wandels der indi-viduellen Mobilität, welcher weit über das Elektrofahrzeug hinausreicht. Insbeson-dere Dienstleistungen determinieren den Erfolg der Elektromobilität, indem sie eine Brückenfunktion zwischen Technologie und Markt übernehmen. Da ein Groß-teil der wissenschaftlichen Arbeiten zur Entwicklung der Elektromobilität vorder-gründig technologische Aspekte, wie z. B. die Fahrzeugreichweite berücksichtigt, ist eine ganzheitliche Betrachtung aller Faktoren des Themenfeldes notwendig, um Dienstleistungen in ein umfassendes Verständnis der Elektromobilität zu integrie-ren. Daher ist das Ziel dieser Arbeit die Identifikation sämtlicher Schlüsselfaktoren für die Entwicklung der Elektromobilität, zu denen beispielsweise Batteriepreise, staatliche Förderung und neue Servicekonzepte zählen.

9.1 Einleitung

„Das Auto neu denken“, so lautet der Grundsatz des Regierungsprogramms zur Elektromobilität. Dieser verdeutlicht die Tragweite dieser Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts, welche im Zuge einer umfassenden Mobilitätswende die Art und Weise der zukünftigen Fortbewegung maßgeblich prägen wird [1]. Doch trotz staatlicher Fördermaßnahmen und technologischer Fortschritte wurde die Nach-frage nach Elektrofahrzeugen den Erwartungen bis zuletzt nicht gerecht. Anfang 2017 umfasste der Fahrzeugbestand in Deutschland 34.022 Elektro- und 165.405 Hybridfahrzeuge [2]. Obwohl der aktuelle Anteil von Elektrofahrzeugen am ge-samten Fahrzeugbestand von 62,6 Millionen Kraftfahrzeugen äußerst gering ist [2], wurde im ersten Quartal des Jahres 2017 ein Rekordzuwachs von 11.624 Neuzu-lassungen verzeichnet [3]. Im internationalen Vergleich zeigt sich jedoch, dass Deutschland deutlich hinter China, den USA, Norwegen und Frankreich zurück-bleibt. China verzeichnete 2016 fast die Hälfte [4], Deutschland hingegen weniger als 5 Prozent der weltweit ca. 750.000 Neuzulassungen von Elektroautos [3].

Für mehr als die Hälfte der Verbraucher bildet die vergleichsweise geringe Reich-weite einen entscheidenden Grund für die Ablehnung eines Elektroautos als pri-vates Kraftfahrzeug [5]. Daraus wird deutlich, dass die Befriedigung der Nutzer-bedürfnisse eine wesentliche Voraussetzung für den Erfolg der Elektromobilität ist. Dienstleistungen können in diesem Zusammenhang eine Brückenfunktion für die neue Technologie übernehmen, indem sie, zum Beispiel im Rahmen von Car-sharing-Angeboten, die Kundennähe steigern und den beschriebenen technologi-schen Defiziten entgegenwirken. [6]

Page 420: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Stand der Forschung 423

Das Ziel dieser Arbeit ist die Identifikation aller wesentlichen Faktoren, welche die Entwicklung der Elektromobilität beeinflussen. Neben Faktoren mit Technologie-fokus werden dabei auch Faktoren mit Fokus auf Dienstleistungen berücksichtigt. Zunächst erfolgt die Bestimmung von Einflussbereichen, welche die Einflussgrö-ßen der Elektromobilität sachlogisch gliedern. Anschließend werden für jeden Ein-flussbereich sogenannte Einflussfaktoren identifiziert, welche die Entwicklung der Elektromobilität sowohl determinieren als auch indizieren können. Zuletzt werden aus den identifizierten Einflussfaktoren besonders relevante Faktoren, sogenannte Schlüsselfaktoren, selektiert. Die Kenntnis dieser Schlüsselfaktoren bildet die Grundlage für ein umfassendes Verständnis des Themenfeldes der Elektromobili-tät und ermöglicht zielgerichtete, effiziente und somit wirksame Handlungsmaß-nahmen.

9.2 Stand der Forschung

Es existiert eine große Anzahl wissenschaftlicher Arbeiten, welche Einflussgrößen der Elektromobilität untersuchen. Durch eine Analyse dieser wurde eine Vielzahl von Faktoren identifiziert, die Einfluss auf die Entwicklung der Elektromobilität haben. Einige Faktoren weisen inhaltliche Gemeinsamkeiten auf und können zu übergeordneten Kategorien zusammengefasst werden. Beispielsweise lassen sich die Faktoren Demographische Entwicklung, Einkommensentwicklung und Le-bensstil zur übergreifenden Kategorie Entwicklung der Gesellschaft vereinigen. Auf diese Weise kann die Anzahl der Faktoren, zugunsten der Übersichtlichkeit und Abgrenzbarkeit derselben, auf neun Kategorien reduziert werden.

Folgende Kategorien wurden anhand der Fachliteratur identifiziert:

Ladeinfrastruktur | Technischer Fortschritt | Politische Maßnahmen | Gesamt-betriebskosten | Verkehrsverhalten | Gesellschaftlicher Wandel | Mobilitäts-optionen | Ressourcenverfügbarkeit | Wertschöpfungssysteme

Die Kategorien Ladeinfrastruktur, Technischer Fortschritt, Politische Maßnahmen und Gesamtbetriebskosten werden in nahezu allen wissenschaftlichen Arbeiten berück-sichtigt und üben demnach einen großen Einfluss auf die zukünftige Entwicklung der Elektromobilität aus. Die Kategorien Ladeinfrastruktur und Technischer Fort-schritt beziehen sich insbesondere auf technologische Aspekte, wie zum Beispiel den erlaubten Entladegrad beziehungsweise den Fortschritt der Batterietechnolo-gie. Die Kategorien Gesamtbetriebskosten, Ressourcenverfügbarkeit und Wertschöp-fungssysteme besitzen hingegen einen wirtschaftlichen Schwerpunkt. Doch ledig-lich die Kategorien Verkehrsverhalten und Mobilitätsoptionen weisen einen Bezug zu

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424 Schlüsselfaktoren für die Entwicklung der Elektromobilität

Dienstleistungen auf, welche im Allgemeinen eine Brückenfunktion zwischen Technologie und Wirtschaft übernehmen können. Damit werden in nur wenigen der untersuchten wissenschaftlichen Arbeiten Dienstleistungen, beispielsweise in den Bereichen der Informations- und Kommunikationstechnologie, als relevant für die Entwicklung der Elektromobilität beschrieben.

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass bisherige wissenschaftliche Arbeiten den Einfluss von Dienstleistungen nicht ausreichend berücksichtigen. Dies ist vor dem Hintergrund eines ganzheitlichen Verständnisses der Elektromobilität als De-fizit zu beurteilen. Es fehlt eine Analyse sämtlicher Faktoren für die Entwicklung der Elektromobilität, also sowohl solcher Faktoren mit Technologiefokus als auch solcher mit Bezug zu Dienstleistungen.

9.3 Methodische Vorgehensweise

Um die im vorangegangenen Kapitel aufgezeigte Forschungslücke zu schließen, werden im weiteren Verlauf dieser Arbeit zunächst Einflussfaktoren identifiziert, aus denen anschließend die relevanten Schlüsselfaktoren selektiert werden. Dazu kann auf das Verfahren der Einflussanalyse nach REIBNITZ zurückgegriffen werden [7]. Die Einflussanalyse nach REIBNITZ, welche in dieser Analyse auf das Themen-feld der Elektromobilität angewendet wird, gliedert sich in vier Handlungsschritte. Erstens wird das Themenfeld bzw. der Betrachtungsbereich genau bestimmt und gegebenenfalls in mehrere Umfelder unterteilt [7]. Zweitens werden anhand einer umfassenden Literaturrecherche für jedes Umfeld bestimmte Einflussbereiche, wie zum Beispiel der Bereich der Politik, festgelegt. Diese gliedern die Einflussgrößen innerhalb des jeweiligen Umfelds sachlogisch. Drittens erfolgt die Identifikation sogenannter Einflussfaktoren zu jedem Einflussbereich. Einflussfaktoren sind spe-zifische Elemente der Elektromobilität, wie beispielsweise die Reichweite von Elektrofahrzeugen, deren Gesamtheit die Elektromobilität konstituiert. Sie indizie-ren somit als Kenngrößen die Situation der Elektromobilität, bestimmen durch dy-namische Wechselwirkungen untereinander jedoch gleichzeitig die Entwicklung derselben. Da meist eine Vielzahl von Einflussfaktoren identifiziert wird, ist vier-tens die Selektion von Schlüsselfaktoren im Hinblick auf deren Übersichtlichkeit und Präzision sinnvoll. Die methodische Vorgehensweise wird durch Abbildung 9.1 schematisch visualisiert.

Page 422: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Ergebnisse 425

Abbildung 9.1 Schematische Darstellung der methodischen Vorgehensweise

9.4 Ergebnisse

9.4.1 Abgrenzung des Untersuchungsbereichs

Nach konventionellem Verständnis bezeichnet der Begriff Elektromobilität die Ge-samtheit aller voll- oder teilelektrisch angetriebenen Fahrzeuge [8]. In der vorlie-genden Arbeit wird dieser Untersuchungsbereich jedoch um das gesamte Mobili-tätsumfeld von Elektrofahrzeugen erweitert, um auch Dienstleistungen im Kontext der Elektromobilität einzubeziehen. Diese Auffassung der Elektromobilität wird durch das folgende Zitat wiedergegeben:

"E-mobility (electric mobility) is a highly connective industry which focuses on serving mobility needs under the aspect of sustainability with a vehicle using a portable energy source and an electric drive that can vary in the degree of electri-fication." [9]

Innerhalb des definierten Untersuchungsbereichs wird zwischen einem globalen und einem lokalen Umfeld der Elektromobilität unterschieden. Einflussbereiche und -faktoren, die sich dem globalen Umfeld zuordnen lassen, wirken sich tenden-

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426 Schlüsselfaktoren für die Entwicklung der Elektromobilität

ziell aktiv auf den Untersuchungsbereich aus. Sie lassen sich jedoch nur in gering-fügigem Maße beeinflussen und sind somit als extern vorgegeben zu betrachten. Einflussgrößen, die sich dem lokalen Umfeld zuordnen lassen, sind dagegen eher passiv, im weitesten Sinne beeinflussbar und weisen untereinander größere Unter-schiede auf als Einflussgrößen innerhalb des globalen Umfelds. [7] [10] [11] [12]

9.4.2 Identifikation von Einflussbereichen

Im Folgenden werden zunächst die Einflussbereiche des globalen Umfelds, an-schließend die des lokalen Umfelds erläutert. Zur Identifikation von Einflussberei-chen des globalen Umfelds werden einerseits Elemente der STEP-Analyse heran-gezogen [13], andererseits werden verschiedene Umweltanalysen miteinander ver-glichen und ausgewertet.

Die STEP-Analyse wird im Bereich des strategischen Managements zur Erfassung des globalen Geschäftsumfelds eingesetzt und unterteilt dieses in politische, öko-nomische, soziokulturelle und technologische Faktoren [13]. Jedoch wurde das Modell in zahlreichen Arbeiten um ökologische Komponenten ergänzt [14]. Vor diesem Hintergrund ergeben sich fünf globale Einflussbereiche der Elektromobili-tät, welche in Tabelle 9.1 stichpunktartig erläutert werden.

Tabelle 9.1 Globale Einflussbereiche der Elektromobilität

Globaler Einflussbe-reich Erläuterung

Ökonomie Unmittelbares Wettbewerbsumfeld der Elektromobilität sowie die volkswirtschaftliche Entwicklung

Technologie Inkrementeller oder radikaler technologischer Fortschritt der Elektromobilität

Politik Allgemeine und konkrete politische Rahmenbedingungen für Elektromobilität (z. B. politische Stabilität oder Gesetzgebung)

Gesellschaft Wandel der Gesellschaft, z. B. im Hinblick auf die demographi-sche Zusammensetzung oder Wertvorstellungen

Umwelt Aspekte der Erhaltung der natürlichen Umwelt (z. B. Treibhaus-gasemissionen oder Ressourcenvorkommen)

Page 424: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Ergebnisse 427

Zur Identifikation der lokalen Einflussbereiche werden verschiedene wissenschaft-liche Veröffentlichungen herangezogen. Diese führen unter anderem den Techni-schen Stand, die Nutzung, die Industrie beziehungsweise Automobilhersteller und die Energiewirtschaft als wichtige Bereiche der Elektromobilität an [10]. Außerdem kön-nen der Bereich Standort [10] und verschiedene in der Fachliteratur genannte Dienstleistungen [15] zum Einflussbereich Mehrwertdienstleistungen zusammenge-fasst werden. Des Weiteren bildet die Marktcharakteristik einen Einflussbereich, welcher in verschiedenen Veröffentlichungen beschrieben wird [16] [17]. Insge-samt ergeben sich aus der herangezogenen Fachliteratur sechs lokale Einflussbe-reiche der Elektromobilität, welche in Tabelle 9.2 stichpunktartig erläutert werden.

9.4.3 Identifikation von Einflussfaktoren

Zur Identifikation von Einflussfaktoren zu jedem Einflussbereich wird eine umfas-sende Literaturrecherche durchgeführt. Dabei werden potenzielle Einflussfaktoren nicht nur anhand der Häufigkeit ihrer Nennung, sondern auch nach den Maßstä-ben der Unterschiedlichkeit, dem Grad der Integration in den Untersuchungsbe-reich, der Verständlichkeit und der Präzision bewertet. Bei besonders hohen in-haltlichen Gemeinsamkeiten zweier Faktoren werden diese zu einem Einflussfak-tor zusammengefasst. Beispielsweise werden direkte staatliche Subventionen und die Unterstützung der Elektromobilität mittels einer Abwrackprämie oder ähnli-chen Finanzierungskonzepten zum Einflussfaktor Staatliche Förderung vereinigt.

Tabelle 9.2 Lokale Einflussbereiche der Elektromobilität

Lokaler Einflussbe-reich Erläuterung

Technischer Stand Technologische Merkmale eines Elektrofahrzeugs

Nutzung Art und Weise der Nutzung von Elektrofahrzeugen

Mehrwertdienst-leis-tungen

Dienstleistungen, welche die Attraktivität oder Funktionalität der Elektromobilität beeinflussen

Automobilhersteller Verhalten von Automobilherstellern im Kontext der Elektromobili-tät

Energiewirtschaft Verhalten der Akteure der Energiewirtschaft im Kontext der Elektromobilität

Marktcharakteristik Wettbewerb und Kooperationen zwischen den Marktteilnehmern

Page 425: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

428 Schlüsselfaktoren für die Entwicklung der Elektromobilität

Insgesamt ergeben sich 55 Einflussfaktoren, davon 29 globale und 26 lokale Fakto-ren. Lediglich die sechs globalen Einflussfaktoren Total Cost of Ownership, Wettbe-werb, Sensibilisierung, Infrastruktur, Sicherheit und Funktionsintegration weisen je-weils hohe inhaltliche Gemeinsamkeiten zu den lokalen Faktoren Kosten, Erhöhter Wettbewerb, Informationsstand, Ladeinfrastruktur, Sicherheit und Smart Grid auf.

Tabelle 9.3 und Tabelle 9.4 stellen die identifizierten globalen bzw. lokalen Ein-flussfaktoren dar und ordnen diese den globalen bzw. lokalen Einflussbereichen zu. Die sowohl dem lokalen als auch dem globalen Umfeld zugeordneten Faktoren sind kursiv markiert.

Tabelle 9.3 Globale Einflussfaktoren der Elektromobilität

Globaler Einflussbe-reich Globale Einflussfaktoren

Ökonomie Ölpreis, Strompreis, Batteriepreise, Total Cost of Ownership, Wechselkurs, Wettbewerb

Technologie Antriebstechnologie, Batterietechnologie, Infrastruktur, Funkti-onsintegration, Sicherheit

Politik Staatliche Förderung, Regulierung, Steuern und Abgaben, Ge-setze, Energie- und Klimapolitik, Standardisierung

Gesellschaft Demographischer Wandel, Sensibilisierung, Wertewandel, Nut-zerakzeptanz, Mobilitätsverhalten, Urbanisierung, Metropolisie-rung

Umwelt Nachhaltigkeit, Klimawandel, Umweltbewusstsein, Ressourcen-verfügbarkeit, Recycling

Tabelle 9.4 Lokale Einflussfaktoren der Elektromobilität

Lokaler Einflussbe-reich Lokale Einflussfaktoren

Technischer Stand Reichweite, Ladekonzepte, Ladezeit, Leichtbau, Sicherheit

Nutzung Informationsstand, Alltagstauglichkeit, Kosten, Image, Sichtbar-keit, Gewerbliche Nutzung

Mehrwertdienst-leis-tungen

Finanzierungsangebote, IKT-basierte Dienste, Multimodale Kon-zepte, Werkstattverfügbarkeit, Privates Carsharing, Weiternut-zungsdienste Batterie

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Ergebnisse 429

Automobilhersteller Modellvielfalt, Eigenständige Plattform, Service-Konzepte

Energiewirtschaft Ladeinfrastruktur, Erneuerbare Energien, Smart Grid

Marktcharakteristik Erhöhter Wettbewerb, Kooperationen, Marktdurchdringung Elektrofahrzeuge

9.4.4 Selektion von Schlüsselfaktoren

Die Selektion von Schlüsselfaktoren erfolgt mittels einer online durchgeführten Ex-pertenbefragung. Der Fragebogen wurde mithilfe des Online-Tools „2ask“ erstellt, welches sich als besonders nutzerfreundlich erwies [18]. Der Fragebogen wurde von Experten innerhalb eines festgelegten Zeitraums selbstständig bearbeitet, was mit verschiedenen Vor- und Nachteilen einhergeht. Für die Experten sind die hohe Anonymität, zeitliche Flexibilität und Benutzerfreundlichkeit von Online-Befra-gungen vorteilhaft [19]. Außerdem können die digital ausgefüllten Fragebögen au-tomatisch ausgewertet werden. Nachteile, wie z. B. Verständnisprobleme bezüg-lich der gestellten Fragen, können durch eine geeignete Form der Befragung wei-testgehend minimiert werden. Abbildung 9.2 stellt eine exemplarische Frage des digitalen Fragebogens dar.

Abbildung 9.2 Exemplarische Frage der Expertenbefragung

Zu jedem Einflussfaktor wird eine Frage formuliert, wobei diejenigen Faktoren, welche sowohl dem globalen als auch dem lokalen Umfeld zugeordnet werden, zu je einem Faktor zusammengefasst werden. Jede Frage umfasst neben der Bezeich-nung des jeweiligen Einflussfaktors eine Definition desselben im Hinblick auf sei-nen Bezug zur Elektromobilität, welche Verständnisproblemen entgegenwirken soll. Die Experten bewerten die Relevanz des Faktors für die Entwicklung der Elektromobilität. Dazu wird die Ordinalskala verwendet, um die Einflussfaktoren in einer Rangfolge ordnen zu können [20]. Diese Skala wird aus den vier qualitati-ven Bewertungen sehr gering (1), eher gering (2), eher hoch (3) und sehr hoch (4) konstituiert. Die Zahlenwerte dienen dabei der späteren Auswertung. Außerdem besteht die Möglichkeit der Enthaltung.

Um möglichst qualitativ hochwertige und objektive Ergebnisse zu erhalten, wer-den für die Befragung ausschließlich Experten ausgewählt. Als Experten werden

Einflussfaktoren Elektromobilität Seite 9/13 62%

Ökonomie

33. Ölpreis * Der Ölpreis ist ein entscheidener Indikator für die zukünftige Wirtschaftlichkeit der konventionellen Fahrzeuge. (Bsp.: Diesel, Benzin)

Sehr gering Eher gering Eher hoch Sehr hoch Enthaltung

34. Strompreis * Die Entwicklung der Stromkosten steht im direkten Zusammenhang zu den Betriebskosten eines Elektrofahrzeugs.

Sehr gering Eher gering Eher hoch Sehr hoch Enthaltung

35.Batteriepreise * Die Kosten einer Batterie nehmen bis zu 50% der Gesamtkosten eines Elektrofahrzeugs ein und spiegeln den Großteil derAnschaffungskosten wider.

Sehr gering Eher gering Eher hoch Sehr hoch Enthaltung

36.Wechselkurs * Beeinflusst die internationale Wettbewerbsfähigkeit und die Kosten für den Bezug von Materialien aus dem Ausland. (Bsp.:Rohstoffpreise, Transport- und Importkosten)

Sehr gering Eher gering Eher hoch Sehr hoch Enthaltung

Zurück Umfrage erstellt mit Hilfe von '2ask' Weiter

Weiter

Veranstalter der Umfrage: FIR e. V. an der RWTH Aachen, Campus-Boulevard 55, 52074 Aachen, Deutschland, [email protected]

Diese Umfrage wird von 2ask im Rahmen des Förderprogramms für Forschung & Lehre unterstützt.

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430 Schlüsselfaktoren für die Entwicklung der Elektromobilität

im Allgemeinen Personen bezeichnet, die über Fachwissen in einem bestimmten Bereich verfügen [21]. Ein Kriterium zur Auswahl eines Experten ist daher die Aus-übung einer beruflichen Tätigkeit mit Bezug zur Elektromobilität. Dabei werden sowohl Experten mit wissenschaftlichem als auch solche mit praktischem Hinter-grund hinzugezogen, um Einflüsse des beruflichen Hintergrunds auf die Ergeb-nisse zu egalisieren.

Die Auswertung der Expertenbefragung erfolgt durch die Bildung von Mittelwer-ten, um anhand der gemittelten Rangfolge der Einflussfaktoren Schlüsselfaktoren festzulegen [22]. Tabelle 9.5 stellt die identifizierten Schlüsselfaktoren, geordnet nach den Mittelwerten der Expertenbewertungen, dar. Die Zuordnung der Fakto-ren zum globalen bzw. lokalen Umfeld ist durch farbliche Hinterlegung gekenn-zeichnet.

Tabelle 9.5 Schlüsselfaktoren der Elektromobilität

Einflussfaktor Bewertung Einflussfaktor Bewertung

1. Batteriepreise 3,72 9. Ladekonzepte 3,39

2. Reichweite 3,66 10. Standardisierung 3,38

3. Nutzerakzeptanz 3,65 11. Ladeinfrastruktur 3,31

4. Kosten 3,57 12. Alltagstauglichkeit 3,28

5. Ladezeit 3,53 (13.) Ölpreis 3,28

(6.) Staatliche Förderung 3,53 14. Neue Service-Konzepte 3,23

(7.) Batterietechnologien 3,53 15. Sicherheit 3,22

8. Energie- und Klimapolitik 3,52 16. Strompreis 3,17

█ globales UmfeldPlatzh█ lokales UmfeldPla h█ globales und lokales Umfeld

Die folgende Aufzählung beinhaltet Definitionen eines jeden Schlüsselfaktors. Diese können vom allgemeinen Verständnis des jeweiligen Begriffs abweichen.

1. Batteriepreis beschreibt den durchschnittlichen Preis eines Akkumulators in Abhängigkeit von der Kapazität desselben [€/ kWh].

2. Reichweite beschreibt die Strecke, die Elektrofahrzeuge mit einer vollständig aufgeladenen Batterie im realen Fahrbetrieb durchschnittlich zurücklegen können.

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Ergebnisse 431

3. Nutzerakzeptanz beschreibt die Entscheidung zur Annahme einer Innovation durch den Anwender.

4. Kosten beschreiben die Lebenszykluskosten von Elektrofahrzeugen unter Be-rücksichtigung der Nutzungsdauer (z. B. Anschaffungs- oder Betriebskosten).

5. Ladezeit beschreibt die Dauer des vollständigen Aufladens einer Batterie.

6. Staatliche Förderung beschreibt die finanzielle Unterstützung der Elektromo-bilität durch öffentliche Mittel.

7. Batterietechnologien beschreiben die chemischen Grundlagen verschiedener Batterietechnologien (z. B. Lithium-Ionen-Akkumulator).

8. Energie- und Klimapolitik beschreibt die Maßnahmen des Teilbereichs der Politik, welcher sich mit den Themen Energie und Klima beschäftigt.

9. Ladekonzepte beschreiben die Art und Weise des Aufladens der Batterie ei-nes Elektrofahrzeugs (z. B. induktives Laden).

10. Standardisierung beschreibt die Vereinheitlichung von Normen zur Schaf-fung von gemeinsamen Standards im Kontext der Elektromobilität (z. B. ein-heitliche Ladestecker).

11. Ladeinfrastruktur beschreibt die örtliche und zeitliche Verfügbarkeit von öf-fentlich zugänglichen Ladepunkten in Deutschland.

12. Alltagstauglichkeit beschreibt die Integrationsfähigkeit des Elektrofahrzeugs in den Alltag eines Nutzers.

13. Ölpreis beschreibt den Preis von Rohöl.

14. Neue Service-Konzepte beschreiben Dienstleistungen, welche von Marktak-teuren für Nutzer von Elektrofahrzeugen angeboten werden (z. B. mehrmals im Jahr kostenlos bereitgestellte Mietwagen mit Verbrennungsmotor).

15. Sicherheit beschreibt den Schutz vor Gefahren und Risiken, die im alltägli-chen Umgang mit Elektromobilität auftreten können (z. B. Entflammung der Batterie).

16. Strompreis beschreibt die Kosten für die Stromerzeugung, Netznutzung so-wie Steuern und Abgaben für elektrische Energie.

Die zwei bedeutendsten Schlüsselfaktoren Batteriepreis und Reichweite sowie die Faktoren Ladezeit und Batterietechnologien zeigen, dass der Erfolg der Elektromobi-lität entscheidend von Fortschritten in der Batterietechnik abhängt. Auch die Le-

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432 Schlüsselfaktoren für die Entwicklung der Elektromobilität

benszykluskosten (Kosten) sowie politische Maßnahmen (Staatliche Förderung, Ener-gie- und Klimapolitik) sind wesentlich für die Entwicklung der Elektromobilität. Fer-ner sind der Ausbau der Ladeinfrastruktur (Ladeinfrastruktur) sowie der Fortschritt im Bereich der Ladetechnologien (Ladekonzepte, Standardisierung) Erfolgsfaktoren der Elektromobilität. Zusätzlich können Dienstleistungen einen wichtigen Beitrag zum Erfolg der Elektromobilität leisten, indem beispielsweise Dienstleistungs-plattformen die Standardisierung vorantreiben oder Neue Servicekonzepte die Nutzer-akzeptanz steigern.

9.5 Zusammenfassung und Ausblick

Die identifizierten Schlüsselfaktoren zeigen, dass Dienstleistungen von hoher Re-levanz für die Entwicklung der Elektromobilität sind. Sie bilden einen integralen Bestandteil der Elektromobilität und sind entscheidend für den Erfolg derselben. Vielfältige Anwendungsmöglichkeiten, wie z. B. innovative Nutzungsmodelle, technologiebegleitende Services und Infrastrukturdienstleistungen, erlauben eine umfassende Gestaltung der Elektromobilität und beeinflussen den gesamten Le-benszyklus von Elektrofahrzeugen [6]. Erst durch Dienstleistungen ist somit der Schritt von der Antriebs- zur Mobilitätswende möglich und durchsetzbar. [23]

Die Ergebnisse dieser Arbeit dienen im Projekt DELFIN der Entwicklung von Zu-kunftsszenarien für die Elektromobilität ab 2020. Dazu werden die identifizierten Schlüsselfaktoren zunächst einander gegenübergestellt, um Wechselwirkungen zwischen den Faktoren bewerten und darstellen zu können. Anschließend werden mithilfe einer Konsistenzanalyse Zukunftsszenarien für die Entwicklung der Elekt-romobilität erstellt. Diese legen fest, welche zukünftigen Kombinationen von posi-tiven, negativen oder Trend-Entwicklungen der Schlüsselfaktoren im Hinblick auf ihre Widerspruchsfreiheit konsistent sind. Die Kenntnis dieser Szenarien wie auch die Kenntnis von Schlüsselfaktoren erlauben eine Ausrichtung der Handlungs-maßnahmen von betroffenen Akteuren auf eine optimale Entwicklung der Elekt-romobilität.

9.6 Danksagung

Das Projekt DELFIN - „Dienstleistungen für Elektromobilität: Förderung von In-novation und Nutzerorientierung“- hat das Ziel, Strategien und Konzepte für Dienstleistungen im Wertschöpfungssystem der Elektromobilität zu entwickeln

Page 430: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Danksagung 433

und dabei insbesondere markt- und nutzerorientierte Perspektiven zu berücksich-tigen. Das Projekt mit einer Laufzeit von 2013 bis 2018 ist ein Kooperationsprojekt des Fraunhofer-Instituts für Arbeitswirtschaft und Organisation (Fraunhofer IAO), des Forschungsinstituts für Rationalisierung e.V. an der RWTH Aachen (FIR) und des Karlsruhe Service Research Institute (KSRI) am Karlsruher Institut für Techno-logie (KIT). Es wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) unter den Förderkennzeichen 02K12A 000/001/002 als Begleitvorhaben im Förder-schwerpunkt „Dienstleistungsinnovationen für die Elektromobilität“ gefördert.

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434 Schlüsselfaktoren für die Entwicklung der Elektromobilität

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Page 432: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

10 Erfolgsfaktoren künftiger Geschäftsmodelle von urbanen, geteilten Mobilitätsdienstleistungen

M. Pielen, Prof. Dr.-Ing. T. Röth (FH Aachen), Prof. Dr. T. Flatten (TU Dortmund)

10 Erfolgsfaktoren künftiger Geschäftsmodelle von urbanen, geteilten Mobilitätsdienstleistungen 435

10.1 Motivation .................................................................................................... 43610.2 Geschäftsmodelle und Geschäftsmodell-Innovationen ......................... 43610.3 Urbane, geteilte Mobilität .......................................................................... 43910.4 Methodische Vorgehensweise ................................................................... 44110.5 Darstellung von kritischen Erfolgsfaktoren ............................................ 44310.6 Zusammenfassung ...................................................................................... 447

Literatur ........................................................................................................................ 447

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_27

Page 433: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

436 Erfolgsfaktoren von urbanen, geteilten Mobilitätsdienstleistungen

10.1 Motivation

Auch wenn derzeit urbane, geteilte Mobilitätskonzepte wie CarSharing und Ride-Sharing bzw. dynamische Shuttle-Services noch einen Nischenmarkt im urbanen Mobilitätsmix darstellen, treffen sie zunehmend auf die Akzeptanz der Bevölke-rung [4],[19]. So konnten in Deutschland in den letzten Jahren zweistellige Wachs-tumsraten bei den CarSharing-Nutzern verzeichnet werden [4]. An den kürzlich weltweit getätigten Investitionen in RideSharing- bzw. Ride-Hailing-Angeboten lässt sich ebenfalls die hohe Bedeutung sowie die großen Potentiale neuer, urbaner Mobilitätskonzepte ableiten [19]23. Der Markt der urbanen, geteilten Mobilität stellt sich dabei als äußerst dynamisch dar und ist geprägt durch eine Vielzahl an Stake-holdern aus unterschiedlichen Branchen. Derzeitig ist zu beobachten, dass weitere Anbieter mit neuen Geschäftsmodellen auf den Markt drängen. Gleichzeitig schei-tern viele Unternehmen mit neuen Konzepten und Ideen im Kontext der urbanen Mobilität [14]. Es stellt sich daher die Frage, wie durch innovative Geschäftsmo-dellierung die Marktdiffusion von geteilten Mobilitätskonzepten gefördert werden kann. In dieser Arbeit wurden im Rahmen einer qualitativen Expertenbefragung erfolgsversprechende Elemente für die Geschäftsmodellierung im Kontext urba-ner, geteilter Mobilität identifiziert.

10.2 Geschäftsmodelle und Geschäftsmodell-Innovationen

Das Geschäftsmodell-Konzept Das Konzept „Geschäftsmodell“ ist seit den 1990er Jahren als Ausgangspunkt für die Beschreibung der grundsätzlichen Funktionsweise des unternehmerischen Handels sowie der strategischen Unternehmensplanung etabliert. Dabei stößt es mittlerweile auf eine fundierte Daseinsberechtigung in der Wissenschaft sowie in der wirtschaftlichen Praxis [1],[3],[8]. Der Erfolg von Unternehmen wird zuneh-mend mit dem Management von Geschäftsmodellen verbunden [20]. Durch das Denken in Geschäftsmodellen werden Unternehmen dabei unterstützt, neue Ge-schäftsideen zu entwickeln, die eigenen Geschäftsaktivitäten zu überprüfen sowie bisherige (komplexe) Strukturen und Strategien zu optimieren [20]. Nach Ches-brough (2007) sind diejenigen Unternehmen erfolgreicher, welche mit mittelmäßi-gen Technologien und exzellenten Geschäftsmodellen operieren, als solche die mit

23 So konnten RideHailing-Unternehmen wie Uber und Lyft im Jahre 2016 mit rund 9 Mrd.

US$ doppelt so viel Investments verzeichnen als jedes andere Startup-Segment [19].

Page 434: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Geschäftsmodelle und Geschäftsmodell-Innovationen 437

hervorragenden Technologien in Verbindung mit nur durchschnittlichen Ge-schäftsmodellen agieren [5].

Osterwalder und Pigneur (2010) definieren Geschäftsmodelle als die Grundlo-gik wie ein Unternehmen Werte schafft, ausliefert und sichert [16].

Dabei klassifizieren sie Geschäftsmodelle anhand der vier Hauptelemente Werte-angebot, Kundenschnittstelle, Geschäftsinfrastruktur sowie Finanzstruktur und stellen insgesamt neun Bausteine („Building Blocks“) von Geschäftsmodellen dar [16]:

Das Nutzenversprechen (Value Proposition) stellt alle Produkte bzw. Dienstleistun-gen dar, welche für den Kunden einen Nutzen bieten. Es charakterisiert, welche Bedürfnisse des Kunden durch das Unternehmen befriedigt werden.

Durch die Kundensegmente werden die Zielkunden, welche das Unternehmen mit dem Nutzenversprechen bedienen möchte beschrieben. Wie und auf welche Weise das Unternehmen mit den Kunden in Kontakt tritt wird in den Kundenkanälen dar-gestellt. Die Verbindung vom Unternehmen zu den Kunden wird in der Kundenbe-ziehung charakterisiert.

Wie Umsätze des Unternehmens durch die verschiedenen Kundensegmente gene-riert werden, wird in den Einnahmequellen dargestellt. In der Kostenstruktur werden alle Kosten zusammengefasst, welche bei der Ausführung des Geschäftsmodelles anfallen.

Die Schlüsselaktivitäten charakterisieren die Gestaltung der Aktivitäten und Res-sourcen des Unternehmens in Hinblick auf den zu generierenden Nutzen für die Kunden. Die für die Erstellung des Werteangebotes notwendigen Fähigkeiten und Ressourcen werden in den Schlüsselressourcen definiert. Die Schlüsselpartnerschaften stellen die Kooperationen und Beziehungen zu anderen Unternehmen und Ein-richtungen dar.

Zur Darstellung, Visualisierung und Beschreibung von Geschäftsmodellen haben Osterwalter und Pigneur (2010) das Konzept des Business Model Canvas entwi-ckelt [16]. Aufbauen auf den beschriebenen Geschäftsmodell-Elementen stellt es diese in einem ganzheitlichen Bild dar (Abbildung 10.1).

Page 435: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

438 Erfolgsfaktoren von urbanen, geteilten Mobilitätsdienstleistungen

Abbildung 10.1 Das Business Modell Canvas

Quelle: Darstellung in Anlehnung an [16].

Geschäftsmodell-Innovationen „Die meisten großen Erfolgsgeschichten sind nicht das Ergebnis von Produkt-, sondern von Geschäftsmodellinnovationen.“ [8]

Die jüngste Vergangenheit zeigt, dass viele große Erfolgsgeschichten vermehrt auf innovative Geschäftsmodelle zurückgehen [7],[16],[17]. So hat das Unternehmen Uber in den letzten Jahren mit einem disruptiven Geschäftsmodell für Aufsehen gesorgt und ist derzeit der Weltmarktführer im Taxigewerbe, ohne jedoch ein ein-ziges Fahrzeug zu besitzen [21]. Apple ist der er größte Musikeinzelhändler und hat bisher keinen einzigen Tonträger verkauft [8].

Geschäftsmodell-Innovationen beschreiben die Veränderung bzw. Weiterent-wicklung von einzelnen Elementen oder des gesamten Geschäftsmodells, mit dem Ziel neue Produkte bzw. Dienstleistungen bereitzustellen, welche neue Werte für die Kunden erschaffen [16].

NutzenversprechenSchlüsselaktivitäten

Schlüsselressourcen

Schlüsselpartnerschaften

Kostenstruktur Einnahmequellen

Kundenkanäle

Kundenbeziehung

Kundensegmente

Geschäftsinfrastruktur Werteangebot Kundenschnittstelle

Finanzstruktur

Page 436: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Urbane, geteilte Mobilität 439

10.3 Urbane, geteilte Mobilität

10.3.1 Entwicklungen und Trends

Der Anteil der Menschen in Deutschland, die in Städten leben, liegt derzeit bereits bei rund 75% und wird insbesondere in urbanen Zentren, mit einer Einwohnerzahl von mehr als 100.000 weiter steigen [23]. Eine weitere zu beobachtende Entwick-lung besteht darin, dass viele Menschen, insbesondere die jüngeren Generationen (sogenannte „Millenials“24) das Auto nicht mehr in dem Maße als Statussymbol sehen wie frühere Generationen [2],[25]. Gleichzeitig steigt jedoch der Wunsch nach individueller Mobilität, was eine große Herausforderung für alle Bereiche der Wertschöpfungskette darstellt. Zudem werden neue Formen der Mobilität gemäß aktueller Studien eine größere Rolle in der urbanen Individualmobilität einnehmen und stellen eine Lösung für das wachsende Mobilitätsbedürfnis dar [19]. Auch wenn das Thema urbane, geteilte Mobilität derzeit noch eine Randerscheinung in der urbanen Mobilität darstellt, verzeichnet gerade dieser Bereich extrem hohe Zu-wachsraten. Besonders in den letzten drei bis vier Jahren haben sich vielfältige An-sätze am Markt etabliert, das Auto nicht mehr als Eigentum, sondern als Bestand-teil einer individuellen Mobilität zu verstehen („Nutzen statt Besitzen“) [23]. Ak-tuelle Studien gehen davon aus, dass „neue Mobilitätsdienstleistungen“ im Jahre 2030 weltweit ein Marktvolumen von bis zu 2.000 Mrd. € aufweisen [14].

10.3.2 Neue Mobilitätsdienstleistungen

Vor dem Hintergrund des steigenden Verkehrsaufkommens, der erhöhten Um-weltbelastungen sowie gewandelter Verkehrsnachfrage in den Innenstädten drän-gen zunehmend neue Formen von Mobilitätsangeboten bzw. Verkehrsmitteln auf den Markt.

Unter dem Begriff neue Mobilitätsdienstleistungen werden Services verstan-den, in welchen Kunden je nach ihrem individuellen Bedarf Fahrzeuge (z. B. Autos, Fahrräder oder Transporter) für eine kurze Zeit nutzen [19].

Insbesondere neue IT-basierte Technologien ermöglichen dabei neuer Angebots-formen, welche eine effizientere, flexiblere und bequemere Mobilität für die Nut-

24 Unter dem Begriff „Milennials“ (bzw. „Generation Y“) wird die Bevölkerungsgeneration

verstanden, welche im Zeitraum von 1980 bis 1999 geboren wurde [10].

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440 Erfolgsfaktoren von urbanen, geteilten Mobilitätsdienstleistungen

zer ermöglichen [19]. Es lassen sich verschiedene Arten von neuen Mobilitäts-dienstleistungen klassifizieren, wobei jede einen spezifischen Kundenbedarf ab-deckt.

CarSharing ist die derzeit bekannteste geteilte Mobilitätsdienstleistung und be-schreibt eine Kurzzeit Fahrzeug-Vermietung, bei welcher die Kosten für den Kraft-stoff sowie die Versicherung bereits im Kilometer- und/oder Minuten-Tarif inklu-diert ist [19]. Beim CarSharing wird grundsätzlich zwischen den stationsbasierten und den FreeFloating Systemen unterschieden [10],[19]. Beim stationsbasierten (klas-sischen) CarSharing werden die Fahrzeuge an festen Stationen angemietet und müs-sen an denselben wieder abgestellt werden, womit keine sogenannten „One-Way-Fahrten“ möglich sind. Feste Parkplätze für die Fahrzeuge werden dabei von den Betreibern entweder von Städten und Kommunen oder von privaten Unternehmen angemietet. Dadurch ergibt sich speziell bei kleinen (Groß)Städten i.d.R. keine vollständige Abdeckung des Stadtgebietes mit Stationen, da in den Randbereichen keine ausreichende Nachfragedichte gegeben ist [10]. Im Gegensatz hierzu können beim FreeFloating-CarSharing die Fahrzeuge in einer räumlich definierten Parkzone angemietet und flexibel an anderen Stellen der Stadt abgestellt werden. Alle Fahr-zeuge sind hierbei mit einem allgemeinen Parkausweis für sämtliche definierte Parkzonen ausgestattet, sodass für die Nutzer ebenfalls keinerlei Parkkosten anfal-len. FreeFloating-Systeme werden derzeit fast ausschließlich in dichten Ballungs-räumen mit über 500.000 Einwohnern eingesetzt [10]. Stationsbasierte CarSharing-Angebote finden hingegen ebenso in Kleinstädten und vermehrt auch in ländlichen Gebieten Einzug. Tendenziell werden FreeFloating-Angebote eher für kurze, innerstädtische Fahrten gemietet, während Buchungen bei stationsba-sierten Anbietern über einen längeren Zeitraum und größere Distanzen durchge-führt werden [10].

RideSharing-Systeme umschreiben Angebote, bei welchen private Fahrzeuge ge-nutzt werden, um geteilte Fahrten von Nutzern zu arrangieren, welche das gleiche Ziel und/oder den gleichen Startpunkt haben [19]. Vorwiegend werden solche An-gebote für längere Distanzen angeboten, wobei sich die Nutzer die Fahrtkosten tei-len [19].

Eine Unterform von RideSharing-Systemen stellen dynamische Shuttle-Dienste bzw. Microtransits dar [19]. Hierbei werden kommerzielle Fahrzeuge verwendet, um Nutzer in urbanen Zentren zu ihrem individuellen Ziel zu bringen. Durch fle-xible Routen können sich dabei mehrere Nutzer mit dem gleichen (Teil-)Ziel ein Fahrzeug teilen, wodurch insgesamt ein geringeres Beförderungsentgelt entsteht. Dynamische Shuttle-Dienste schließen dabei die Lücke zwischen den öffentlichen Verkehrsangebote und dem Individualverkehr.

Page 438: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Methodische Vorgehensweise 441

RideHailing bzw. eHailing Dienstleistungen basieren auf Smartphone-Applikati-onen und verbinden Nutzer mit Fahrern, welche mit ihren privaten Fahrzeugen Mobilitätsdienstleistungen anbieten [19]25. Kommerzielle Unternehmen (soge-nannte Transportation Network Companies - TNCs) betreiben dabei diese digita-len Plattformen und erhalten eine prozentuale Umsatzbeteiligung an den Fahrten [19].

Einen weiteren Baustein neuer Mobilitätsdienstleistungen stellen „Mobility-as-a-Service“ (MaaS) Dienstleistungen dar, bei welchen den Nutzern Mobilitätslösun-gen über einen Serviceprovider in einer Smartphone-Applikationen angeboten werden [19]. Je nach individuellen Bedarf werden dabei verschiedene Optionen z. B. die (kombinierte) Nutzung von CarSharing, RideSharing und/oder öffentli-chen Verkehrsmitteln vorgeschlagen, welche der Nutzer agglomeriert buchen und bezahlen kann.

10.4 Methodische Vorgehensweise

In der vorliegenden Untersuchung wurde analysiert, wie durch innovative Ge-schäftsmodellierung die Marktdiffusion von geteilten, urbanen Mobilitätskonzep-ten gesteigert werden kann. Insbesondere sollten erfolgsversprechende Elemente von Geschäftsmodellen sowie die komplexen Zusammenhänge im Kontext der ur-banen, geteilten Mobilität identifiziert werden.

Als Untersuchungsmethode dieses qualitativen Forschungsdesigns wurde die Fallstudie gewählt [24]. Um das Analyseumfeld der Fallstudie einzugrenzen wurde dabei ein Stakeholder-Modell als Bezugsrahmen entwickelt. Das Ziel dieses Stakeholder-Modelles bestand in der Abdeckung bzw. der Integration eines brei-ten Spektrums an Fällen, welche im Bereich der urbanen, geteilten Mobilität aktiv sind bzw. zukünftig in den Markt eintreten (vgl. Abbildung 10.2). Im Fokus stan-den dabei (I) Akteure aus Deutschland, (II) welche unmittelbar mit dem System der urbanen, geteilten Mobilität interagieren und (III) eine ausgewiesene Expertise im Bereich der urbanen Mobilität aufweisen. Folglich wurden nicht nur (originäre) Anbieter von urbanen, geteilten Mobilitätskonzepten in das Stakeholder-Modell integriert, sondern auch Dienstleister („Mobility-as-a-Service“) und Zulieferer von Software, Hardware sowie Infrastruktur. Ebenfalls wurden Akteure aus angren-zenden Branchen (Automobilhersteller, Energieversorger sowie der öffentlichen

25 RideHailing-Dienstleistungen sind daher per Definition nicht zu den geteilten Mobili-

tätskonzepten zu zählen.

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442 Erfolgsfaktoren von urbanen, geteilten Mobilitätsdienstleistungen

Personenverkehr), von Ersatzdienstleistungen (RideHailing bzw. eHailing) sowie aus Wissenschaft und Marktforschung in das Modell integriert.

Abbildung 10.2 Stakeholder-Modell als Bezugsrahmen der Untersuchung

Quelle: [17]

Insgesamt wurden im Rahmen von leitfaden-gestützten, problemzentrierten-Inter-views 13 Experten aus dem Bereich der urbanen, geteilten Mobilität befragt [21].

Die in den Interviews erhobenen Daten wurden im Sinne einer qualitativen In-haltsanalyse nach Mayring (2015) analysiert und ausgewertet. Hierbei wurde eine strukturierende qualitative Inhaltsanalyse durchgeführt, mit dem Ziel bestimmte Aspekte bzw. eine spezifische Struktur aus den Daten herauszufiltern sowie das Material in Bezug auf spezifische Kriterien zu bewerten [13]. Für die grundlegen-den Strukturdimensionen wurden die Hauptkomponenten Geschäftsmodell-Um-feld, Wertangebot, Kundenschnittstelle, Geschäftsinfrastruktur sowie Finanzstruktur des Business Model Canvas [16] gewählt und gaben folglich einen theoretisch-de-duktiven Rahmen vor [6][12][17]. Damit konnten die Ergebnisse einerseits eindeu-tig zu den Textstellen zugeordnet werden und andererseits im Sinne einer verglei-chenden Analyse ausgewertet werden [12].

Die Auswertung der erhobenen Daten erfolgte computergestützt unter der Verwendung der Software MAXQDA entsprechend dem „Multi-Case-Design“ von Yin (2014) zweistufig [24]. Zunächst wurden dabei die einzelnen Fälle im Zuge einer „Within-Case Analyse“ untersucht. Anschließend wurde eine fallübergreifende Analyse

Ersatzdienstleistungen

RideHailing / eHailing

Stakeholder-Modell

Betreiber neuer, geteilter Mobilitätsdienstleitungen

CarSharing Stations-basiertFreeFloating

RideSharing / dynamische Shuttle-Dienste

Dienstleister/Zulieferer

„Mobility-as-a-Service“

ZuliefererSoftwareHardware (Fahrzeuge / Technologien)Infrastruktur

Angrenzende Branchen

Automobilhersteller

Energieversorger

öffentlicherPersonenverkehr

Wissenschaft und Marktforschung

Page 440: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Darstellung von kritischen Erfolgsfaktoren 443

(„Cross-Case Analyse“) durchgeführt, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede der einzelnen Fälle zu identifizieren [24].

10.5 Darstellung von kritischen Erfolgsfaktoren

Die in den Interviews erhobenen Daten sind in der Analyse soweit aufbereitet, strukturiert und bewertet worden, dass letztlich „erfolgskritische Elemente“ von Geschäftsmodellen im Kontext der urbanen, geteilten Mobilität abgeleitet werden konnten. Diese Elemente stellen dabei die relevanten Faktoren für Geschäftsmo-dell-Innovationen dar. Anschließend erfolgte in Hinblick auf den Geschäftsmodell-Kontext die Zuordnung zu den vier Hauptkategorien des Business Modell Canvas sowie die Bündelung zu thematischen Sub-Kategorien. Aufgrund der Relevanz der externen Einflussfaktoren wurde zudem das Geschäftsmodell-Umfeld als weitere Kategorie betrachtet.

Geschäftsmodell-Umfeld

Die durchgeführte Analyse zeigt, dass die Einflussfaktoren des Umfeldes eine we-sentliche Bedeutung für den Erfolg von Geschäftsmodellen im Kontext der urba-nen, geteilten Mobilität haben. So werden insbesondere die politischen und gesetzli-chen Rahmenbedingungen über den Erfolg und Misserfolg von Geschäftsmodellen bzw. Geschäftsmodell-Innovationen entscheiden. Dabei sind Reglementierungen über die Parkraumbewirtschaftung sowie des Fahrzeugbesitzes im urbanen Raum besonders erfolgskritisch für künftige Geschäftsmodelle. Auch die Regelungen zum Personenbeförderungsgesetz zeigen sich entscheidend für die Implementie-rung von neuen Mobilitätsangeboten.

Gleichzeitig werden die technologischen Rahmenbedingungen, insbesondere teil-au-tonomen Fahrzeugsysteme disruptive Mobilitätsangebote ermöglichen und ur-bane, geteilten Konzepte weiter in den Massenmarkt verhelfen. Ebenfalls konnte klar aufgezeigt werden, dass die Verfügbarkeit von Elektrofahrzeugen sowie der Be-reitstellung entsprechender Infrastruktur ein starker Treiber für neue Geschäfts-modelle in der urbanen Mobilität darstellt.

Ein weiterer erfolgskritischer Faktor spiegeln die veränderten Kundenbedürfnisse wi-der: So suchen Menschen in urbanen Zentren vermehrt nach Alternativen zum Au-tobesitz, werden zunehmend offener gegenüber neuen Mobilitätskonzepten und möchten diese digital unterstützt konsumieren.

Page 441: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

444 Erfolgsfaktoren von urbanen, geteilten Mobilitätsdienstleistungen

Auch scheint es, dass die Anzahl an Anbietern von geteilten Mobilitätsdienstleistun-gen weiter stark anwachsen wird. Ebenfalls werden sich verstärkt Ersatzdienstleis-tungen wie oder RideHailing bzw. eHailing am Markt etablieren und zu einer stär-keren Angebotsvielfalt im Kontext der urbanen, geteilten Mobilität beitragen.

Werteangebot Ein zentraler Aspekt, welcher in der Untersuchung identifiziert wurde, liegt in der zunehmenden Ausdifferenzierung des Werteangebotes. Hierbei werden künftig mehr Nutzungsbedürfnisse („Use-Cases“) der Kunden abgedeckt werden müssen. Die heutigen CarSharing-Angebote (stationsbasiert und FreeFloating) werden da-bei vermehrt zu einem kombinierten System verschmelzen, welches geplante und spontane Fahrten sowie One-Way und Round-Trip Fahrten abdeckt („Konvergenz der Systeme“). Dabei werden die Betreiber von urbanen, geteilten Flotten vermehrt auch Nischenangebote anbieten um die Auslastung der Fahrzeuge zu erhöhen und erweiterte Kundengruppen anzusprechen.

Zudem werden sich Dienstleistungs-Provider am Markt etablieren, welche insbeson-dere Angebote für die erste und letzte Meile offerieren. Eine weitere Komponente künftiger Geschäftsmodelle wird in Angeboten für Infrastruktur, Plattform und Mobilitätkontingente gesehen. Infrastruktur-Provider stellen dabei beispielsweise Fahrzeuge, Stellplätze oder Ladeinfrastruktur für die Betreiber von geteilten Flot-ten zur Verfügung. Plattformbetreiber bieten betreiberübergreifende Buchungs- und Informationsmöglichen für die Nutzer an. Ebenfalls wird in der Bereitstellung von Mobilitätskontingenten (z. B. betreiberübergreifende Minutenpakete) eine er-folgsversprechende Komponente für künftige Geschäftsmodelle gesehen.

Ein wesentlicher Faktor im Rahmen des Werteangebotes sind zudem Daten-getrie-bene Angebote, welche personalisierte Bewegungsdaten in Echtzeit („Local-Based-Content“) verwenden und viele digitale Geschäftsmodelle ermöglichen werden und einen erheblichen Mehrwert für Kunden und Betreiber darstellen. Ein weiterer erfolgsversprechender Faktor ist im Umgang bzw. der Vermarktung mit persönli-chen Mobilitätsdaten zu sehen.

Kundenschnittstelle Neben der Diversifikation des Angebotes konnte im Zuge der Untersuchung auch identifiziert werden, dass eine Ausdifferenzierung der Kundengruppen stattfinden wird. Dabei wird zukünftig weniger das spezifische CarSharing-System (stations-basiert oder FreeFloating) bzw. die Größe der Stadt bei der Implementierung neuer Angebote in den Vordergrund rücken, als die vielmehr die konkreten Kundenseg-mente bzw. der konkrete Kundennutzen. Neben der heutigen Abgrenzung nach

Page 442: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Darstellung von kritischen Erfolgsfaktoren 445

der Stadtgröße wird es zunehmend auch einen Differenzierung der Kundengrup-pen nach Solvenz sowie nach dem Alter der Nutzer geben. Ebenfalls konnte in der Analyse gezeigt werden, dass neben den Endkunden auch die Geschäftskunden (Un-ternehmen, Flottenbetreiber sowie Datenvermarkter) im Kontext urbaner, geteilter Mobilitätskonzepte weiter stark an Bedeutung gewinnen werden.

Ein wesentlicher erfolgskritischer Faktor ist im Abbau von Zugangsbarrieren zu den Mobilitätsangeboten zu sehen. So können insbesondere rein digitale Kunden-schnittstellen den Zugang zu neuen Mobilitätsangeboten für Kunden erheblich be-günstigen. Dabei scheint eine Integration in bestehende Verkehrssysteme bzw. enge Verzahnung mit diesen in Form von Mobilitäts-Stationen („Moblity Hubs“) erfolgsversprechend.

Geschäftsinfrastruktur In Bezug auf die Geschäftsinfrastruktur konnte die hohe Bedeutung der Partner-schaften in der durchgeführten Analyse herausgestellt werden. So wird insbeson-dere in der Kooperation mit brancheninternen Partnern ein erfolgversprechender An-satz für Geschäftsmodell-Innovationen in der urbanen, geteilten Mobilität gesehen. Durch die Vernetzung der Angebote können hier deutliche Mehrwerte für die Kunden erzielt werden. Gleichzeitig erscheinen auch Kooperationen mit branchen-fremden Partnern erfolgsversprechend um neue Kundengruppen zu gewinnen und neue Dienstleistungen zu offerieren.

Ebenfalls erfolgsentscheidend für künftige Geschäftsmodelle sind eine gute Dispo-sition der Fahrzeuge mit der Erzielung einer hohen Auslastung sowie der Sicherstel-lung eine Verfügbarkeit für die Nutzer.

Finanzstruktur In der durchgeführten Untersuchung konnte hinsichtlich der Kostenstruktur als wesentlicher Aspekt herausgestellt werden, dass sich der heutige CarSharing Markt als äußerst preisgetrieben darstellt und derzeit nur geringe Margen im ope-rativen Betrieb erzielbar sind. Künftig werden Anbieter urbaner, geteilter Mobili-tätskonzepte den Nutzern urbaner, geteilter Mobilitätskonzepte zunehmend neue Preismodelle wie Flatrate-Modell, Minutenpakte oder dynamische Preismodelle of-ferieren. Ein weiterer erfolgsversprechender Faktor wird in der Erzielung von zu-sätzlichen Umsatzströmen, beispielsweise in der Vermarktung von personalisierten Mobilitätsdaten oder Zusatzdienstleistungen gesehen.

In der Tabelle 10.1 sind die erfolgskritischen Elemente je Haupt- und Subkategorie zusammenfassend dargestellt.

Page 443: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

446 Erfolgsfaktoren von urbanen, geteilten Mobilitätsdienstleistungen

Tabelle 10.1 Erfolgskritische Elemente von künftigen Geschäftsmodellen

Hauptkategorie

Sub-Kategorie Erfolgskritische Elemente

Geschäftsmodell- Umfeld

Politische Rahmenbedingungen

Parkraumbewirtschaftung, Fahrzeugbesitz, Personen-beförderungsgesetz

Technologische Rahmenbedingungen

(Teil-)Autonome Fahrzeugtechnologien, Elektrofahr-zeuge und Infrastruktur

Kundenbedarf- und -nachfrage

Akzeptanz der Bevölkerung, digitaler Konsum von Mobilität, Umgang mit persönlichen Mobilitätsdaten

Wettbewerb / Ersatzdienstleistungen

Anzahl der Angebote an geteilten Mobilitätskonzepten, RideHailing-Angebote

Werteangebot Originäre Angebote Kombinierte Angebote, Nischenangebote

Dienstleistungen First-/Last-Mile-Dienstleistungen, Dienstleistungs-provider für Plattformen, Infrastruktur sowie Mobili-tätskontingente

Daten-basierte Services

Verwertung von persönlichen Mobilitätsdaten, Local-Based-Content

Technologie-basierte Ser-vices

(Teil-)Autonome Fahrzeugtechnologien

Kunden- schnittstelle

Kundengruppen Kunden nach Solvenz und Alter, Städte nach Größe, Geschäftskunden, Flottenbetreiber, Datenvermarkter

Kundenbeziehung Rein digitale Kanäle, Mobilitäts-Stationen

Geschäfts- infrastruktur

Schlüsselpartnerschaften Kooperationen mit Branchenfremden und –internen

Schlüsselaktivitäten Auslastung und Disposition der bestehenden Fahr-zeuge, Sicherstellung einer Verfügbarkeit von Fahr-zeugen

Finanzstruktur Kostenstruktur Parkplatzkosten, Disposition der Fahrzeuge

Preismodelle Flatrate-Modelle, Minutenpakete, dynamische Preis-modelle

Zusätzliche Umsatzströme

Vermarktung von persönlichen Mobilitätsdaten, Zu-satzdienstleistungen

Quelle: Eigene Darstellung

Page 444: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Zusammenfassung 447

10.6 Zusammenfassung

In der vorliegenden Untersuchung wurden in einem methodischen Ansatz erfolgs-kritische Elemente für Geschäftsmodell-Innovationen im Kontext urbaner, geteil-ter Mobilität identifiziert.

Insbesondere konnte die hohe Relevanz der externen Einflussfaktoren (Geschäfts-modell-Umwelt) aufgezeigt werden. So stellen sich die politischen und gesetzli-chen Rahmenbedingungen als besonders erfolgskritisch für die Implementierung von neuen, geteilten Mobilitätsdienstleistungen dar. Gleichzeitig erscheint die ver-änderte Kundennachfrage bzw. der Kundenbedarf ein wesentlicher Faktor für die künftige Geschäftsmodellierung. Hierdurch wird es zu einer starken Ausdifferen-zierung des Werteangebotes kommen, um eine Vielzahl an Nutzungsbedürfnissen („Use-Cases“) abzudecken. Einen Fokus stellen hierbei Nischen- und Daten-getrie-bene Angebote dar, welche insbesondere durch digitale Kanäle den Nutzern offe-riert werden.

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[19] Spulber, Adela; Dennis, Eric Paul; Wallace, Riachard; Schultz, Michael (2016): The Im-pact of New Mobility Services on the Automotive Industry. Hg. v. Center for automotive reserach. Ann Arbor.

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Page 446: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

11 Untersuchung öffentlicher E-Mobility Ladeinfrastruktur

Schlussfolgerungen zu Anforderungen für Ladekonzepte und europäischen Autobahn-Ladeinfrastruktur

Prof. Dr.-Ing. R. Wörner, D. Schneider, M. Eckhardt (Hochschule Esslingen), Dr. H. Braun (Daimler AG), Prof. Dr. G. Fournier (Hochschule Pforzheim)

11 Untersuchung öffentlicher E-Mobility Ladeinfrastruktur 449

Zusammenfassung ........................................................................................................ 45011.1 Einleitung ..................................................................................................... 45011.2 Anforderungen durch Elektrofahrzeuge ................................................. 45111.3 Status quo d. Ladeinfrastruktur Europas ................................................ 45711.4 Zusammenfassung ...................................................................................... 465

Literatur ........................................................................................................................ 466

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_28

Page 447: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

450 Untersuchung öffentlicher E-Mobility Ladeinfrastruktur

Zusammenfassung

Die Elektromobilität ist gegenwärtig noch durch die Energiespeicherdichte von Batteriesystemen limitiert. Darüber hinaus sind die bestehenden Kundenanforde-rungen an nahezu unbegrenzter Mobilität durch eine noch nicht ausreichende La-deinfrastruktur eingeschränkt.

Basierend auf einer exemplarischen Studie am Beispiel für Langstreckenfahrten auf unterschiedlichen EU-Autobahnstrecken werden die derzeitigen Grenzen der bestehenden Ladeinfrastruktur betrachtet. Zudem werden Anforderungen für Mindestabstände zwischen den Ladesäulen, sowie Ladetechnologien aufgezeigt.

Abschließend wird beispielhaft, für einen ausgewählten Streckenabschnitt mit überproportional hoher Verkehrsdichte, eine Berechnung der lokal erforderlichen Ladesäulenanzahl und Flächenbedarfe durchgeführt, sowie mit bestehenden Flä-chen einer in diesem lokalen Umfeld angesiedelten Autobahn-Raststätte vergli-chen.

11.1 Einleitung

Ausgehend von einer politischen Zielsetzung zur globalen Limitierung der CO2-Emissionen konnte im Jahr 2016 im Rahmen des Pariser Abkommens [1] die Wil-lenserklärung zur Reduktion der CO2-Emissionen um 40% bis 2030 sowie 80% bis 2050 vertraglich ratifiziert werden [2]. Dies wird wesentlich getragen durch die Po-sition der Hauptemittenten USA, China, Indien und Europa.

Unterstützend hierzu formieren sich in diesen führenden Industrienationen natio-nale Bestrebungen zur weiteren Beschränkung der CO2-Emissionen für Fahrzeuge im Straßenverkehr. Innerhalb der EU beispielsweise durch Vorgabe von Flotten-durchschnittsverbräuchen ab 2020 [3], die in ähnlicher Form auch in China und den USA unter ergänzenden Vorgaben von Mindestquoten für Elektrofahrzeuge greifen. Diese Regularien zwingen die Automobilhersteller kurz- und mittelfristig zu einer weitergehenden Effizienzsteigerung der Antriebstechnologie in diesen wesentlichen Absatzmärkten.

Ferner ist, getragen durch ein unverändertes Wachstum der Ballungsräume, ins-besondere in den Schwellenländern Brasilien, Russland, Indien und China (sog. BRIC-Staaten) immer größerem Verkehrsaufkommen zu rechnen. Bedingt durch die noch immer hohe Belastung der Metropolen anhand der auch für urbane Po-

Page 448: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Anforderungen durch Elektrofahrzeuge 451

pulation gesundheitsgefährdenden Stickoxid- und Partikelemissionen, ist eine stu-fenweise Reglementierung des Individualverkehrs und Verriegelung der Innen-städte ggü. dem Verkehrsaufkommen mit klassischen Verbrennungsmotoren not-wendig. Dies fordert auch den Endkunden zur Anpassung seiner Wahl des geeig-neten Mobilitätskonzeptes oder Fahrzeugantriebskonzeptes auf.

In allen o.g. Fällen nimmt die Elektromobilität eine wesentliche Rolle zur Lösung der Fragestellungen ein, deren Erfolg hängt jedoch entscheidend von der Kunden-akzeptanz ab.

Im Unterschied zu konventionellen verbrennungsmotorischen Antrieben ist die heutige Energiespeicherdichte von batteriegetriebenen Elektrofahrzeugen aller-dings um ein vielfaches geringer. Aufgrund limitierter Reichweiten nimmt die not-wendige Ladeinfrastruktur für Elektromobile eine Schlüsselrolle zur Kundenak-zeptanz ein. Der Aufbau erfolgt mehrheitlich durch private Anbieter und unter-liegt nicht zuletzt auch wirtschaftlichen Gesichtspunkten, welche nur partiell durch eine staatliche Förderung gelenkt werden können.

11.2 Anforderungen durch Elektrofahrzeuge

Um die Anforderungen an eine Ladeinfrastruktur besser spezifizieren zu können, ist in einem ersten Schritt eine Analyse des Angebotes an batteriegetriebenen Elekt-rofahrzeugen erforderlich.

Betrachtet man die EU-weiten Neuzulassungen, so sind mehr als 80% dem A- bis C-Segment zugehörig, dem darüberliegenden Segment können nur ca. 15% bis 20% der Neuzulassungen zugeordnet werden. Abbildung 11.1 zeigt die bis zum Ende 2015 innerhalb der EU registrieren Neuzulassungen an Elektrofahrzeugen, unter Hervorhebung der anteilig in Deutschland [4] zugelassenen Elektrofahr-zeuge26.

26 grüne Säulenelemente

Page 449: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

452 Untersuchung öffentlicher E-Mobility Ladeinfrastruktur

Abbildung 11.1 Verteilung der Neuzulassungen innerhalb Europa & Deutsch-land

Quelle: [4]

Klassifiziert man diese Fahrzeuge nach deren Energiekapazitäten, so ergibt sich eine vereinfachte Gliederung in zwei Gruppen, wovon alle Fahrzeuge im A- bis C-Segment durchweg eine Begrenzung auf derzeit weniger als 40 kWh aufweisen. Lediglich die darüberliegenden Segment-Typen erlauben eine Batteriekapazität von bis zu 100 kWh. Dies wird durch Abbildung 11.2 zusammenfassend darge-stellt.

Abbildung 11.2 Aufteilung der Energiespeicherkapazitäten für Elektrofahr-zeuge

Verteilung der Kapazität über die populärsten Fahrzeuge

Um anhand dieser Angaben zu einer verlässlichen Prognose der real möglichen

Page 450: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Anforderungen durch Elektrofahrzeuge 453

Reichweite zu gelangen, sei zunächst noch auf den Einfluss der Fahrgeschwindig-keit bezüglich des Energiebedarfes hingewiesen. Dieser führt gemäß Abbildung 11.3 mit Zunahme der Fahrgeschwindigkeit zu einer signifikanten Einschränkung der (Rest-)Reichweite ggü. dem Basiswert27.

Abbildung 11.3 Einfluss der Fahrgeschwindigkeit auf den Energiebedarf

Ordnet man dieses Verhalten jedem der beiden betrachteten Klassen an Elektro-fahrzeugen28 zu, so kann damit die Spanne der tatsächlichen Reichweite in Abhän-gigkeit des realen Fahrverhaltens ermittelt werden (siehe Abbildung 11.3).

Diese Spannen der erzielbaren Reichweiten können auf ein Fahrmuster gemäß ei-nes neueuropäischen Fahrzyklus (sog. NEFZ) sowie alternativ eines „worst-case“-Szenarios mit einer erreichbaren Durchschnittsgeschwindigkeit von 100 km/h29 re-duziert werden, um damit die Einschränkung der Reichweitenprognose herauszu-arbeiten (siehe Abbildung 11.4).

27 Durchschnittsgeschwindigkeit aus EUDC = 70 km/h 28 Reichweite 1 = 40 kWh Batteriekapazität, Reichweite 2 = 100 kWh 29 Durchschnittsgeschwindigkeit gemäß sHigh-Anteil aus WLTP-Zyklus

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454 Untersuchung öffentlicher E-Mobility Ladeinfrastruktur

Abbildung 11.4 Prognose der (Rest-)Reichweite bei unterschiedlichen Fahr-verhaltensmustern

Für die weiteren Betrachtungen wird daher gemäß der in zwei Gruppen klassifi-zierten Fahrzeugtypen auf eine Reichweitenprognose von wahlweise < 150 km (< 40 kWh) für Stadtfahrzeuge bzw. von < 400 km (< 100 kWh) für Mittelstreckenfahr-zeuge ausgegangen. Für zukünftige Fahrzeugkonzepte wird ferner eine Reich-weite von < 800 km (< 200 kWh) als sogenanntes Langstreckenfahrzeug mitberück-sichtigt.

Anhand dieser Reichweitenprognosen kann in einem abschließenden Schritt noch die erforderliche Abdeckung an Ladesäulen ermittelt werden. Hierzu wird als mögliche Grenze einer Energieentnahme die für Batterien zur Aufrechterhaltung einer hohen Zyklenfestigkeit erforderliche prozentuale Mindestenergiespeicher-menge von 20% angesetzt. Wendet man diese Grenze auf jeden der zuvor genann-ten Fahrzeugtypen an und berücksichtigt ferner einen Vorhalt von 10% für höhere Energiebedarfe aus tatsächlichen Fahrverhaltensmustern, so ergibt sich ein Nut-zungsradius bis zur notwendigen Erreichung einer nächsten Ladesäule (siehe Ab-bildung 11.5).

Page 452: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Anforderungen durch Elektrofahrzeuge 455

Abbildung 11.5 Erforderlicher Nutzungsradius in Abhängigkeit der Restreich-weite

Dieses Abstandsmaß entspricht jedoch noch nicht dem notwendigen Mindestab-stand zweier Ladesäulen, daher sei dieser Sachverhalt nochmals separat dargelegt. Das nachfolgende Schema greift den Gedanken eines minimalen Abstands aus der Überlegung von Packungsdichten von Molekülen in ihrer Flächenprojektion auf (siehe Abbildung 11.6).

Abbildung 11.6 Erforderlicher Abstand von Ladesäulen in Abhängigkeit der Restreichweite

Dabei wird ersichtlich, dass ausgehend von einem Wirkmittelpunkt des Elektro-fahrzeuges die Restreichweite durch drei Kreise mit jeweils gleichem Abstand aus jedem der Kreismittelpunkte geometrisch ermittelt werden kann. Nachdem diese Geometrie ein gleichschenkliges Dreieck abbildet, kann der Abstand der drei mög-lichen umgebenden Ladesäulen nunmehr errechnet werden. Deren Ergebnisse sind in der Abbildung 11.7 nochmals für die drei bislang betrachteten Fahrzeug-typen dargestellt.

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456 Untersuchung öffentlicher E-Mobility Ladeinfrastruktur

Abbildung 11.7 Maximaler Abstand von Ladesäulen in Abhängigkeit der Rest-reichweite

Gemäß dieser Betrachtung ist für den kritischen Fall eines Stadtfahrzeuges eine Flächendichte für Ladesäulen von weniger als ca. 150 km² - 160 km² pro Ladesäule notwendig. Damit können die (Einzel-)Kundenanforderungen hinsichtlich Nut-zungsradius ab Erreichen der Restreichweite erfüllt werden. Im Falle von Mittel- bzw. Langstreckenfahrzeugen entspannt sich dieser Richtwert für Installationen auf Streckenabschnitten. Für Bundesstraßen und Autobahnen verbleibt eine Flä-chendichte von ca. 1000 km² pro Ladesäule. Eine Aussage über die Anzahl der An-schlüsse pro Ladesäule ist noch nicht enthalten, da diese essentiell vom Szenario einer Penetration des Straßenverkehrs mit Elektrofahrzeugen abhängt.

Eine Prognose der für den (Einzel-)Kunden relevanten Ladedauer bei einfachem Wiederaufladen zu allen o.g. Fällen gelingt durch Berücksichtigung der in der EU verbreitetsten Ladekonzepte nach IEC 62196-1/-2/-3 Diese liegen in der Regel für AC-Ladekonzepte zwischen 22 kW und 43 kW (Typ 2-Stecker), sowie für DC-La-dekonzepte bei max. 150 kW (Combo 2-Stecker).

In Anbetracht der aus früheren Studien bereits abgeleiteten Kundenanforderungen an eine maximal akzeptierte Ladedauer für gängige Situationen im Tagesverlauf30, ist die mittelfristige Aufrechterhaltung begrenzt mit Anschlüssen des Typ 2 und

30 < 30 min für z.B. Einkäufe/Zwischenstopps; < 60 min für Freizeitaktivitäten; < 180 min für

Berufspendler

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Status quo d. Ladeinfrastruktur Europas 457

43 kW Ladeleistung möglich. Dies jedoch auch nur für Kunden mit Reichweiten-erwartung von < 150km in urbanen Arealen für sog. Freizeitaktivitäten oder Be-rufs- bzw. Ausbildungszwecke. In allen anderen Situationen ist demgegenüber der Aufbau einer Combo-basierten Schnellladeinfrastruktur mit einer Ladeleistung von 150 kW unumgänglich.

Abbildung 11.8 fasst die Ergebnisse dieser Betrachtung graphisch zusammen.

Abbildung 11.8 Ladezeit in Abhängigkeit von Ladeleistung & Reichweite/Bat-teriekonzept

11.3 Status quo d. Ladeinfrastruktur Europas

Nachdem aus den technischen Randbedingungen des Einzelfahrzeuges einfache Kriterien abgeleitet werden konnten, die eine Aussage zur minimal erforderlichen Ladeinfrastruktur und deren technischen Ausführung erlauben, sei in diesem nächsten Abschnitt ein Vergleich mit dem aktuellen Status quo für wesentliche Länder innerhalb von Europa gezogen. Die kritische Grenze sei über den im Kapi-tel 11.2 zitierten Flächen-/Ladesäulenquotienten von ca. < 150 km² definiert.

Legt man dabei die aktuell registrierte Anzahl an geographisch abgegrenzten Standorten für Ladesäulen zugrunde [5 bis 7], und setzt diese in Verhältnis zur Fläche der zu betrachtenden Länder in Europa, so ergibt sich zunächst gemäß Ab-bildung 11.9 eine entspannte Situation für die Mehrheit aller Länder. Demnach würden lediglich die Länder Schweden, Spanien und Italien keine ausreichende

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458 Untersuchung öffentlicher E-Mobility Ladeinfrastruktur

Flächenabdeckung an Ladesäulen bieten.

Abbildung 11.9 Flächenabdeckung aller Ladesäulen für Länder innerhalb Eu-ropas

Nachdem jedoch in einer weiteren Betrachtung im Kapitel 11.2 ein Kriterium zur Ladesäulentechnologie über deren Leistungsvermögen von > 43 kW erarbeitet wurde, muss o.g. Darstellung noch um diese Anforderung bereinigt werden. Die auf eine Nutzung von Ladesäulen mit erhöhtem Leistungsvermögen begrenzte Anzahl relativiert die ursprüngliche Darstellung, siehe hierzu Abbildung 11.10.

Abbildung 11.10 Flächenabdeckung von Ladesäulen > 43 kW Ladeleistung in-nerhalb Europas

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Status quo d. Ladeinfrastruktur Europas 459

Nunmehr ist zusätzlich auch in den Ländern Deutschland und Österreich, Frank-reich und England ein Handlungsbedarf erkennbar, um den landesweiten Erfül-lungsgrad für Ladesäulen-Abdeckungen von ca. 150 km² gewährleisten zu können. Diese Darstellungen wurden bereits um alle in Metropolen verankerten Ladesäu-len bereinigt, damit der Einfluss der in dichtbesiedelten Ballungsgebieten statio-nierten Ladesäulen31 ausgeklammert werden kann.

Daher wäre ggü. der aktuellen Situation eine leichte Erhöhung der erforderlichen Ladeinfrastruktur-Flächendichte auf Basis von Ladesäulen mit ~43 kW-Ladeleis-tung zumindest im Falle von Österreich erforderlich. Im Falle von Italien, Schwe-den und England wäre sogar eine Erhöhung um den Faktor 5 notwendig. Noch größere Anstrengungen wären im Falle von Spanien nötig. Vorbildlich hingegen wäre gemäß dieser landesweit flächenbezogen normalisierten Betrachtung die der-zeitige Situation in Norwegen, den Niederlanden, sowie der Schweiz.

Erneut sei darauf hingewiesen, dass anhand dieser Vorgaben noch keine Aussagen über die Absolutzahlen und genauen Positionen der erforderlichen Ladesäulen möglich sind. Diese Berechnungen gehen lediglich auf die notwendigen Mindest-abstände der Ladeinfrastruktur, nicht jedoch auf die Anzahl der notwendigen La-desäulen ein.

Neben der Betrachtung einer bereinigt auf > 43 kW Ladeleistung verfügbaren La-desäulen-Infrastruktur ist jedoch noch die Kundenakzeptanz bei Langstrecken-Nutzung im Hinblick auf erforderlichen Ladezeiten bzw. Reiseverzugszeiten not-wendig. Um dieses Zusammenspiel der Einflussgröße Ladeinfrastruktur-Verfüg-barkeit und Ladeleistungskapazität modellhaft zu erfassen, werden nachfolgend mehrere exemplarische Langstrecken-(Autobahn-)Abschnitte genauer erfasst. Diese Strecken werden jeweils mit einem repräsentativen Fahrzeug aus dem A-C-Segment32, sowie einem weiteren Fahrzeug aus dem höheren Segment33 simu-liert.

Die innerhalb Europa exemplarisch ausgewählten Langstrecken von ca. 650 km – 800 km einfacher Distanz umfassen drei Routen34.

Dabei werden Strecken(teil-)abschnitte jeweils farblich differenziert nach deren

31 ca. 30% - 40% der insgesamt aufgestellten Ladesäulen 32 Reichweite < 200 km, Batteriekapazität < 40 kWh 33 Reichweite < 400 km, Batteriekapazität < 80 kWh 34 von Stuttgart über Zürich und Mailand bis Nizza; von Stuttgart über Koblenz, Aachen und

Utrecht bis Amsterdam; von Paris über Auxerre und Besancon, Mühlhausen und Basel bis Zürich

Page 457: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

460 Untersuchung öffentlicher E-Mobility Ladeinfrastruktur

Anbindung an Ladeinfrastruktur [5 bis 7]. Lademöglichkeiten auf der Strecke bzw. im nahen Umfeld von < 5 km werden grün dargestellt. Ladepunkte im direkten Umfeld der Strecke nach Verlassen der Autobahn mit einem Abstand < 15 km sind gelb aufgezeigt. Rot hinterlegte Abschnitte weisen Ladestationen im erweiterten Umfeld der Strecke mit einem Mindestabstand zum Abfahrtspunkt der Haupt-route mit 20 km – 40 km auf. Ferner wird jeweils eine Angabe zur Fahrzeit und der, unter Einrechnung der minimalen Ladezeit, sich ergebenen Reisezeit getroffen.

Im Falle der erstgenannten Streckenführung von Stuttgart nach Nizza ergibt sich ein ähnliches Bild, welches bereits aus dem zuvor vollzogenen Flächen-/Ladeinf-rastruktur-Quotienten erkennbar war. Insbesondere auf dem Abschnitt innerhalb Italien ist mit größeren Distanzabschnitten zu rechnen, die nur durch erhebliche Abweichung von der Standardroute einen Zugriff auf ausweichende Ladeinfra-struktur erlauben. Auch das Verhältnis von Reise- zu Fahrtzeit ist selbst unter Nut-zung eines Fahrzeuges mit mittlerer Reichweite (> 400 km) und der damit verbun-denen reduzierten Anzahl von zwei Ladevorgängen noch immer im Bereich von Faktor 1.8 für den Kunden inakzeptabel hoch (Abbildung 11.11). Dies liegt daran, dass im gesamten Streckenabschnitt bis dato nur Ladeleistungen von 43 kW im Nahumfeld (< 5 km) verfügbar sind. Zum Vergleich wurde ein Schnellladenetz ge-genübergestellt, deren Säulenabstände mit 100 km – 150 km im gesamten Strecken-abschnitt zum Liegen kommen. Mit einer angenommenen Schnellladetechnik von 150 kW Ladeleistung gelingt eine Annäherung an akzeptable Verlustfaktoren von < 1.3.

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Status quo d. Ladeinfrastruktur Europas 461

Abbildung 11.11 Simulation einer Langstrecke Stuttgart – Nizza für Elektrofahr-zeuge

Nimmt man den Fall der zweitgenannten Streckenführung von Stuttgart nach Amsterdam, so ergibt sich ein abweichendes Bild hinsichtlich der Verfügbarkeit an Ladeinfrastruktur. Im fast gesamten Streckenbereich kann von einer abgesicherten Verfügbarkeit an Ladeinfrastruktur ausgegangen werden, siehe hierzu Abbildung 11.12. Bei einer Anzahl von nur einem Ladevorgang im Fall des Mittelstreckenfahr-zeuges kann darüber hinaus das Verhältnis von Reise- zu Fahrzeit auf einen Faktor 1.6 abgesenkt werden. Eine weitere Verbesserung wird auch hier alleinig verwehrt durch die begrenzten Ladeleistungen von 43 kW an fast allen naheliegenden Stati-onen (< 5 km). Auch hier zeigt sich die Notwendigkeit einer Schnellladeinfrastruk-tur mit CCS-basierter Ladeleistung von 150 kW zur Erzielung geringer Reisezeit-Verlustfaktoren von < 1.25, die jedoch, Stand heute, auf Basis des CCS-Standard noch nicht in ausreichender Dichte verfügbar ist.

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462 Untersuchung öffentlicher E-Mobility Ladeinfrastruktur

Abbildung 11.12 Simulation einer Langstrecke Stuttgart – Amsterdam für Elekt-rofahrzeuge

Abschließend sei noch der Fall einer Strecke von Paris nach Zürich betrachtet. Ähn-lich wie im ersten Fall ist auch hier auf weiten Streckenabschnitten eine Zugäng-lichkeit der Ladeinfrastruktur nur unter Verlassen der Autobahn mit Wegabschnit-ten von bis zu 15 km möglich, ferner ist auch in diesem Fall das Verhältnis von Reise- zu Ladezeit mit einem Faktor 2.1 zu hoch (siehe Abbildung 11.13).

Page 460: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Status quo d. Ladeinfrastruktur Europas 463

Abbildung 11.13 Simulation einer Langstrecke Paris – Zürich für Elektrofahr-zeuge

In allen betrachteten Fälle wäre eine nachhaltige Verbesserung35 für Mittel- und Langstreckenfahrten nur darstellbar, wenn sowohl die Anzahl der Ladevorgänge auf maximal einen Ladevorgang begrenzt wäre, als auch die dazu erforderliche Zeitdauer durch Einsatz von standardisierten Schnellladekonzepten vom Typ CCS mit mindestens 150 kW Ladeleistung deutlich reduziert werden könnte. Dies er-fordert jedoch eine konzertierte Verbesserung der heutigen Ladeinfrastruktur im gesamten Kerngebiet Europas.

Abschließend sei noch betrachtet, welche Anzahl an Ladesäulen pro eingerichte-tem Ladeinfrastrukturpunkt erforderlich ist, um entsprechend dem Verkehrsauf-kommen an jedem Ladeinfrastrukturpunkt eine verzögerungsfreie Betankung zu ermöglichen. Dies wird exemplarisch anhand des mehrfach zitierten Startpunktes für Langstreckenfahrten in Europa am Autobahnstreckenabschnitt auf Höhe Stutt-gart/Vaihinger Kreuz durchgeführt. Dazu werden die aus Verkehrszählungen er-mittelten Verkehrsdaten herangezogen [8] und mit den bislang betrachteten Mit-telstrecken-Fahrzeuganforderungen kombiniert (siehe Abbildung 11.14).

35 und damit erhöhte Kundenakzeptanz

Page 461: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

464 Untersuchung öffentlicher E-Mobility Ladeinfrastruktur

Abbildung 11.14 Prämissen zur Bedarfsermittlung für Schnellladesäulen-Infra-struktur

Unter der Annahme einer idealen Abdeckung mit Abstand zwischen zwei benach-barten Ladesäulen-Knotenpunkten von ca. 31 km ergibt sich bei einer angenom-menen Reichweite der Mittelstreckenfahrzeuge von 400 km ein durchschnittlicher lokaler Ladebedarf von ca. 8% des örtlichen elektromobilen Verkehrsflusses. Am Beispiel des Autobahnstreckenabschnitts Stuttgart Vaihingen, der deutschland-weit zu den Streckenabschnitten mit höchster Verkehrsstärke zählt, ergibt sich un-ter Berücksichtigung des Schwerlastfahrzeugbetriebs mit anteilig ca. 10% eine Be-darfszahl von ca. 6.750 zu betankenden Fahrzeugen pro Tag, sofern alle PKW mit batteriegetriebenem Elektroantrieb ausgerüstet wären. Unter der weiteren An-nahme eines Pendlerverkehrsaufkommens von ca. 50% [9] verbleibt dann eine Be-darfszahl aufzuladender Fahrzeuge von ca. 3.360 – 3.370 Fahrzeugen pro Tag. Nun kann für den Fall unterschiedlicher Ladekonzepte (Typ 2/AC, 50 kW bzw. CCS/DC, 150 kW) eine Berechnung der für diese Fahrzeuge erforderliche Anzahl an Ladesäulen und zugehörigen Flächenbedarfe erfolgen.

Demnach ist eine Bedienung der im Tagesverlauf eintreffenden Fahrzeuge durch Einrichtung von 112 parallelgeschalteten Ladeanschlüssen vom Typ CCS/DC mit 150 kW pro Ladeanschluss denkbar, die einen summarischen Leistungsbedarf von bis zu 17 kW abrufen könnten. Der dazu erforderliche Flächenbedarf des Ladeinf-rastruktur-Knotenpunktes liegt bei maximal 3.000 m², was einem Anteil von ca. 12% der an dieser Stelle eingerichteten Autobahn-Raststätte „Sindelfinger Wald“ entspricht. Abbildung 11.15 fasst die Ergebnisse dieser exemplarischen Berech-nung tabellarisch zusammen.

Page 462: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Zusammenfassung 465

Abbildung 11.15 Exemplarischer Lade-Knotenpunkt für Autobahn-Schnelladein-frastruktur

Geht man davon aus, dass auf den gängigen Autobahnstrecken bereits heute eine Verfügbarkeit an Rast- und Tankplätzen mit ähnlichen Abständen vorliegt, wie sie zuvor auch für die Restreichweitenabschätzung von Mittelstrecken-Elektrofahr-zeugen ermittelt wurde, so stellt diese Variante einer Auf- bzw. Umrüstung der bestehenden Rast- und Tankplätzen für den Betrieb von Elektro-Ladesäulen ein probates Mittel zur Einrichtung der geforderten Ladeinfrastruktur dar.

11.4 Zusammenfassung

Die Erfüllung zukünftiger Verbrauchs- und Emissionsanforderungen erfordert den verstärkten Einsatz von Elektrofahrzeugen, die unter Nutzung einer Batterie als Energiespeicher, in Bezug auf deren Reichweite ggü. konventionellen Antrie-ben deutlich begrenzt sind. Der Absatz von Elektrofahrzeugen gelingt jedoch nur bei Akzeptanz der Einschränkungen durch den Kunden.

Dabei erscheint die Aufrechterhaltung von Mindestreichweiten für Mittel- bzw. Langstrecken von ca. 400 km erforderlich, die aus einer Analyse bestehender Fahr-zeugtypen auch technologisch darstellbar scheint. Gepaart mit der damit verbun-denen Restreichweite ab Erreichung der für Li-Ionen Batterien kritischen Restlade-kapazität ergibt sich unter der Annahme sog. minimaler Abstände benachbarter Punkte eine Anforderung für die Ladeinfrastruktur mit Abständen von ca. 31 km zwischen benachbarten Ladestationen.

Eine Simulation ausgewählter Strecken innerhalb Europas zeigt jedoch im Falle der aktuell öffentlich zugänglichen Ladeinfrastruktur noch Reisezeitverlustfaktoren von größer 1.5….2.1, nachdem die öffentliche Ladeinfrastruktur in Europa bislang maßgeblich nur basierend auf Anschlüssen vom Typ 2/AC 43 kW eingerichtet wurde. Um die Reisezeitverluste auf einen tolerablen Bereich zu senken, muss da-her die Einrichtung von Ladestationen anstelle dessen mit Schnelladekonzepten

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466 Untersuchung öffentlicher E-Mobility Ladeinfrastruktur

erfolgen, was exemplarisch anhand der CCS/DC 150 kW Technologie für die glei-chen Strecken simuliert und nachgewiesen wurde.

Ferner sind auf den untersuchten Strecken z.T. noch größere Abschnitte nicht im erforderlichen Abstandsraster mit Ladeinfrastruktur versorgt. Die Aufrüstung von bestehenden Tank- und Rastplätzen der Autobahnstrecken mit Ladeinfrastruktur für batteriegetriebene Elektrofahrzeugen könnte dieses Defizit lösen.

Die Ermittlung der hierzu erforderlichen Flächenbedarfe für jede der Ladestatio-nen auf Autobahnabschnitten zeigt auch im Falle höherer Verkehrsdichten und vollständiger Umstellung des Straßenverkehrs auf Elektromobilität einen noch ak-zeptablen Mehrbedarf von ca. 12% mit daran geknüpften Leistungsbedarfen, die aus der Mittelspannungsnetzebene bedient werden könnten.

Literatur

[1] United Nations: Framework Convention on Climate Change, Paris 2015 [2] Dröge, S.: Das Pariser Abkommen 2015: Weichenstellung für das Klimaregime. Stiftung

Wissenschaft und Politik -SWP- Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicher-heit (Ed.). SWP-Studie 19/2015 (2015)

[3] Europäisches Parlament und Rat: Verordnung zur Festsetzung von Emissionsnormen für neue Personenkraftwagen, 2009

[4] Fahrzeugzulassungen (FZ). Bestand an Kraftfahrzeugen nach Umwelt-Merkmalen, Kraftfahrt-Bundesamt

[5] GoingElectric: Ladesäulenkarten GoingElectric, Internet 2016 [6] Chargemap.com: Ladesäulenkarten ChargeMap, Internet 2016 [7] PlugSurfing: Ladesäulenkarten PlugSurfing, Internet 2016 [8] Verkehrsministerium: Automatische Straßenverkehrszählung in Baden-Württemberg.

2016 [9] Statistisches Landesamt Baden-Württemberg: Berufspendler in Baden-Württemberg, In-

ternet 2016

Page 464: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Track 4 Digital Value Chain

Page 465: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Kurzfassung

Prof. Dr.-Ing. G. Witt, Prof. Dr.-Ing. B. Noche, Prof. Dr. M. Schreckenberg (Universität Duisburg-Essen)

Die Forschung zur Digitalen Wertschöpfungskette beschäftigt sich zunehmend mit digitalen Fertigungstechnologien, der Digitalisierung in logistischen Systemen und speziell der Digitalisierung im Verkehr. Diese Forschungsgebiete werden im vierten Teil des Tagungsbandes zum 9. Wissenschaftsforum Mobilität thematisiert.

Im ersten Themenfeld werden neueste Entwicklungen in der digitalen Fertigungs-technologie diskutiert.

H. Lager diskutiert den Forschungsstand und die Gestaltungskriterien „guter“ di-gitaler Arbeit in der Automobilindustrie 4.0.

F. Zeidler, M. ten Hompel und J. Emmerich entwickeln ein bedarfsorientiertes (on demand) Materialbereitstellungskonzept für den Einsatz im bestandsmaschinen-basierten Produk-tionsumfeld.

D. Schlüter, A. Spengler, und A. Malkwitz untersuchen Auswirkungen von Echt-zeitkommunikation in der Baustellenlogistik.

Im zweiten Themenfeld wird die Digitalisierung in logistischen Systemen betrach-tet:

J. Ollesch, M. Hasenius, V. Gruhn und C. Alias betrachten das Real-time Event-Processing für smarte Logistiknetzwerke.

L. Berger, C. Besenfelder und M. Güller untersuchen die Optimierung von Be-schaffungsentscheidungen unter Berücksichtigung der internen Logistik mithilfe der Digitalisierung der Supply Chain.

M. Klumpp, T. Neukirchen, V. Gruhn, M. Hasenius und G. Sandhaus berichten über die Digitalisierung in gewerblichen Transportprozessen durch Einbindung von Virtual Reality und Integration von Frontend und Backend in Routing- und Kundenprozesse.

Page 466: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

470 Kurzfassung

S. Schieweck, G. Kern-Isberner und M. ten Hompel untersuchen Antwortmen-genprogrammierung für autonome Fahrzeuge im innerbetrieblichen Verkehr.

Im dritten Themenfeld geht es um Digitalisierung und Verkehr:

G. Hermanns und J. Wahle bewerten crowd-basiert die Qualität von Baustellenin-formationen auf Autobahnen.

H. Hochgürtel betrachtet Big Data, d.h. GPS- und Mobilfunkdaten in der Stadt- und Verkehrsplanung und im Verkehrsmanagement.

Page 467: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

1 „Gute“ digitale Arbeit in der Automobilindustrie 4.0

Forschungsstand und Gestaltungskriterien

H. Lager (TU Dortmund)

1 „Gute“ digitale Arbeit in der Automobilindustrie 4.0 471

1.1 Einleitung ..................................................................................................... 4721.2 Entwicklungstrends und Zukunft digitaler Industriearbeit ................. 4731.3 Digitalisierung als sozio-technisches System .......................................... 4741.4 Innovative Arbeitsgestaltung und Workplace Innovation ................... 4761.5 Potentiale von WPI bei der Qualifikations- und

Kompetenzentwicklung ............................................................................. 4791.6 Fazit und Ausblick ...................................................................................... 482

Literatur ........................................................................................................................ 483

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_29

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472 „Gute“ digitale Arbeit in der Automobilindustrie 4.0

1.1 Einleitung

Die Digitalisierung stellt die deutsche Automobilindustrie aktuell und künftig vor große Herausforderungen. (Teil-)Autonomes Fahren, Elektrifizierung und die hohe Bedeutung von Big Data – um nur einige Anforderungen und Trends der Branche zu benennen – haben weitreichende Folgen für traditionelle Geschäftsmo-delle, Produktionsprozesse und Wertschöpfungsketten. Dabei gilt die Automobil-industrie in Deutschland bekanntermaßen als Schlüsselindustrie und ist durch ei-nen hohen Anteil an Fachkräften gekennzeichnet, welcher als wichtiger Wettbe-werbsfaktor fungiert (Klöppe et al. 2014, S. 251-254) [14], (Legler et al. 2009, S. 73) [21]. Z.Z. drehen sich die Debatten um die Generierung von Wettbewerbsvorteilen jedoch vor allem um die Themen der Digitalisierung bzw. Industrie 4.0 und den Einsatz digitaler Fertigungstechnologien. Kern dieser Entwicklungen ist eine Ver-netzung der realen/physischen und der virtuellen Produktionswelt im Sinne einer „Vernetzung von autonomen, sich situativ selbst steuernden, sich selbst konfigu-rierenden, wissensbasierten, sensorgestützten und räumlich verteilten Produkti-onsressourcen […] inklusive deren Planungs- und Steuerungssysteme[n]“ (Kager-mann et al. 2013, S. 24) [13]. Die anfangs euphorische Stimmung zu dieser Vision wird mittlerweile häufig von kritischen Äußerungen begleitet, die auf eine Ambi-valenz des Themas Industrie 4.0 und auf Charakterzüge eines „Hypes“ oder einer „Technikutopie“ verweisen [8] [10].

Anders als noch in der Debatte um Computer Integrated Manufacturing wird in der intelligenten Fabrik der Zukunft explizit nicht auf eine menschenleere Fabrik abgezielt, sondern die Bedeutung „lebendiger Arbeit“ und entsprechender Quali-fikationen und Kompetenzen als zentrale Erfolgsfaktoren für die Bewältigung der neuen (digitalen) Komplexität betont [1] [13]. Wie sich Arbeit in der Automobilin-dustrie vor dem Hintergrund der Digitalisierung konkret entwickeln wird, ist hin-gegen noch völlig offen. Bekannt ist jedoch, dass der Rückgriff auf die Ressource „Arbeit“ indes kein Selbstläufer, sondern vielmehr an eine Reihe von unterschied-lichen Voraussetzungen und Gestaltungsbedingungen geknüpft ist.

Der Beitrag zeigt zunächst den Forschungsstand um die Zukunft der Industriear-beit bei Industrie 4.0 auf. Darauf aufbauend wird auf konzeptioneller Ebene der Frage nachgegangen, wie die Digitalisierung gezielt gestaltet werden kann, um die Vorteile der insgesamt qualifizierten Arbeitskräfte in der Automobilindustrie auch zukünftig zu erhalten und gleichfalls die Voraussetzungen für eine – im arbeitspo-litischen Sinne – „gute“ und humane Arbeit zu gewährleisten. Darüber hinaus wird diskutiert, inwiefern das Konzept der Workplace Innovation eine Vermitt-lung entsprechender Qualifikationen und Kompetenzen begünstigen kann.

Page 469: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Entwicklungstrends und Zukunft digitaler Industriearbeit 473

1.2 Entwicklungstrends und Zukunft digitaler Industriearbeit

Ein resümierender Blick durch den arbeits- und sozialwissenschaftlichen Stand der Forschung zum digitalen Wandel von Industriearbeit offenbart, dass keinesfalls von eindeutigen Entwicklungslinien gesprochen werden kann. Vielmehr lassen sich gänzlich offene Entwicklungstrends ausmachen, die eher als idealtypische Zu-spitzung bestimmter Annahmen zu verstehen sind, zumal sich in der betrieblichen Realität höchstwahrscheinlich Mischformen etablieren werden [12]. Ittermann et al. kategorisieren in diesem Kontext vor allem drei verschiedene Entwicklungssze-narien digitaler Industriearbeit, auf die im Folgenden näher eingegangen werden soll.

Die erste Entwicklungslinie einer sogenannten Automated Factory geht von erheb-lichen Automatisierungsschüben und weitreichenden Substitutionseffekten von direkten sowie indirekten Tätigkeiten vor allem im Bereich standardisierter, routi-nisierter und geringqualifizierter – in Teilen aber auch qualifizierter – Industriear-beit durch den Einzug digitaler Fertigungstechnologien aus [3] [6]. „Die Voraus-setzung hierfür ist, dass es sich dabei um Tätigkeiten handelt, die einen gut struk-turierten und regel-orientierten Charakter aufweisen, daher in Algorithmen über-führt und automatisiert werden können“ (Ittermann et al. 2016, S. 16 f.) [12]. Die Steuerungs- und Entscheidungsfunktion obliegen in dieser auch als Automatisie-rungsszenario [33] bezeichneten Perspektive in großen Teilen dem CPS bzw. der Software.

Demgegenüber geht ein anderes Szenario von einer breiten, alle Beschäftigten- und Qualifikationsgruppen, also auch geringqualifizierte Arbeit, umfassenden Auf-wertung industrieller Tätigkeiten aus. Dieses Upgrading-Szenario schlage sich bei-spielsweise in eher ansteigenden Qualifikationen und erhöhten Handlungs- und Entscheidungsspielräumen sowie einer insgesamt stabilen bzw. wachsenden Be-schäftigungssituation nieder. Anders als im Automatisierungsszenario obliegen die wesentlichen Steuerungs-, Kontroll- und Entscheidungsfunktionen nicht dem CPS, sondern dem Menschen. Zur Bewältigung seiner Arbeitsanforderungen greift er auf die Unterstützung durch technische Assistenzsysteme und digitale Techno-logien zurück, sodass hier auch vom sogenannten Werkzeug- bzw. Spezialisie-rungsszenario [33] gesprochen wird. In arbeitsorganisatorischer Hinsicht werden hier vor allem Elemente einer dezentralisierten und flexiblen Arbeitsform mit einer Funktionsintegration ausführender sowie organisatorisch-dispositiver Tätigkeits-aspekte assoziiert. Diese als Schwarmorganisation bezeichnete, hochgradig flexible

Page 470: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

474 „Gute“ digitale Arbeit in der Automobilindustrie 4.0

Organisationsform zeichnet sich „durch eine lockere Vernetzung sehr qualifizier-ter und gleichberechtigt agierender Beschäftigter [aus]. […] Zentrales Merkmal dieses Organisationsmusters ist, dass es keine definierten Aufgaben für einzelne Beschäftigte gibt, vielmehr handelt das Arbeitskollektiv selbst organisiert, hoch fle-xibel und situationsbestimmt je nach zu lösenden Problemen im und am technolo-gischen System“ (Hirsch-Kreinsen 2014, S. 425) [7].

Annahmen des Upgrading- und Substitutionsszenario vermischend wird eine dritte Perspektive diskutiert, welche von einer Polarisierung von Arbeit ausgeht, die sich in einer Erosion mittlerer Qualifikationsebenen äußere. Im Zuge der Ein-führung digitaler Technologien erfahren somit bestimmte Tätigkeiten auf der mitt-leren Qualifikationsebene eine qualifikatorische Aufwertung, während andere von Dequalifizierungs- und Substitutionsprozessen betroffen sind.

Welches dieser oben dargelegten Szenarien im Hinblick auf die Entwicklung von Industriearbeit in der digitalen Arbeitswelt eintreten wird, ist vor dem Hinter-grund eines geringen Umsetzungsgrades von entsprechenden Technologien – vor allem bei KMU –, mitunter langen Entwicklungs- und Realisierungszeiträumen und weiteren Faktoren wie z.B. Branchen- oder Betriebsstrukturen, Kundenanfor-derungen und Technologieintensität abhängig (acatech 2016, S. 12-15) [1], (Itter-mann et al. 2016, S. 21) [12], (Spath et al. 2013, S. 120 f.) [29]. Eine wichtige Erkennt-nis, die sich aus der langen Tradition arbeitssoziologischer Forschung ergibt, ist, „dass der Wandel der Arbeit sich gerade nicht aus generalisierbaren Merkmalen neuer Technologien bestimmen lässt. Arbeitsanforderungen und Arbeitsbedin-gungen sind vielmehr eine Folge der (arbeits-)organisatorischen Ausgestaltung und Nutzung von Technologien“ (Kuhlmann und Schumann 2015, S. 125) [19]. In diesem Kontext ergeben sich somit vielfältige komplementäre Spielräume bei der Ausgestaltung der Digitalisierung, die jedoch einen Blick auf das „Gesamtsystem“ (Ittermann et al. 2016, S. 27) [12] erfordern.

1.3 Digitalisierung als sozio-technisches System

Vor dem Hintergrund dieser noch unklaren Entwicklungsperspektiven von In-dustriearbeit stellt sich die Frage, wie die Digitalisierung gezielt gestaltet werden kann, um die Vorteile der insgesamt qualifizierten Arbeitskräfte in der deutschen Automobilindustrie auch in Zukunft zu erhalten und deren Potentiale systema-tisch zu erschließen und gleichfalls die Voraussetzungen für eine – im arbeitspoli-tischen Sinne – „gute“ Arbeit zu gewährleisten. Dafür ist es erforderlich, ein eher

Page 471: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Digitalisierung als sozio-technisches System 475

einseitiges, technikfokussiertes Verständnis von Systemen und Innovationen, das die aktuelle Digitalisierungsdebatte bzw. Vision Industrie 4.0 häufig noch recht stark prägt, zu überwinden [10]. Die Erhaltung und Nutzung der qualifizierten Fachkräfte in der Automobilindustrie sowie damit verbundener Potentiale erfor-dern in diesem Kontext ein umfassendes Innovations- und Systemverständnis der Digitalisierung (Kopp et al. 2016, S. 11–14) [15] sowie „einen ganzheitlich angeleg-ten Forschungs- und Gestaltungsansatz“ (Ittermann et al. 2016, S. 23) [12]. Eine solch umfassende Sichtweise kennzeichnet seit Jahrzehnten die deutsche Arbeits-forschung und findet eine konkrete konzeptionelle Überführung im sozio-techni-schen Systemansatz [23] [31].36 Vor diesem Hintergrund können laut Hirsch-Krein-sen die für Digitalisierung kennzeichnenden „CPS-basierte[n] Produktionssysteme […] als sozio-technische Systeme verstanden werden. Obgleich nicht immer einheit-lich definiert, kann […] unter einem sozio-technischem System eine Produktions-einheit verstanden werden, die aus interdependenten technologischen, organisa-torischen und personellen Teilsystemen besteht“ (Hirsch-Kreinsen 2014, S. 422) [7], (vgl. [12]).

Im Sinne eines ganzheitlichen Gestaltungsansatzes sind aber nicht nur die einzel-nen, als gleichwertig zu verstehenden und sich gegenseitig beeinflussenden Di-mensionen von Bedeutung, sondern vielmehr deren Schnittstellen sowie Zusam-men- und Wechselspiel (Ittermann et al. 2016, S. 27) [12]. Ittermann et al. zufolge gehe es in diesem Kontext vor allem „um eine komplementäre Gestaltung der ein-zelnen Systemelemente zu einem aufeinander abgestimmten sozio-technischen Gesamtsystem: Komplementarität meint dabei, dass situationsabhängig die spezi-fischen Stärken und Schwächen von Technik und Mensch gleichermaßen Berück-sichtigung finden und eine Funktionsteilung zwischen Mensch und Maschine ent-worfen wird, die eine störungsfreie und effiziente Funktionsfähigkeit des Gesamt-systems ermöglicht“ (Ittermann et al. 2016, 25 f.) [12]. Damit die Vorteile der insge-samt qualifizierten Beschäftigten in der deutschen Automobilindustrie systema-tisch zur Geltung kommen können, bedarf es in diesem Kontext entsprechender arbeitsorganisatorischer Rahmenbedingungen, auf die im Folgenden näher einge-gangen werden soll.

36 Dass an dieser Stelle auf den sozio-technischen Systemansatz verwiesen wird, bedeutet

nicht, dass dieser als alleiniger konzeptioneller Bezugsrahmen geeignet ist. So führt Kopp an, dass der sozio-technische Systemansatz durch Konzepte systemischer Organisations-entwicklung und -beratung ergänzt werden sollte [16].

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476 „Gute“ digitale Arbeit in der Automobilindustrie 4.0

1.4 Innovative Arbeitsgestaltung und Workplace Innovation

Die deutsche Arbeitsforschung hat zentrale Kriterien einer humanorientierten, in-novativen Arbeitsgestaltung formuliert, die eine Abkehr von Prinzipien tayloristi-scher Arbeitsorganisation darstellen und auf die systematische Erschließung der Potentiale von Beschäftigten abzielt und mitunter in Good-Practice-Beispielen in der Automobilindustrie z.B. im VW-Projekt Auto 5000 umgesetzt wurden [17] [20] [28]. Das Thema „gute Arbeit“ ist dabei, obwohl es in der Digitalisierungsdebatte mittlerweile einen großen Stellenwert einnimmt, nicht neu, sondern reicht bis zu den Aktivitäten zur sogenannten „Humanisierung des Arbeitslebens“ (HdA) um 1970 zurück [22]. Ziel war es, die negativen Auswirkungen tayloristisch-fordisti-scher Organisationsprinzipien auf Arbeit zugunsten einer menschengerechten, qualitativ aufgewerteten Arbeit zu überwinden. „Protagonisten sind Gewerkschaf-ten, Arbeitsforschung und arbeitsbezogene Politik. 2002 fließen sie [die Erkennt-nisse aus den HdA-Projekten] auch in die von Gewerkschaften, Arbeitgeberver-bänden, Sozialversicherungsträgern, Länder, Bund und Unternehmen getragene Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) ein“ (Kopp 2016, S. 13) [16].

In tayloristischer Logik stellen Beschäftigte einen „Störfaktor“ dar. Diese sollen durch einen hohen Grad an Arbeitsteilung, rigider Arbeitszerlegung, Standardisie-rung, Zentralisierung, ausgeprägte Hierarchie sowie einer Trennung von disposi-tiv-planenden einerseits und rein ausführenden Tätigkeiten anderseits rationali-siert werden [27]. Hier lassen sich Parallelen zum Automatisierungsszenario er-kennen. Als Gegenentwurf dazu zielen Formen innovativer Arbeitsorganisation auf das Erschließen subjektiver Potentiale ab. Arbeitsorganisatorische Elemente sind hier beispielsweise selbstorganisierte Gruppenarbeit, ganzheitliche und funk-tionsintegrierte Aufgabenzuschnitte, die neben rein ausführenden auch disposi-tive, planerisch-organisatorische Aufgabenelemente enthalten. Kontrolle und Steuerung erfolgt eher indirekt in Form einer Kontextsteuerung über Zielvereinba-rungen. Weitere Merkmale sind flache Hierarchien, dezentrale Strukturen und in diesem Sinne eine Verlagerung von Kompetenzen und Verantwortung nach „un-ten“, weitgehende Handlungs- und Entscheidungsspielräume und Möglichkeiten beschäftigtengetragener Prozessoptimierung [20]. Zudem stellen diese Elemente zentrale Merkmale einer alter(n)sgerechten [18] sowie lern- und kompetenzförder-lichen Arbeitsumgebung dar [4] und können einer Lernentwöhnung entgegenwir-ken. In Anbetracht einer immer schnelleren Veraltung von bereits erlerntem Wis-sen, des Tempos und der Dynamik technischen Wandels sowie der hohen Bedeu-tung kontinuierlicher Qualifizierungsmaßnahmen könnte sich dies als unerlässlich für eine erfolgreiche digitale Transformation erweisen.

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Innovative Arbeitsgestaltung und Workplace Innovation 477

Unter dem Label Arbeit 4.0 werden derzeit entsprechende Fragen „guter“, innova-tiver und humanorientierter Arbeit in der Digitalisierungsdebatte aufgegriffen (Kopp 2016, S. 12-17) [16].37 In diesem Zusammenhang verweist Mückenberger auf „das anhaltende Orientierungsvermögen der alten HdA-Kriterien“ (Kopp 2016, S. 15) [16] und konstatiert in Anbetracht der Digitalisierung einen notwendigen Wei-terentwicklungsbedarf [22]. Die oben dargelegten Erkenntnisse eines breiten Fun-dus sozialwissenschaftlicher Arbeitsforschung aufgreifend und ein sozio-techni-sches Systemverständnis von Digitalisierung und Industrie 4.0 verfolgend entwi-ckeln Ittermann et al. in diesem Kontext unter dem Label „Social Manufacturing and Logistics“ Konturen eines Leitbildes guter und humaner digitaler Arbeit und skizzieren dabei schnittstellenspezifische Gestaltungsanforderungen) [12].

Diese Erkenntnisse der Arbeitsforschung aufgreifend geht der Ansatz der soge-nannten Workplace Innovation (WPI), dessen Diffusion Ziel des 2012 von der Eu-ropäischen Kommission gegründeten European Network for Workplace Innova-tion (EUWIN) ist, von einem umfassenden Innovations- und sozio-technischen Systemverständnis aus (Kopp et al. 2016, S. 15 ff.) [15], (Pot et al. 2016, S. 16) [25]. In gewisser Hinsicht stellt er eine konzeptionelle Verdichtung und Überführung arbeitswissenschaftlicher Erkenntnisse auf der europäischen Ebene dar. WPI kann dabei wie folgt verstanden werden: „WPI (or social innovation in the workplace) is not only content, it is at the same time a process. Namely, it is a social, participa-tory process which shapes work organisation and working life, combining their human, organizational and technological dimensions” (Howaldt et al. 2016, S. 3) [11]. Resultat ist eine Verbesserung sowohl der Arbeitsqualität als auch der betrieb-lichen Leistungsfähigkeit und Produktivität [26] [32]. Dies erfordert eine ganzheit-liche und nicht isoliert-partielle Umsetzung der für WPI kennzeichnenden Ele-mente (Abbildung 1.1).

Insgesamt wird durch WPI eine in hohem Maße lern- und kompetenzförderliche, kooperative und motivationsfördernde Arbeitsumgebung geschaffen. Die hoch-gradig teamförmigen, kooperativen, partizipativen und empowernden Elemente und Strukturen des WPI-Ansatzes stellen den Beschäftigten diejenigen Rahmenbe-dingungen bereit, um ihre Qualifikationen und Kompetenzen sowie Innovations- und Kreativitätspotentiale aktiv und systematisch einbringen und ausbauen zu können. Dadurch kann etwa die Generierung kontinuierlicher Produkt-, Dienst-leistungs- und Prozessverbesserungen sowie -innovationen gefördert werden.

37 „Protagonist_innen des Diskurses um Arbeiten 4.0 finden sich vor allem in der Arbeits-

foschung, in den Gewerkschaften (insbes. IG Metall und teilweise ver.di) und in der Po-litik (insbes. BMAS und BMBF)“ (Kopp 2016, S. 12) [16].

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478 „Gute“ digitale Arbeit in der Automobilindustrie 4.0

Abbildung 1.1 Elemente von Workplace Innovation

Quelle: Pot et al. 2016, S. 15 [25]

Ziel ist es zudem, strukturierte Gelegenheiten für systematische Reflexions-, Lern- und Optimierungsprozesse zu schaffen und Prozesse der Problemanalyse und -lösung zu unterstützen. Dies wird durch entsprechende horizontale und vertikale Kooperations- und Austauschmöglichkeiten begünstigt (Totterdill 2015, S. 65 ff.) [32]. Ein gezielter Einsatz digitaler Technologien wie z.B. Enterprise Social Media könnte in diesem Kontext kooperations- und partizipationsfördernd wirken. Pot et

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Potentiale von WPI bei der Qualifikations- und Kompetenzentwicklung 479

al. (2016, S. 23 ff.) [25] führen zudem an, dass WPI einen aktiven Umgang mit an-spruchsvollen Arbeits- und Leistungsanforderungen und damit verbundenen Be-lastungen ermöglicht.

Die hohe Bedeutung von Partizipation im WPI-Ansatz spiegelt sich im Element der „Workplace Partnership“ zwischen Management, Beschäftigten sowie betriebli-cher Interessensvertretung und Gewerkschaften wider (Totterdill 2015, S. 69) [32]. Angesprochen ist damit z.B. die frühzeitige und direkte sowie qualifikations- und hierarchieübergreifende Einbindung der Beschäftigten sowie deren betrieblicher Interessensvertretung nicht nur bei der Planung, Gestaltung und Implementierung von WPI an sich, sondern auch in strategische Entscheidungsprozesse und damit auch bei der Einführung, Gestaltung und Regulation digitaler Technologien. Dies kann eine Akzeptanzförderung auf der Mitarbeiterseite bedeuten sowie späteren Interessenkonflikten und damit langen Einführungszeiten bzw. sogar einem Schei-tern von Industrie-4.0-Projekten entgegenwirken [5].

Mit einer Arbeitsgestaltung nach dem Vorbild von WPI werden den Beschäftigten in der Automobilindustrie damit vor dem Hintergrund der Komplexität und Dy-namik der Digitalisierung entsprechende Voraussetzungen und Ressourcen bereit-gestellt, um ihre subjektiven Potentiale aktiv einzubringen, sodass die Vorteile der eher qualifizierten Beschäftigten genutzt werden können. Damit die Beschäftigten jedoch auch die Herausforderungen des Einzuges digitaler Technologien erfolg-reich bewältigen können, ist neben diesen arbeitsorganisatorischen Rahmenbedin-gungen auch eine entsprechende Qualifikations- und Kompetenzentwicklung not-wendig. Auch hier kann WPI einen wichtigen Beitrag leisten.

1.5 Potentiale von WPI bei der Qualifikations- und Kompetenzentwicklung

Als wesentlicher Faktor für den Erfolg bzw. das Scheitern der digitalen Transfor-mation wird das Thema der gezielten, kontinuierlichen und nachhaltigen Qualifi-zierung und Kompetenzentwicklung der Beschäftigten gesehen [1]. Eine zentrale Anforderungen besteht vor allem in entsprechenden IT-Kompetenzen, die den Er-gebnissen einer acatech-Studie zufolge „im Sinne integrierter und interdisziplinär angelegter Fähigkeiten in der Breite“ (acatech 2016, S. 4) [1] verstanden werden können. Eng damit verbunden sind auch Anforderungen an die Auswertung und Analyse von Daten sowie das Ableiten entsprechender Handlungsmaßnahmen.

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480 „Gute“ digitale Arbeit in der Automobilindustrie 4.0

Über diese rein IT- und datenbezogenen Qualifikations- und Kompetenzanforde-rungen hinaus werden vor allem auch einige Kompetenzen als zentral erachtet, die sich eher weniger über formelle Lernprozesse vermitteln lassen, sondern vielmehr auf implizitem Wissen und informellen Lernprozessen im täglichen Arbeitspro-zess basieren. Entwicklungsbedarf bei den Fähigkeiten der Beschäftigten wird laut den empirischen Ergebnissen der acatech-Studie von Großunternehmen und KMU vor allem in den Bereichen interdisziplinären Denkens und Handelns, zunehmen-den Prozess-Knowhows, Führungskompetenz, Mitwirkung an Innovationsprozes-sen, Problemlösungs- und Optimierungskompetenz sowie eigenverantwortlichen Entscheidungen gesehen [1], (vgl. Ittermann et al. 2016, S. 14 f.) [12].

In Anbetracht einer zunehmenden Verbreitung digitaler Technologien und einer damit verbundenen Zunahme von Komplexität und Unwägbarkeiten sowie mit-unter undurchsichtigen Störfällen in hochautomatisierten Prozessen zeigen empi-rische Befunde die hohe Bedeutung „subjektivierenden Arbeitshandelns“ [2] (vgl. [24]). Angesprochen sind damit etwa Aspekte wie Erfahrung, Intuition und Ge-spür, die für produktionsnahe Beschäftigte von zentraler Bedeutung für eine hohe Optimierungs- und Problemlösekompetenz sind und als zentrale Handlungskom-petenz in der digitalisierten Arbeitswelt fungieren könnten. Wichtig für deren Auf-bau ist ein entsprechender Überblick und ein ausgeprägtes Wissen über Prozesse und deren Abhängigkeiten. Im Falle eines Automatisierungsszenarios der Indust-rie 4.0, in dem Fachkräfte durch Technologie gesteuert werden, ihre Autonomie begrenzt und der Routineanteil relativ ausgeprägt ist, entsteht jedoch eine Kompe-tenzlücke: „Die Fachkräfte können z.B. das im Störfall benötigte Fachwissen nicht aufbauen“ (Windelband/Dworschak 2015, S. 77) [33]. Die Anwendung und Ent-wicklung subjektivierenden Arbeitshandelns und entsprechender Kompetenzen zur Prävention, Identifikation und Beseitigung von Störfällen ist in arbeitsorgani-satorischer Hinsicht also eng an fordernde, qualifizierte Tätigkeitselemente, breite und funktionsintegrierte Aufgabenzuschnitte sowie ausgeprägte Handlungs- und Entscheidungsspielräume, aber auch Freiräume für kollegialen Erfahrungs- und Wissensaustausch und damit an hochgradig informelle Lernprozesse in der Arbeit geknüpft (vgl. [4]). Der Einsatz von Assistenzsystemen wie z.B. mobilen Endgerä-ten können Beschäftigte im Störfall zwar mit wichtigen Informationen zur Proble-midentifikation und -beseitigung versorgen, allerdings kann bezweifelt werden, dass die Wichtigkeit subjektivierenden Arbeitshandelns in der Fabrik der Zukunft auch in Anbetracht von predictive maintenance gänzlich obsolet werden wird. Zu-mal auch auf den ersten Blick niedrigqualifizierte, stark routinisierte und daher automatisierbare Tätigkeiten entsprechende Kompetenzen und Erfahrung verlan-gen und somit nur begrenzt substituierbar sind [24].

Eine entsprechende Arbeitsgestaltung nach dem Vorbild der WPI schafft darüber

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Potentiale von WPI bei der Qualifikations- und Kompetenzentwicklung 481

hinaus z.B. durch teamförmige Arbeitsstrukturen, partizipative Systemelemente und Autonomie zentrale Rahmenbedingungen für ausgeprägte Kommunikation und Kooperation sowie kollegiale Unterstützungsprozesse und bildet damit die Basis für informelle Lernprozesse und den Austausch von implizitem (Erfah-rungs-)Wissen. In Kombination mit innovativen, durch digitale Technologien un-terstützte Lernformen und -möglichkeiten bieten sich hier große Potentiale einer situativen, bedarfs- und zielgruppenspezifischen Wissensvermittlung (z.B. Virtual und Augmented Reality, Tablets, Smartphones), sodass eine stärkere Verknüpfung von Arbeiten und Lernen als bisher erreicht werden könnte.

Auch wird beispielsweise häufig eine zunehmende Notwendigkeit hierarchie- und bereichsübergreifender Kooperation und Koordination in Anbetracht (mitunter global) vernetzter Wertschöpfungsketten betont. Neben einer entsprechenden Un-ternehmenskultur erfordert dies auf Mitarbeiterseite entsprechende soziale Kom-petenzen sowie ein ausgeprägtes Prozesswissen im Sinne eines bereichsübergrei-fenden Verständnisses von spezifischen Prozessabhängigkeiten und -zusammen-hängen, und damit einhergehend interdisziplinäre Denk und Handlungsweisen (acatech 2016, S. 18) [1]. Ein starres Abteilungsdenken sowie eine feingliedrige Ar-beitsteilung mit engen, rein ausführenden Aufgabenzuschnitten, ein geringer Selbstorganisationsgrad sowie begrenzte Freiräumen für interdisziplinären Aus-tausch sowie auf detaillierten Vorgaben basierende Steuerungs- und Kontrollme-chanismen qua Hierarchie erweisen sich hier eher als hinderlich.

In Anbetracht einer beschleunigten Veraltung bereits erlernten Wissens und damit einer weiter steigenden Bedeutung lebenslangen Lernens, gilt es, einer Lernent-wöhnung, die eine erfolgreiche Bewältigung der digitalen Komplexität verhindern kann, auf Seiten der Beschäftigten vorzubeugen. Gerade Routinetätigkeiten mit ausgeprägter Arbeitsteilung, Monotonie und Anforderungsarmut fördern Pro-zesse der Dequalifizierung, Demotivierung und Lernentwöhnung. Demgegenüber wirken sich herausfordernde, komplexe, möglichst ganzheitliche, funktionsinte-grierte Aufgabenzuschnitte und hohe Selbstorganisationsgrade nicht nur positiv auf die Mitarbeitermotivation aus. Sie schaffen zugleich auch Lernanreize und -chancen sowie ein insgesamt eher lern- und kompetenzförderliches Arbeitsum-feld. Gerade hier bieten die Technologien der Digitalisierung das Potential, den Anteil anforderungsarmer, monotoner und repetitiver Tätigkeitselemente zu redu-zieren und im Sinne eines oben dargelegten Upgrading- und Werkzeugszenarios eine insgesamt verbesserte Arbeitssituation zu erreichen. Zudem betonen Dombrowski/Wagner die Potentiale von Mitarbeiterpartizipation bei der Heraus-bildung betrieblicher Lernkulturen, der Kompetenzerweiterung sowie dem Erfah-rungs-, Wissens- und Informationsaustausch [5].

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482 „Gute“ digitale Arbeit in der Automobilindustrie 4.0

1.6 Fazit und Ausblick

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass, eine erfolgreiche Bewältigung der di-gitalen Komplexität nicht nur formelle Qualifikationen und Fachkompetenzen er-fordert, sondern auch vor allem informelle Kompetenzen eine zentrale Rolle spie-len. Letztere lassen sich allerdings gerade nicht durch formale Qualifizierungs- und Weiterbildungsangebote vermitteln. Deren Erwerb und Entwicklung erfor-dern vielmehr entsprechende arbeitsorganisatorische Rahmenbedingungen, die eine weitgehende Abkehr von tayloristischen Prinzipen der Arbeitsorganisation darstellen und informelle Lernprozesse ermöglichen. Gerade hier liegen, so die Ar-gumentation dieses Beitrages, wichtige Potentiale einer humanorientierten, inno-vativen Arbeitsgestaltung etwa nach dem Leitbild der WPI. In diesem Kontext sollte die Intention des Einsatzes digitaler Technologien insgesamt dem Verständ-nis eines Werkzeugszenarios und einer Upgrading-Perspektive von Industriear-beit und nicht dem eines Automatisierungsszenarios folgen. Insgesamt werden den Beschäftigten in der Automobilindustrie damit die erforderlichen Rahmenbe-dingungen und Ressourcen bereitgestellt, um die digitale Komplexität erfolgreich und aktiv bewältigen zu können.

Die Realisierung humanorientierter, innovativer Formen der Arbeitsorganisation in der digitalisierten Arbeitswelt nach dem Leitbild von WPI ist jedoch kein Selbst-läufer. Erforderlich sind entsprechende Sensibilisierungsbemühungen und eine partizipative, kollaborative Planung und Implementierung sowohl der Digitalisie-rung als auch von WPI unter systematischer Einbeziehung möglichst aller Stake-holder, um eine Akzeptanzförderung zu erreichen und Interessenkonflikte früh-zeitig auszuräumen. Dabei gilt es vor allem auch, eine Halbherzigkeit bei der Um-setzung von WPI sowie einer isolierten Implementierung einzelner Elemente zu vermeiden. Notwendig ist vielmehr eine ganzheitlich-kombinierte Umsetzung möglichst aller Prinzipien dieser innovativen, humanorientierten Organisations-form.

An dieser Stelle sei zudem auf die Potentiale des Empowerment-Konzepts als wichtige Perspektive nicht nur bei der Bewältigung der digitalen Komplexität, son-dern auch zur Steigerung der Anpassungsfähigkeit von Organisationen [30] ver-wiesen. Eine in hohem Maße empowernde, also eine befähigende, auf hohe Auto-nomie und Selbstorganisation setzende Arbeitsorganisation im Sinne von WPI er-möglicht es Beschäftigten – so die These des Autors –, ihre Kompetenzen aktiv in Fabrikanpassungsprozesse einzubringen. Dadurch können sie einen wichtigen Beitrag zu effizienten und reaktionsschnellen Anpassungsmaßnahmen in Anbe-

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Fazit und Ausblick 483

tracht einer stark ansteigenden Dynamik und Intensität von Umfeldveränderun-gen in der Automobilindustrie leisten. Eine entsprechende Öffnung der Debatte um Digitalisierung und Anpassungsfähigkeit in Richtung Empowerment erscheint äußerst vielversprechend.

Totterdill problematisiert den noch relativ geringen Umsetzungsgrad von WPI trotz der immensen Potentiale [32]. Ihm zufolge ist es notwendig, „to understand workplace innovation as the experimental creation of hybrid practices drawing on diverse sources of experience and knowledge“ (Totterdill 2015, S. 61) [32]. Zur För-derung einer Diffusion von WPI komme es damit vor allem auf eine „Joint Intelli-gence“ im Sinne eines gemeinschaftlichen Dialogs sowie Wissens- und Erfahrungs-austauschs zwischen Akteuren aus Wissenschaft, Praxis und Politik an. Genau dies ist das Ziel des 2012 von der Europäischen Kommission gegründeten EUWIN.

Gerade hier kann die Automobilindustrie mit ihrer hohen Bedeutung für die deut-sche Wirtschaft eine wichtige Leuchtturmfunktion einnehmen. Als Demonstrato-ren und Good-Practice-Fälle können ihre Unternehmen für eine erfolgreiche Ver-knüpfung von Digitalisierung und humanorientierter, innovativer Arbeitsorgani-sation fungieren sowie eine Diffusion in andere Unternehmen und Branchen be-günstigen.

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Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Graduiertenkollegs GRK 2193 „Anpas-sungsintelligenz von Fabriken im dynamischen und komplexen Umfeld“ an der TU Dortmund, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG).

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484 „Gute“ digitale Arbeit in der Automobilindustrie 4.0

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Page 482: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

2 Materialbereitstellung On-Demand

Entwicklung eines bedarfsorientierten Materialbereitstellungskonzeptes für den Einsatz im bestandsmaschinenbasierten Produktionsumfeld

F. Zeidler (TU Dortmund), Prof. Dr. M. ten Hompel, J. S. Emmerich (Fraunhofer IML)

2 Materialbereitstellung On-Demand 487

2.1 Die Individualisierungsentwicklung und ihre Folgen .......................... 4882.2 Herausforderungen klassischer Routenzugsysteme im Industrieumfeld

4.0 ................................................................................................................... 4892.3 Vom klassischen Routenzugsystem zur bedarfsorientierten

Materialbereitstellung ................................................................................. 4922.4 Fazit und Ausblick ...................................................................................... 500

Literatur ........................................................................................................................ 501

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_30

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488 Materialbereitstellung On-Demand

2.1 Die Individualisierungsentwicklung und ihre Folgen

Verknüpft mit der zunehmenden Globalisierung von Wertschöpfungsnetzwerken, sich ständig ändernden Kundenbedürfnissen, einer Abnahme der Kundenloyalität und dem kontinuierlichen Streben nach kürzeren Lieferzeiten führt die Individua-lisierungsentwicklung u. a. zu einem massiven Anstieg der Variantenzahlen im Bereich der Produktportfolios von Unternehmen, zur Verkleinerung der Losgrö-ßen, zu kürzeren Produktlebenszyklen, zu einer immensen Komplexitäts- und Ge-schwindigkeitssteigerung von Supply Chains sowie zu einer drastisch steigenden Volatilität der Kundenabrufmengen einiger Branchen. Um den genannten Heraus-forderungen effektiv und effizient begegnen zu können, müssen betroffene Unter-nehmen die Anpassungsfähigkeit ihrer Prozesse und Geschäftsmodelle steigern. Die Anpassungsfähigkeit setzt sich dabei aus bereits vorgesehenen Systemfähig-keiten (Flexibilität) und Potentialen zur schnellen und kostengünstigen Systeman-passung (Wandlungsfähigkeit) zusammen.

Bei dem Versuch die Anpassungsfähigkeit von Unternehmen weiter zu steigern geraten klassische Lean-Konzepte und die zugrundeliegenden hierarchisch orga-nisierten Prozessstrukturen an deren Grenzen (vgl. [4]). Produktionssteuerung mittels Kanban und indirekt auch die Materialbereitstellung mittels Routenzug sind bspw. zwei Systeme, die starr an den Kundentakt gekoppelt sind. In der zu-künftigen Welt der „Sofortness“, welche auf dem Motto „alles immer überall und individuell“ basiert, lassen sich jedoch weder Produktion noch Logistik in einen Takt zwingen (vgl. [5]). Neuste Entwicklungen in der Automobilindustrie bestäti-gen, dass eine wirtschaftliche Herstellung der individualisierten Produkte von morgen einen grundlegenden Paradigmenwechsel, weg von der taktgebundenen, deterministischen hin zu einer ereignisgesteuerten, stochastischen bzw. probabi-listischen Prozessplanung und –steuerung bedingt (vgl. [4]; [9]).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die grundsätzlichen Optimierungs-ziele der Lean-Philosophie (z. B. bessere Liefertreue, kürzere Durchlaufzeiten, klei-nere Losgrößen, geringere Bestände, höheres Qualitätslevel, Selbststeuerung, Ein-fachheit etc.) auch weiterhin Bestand haben werden; die Relevanz einiger Ansätze, wie z. B. die Produktion mit Losgröße eins, werden im Zuge der Individualisie-rungsentwicklung sogar weiter zunehmen. Industrie 4.0 wird die bestehenden Lean-Ansätze nicht ersetzen, sondern darauf aufbauen und um den in Zukunft im-mer wichtiger werdenden Erfolgsfaktor der Anpassungsfähigkeit ergänzen; d. h. neben der Vermeidung von Verschwendung wird es künftig vermehrt um die Stei-

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Herausforderungen klassischer Routenzugsysteme 489

gerung der Flexibilität und Wandlungsfähigkeit von Prozessen und Geschäftsmo-dellen gehen. „Es ist nicht die stärkste Spezies, die überlebt, auch nicht die intelligenteste, sondern eher diejenige, die am ehesten bereit ist, sich zu verändern“ [1], dieses Zitat von Charles Darwin stellt nicht etwa eine längst überholte Theorie dar, sondern eine klare Handlungsempfehlung für Unternehmen im Sog des Individualisierungs-zeitalters.

2.2 Herausforderungen klassischer Routenzugsysteme im Industrieumfeld 4.0

Als Bestandteil der Lean-Philosophie wird das Routenzugsystem beispielhaft her-angezogen, um die Herausforderungen aufzuzeigen, welche sich beim Einsatz ei-nes klassischen Lean-Konzeptes im Industrieumfeld 4.0 ergeben. Darauf aufbau-end wird im folgenden Abschnitt 2.3 ein flexibles, wandlungsfähiges sowie be-darfsorientiertes Materialbereitstellungskonzept vorgestellt, welches dem dynami-schen und komplexen Umfeld heutiger Industriebetriebe Rechnung trägt und überdies im bestandsmaschinenbasierten Produktionsumfeld zum Einsatz kom-men kann.

Eine Materialbereitstellungsschleife des klassischen Routenzugkonzeptes umfasst die Routenzugbeladung im Kommissionierbereich, das Abfahren einer fixen Route sowie die Materialbereitstellung an definierten Arbeitsstationen zu einem mittels Fahrplan festgelegten Zeitpunkt. Auf seiner Route liefert der Zug nur an den Ar-beitsstationen neue, mit Material gefüllte Behälter ab, an denen entsprechend leere Behälter auf speziell gekennzeichneten Flächen bereitgestellt werden (vgl. [8]). Über diesen Mechanismus wird sichergestellt, dass an jeder Arbeitsstation nur so viel Material bereitgestellt wird, wie tatsächlich seit dem letzten Routenzyklus ver-braucht wurde (Bestandsminimierung). Das Routenzugsystem ähnelt damit dem öffentlichen Nahverkehr, bei dem zwar Personen anstatt Waren befördert werden, es jedoch ebenfalls fixe Routen und Haltestellen gibt, die nach einem festgelegten Fahrplan abgefahren werden.

Produktionsbereiche, die minimalen Umfeldveränderungen unterliegen, d. h. Be-reiche, in denen Produktions- sowie Logistikprozesse einem gleichbleibenden Takt zugeordnet werden können und eine intelligente Anpassungsfähigkeit kein über-geordnetes Bedarfskriterium darstellt, bilden auch im vierten industriellen Zeital-ter ein potentielles Anwendungsspektrum für klassische Lean-Konzepte wie die innerbetriebliche Materialbereitstellung mittels Routenzugsystem.

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490 Materialbereitstellung On-Demand

Trifft das klassische Routenzugkonzept jedoch auf die in Abschnitt 2.1 beschrie-bene Individualisierungsentwicklung des 21. Jahrhunderts gerät das Lean-Kon-zept an seine Grenzen. Eine hohe Anzahl an Produktvarianten, immer kleinere Losgrößen sowie nicht oder nur schwer vorherbestimmbare und zugleich stark schwankende Kundenabrufmengen sind dabei die maßgeblich limitierenden Fak-toren.

Nachfolgend werden beispielhaft Eigenschaften des klassischen Routenzugsys-tems aufgelistet, welche einem effizienten Einsatz des Systems im dynamischen und komplexen Industrieumfeld 4.0 entgegenwirken (siehe auch Abbildung 2.1):

■ Festlegung der elementaren Routenzugsystemeigenschaften durch zentrale Planungsinstanz

‒ Fixe Route ‒ Fixer Fahrplan / fixe Frequenz ‒ Fixe Routenzugbeladung ‒ Fixe Anzahl an Routenzügen im aktiven Materialbereitstellungssystem ‒ Fixe Zuordnung von Routenzügen zu Routen

■ Informations(in)transparenz: kein Datenaustausch zwischen Arbeitsstationen/Behältern, Routenzügen, Kommissionierbereichen und übergeordneten Systemen

■ Statische Anpassungsplanung bei dynamisch aufkommenden Umfeldverän-derungen

Die Aufstellung zeigt, dass im Zeitalter der Individualisierung vor allem die starre Systemstruktur, der mangelnde Datenaustausch sowie die aufwändige statische Anpassungsplanung des klassischen Routenzugkonzeptes den ursprünglich vor-teilhaften Mechanismus der Selbststeuerung weitestgehend außer Kraft setzen. Anstelle einer effizienten Selbststeuerung halten Hektik, Instabilität, Unstruktu-riertheit und interne Bullwhip-Effekte Einzug in die Produktions- und Lagerberei-che. Um die in den meisten Branchen vorherrschende essentielle Kundenbindung durch ein erhöhtes Risiko von Lieferverzögerungen nicht zu gefährden, müssen bspw. kostenintensive Sondertransporte durchgeführt werden. Wurde das klassi-sche Routenzugsystem in den vergangenen 25 Jahren in erster Linie zur Bestands-senkung und damit zur Reduzierung der Kapitalbindung eingesetzt, so kann es bei Anwendung im Individualisierungszeitalter gar zu einer Erhöhung der Kapi-talbindung führen.

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Herausforderungen klassischer Routenzugsysteme 491

Abbildung 2.1 Schematische Darstellung der Problemstellen eines klassi-schen Routenzugsystems im Industrieumfeld 4.0

Als Zwischenfazit kann an dieser Stelle festgehalten werden, dass klassische Lean-Konzepte wie das Routenzugsystem bei Anwendung in Unternehmen, welche in einem sehr dynamischen und komplexen Umfeld operieren, ihre ursprünglich be-absichtigten Optimierungswirkungen (Bestandsminimierung, Durchlaufzeitver-kürzung, Losgrößenverkleinerung, Selbststeuerung, Einfachheit etc.) nicht im an-gedachten Maße entfalten können, oder diese gar verfehlen. Es wird daher nicht möglich sein das klassische Routenzugkonzept einfach in das Umfeld der vierten industriellen Revolution zu kopieren; vielmehr werden Anpassungen und Erwei-terungen notwendig, welche neben dem ursprünglichen Hauptziel der Bestands-minimierung die Flexibilität und Wandlungsfähigkeit des Konzeptes weiter in den Vordergrund rücken.

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492 Materialbereitstellung On-Demand

2.3 Vom klassischen Routenzugsystem zur bedarfsorientierten Materialbereitstellung

Um den in Abschnitt 2.2 genannten Herausforderungen klassischer Routenzugsys-teme entgegenzuwirken, wird nachfolgend ein Materialbereitstellungskonzept vorgestellt, dessen Hauptfokus auf einer bedarfsorientierten Steuerung sowie ei-ner hohen Systemanpassungsfähigkeit liegt. Durch die Integrationsfähigkeit in be-reits bestehende oder gar historisch gewachsene Produktionsstätten soll das ent-wickelte Konzept weiterhin demonstrieren, dass Unternehmen, deren aktueller Maschinenpark keine kontinuierliche Bereitschaft zur echtzeitfähigen Datenüber-mittlung aufweist, keinesfalls der fälschlichen Annahme unterliegen sollten, dass die Implementierung von Industrie-4.0-Ansätzen gleichzeitig die Investition in neue, hochmoderne Hightech-Maschinen bedingt. Der genannte Trugschluss kann dazu führen, dass der Einstieg in das vierte industrielle Zeitalter aufgrund einer ermittelten Investitionssumme, die auf falschen Kalkulationsannahmen basiert und aus Sicht des Unternehmens über dem wirtschaftlich vertretbaren Aufwand liegt, abgebrochen wird. Die Entscheidung gegen Industrie 4.0 auf der einen und die kontinuierlich steigende Marktvolatilität auf der anderen Seite können zur Folge haben, dass sich das Unternehmen mittelfristig einem immensen Effizienz-druck ausgesetzt sieht und im Worst Case den Wettbewerbsanschluss verliert.

2.3.1 Aufbau eines auf der P-INK-Technologie basierenden bedarfsorientierten Materialbereitstellungskonzeptes

Kernelement des bedarfsorientierten Materialbereitstellungskonzeptes ist eine smarte Einsteckkarte, deren Technologie auf dem vom Fraunhofer Institut für Ma-terialfluss und Logistik (Fraunhofer IML) entwickelten P-INK-Konzept („Pick-by-Ink“) basiert. In einer Pressemitteilung des Fraunhofer IML werden P-INK u. a. folgende Eigenschaften zugesprochen: biegsam, drahtlos, energiesparend und dünn wie ein Stück Pappe [7]. Technische Ausstattungsmerkmale wie ein kontrast-starkes, segmentiertes, flexibles und reaktionsschnelles E-Ink-Display, das zur An-zeige seiner Informationen keine Erhaltungsspannung benötigt, ein Akku mit bis zu sechs Monaten Energiereserve, ein 32-Bit ARM-Prozessor mit Ultra-Low-Power Nahbereichsfunkmodul (868 MHz) zum schnellen Informationsaustausch und vier Bedientasten als Mensch-Maschine-Schnittstelle machen die Einsteckkarte zum ak-

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Vom klassischen Routenzugsystem zur bedarfsorientierten Materialbereitstellung 493

tiven Teilnehmer einer „Social Networked Industry“ – einem eventbasierten Netz-werk soziotechnischer Systeme (vgl. [7]; [3]). Das E-Ink-Display ist Eyecatcher und Informationsanzeige zugleich und damit eigenständig in der Lage den Kommissi-onierer zum korrekten Entnahmeort zu navigieren. Zusätzliche Blickfangleuchten o. ä., wie sie bspw. bei Pick-by-Light-Systemen zum Einsatz kommen, sind somit nicht notwendig.

Da die Größe der elektronischen Einsteckkarte der einer konventionellen Kanban-Karte entspricht, lässt sich diese mit allen Standardkleinladungsträgern (KLT) kombinieren, die einen Karteneinschub aufweisen (vgl. [7]). Durch die Erweite-rung des Kleinladungsträgers mit einer intelligenten Einsteckkarte wird dieser zum dezentral vernetzten cyberphysischen System und damit – wie bereits er-wähnt – zum aktiven Teilnehmer eines soziotechnischen Netzwerks. Die geschaf-fenen smarten Behälter sind u. a. in der Lage sich bedarfsabhängig untereinander, mit dem Internet oder weiteren Systemen zu verbinden (Cyber), Bestandsverände-rungen (z. B. Bauteilentnahmen) über die integrierte Mensch-Maschine-Schnitt-stelle zu erfassen (Physisch) sowie Informationen zu teilen (System) (vgl. [6]).

Jede einzelne der eingesetzten smarten Einsteckkarten ist drahtlos mit einem Ac-cesspoint verbunden, der zum einen dafür sorgt, dass Informationen eines überge-ordneten Systems (z. B. Warehouse-Management-System (WMS), Enterprise-Re-source-Planning-System (ERP), Manufacturing-Execution-System (MES) etc.) empfangen und eventbasiert an die Einsteckkarten weitergeleitet werden und zum anderen sicherstellt, dass Behälterinformationen in umgekehrter Richtung das ent-sprechende Empfängersystem erreichen (vgl. [7]; [3]).

Während P-INK 2016 für den Einsatz in klassischen Kommissionierbereichen ent-wickelt wurde, wird das Einsatzspektrum der intelligenten Einsteckkarte im Zuge der Entwicklung des bedarfsorientierten Materialbereitstellungskonzeptes erwei-tert und auf den Bereich der Produktionslogistik ausgedehnt. Das bedarfsorien-tierte Konzept sieht vor, dass im ersten Schritt alle Ladungsträger, die im Rahmen des Materialbereitstellungssystems zum Einsatz kommen, mit einer smarten Einst-eckkarte ausgestattet werden. Die intelligente Karte ersetzt dabei alle bisher an den Ladungsträgern verwendeten Informationsträger (z. B. Papier-Einsteckkarten, Barcodes etc.). Für die entsprechend notwendige Informationsdarstellung kann das Layout des elektronischen Kartendisplays an die unternehmensspezifischen Anforderungen angepasst werden (vgl. [3]). Um die Identifikation von Ladungs-trägern bzw. deren Inhalt im Produktionsbereich sicherzustellen, müssen zumeist folgende Informationen auf dem E-Ink-Display dargestellt werden: Behälter-ID als Klartext und als QR-Code, Artikelnummer, Artikelname/-beschreibung, Stück-zahl. Können alle Behälter mit einer intelligenten Einsteckkarte ausgestattet, die

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494 Materialbereitstellung On-Demand

notwendigen Informationen auf dem elektronischen Display angezeigt und damit Schritt eins abgeschlossen werden, so ist das Materialbereitstellungskonzept in der Lage alle relevanten Informationen bzgl. der Behälterbestände echtzeitnah zur Verfügung zu stellen.

Da Pick-by-Ink in seiner ursprünglichen Form als Mensch-zu-Ware-Kommissio-nierkonzept ausgelegt wurde und die Behälter dabei ihre statische Lage nicht ver-lassen, stellte die Lokalisierung der elektronischen Karten bzw. der verbundenen Behälter keine notwendige Systemanforderung dar. Im Zuge des bedarfsorientier-ten Materialbereitstellungskonzeptes ist es jedoch essentiell, dass neben den Be-standsinformationen auch die relativen Bezugspositionen bekannt sind, an denen sich die jeweiligen Bestände/Behälter befinden (z. B. Arbeitsstation Nr., Lagerbe-reich etc.). Um die Lokalisierungsanforderung erfüllen zu können, ist keine Erwei-terung der P-INK-Technologie erforderlich. Die relative Positionsbestimmung der Behälter erfolgt über das in den Einsteckkarten integrierte Nahbereichsfunkmodul und basiert auf dem Received Signal Strength Indicator (RSSI). Um die Behälter definierten Bezugspunkten (bspw. den Arbeitsstationen im Produktionsbereich) zuzuordnen, wird jeder Bezugspunkt bzw. jede Station mit einem Accesspoint aus-gestattet. Durch Festlegung eines RSSI-Schwellenwertes, welcher dem Radius der entsprechenden Arbeitsstation entspricht, können die intelligenten Karten bzw. die damit verbundenen Behälter eindeutig den Lokalitäten zugeordnet werden.

Mit der Auswertung des RSSI zur relativen Positionsbestimmung der smarten Einsteckkarten bzw. der verbundenen Behälter ist jederzeit bekannt, welche Behäl-ter und Behälterbestände sich an welchen Arbeitsstationen, Kommissionier- oder Lagerorten befinden. Umgekehrt betrachtet stehen nun alle notwendigen Informa-tionen zur Verfügung, um mittels einer multiagentenbasierten Steuerungsstruktur nachfolgende Fragen echtzeitnah beantworten zu können: welche Arbeitsstationen benötigen welche Komponenten in welcher Menge und wann muss der nächste Auslieferungszyklus spätestens starten? Damit werden alle Grundvoraussetzun-gen für eine Materialbereitstellung On-Demand erfüllt.

Neben der P-INK-Technologie als Basis für ein bedarfsorientiertes Materialbereit-stellungskonzept muss im zweiten Schritt die Frage beantwortet werden, wie die kommissionierten Behälter möglichst effizient zu den entsprechenden Arbeitssta-tionen gelangen. Da ein Behältertransport über fixe Routen und nach fixen Termin-plänen, wie er in Abschnitt 2.2 beschrieben wird, die im Individualisierungszeital-ter notwendige Anpassungsfähigkeit nicht oder nur bedingt erfüllen kann, werden nachfolgend zwei alternative Ausbaustufen vorgestellt. Es sei darauf hingewiesen, dass der vorliegende Artikel keinen Anspruch auf eine vollständige Beschreibung und Bewertung der existierenden Behältertransportsysteme erhebt. Im Zuge der

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Vom klassischen Routenzugsystem zur bedarfsorientierten Materialbereitstellung 495

nachfolgenden Ausbaustufen wird lediglich ein Auszug der möglichen Technolo-giekonzepte vorgestellt, mittels derer ein Transport der kommissionierten Behälter zu den Arbeitsstationen durchgeführt werden kann:

■ Ausbaustufe 1: Der technische Aufbau des Routenzuges bleibt bestehen, je-doch wird dem Fahrer eine zyklusindividuelle Route vorgegeben. Im Rahmen von Ausbaustufe 1 wird eine zentrale Planungs- und Steuerungsinstanz ein-gesetzt, welche bspw. die zyklusindividuellen Fahrzeugbeladungen konfigu-riert, die entsprechenden Kommissionieraufträge weiterleitet, die Abfahrts-zeitpunkte für die Züge festlegt (Scheduling) oder auch die zyklusindividuel-len Routen berechnet und den entsprechenden Zügen zur Verfügung stellt (zyklusindividuelle Transportaufträge für Routenzüge). Alle zur Berechnung der zuvor aufgeführten Parameter erforderlichen Informationen werden von den smarten Einsteckkarten über den entsprechenden Accesspoint echtzeit-nah bereitgestellt. Zu den benötigten Informationen zählen z. B. die aktuellen Materialvorratsmengen und durchschnittlichen Materialverbräuche an den Arbeitsstationen (Berechnung der voraussichtlichen Bestandsreichweiten) so-wie die Materialvorratsmengen und Behälterlokalitäten in den entsprechen-den Lagerbereichen (Erstellung von Kommissionieraufträgen).

■ Ausbaustufe 2: Im Rahmen von Ausbaustufe 2 werden die konventionellen Routenzüge aufgelöst und durch kleinere, frei navigierende fahrerlose Trans-portroboter ersetzt, die mit einer autonomen Selbststeuerung ausgestattet sind und im Vergleich zu den Routenzügen öfter geringere Mengen zu den Arbeitsstationen befördern. Die Roboter können z. B. nachfolgende Fragen ei-genständig oder bei Bedarf auch im Kollektiv beantworten: welche Arbeitssta-tion benötigt welche Komponenten in welcher Menge, welches Fahrzeug übernimmt die Belieferung welcher Arbeitsstationen oder wann muss der nächste Auslieferungszyklus gestartet werden?

Eine schematische Darstellung zum Aufbau des beschriebenen bedarfsorientierten Materialbereitstellungskonzeptes (Ausbaustufe 2) wird in Abbildung 2.2 skizziert.

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496 Materialbereitstellung On-Demand

Abbildung 2.2 Schematische Darstellung des bedarfsorientierten Materialbe-reitstellungskonzeptes

2.3.2 Funktionsweise eines auf der P-INK-Technologie basierenden bedarfsorientierten Materialbereitstellungskonzeptes

Nachfolgend wird beschrieben, wie ein mit smarter Einsteckkarte bestückter Be-hälter mittels des zuvor beschriebenen Materialbereitstellungskonzeptes bedarfs-orientiert vom Kommissionierbereich zur entsprechenden Arbeitsstation befördert wird. Bei dem entwickelten Konzept wird – im Vergleich zum klassischen System - immer erst dann ein neuer Kommissionier- und Auslieferungszyklus initiiert, wenn an den Arbeitsstationen ein entsprechender Komponentenbedarf besteht; d. h. die Entscheidungen, welche Arbeitsstation im nächsten Zyklus mit welchen

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Vom klassischen Routenzugsystem zur bedarfsorientierten Materialbereitstellung 497

Komponenten in welcher Menge versorgt wird und wann der nächste Ausliefe-rungszyklus startet, werden individuell getroffen und können durchaus für jeden Zyklus unterschiedlich ausfallen.

Im ersten Schritt gilt es die bedarfsabhängige Fahrzeugbeladung, welche in den meisten Fällen aus verschiedenen Komponenten besteht, zusammenzustellen. Um dem Kommissionierer anzuzeigen welche der Behälter für die nächste Beladung „gepickt“ werden müssen, machen die zugehörigen E-Ink-Displays über einen kontinuierlichen Kontrastwechsel „auf sich aufmerksam“ (vgl. [7]). Eine Quittie-rung über die Bedientasten des Displays bestätigt die Behälterentnahme und been-det den Kontrastwechsel. Die Meldung der Behälterentnahme wird direkt über den zugehörigen Accesspoint an ein übergeordnetes System oder ein virtuelles Blackboard weitergeleitet.

Abhängig von der Systemausbaustufe findet die anschließende Auswahl des für den Transport der kommissionierten Behälter zuständigen Fahrzeugs zentral (Ausbaustufe 1) oder dezentral z. B. mittels Auktionsverfahren (Ausbaustufe 2) statt. Nach Aufnahme der Behälter im Kommissionierbereich übernehmen die Fahrzeuge den Transport zu den Arbeitsstationen. Bei Ankunft des Fahrzeugs an der jeweiligen Arbeitsstation werden die bereitgestellten leeren Behälter gegen volle Behälter ausgetauscht. Mit dieser Vorgehensweise wird sichergestellt, dass die Anzahl der Behälter an den Arbeitsstationen konstant bleibt und die Rückfahrt effizient für das Leerbehältermanagement genutzt wird.

Sobald der Werker einer Arbeitsstation Einzelkomponenten aus einem Behälter entnimmt und die Entnahme über die Bedientasten des E-Ink-Displays bestätigt wird die Information direkt über den Accesspoint an ein übergeordnetes System oder ein virtuelles Blackboard weitergeleitet (Abbildung 2.3). Die Erfassung der Bestandsveränderungen mittels Mensch-Technik-Schnittstelle, kombiniert mit der in Abschnitt 2.3.1 beschriebenen Lokalisierungstechnologie, führt dazu, dass jeder-zeit bekannt ist, an welcher Arbeitsstation welche Komponenten in welcher Menge vorhanden sind. Die Bereitstellung der genannten Informationen bildet die Grund-lage für die bedarfsorientierte Berechnung des nächsten Kommissionier- und Aus-lieferungszyklus. Der Steuerungskreis des hier vorgestellten bedarfsorientierten Materialbereitstellungskonzeptes kann somit geschlossen und von nun an event-basiert sowie iterativ durchlaufen werden.

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498 Materialbereitstellung On-Demand

Abbildung 2.3 Informationsfluss bei Entnahme von Komponenten

2.3.3 Bewertung eines auf der P-INK-Technologie basierenden bedarfsorientierten Materialbereitstellungskonzeptes

Nachfolgend wird erläutert, wie das in den Abschnitten 2.3.1 und 2.3.2 beschrie-bene Materialbereitstellungskonzept, das sich an den tatsächlichen Bedarfen der Arbeitsstationen orientiert, im Vergleich zum klassischen Routenzugsystem be-wertet werden kann. Bei Einsatz in einem Unternehmen, das im dynamischen und komplexen Industrieumfeld 4.0 operiert, können die nachfolgend beispielhaft auf-geführten Eigenschaften des bedarfsorientierten Materialbereitstellungskonzeptes u. a. dazu beitragen die in Abschnitt 2.1 beschriebenen Folgen der Individualisie-rungsentwicklung in Effizienzsteigerung und Wettbewerbsvorteile umzuwan-deln:

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Vom klassischen Routenzugsystem zur bedarfsorientierten Materialbereitstellung 499

■ Dynamische Anpassung der elementaren Systemeigenschaften durch echt-zeitnahe Verfügbarkeit der notwendigen Berechnungsdaten

‒ Individuelle, bedarfsabhängige Route ‒ Individuelle/r, bedarfsabhängige/r Fahrplan/Frequenz ‒ Individuelle, bedarfsabhängige Fahrzeugbeladung ‒ Individuelle, bedarfsabhängige Anzahl an Fahrzeugen im aktiven Materi-

albereitstellungssystem ‒ Individuelle, bedarfsabhängige Zuordnung von Fahrzeugen zu Routen

■ Informationstransparenz: Vernetzung von Arbeitsstationen/Behältern, Transportfahrzeugen, Kommissi-onierbereichen und übergeordneten Systemen

■Hohe Flexibilität, Wandlungsfähigkeit (Anpassungsfähigkeit) und Skalierbar-keit bei dynamisch aufkommenden Umfeldveränderungen

Die vorgenannten Eigenschaften zeigen auf, dass die Vernetzung der am Material-bereitstellungsprozess beteiligten Entitäten das Fundament für ein bedarfsorien-tiertes Konzept bildet. Durch die Fähigkeit der Entitäten alle notwendigen Infor-mationen echtzeitnah und transparent bereitzustellen verfügt das System zu jedem Zeitpunkt über das Wissen, welche Arbeitsstation welche Komponenten in wel-cher Menge benötigt und wann der nächste Auslieferungszyklus spätestens starten muss. Bei der iterativen Bestimmung der zyklusindividuellen Systemeigenschaf-ten ist es wichtiger die notwendigen Parameterkonfigurationen innerhalb eines vorgegebenen Zeitfensters zu ermitteln, als „die mutmaßlich optimale Konfigura-tion“ zu spät (vgl. [4]).

Die mit Hilfe des entwickelten Materialbereitstellungskonzeptes gewonnene An-passungsfähigkeit geht jedoch gleichzeitig mit einer gewissen Systemkomplexi-tätssteigerung im Vergleich zu den klassischen Routenzugsystemen einher. Diese Komplexitätssteigerung folgt aus der Bedarfsorientierung, welche voraussetzt, dass die beteiligten Entitäten mit einer Steuerungsintelligenz ausgestattet werden, die sowohl eine echtzeitnahe Informationsgewinnung und -verarbeitung als auch eine echtzeitnahe Informationsweiterleitung ermöglicht.

Das bedarfsorientierte Konzept ist speziell für Unternehmen geeignet, die auf der einen Seite die Anpassungsfähigkeit ihres internen Materialbereitstellungssystems erhöhen möchten, auf der anderen Seite jedoch nicht auf einen vollvernetzten Ma-schinenpark zurückgreifen können. Neben den bereits genannten Vorteilen spre-chen u.a. geringe Investitions- und Betriebskosten, eine unkomplizierte „Plug-and-Produce-Implementierung“, eine hohe und einfache Skalierbarkeit sowie variable

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500 Materialbereitstellung On-Demand

Ausbaustufen bzgl. des Systemautonomisierungsgrades für den Einsatz der smar-ten Einsteckkarte.

2.4 Fazit und Ausblick

Insbesondere vor dem Hintergrund der immer weiter fortschreitenden Produktin-dividualisierung wird die Steigerung der Anpassungsfähigkeit zukünftig zum ent-scheidenden Erfolgsfaktor für Unternehmen (vgl. [9]). Mit dem Einsatz konventi-oneller Lean-Ansätze alleine wird es künftig nicht mehr möglich sein die Flexibili-tät und Wandlungsfähigkeit von Produktionsbetrieben soweit zu erhöhen, dass sie der Volatilität der Absatzmärkte gerecht werden.

Das entwickelte Konzept zur intelligenten, bedarfsorientierten innerbetrieblichen Materialbereitstellung trägt der genannten Individualisierungsentwicklung Rech-nung und verfolgt auch weiterhin die Ziele des klassischen Routenzugansatzes (Bestandsminimierung, Selbststeuerung, Effizienzsteigerung etc.), ergänzt diese je-doch um die beiden Faktoren der Flexibilität und Wandlungsfähigkeit. Unterneh-men müssen in iterativer Art und Weise genau analysieren, wie sich Produktindi-vidualisierung und Marktvolatilität auf die bestehenden Geschäftsmodelle auswir-ken. Das Analyseergebnis bestimmt daraufhin den Grad der erforderlichen Anpas-sungsfähigkeit. Speziell im technischen Bereich wird der Grad der Anpassungsfä-higkeit durch den Grad der Vernetzung, Dezentralisierung und Autonomisierung von Entitäten bestimmt. Generell gilt: Je höher die Dynamik und Komplexität des Unternehmensumfeldes, desto höher muss der Grad der Anpassungsfähigkeit ge-wählt werden (vgl. [2]).

Bezogen auf das bedarfsorientierte, smarte Materialbereitstellungskonzept wird der Grad der Anpassungsfähigkeit über die in Abschnitt 2.3.1 beispielhaft be-schriebenen Ausbaustufen eingestellt. Alle der generell möglichen Konzeptaus-baustufen erfüllen die Grundvoraussetzungen einer Materialbereitstellung On-De-mand, unterscheiden sich jedoch im Grad der Vernetzung, Dezentralisierung und Autonomisierung. Da eine höhere Anpassungsfähigkeit in der Regel einen höhe-ren Aufwand bedingt, müssen Unternehmen individuell bewerten, welche Sys-temausbaustufe zur Sicherung oder zur Stärkung der eigenen Wettbewerbsfähig-keit erforderlich ist. Bestehende Werksstrukturen, unternehmenspolitische Rest-riktionen, Produktportfolio und Marktumfeld sind nur ein Auszug der Faktoren, die zur Bestimmung der benötigten Anpassungsfähigkeit und somit für die Wahl der geeignetsten Implementierungsvariante des intelligenten Materialbereitstel-lungskonzeptes herangezogen werden sollten.

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Fazit und Ausblick 501

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Dieser Beitrag entstand im Rahmen des Graduiertenkollegs GRK 2193 „Anpas-sungsintelligenz von Fabriken im dynamischen und komplexen Umfeld“ gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG).

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Literatur

[1] aicovo GmbH: Charles Darwin Zitate und Sprüche, http://www.nur-zitate.com/au-tor/Charles_Darwin – Aktualisierungsdatum: 2016-09-18 – Überprüfungsdatum: 2017-04-10

[2] Bauernhansl, Thomas: Die Vierte Industrielle Revolution: Der Weg in ein wertschaffen-des Produktionsparadigma. In: Bauernhansl, Thomas; ten Hompel, Michael; Vogel-Heu-ser, Birgit (Hrsg.): Industrie 4.0 in Produktion, Automatisierung und Logistik: Anwen-dung, Technologien, Migration. Wiesbaden: Springer Vieweg, 2014 (SpringerLink)

[3] Große-Puppendahl, Daniel: Pick-by-Ink – Kommissionieren mit Behältern und flexiblen Displays - Interviewer: Felix Zeidler - Interviewort: Fraunhofer Institut für Materialfluss und Logistik, 13.07.2016

[4] ten Hompel, Michael: Individualisierung als logistisch-technisches Prinzip. In: Günth-ner, Willibald; ten Hompel, Michael (Hrsg.): Internet der Dinge in der Intralogistik. Ber-lin, Heidelberg: Springer-Verlag Berlin Heidelberg, 2010 (VDI-Buch)

[5] ten Hompel, Michael: Industrielle Revolution 4.0: Keine Zeit zu jeder Zeit. In: Eine Son-derveröffentlichung der Industrieverbände BITKOM, VDMA, ZVEI (2014)

[6] ten Hompel, Michael: Einführung in die Intralogistik: Trends - Visionen - Entwicklungen - Intralogistik 2016 (Vorlesungsunterlage). Dortmund, 2016

[7] von Janczewski, Bettina: Plug and Pick mit P-INK - Messe CeMAT 2016, https://www.iml.fraunhofer.de/de/presse_medien/pressemitteilungen/Plugandpick-mitPINK.html. – Aktualisierungsdatum: 2016 – Überprüfungsdatum: 2016-08-27

[8] Klug, Florian: Logistikmanagement in der Automobilindustrie: Grundlagen der Logistik im Automobilbau. Berlin: Springer, 2010 (VDI-Buch)

[9] Steegmüller, Dieter; Zürn, Michael: Wandlungsfähige Produktionssysteme für den Au-tomobilbau der Zukunft. In: Bauernhansl, Thomas; ten Hompel, Michael; Vogel-Heuser, Birgit (Hrsg.): Industrie 4.0 in Produktion, Automatisierung und Logistik: Anwendung, Technologien, Migration. Wiesbaden: Springer Vieweg, 2014 (SpringerLink)

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3 Auswirkungen von Echtzeitkommunikation in der Baustellenlogistik

D. Schlüter, A. Spengler, Prof. Dr.-Ing. A. Malkwitz (Universität Duisburg-Essen)

3 Auswirkungen von Echtzeitkommunikation in der Baustellenlogistik 503

3.1 Einleitung ..................................................................................................... 5043.2 Stand der Technik ....................................................................................... 5043.3 Nutzen von Echtzeitkommunikation in der Baustellenlogistik ........... 5083.4 Zusammenfassung und Ausblick ............................................................. 514

Literatur ........................................................................................................................ 515

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_31

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504 Auswirkungen von Echtzeitkommunikation in der Baustellenlogistik

3.1 Einleitung

Der Beitrag handelt über Methoden zur Echtzeitkommunikation und deren Eig-nung zur Kommunikation zwischen Akteuren (menschlich) und Aktoren (maschi-nell) auf der Baustelle und in der Baustellenlogistik. Mit zunehmender Verbreitung des Building Information Modeling (BIM) sind die Grundlagen gegeben, Informa-tionen in Echtzeit für die Nutzung in der Baulogistik verfügbar zu machen und somit, in Verbindung mit weiteren bauspezifischen Technologien, die Wertschöp-fungskette der Baustelle digital zu steuern. Gemäß aktuellem Stand der Technik ist dies prinzipiell bereits heute möglich. Nachfolgend werden insbesondere die Aus-wirkungen von Echtzeitkommunikation auf die Tätigkeitsprofile der Mitarbeiter in der Wertschöpfungskette betrachtet.

3.2 Stand der Technik

Das Bauen und die Logistik gehören zusammen. Dies wird dadurch deutlich das in der Vergangenheit bis zu 45% des gesamten Primärmaterialeinsatzes auf die Bauwirtschaft entfiel.38 Jedoch ist, bedingt durch die Eigenarten des Produktions-systems Baustelle, die einfache Übertragung von Logistikkonzepten und Metho-den aus der stationären Industrie nicht möglich. Ein Grund hierfür ist zum Beispiel der Unikatcharakter bei Bauprojekten sowie die projektartige Organisation der Produktion. Unter Baulogistik werden im Kontext dieser Ausarbeitung sämtliche Aktivitäten des transportieren, umschlagen, lagern und kommissionieren zur Ver- und Entsorgung der Baustelle sowie für Arbeitsabläufe auf der Baustelle selbst ver-standen.

Die Eigenarten der Bauwirtschaft führen in der Summe dazu, dass sich das Pro-duktionsziel auf der Baustelle selten wiederholt. In den einzelnen Arbeitsvorgän-gen, bis zur Erfüllung des Produktionsziels, sind jedoch Wiederholungsfaktoren in Prozessen und Tätigkeiten gegeben. Vorhandene Automatisierungssysteme setzen meist bei derartigen Routinetätigkeiten an, ein Beispiel hierfür ist die GPS- ge-stützte Lenkung aus der Agrarwirtschaft. Hierdurch soll die Wiederholbarkeit von Prozessen und die Produktivität der Mitarbeiter gesteigert werden.39

Damit Automatisierung auch in der Bauwirtschaft und der Baulogistik eingesetzt

38 Vgl. Weber (2007), S. 17 39 Vgl. Botthoff-Ernst u.a. (2015), S. 67

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Stand der Technik 505

werden kann müssen Gebäudedaten digital verfügbar sein. In diesem Zusammen-hang nimmt das Building Information Modeling (BIM) einen hohen Stellenwert sowohl in Forschung und Entwicklung, als auch zunehmend in der Praxis ein. Hierbei steht ein digitales Gebäudemodell im Mittelpunkt der Betrachtung, wel-ches von allen Beteiligten in der Wertschöpfungskette modifiziert und mit zusätz-lichen Attributen versehen werden kann.

Bezugnehmend auf den hier betrachteten Aspekt der Echtzeitkommunikation bil-det das digitale Gebäudemodell die Grundlage, um anfallende Daten digital (nach Möglichkeit autonom) zu zuordnen, auszuwerten und weiter zu verarbeiten. Aus Sicht eines Projekts ist das Ergebnis in Bezug auf Qualität, Kosten und Zeit von entscheidender Bedeutung.

Abbildung 3.1 Kommunikationsschnittstellen zwischen Menschen und Maschi-nen

Echtzeitkommunikation kann sowohl zwischen zwei Menschen, zwischen Mensch und Maschine als auch zwischen zwei Maschinen stattfinden. Grundlage ist immer ein Sender und ein Empfänger von Informationen. In der nachfolgenden Tabelle 2.3.1 werden mögliche Kommunikationsformen der Bauwirtschaft bzw. der Baustellenlogistik betrachtet.

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506 Auswirkungen von Echtzeitkommunikation in der Baustellenlogistik

Tabelle 2.3.1 Möglichkeiten der Kommunikation

Kommunikations-formen

Beschreibung Signallaufzeit und Aus-prägung

Individualkommu-nikation zwischen Mensch / Mensch

Kommunikation zwischen zwei phy-sisch zusammenstehenden Menschen. Hier muss einer der Sender zum Emp-fänger transportiert werden.40 Bei dieser Art der Kommunikation werden häufig zusätzlich weitere für die Aufgabe nicht relevante Informationen ausgetauscht.

20-40 Minuten (Bedingt durch Informationsaus-tausch und Transferzeit)

Ja nach Fahrentfernung

Auf Nachricht wird sofort reagiert.

Telekommunika-tion zwischen Mensch / Mensch

Sender und Empfänger kommunizieren über verbale Telekommunikationsme-dien. Verbale Interaktion zwischen zwei, sich nicht in Rufweite befindli-chen, Menschen.

5-10 Minuten (Bedingt durch Telefongespräch)

Auf Nachricht wird sofort reagiert.

Netzbasierte Kom-munikation zwi-schen Mensch / Mensch über Ma-schine

Nonverbale Interaktion zwischen Sen-der und Empfänger. Es muss zwischen Mail, Blog etc. unterschieden werden. Hier wird die Mail weiter betrachtet.

5-20 Minuten (Bedingt durch ausformulieren der Nachricht, durchschnittli-cher Empfang (bei per-manent laufenden Mail-programm) und Antwort.

Digitale Kommuni-kation über Portale zwischen Mensch / Mensch über Ma-schine

Sender und Empfänger interagieren über Softwareportale miteinander. Üb-licherweise sind diese Portale im Inter-net oder Intranet angesiedelt.

Wann die Nachricht gele-sen und darauf reagiert wird, kann nicht vorher-gesagt werden.

40 Vgl. Paetau (1990), S.85.

Page 501: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Stand der Technik 507

Kommunikation zwischen Mensch / Maschine

Diese Kommunikationsform wird im-mer dann verwendet, wenn der Mensch mit Maschinen interagiert und diese steuert. Mensch und Maschine können sowohl Sender, als auch Empfänger von Informationen sein.

Echtzeit möglich

Verzögerung durch ver-zögerte Eingabe durch den Menschen.

Kommunikation zwischen Maschine / Maschine

Kommunikation zwischen zwei Ma-schinen wie Computer, Roboter oder auch Baumaschinen. Nachricht wird so-fort weiterverarbeitet.

Echtzeit

Verzögerung im ms oder sec Bereich.

Menschen können im Dialog viele Informationen austauschen und Unklarheiten durch Diskussion minimieren. Der Informationsaustausch ist hierbei im direkten Dialog besonders hoch, da der Sender zur Informationsübermittlung die Körper-sprache und Mimik aktiv mit nutzt. Die Signallaufzeit bis zur Reaktion des Emp-fängers ist jedoch relativ hoch da die Menschen physikalisch zueinander gebracht und Zeit und Raum zur Verfügung gestellt werden muss.

Im Gegensatz hierzu läuft die Maschine / Maschine Interaktion ungleich schneller ab. Wesentliche Merkmale sind eine verbesserte Informationsqualität (Syntax und Semantik) und die beschleunigte Signallaufzeit (Latenz) zwischen Sender und Empfänger der Informationen. Zur Syntax und Semantik schreibt Watzlawick: „Digitale Kommunikationen haben eine komplexe und vielseitige logische Syntax, aber eine auf dem Gebiet der Beziehungen unzulängliche Semantik. Analoge Kom-munikation dagegen besitzen dieses semantische Potenzial, ermangeln aber der für eindeutige Kommunikationen erforderlichen Syntax.“41 Informationsgehalt und –qualität sind hierbei von folgenden Faktoren abhängig:

■ Bei allen unklaren Systemzuständen muss der Mensch steuernd eingreifen.

■ Informationen müssen nach einem zuvor festgelegten Schema ausgetauscht werden, weicht ein Akteur von diesem Schema ab „verstehen“ sich die Ge-genseiten nicht mehr.

■ Die Menge an Informationen kann „fast“ beliebig skaliert werden, sie ist im

41 Vgl. Watzlawick u.a. (2011), S. 78.

Page 502: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

508 Auswirkungen von Echtzeitkommunikation in der Baustellenlogistik

Wesentlichen von der verfügbaren Rechenleistung, Speicherbedarf und Band-breite der Übertragung abhängig.

■ Sollen Informationen übertragen werden, die im Vorfeld nicht festgelegt wur-den, so muss die maschinelle Informations- / Datenübertragung vom Men-schen angepasst werden.

■ Sind Informationen erst mal digital verfügbar, so können Sie beliebig model-liert, verändert, angepasst oder durch sie logische Schlüsse gezogen werden.

3.3 Nutzen von Echtzeitkommunikation in der Baustellenlogistik

Wie in den Grundlagen beschrieben sind Qualität, Kosten und Termine die ent-scheidenden Erfolgsfaktoren für Projekte der Bauwirtschaft. Die Generierung von ökonomischem Nutzen ist daher eine der wesentlichen Fragestellungen bei der Ablaufplanung des Projektes und der baulogistischen Prozesse. Dieser ist bezug-nehmend auf die Echtzeitkommunikation schwer zu fassen. So arbeiten Maschi-nen, nur weil sie in Echtzeit kommunizieren, nicht unbedingt schneller oder kos-tengünstiger. Wesentliche Ansatzpunkte zur Generierung von ökonomischem Nutzen in der Baulogistik liegen eher in der Minimierung von Stillstandzeiten der Baumaschinen oder, wie oben erwähnt, einer durch Automatisierung bedingten Verbesserung der Mitarbeiterproduktivität. Im Hinblick auf die Baulogistik kann somit insbesondere die Mitarbeiterproduktivität beim Transport und dem Um-schlagen (z.B. durch LKW Fahrer), der Einlagerung auf der Baustelle (z.B. durch Bauleiter) oder dem Kommissionieren (z.B. durch Lager- Hilfskraft) durch Echt-zeitkommunikation gesteigert werden.

Dies wird möglich, wenn sich durch den Einsatz von Echtzeitkommunikation das Tätigkeitsprofil der Mitarbeiter dahingehend verschiebt, wofür diese ursprünglich eingestellt wurden und sich durch die entstehende Entlastung von Routinetätig-keiten ein ökonomischer Nutzen nachweisen lässt. Dies ist der Fokus der nachfol-genden Analyse.

Eine mögliche Vorgehensweise den ökonomischen Nutzen aus der Entlastung von Routinetätigkeiten zu ermitteln ist das „Hedonic-wage-model“. Sassone und Schwarz42 entwickelten diese Methodik die davon ausgeht, dass durch den Einsatz

42 Vgl. Grob H.L

Page 503: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Nutzen von Echtzeitkommunikation in der Baustellenlogistik 509

von Informations- und Kommunikationstechnologie (IKT) Mitarbeiter von Routi-neaufgaben entlastet werden und sich somit eine Verschiebung der Mitarbeitertä-tigkeiten, hin zu deren eigentlicher Aufgaben, ergibt. Dies ist in den nachfolgenden Abbildung 3.2 und Abbildung 3.3 dargestellt.

Abbildung 3.2 Tätigkeitsprofil ohne Einfluss von IKT Technologie

Abbildung 3.3 Tätigkeitsprofil mit Einfluss von IKT Technologie

Das Modell wurde von Spengler (2017)43 auf die IKT in der Bauwirtschaft ange-wendet. In dieser Ausarbeitung wird davon ausgegangen das IKT in heutigen bau-logistischen Prozessen standardmäßig Verwendung findet. Bezugnehmend auf die Möglichkeiten von Echtzeitkommunikation in der Baulogistik wird das Modell nachfolgend weiterentwickelt.

Hierbei werden die folgenden Hypothesen betrachtet:

43 Vgl. Spengler und Ali (2017)

Page 504: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

510 Auswirkungen von Echtzeitkommunikation in der Baustellenlogistik

■ Hypothese 1: Der ökonomische Nutzen von Bauprojekten und dazugehörigen logisti-schen Prozessen kann durch den Einsatz von Echtzeitkommunikation gesteigert wer-den

■ Hypothese 2: Zur Steigerung von ökonomischem Nutzen ist es notwendig die Aufga-ben der Mitarbeiter hierarchisch zu vervollständigen und somit ihre Produktivität zu erhöhen

Hierarchische Vervollständigung meint, dass Mitarbeiter sich mehr den eigentli-chen Aufgaben ihres Arbeitsplatzes widmen und Routineaufgaben minimieren.44 Dies soll dazu führen, dass der Fokus mehr den Tätigkeiten in Planung und Aus-führung sowie Steuerung und Kontrolle von z.B. baulogistischen Aktivitäten zu-gewendet wird. Als Beispiele für Routineaufgaben in der Ver- und Entsorgung der Baustelle sowie auf der Baustelle selber können das Anfertigen von Kopien, suchen nach Unterlagen, schreiben von Bautagesberichten oder das Ausfüllen von Formu-laren gelten. Die nachfolgende Tabelle 3.3.2 veranschaulicht das derzeitige Tätig-keitsprofil ausgewählter Akteure auf der Baustelle und der Logistik45. Die in Klam-mern gestellten Werte bezeichnen die Tätigkeitsverteilung unter Berücksichtigung von IKT und sind der Ausgangspunkt der ersten Analyse zur Ermittlung des öko-nomischen Nutzens.

Tabelle 3.3.2 Tätigkeitsverteilung Baustelle/ Baulogistik mit Einfluss von IKT

Tätig- keiten

Mitar- beiter

Führungs-aufgaben

Spezialisten und Fachauf-

gaben

Routine und Verwaltungs-

aufgaben

Nicht pro-duktiv

Bauleitung 30 %

(35 %)

29 %

(35 %)

23 %

(20 %)

18 %

(10 %)

44 Vgl. Bothoff (2015), S.11. 45 Vgl. Spengler und Ali (2017)

Page 505: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Nutzen von Echtzeitkommunikation in der Baustellenlogistik 511

Facharbeiter (z.B. Lager; Baustelle)

1 %

(1 %)

60 %

(70 %)

27 %

(21 %)

12 %

(8 %)

Hilfskräfte 1 %

(1 %)

85 %

(89 %)

14 %

(10 %)

3.3.1 Ermittlung des ökonomischen Nutzens

Damit der Wert des ökonomischen Nutzens durch Verwendung von Echtzeitkom-munikation berechnet werden kann wird der Lohnanteil der einzelnen Berufs-gruppen ermittelt den diese für ihre eigentliche Aufgabe erhalten. So wird der Lohn einer Führungskraft zerlegt in die Anteile Führungsaufgaben bis hin zu Rou-tine- und Verwaltungsaufgaben, die eigentlich von einer Sekretärin bearbeitet wer-den müssten. Diese Tätigkeiten werden dann mit dem Lohn einer Sekretärin und gesondert den Lohn einer Führungskraft gewichtet. Der Analyse liegt die Arbeits-produktivität im Status quo (gemäß Tabelle 3.3.2) zugrunde. Für die Lohnvertei-lung werden die folgenden Jahresgehälter angenommen:

■ Bauleitung: 65.000€

■ Facharbeiter (Lager/ Baustelle/ LKW- und Maschinenführer): 33.000€

■Hilfskräfte: 20.000€

Die Spalte der nichtproduktiven Arbeit wird in der Analyse nicht betrachtet. Das Modell nach Sassone/ Schwarz besagt nun, dass alle Verwaltungsaufgaben mit dem Verrechnungslohn der Sekretärin, alle Routineaufgaben mit dem Verrech-nungslohn des Sachbearbeiters, die Fachaufgaben mit dem Verrechnungslohn ei-ner Fachkraft usw. berechnet werden46. In Summe ergibt sich der jeweilige Jahres-lohn der Arbeitskraft.

Für die hier betrachteten 3 Mitarbeitergruppen erhält man so eine Gleichung mit 3 Unbekannten. Die einzelnen Werte werden anhand der Cramerschen Regel ermit-telt.

46 Vgl. Sassone/ Schwarz

Page 506: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

512 Auswirkungen von Echtzeitkommunikation in der Baustellenlogistik

Abbildung 3.4 Verrechnungslohn mit IKT

Nun werden die jeweiligen Verrechnungslöhne der Mitarbeiter unter Berücksich-tigung von Echtzeitkommunikation ermittelt. Hierzu ist zunächst die Tätigkeits-verteilung anzupassen, um somit die Verringerung der Routinearbeiten darzustel-len. Hasenclever et.al. (2011) quantifizierte das Potenzial aus Nutzung von Metho-den der Echtzeitkommunikation auf die Arbeitsproduktivität auf 8% Zeitersparnis bezogen auf die gesamte Arbeitszeit und 14% Zeitersparnis auf administrative Tä-tigkeiten47. Die Arbeitsproduktivität wird in der gängigen Literatur48 sinngemäß als Ausbringungsmenge bezogen auf die eingesetzten Arbeitsstunden beschrie-ben.

Da die Arbeitsstunden und die Gehälter der Mitarbeiter in der Regel voneinander abhängig sind, werden die von Hasenclever angesetzten Faktoren hier 1:1 auf die Tätigkeiten der Mitarbeiter übertragen. Dabei wird angenommen, dass administ-rative Tätigkeiten mit Routine- und Verwaltungstätigkeiten gelichgesetzt werden können. Es ergibt sich somit die in Tabelle 3.3.3 [in eckigen Klammern] dargestellte Tätigkeitsverteilung.

47 Hasenclever et.al (2011), S. 243 48 Vgl. Gabler Wirtschaftslexikon (u.a.)

Führungsauf-gaben

Spezialisten und Fachaufgaben

Routine und Verwal-tungsaufgaben

Ausgezahlter Lohn

0,35* P1 + 0,35* P2 + 0,2* P3 = 65.000 €

0,01* P1 + 0,7* P2 + 0,21* P3= 33.000 €

0* P1 + 0,01* P2 + 0,89* P3 = 20.000 €

P1 =

134.510,62 €

P2 =

38.609,66 €

P3 =

22.037,99 €

117.999 €

Page 507: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Nutzen von Echtzeitkommunikation in der Baustellenlogistik 513

Tabelle 3.3.3 Tätigkeitsverteilung Baustelle/ Baulogistik mit Berücksichti-gung Echtzeitkommunikation

Tätigkeiten

Mitarbeiter

Führungs-aufgaben

Spezialisten und Fach-aufgaben

Routine und Verwaltungs-

aufgaben

Nicht pro-duktiv

Bauleitung (35 %)

[38 %]

(35 %)

[35 %]

(20 %)

[17 %]

(10 %)

[10 %]

Facharbeiter (z.B. Lager; Bau-

stelle)

(1 %)

[1 %]

(70 %)

[76 %]

(21 %)

[18 %]

(8 %)

[5 %]

Hilfskräfte (0 %)

[0%]

(1 %)

[1 %]

(89 %)

[96 %]

(10 %)

[3 %]

Analog der Vorgehensweise zur Ermittlung des Verrechnungslohns im Status Quo wird nun der Verrechnungslohn für die Nutzung von Echtzeitkommunikation er-mittelt. Die Gehälter der Mitarbeiter sind dabei gleichbleibend und somit ergibt sich der in Abbildung 3.5 dargestellte Verrechnungslohn.

Abbildung 3.5 Verrechnungslohn mit Berücksichtigung Echtzeitkommunika-tion

Führungsauf-gaben

Spezialisten und Fachaufgaben

Routine und Verwal-tungsaufgaben

Ausgezahlter Lohn

0,38* P1 + 0,35* P2 + 0,17* P3 = 68.374 €

0,01* P1 + 0,76* P2 + 0,18* P3= 34.655 €

0* P1 + 0,01* P2 + 0,96* P3 = 21.543 €

P1 = P2 = P3 = 124.572 €

Page 508: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

514 Auswirkungen von Echtzeitkommunikation in der Baustellenlogistik

134.510,62 € 38.609,66 € 22.037,99 €

Die Differenz aus der neu entstehenden Produktivität durch Echtzeitkommunika-tion kann dabei als direkter Gewinn angesehen werden, da die Gehälter der Mit-arbeiter durch den Einsatz von Echtzeitkommunikation nicht angehoben werden sollten49.

Arbeitsproduktivität inkl. Echtzeitkommunikation 124.572 €

Arbeitsproduktivität im Status quo 117.999 €

Gewinn durch Steigerung der Produktivität 6.572 €

[%] 5,57%

Durch die Nutzung von Methoden der Echtzeitkommunikation lässt sich somit eine Steigerung der Arbeitsproduktivität von etwa 5,5% feststellen.

3.4 Zusammenfassung und Ausblick

Bezugnehmend auf die in Kapitel 3.3 aufgestellte Hypothese 1 kann nach erfolgter Analyse davon ausgegangen werden, dass sich durch eine sinnvolle Verwendung von Echtzeitkommunikation ein ökonomischer Nutzen bei Bauprojekten einstellen kann. Die Nachweisführung wurde anhand des Hedonic- Wage Modells nachge-wiesen.

Auch die Nachweisführung der Hypothese 2 gelang anhand der Weiterentwick-lung des Hedonic- Wage- Modells unter Berücksichtigung von Echtzeitkommuni-kation. Es konnte eine Produktivitätssteigerung im Tätigkeitsprofil ausgewählter Mitarbeiter der Baustelle und der baulogistischen Prozesse in Höhe von 5,5%, durch Nutzung von Echtzeitkommunikation festgestellt werden. Die Validierung des Produktivitätssteigerungsfaktors an einem realen Projektbeispiel erscheint da-bei als sinnvoll.

Damit Echtzeitkommunikation noch stärker in die Prozesse der Bauwirtschaft und Logistik involviert werden kann, sind insbesondere die einleitend beschriebenen

49 Vgl. Spengler und Ali (2017)

Page 509: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Zusammenfassung und Ausblick 515

Systemvoraussetzungen für eine Informationsdurchgängigkeit und -qualität zu schaffen. Damit gemeint ist die Möglichkeit Daten in der Wertschöpfungskette durchgehend digital zu erfassen, aufzubereiten und weiterzugeben. Jedoch be-schränken sich Systemvoraussetzungen nicht nur auf das reine Datenmanage-ment.

Für die an der Wertschöpfungskette der Bauwirtschaft beteiligten Unternehmen erscheint dazu die Prüfung auf Systemintegrität des eigenen Unternehmens als sinnvoll. Damit gemeint sein können z.B. Vorgaben aus Unternehmensprozessen, wie z.B. Compliance Richtlinien zu Datensicherheit. Ein weiterer Faktor sind Mit-arbeiterkompetenzen die zur Anwendung von Möglichkeiten der Echtzeitkommu-nikation aufgebaut werden müssen. Wenn es gelingt die Wertschöpfung eines Bau-projektes als integriertes System zu verstehen und durchzuführen erscheint der Einsatz von Methoden der Echtzeitkommunikation als wertvoll.

Literatur

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516 Auswirkungen von Echtzeitkommunikation in der Baustellenlogistik

http://www.autobaulog.de [15] Projekt Erläuterungsbericht (12.06.2017)

http://www.strassenbau.niedersachsen.de/download/84279/Erlaeuterungsbericht.pdf [16] Gabler Wirtschaftslexikon (12.06.2017)

http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Definition/arbeitsproduktivitaet.html

Page 511: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

4 Real-time Event Processing for Smart Logistics Networks

J. Ollesch, M. Hesenius, Prof. Dr. V. Gruhn, C. Alias (Universität Duisburg-Essen)

4 Real-time Event Processing for Smart Logistics Networks 517

Abstract ........................................................................................................................ 5184.1 Introduction ................................................................................................. 5184.2 Definitions and Background Study .......................................................... 5194.3 Extended Process-oriented Event Modeling Method ............................ 5234.4 Use Case Example ....................................................................................... 5254.5 Workshop Results ....................................................................................... 5274.6 Conclusion & Outlook ................................................................................ 5294.7 Acknowledgements .................................................................................... 529

Literatur ........................................................................................................................ 530

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_32

Page 512: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

518 Real-time Event Processing for Smart Logistics Networks

Abstract

In times of aggravating competition in the logistics industry, organizations need to distinguish themselves and enhance their logistics performance. Responsiveness to critical situations and deviations from plan serves exactly this goal as it may lead to measurable improvements in business performance. However, meaningful data needed to exploit and enhance this capability may reside in several widespread sources. Identifying and utilizing such sources can be pivotal on an organization’s path to survival and success on the market. Using smarter approaches to logistics is such a path. Cyber-physical systems and complex event processing may be ade-quate technological means to aspire for the transition towards smart logistics sys-tems and processes.

Our contribution introduces enhanced techniques to engineer event-driven CPS with the ePoEM model. This allows to identify value-adding sensors, respective measurement and data models, and rules of event detection and reaction. A case study covering picking and distribution processes in a typical consigner company demonstrates how to add value with event processing and move towards smart logistics networks.

4.1 Introduction

Not only by efficiency and effectiveness in terms of cost and service are modern logistics systems characterized but also by responsiveness, resilience, and agility. To obtain these additional goals, supportive systems and meaningful data need to be in place. The vision of a modern logistics network depicts a multitude of net-worked systems which observe and manipulate real objects and processes – so-called cyber-physical systems (CPS) [2]. These automatically adapt to the current real-world environment and may consist of heterogeneous components unknown at the time of development, and, therefore, enable new problem-solving strategies.

Today, sensor-based analysis is nowhere near its full potential. In many cases, it may not be obvious what data could yield business value in logistics processes and what signals and events to look out for. In contrast, technological platforms to an-alyze complex events are available and proven in other industries. Hence, there is a gap between sensor data acquisition and its productive usage in the transporta-tion and logistics domain.

In typical logistics processes within and outside a company’s premises, the entire

Page 513: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Definitions and Background Study 519

process from order entry over picking and packing to delivery can be tracked with the help of several data sources. The same holds true for various internal and ex-ternal transportation processes, regardless of industry and transport mode. Rele-vant impulses from the real world, such as the progress of incoming vehicles, could influence the resource allocation in a warehouse to increase efficiency.

The publication at hand defines and describes the terms ‘smart logistics’, ‘cyber-physical systems’ and ‘complex event processing’ before introducing the ePoEM method. In the following, the use case example and the results of the successful workshop are presented before drawing a conclusion and making suggestions for future research.

4.2 Definitions and Background Study

4.2.1 Smart Logistics

Smart logistics is a term used in various circumstances in the transportation and logistics domain albeit not in a consistent manner. While some scholars emphasize the technological focus of the term, others concentrate on organizational aspects.

UCKELMANN (2008) has linked the term ‘smart logistics’ to the terms ‘smart prod-ucts’ and ‘smart services’, both geared to assist humans in their need of controlling processes and system states [3]. Smart products are described as objects which em-ploy various computing technologies and, thus, enable better transparency along the process whereas smart services encompass services that allow tracking and measuring aspects which were not trackable and measurable before [4]. Because of his examination, UCKELMANN has learned that a “good definition of Smart Logistics […] is still missing” [3]. Instead, he has identified a series of typical characteristics of smart logistics. Parallelly, it involves stronger interaction and communication opportunities and connectivity with other stakeholders, strongly foots on techno-logical progress and, thus, is prone to change, dispenses humans from control tasks, and features high transparency [3]. In addition, smart logistics makes use of most modern data processing techniques and facilitates the integration of prevail-ing material handling and logistics technologies [3].

Consequently, the definition of smart logistics refers to modern technologies, esp. for data capture on item level and data processing and analysis on operational planning level. Similarly, STRAUBE defines smart logistics as holistic, customer-ori-ented planning and control of highly integrated and automated information and

Page 514: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

520 Real-time Event Processing for Smart Logistics Networks

commodity flows in customer order processes and innovation processes of value networks [5]. With the help of intelligent technologies, smart logistics features pro-cesses which are flexible, resilient, locally planned, self-guiding in real time, and with cognitive capabilities [5]. In a nutshell, smart logistics is a combination of smart basic technologies, the internet of things and of services, and cyber-physical systems.

Likewise, SCHOLZ-REITER considers self-guiding logistics processes to be a major part of smart logistics. Self-guiding logistics processes rest on the approach that decision-making is to be transferred to the level of logistics objects themselves [6], requiring new control paradigms for a distributed logistics configuration to model processes and develop methods and tools though [7].

Another more organizational approach is presented by WOENSEL who considers smart logistics as a combination of planning and scheduling, ICT infrastructure, governmental policy-making, and people [8]. While the ICT infrastructure en-sures the provision of the right information resources at the right time and place even in larger quantities and leads to improved planning and scheduling, the peo-ple dealing with the pertaining planning and scheduling systems need to be trained to properly understand the complex logistics processes and effectively uti-lize the improved information base for these. In addition, governmental policies are crucial for the success of logistics processes and need to be considered [8]. By efficiently coordinating the four key domains and their synchronized interplay, lo-gistics processes are turned into smart logistics.

When referring to future logistics systems, several authors consider digitization as crucial for the transition towards smart logistics, focusing on a closer connection of the physical world with its physical objects, sensors, and actuators measuring them, on the one side, and the digital world with its connectivity to the sensor data, their analytical processing, and the provision of digital services based on the sensor data, on the other [9] [10]. Several technologies of data capture, like cameras, sen-sors, and CPS, and data processing, like complex event processing and data ana-lytics, encompass the array of modern technologies entering the transportation and logistics domain lately [11] [12] [13] [14] [15].

4.2.2 Cyber-Physical Systems

CPS are an emerging type of system at the intersection of physical processes and information processing [2]. They can be defined as interconnected systems that ob-serve and manipulate real objects and processes. What makes them different from existing embedded systems is that there is more focus on automatic adaptability to

Page 515: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Definitions and Background Study 521

the current real-world environment and its constraints. Furthermore, CPS may consist of heterogeneous components unknown at development time, thus allow-ing dynamic extension at runtime. CPS therefore show emergent behavior that leads to new problem-solving strategies depending on the current setup of auton-omous components. In other words, they are expected to be smart systems, capable of more automation even in highly dynamic environments.

CPS have attracted huge interest with the academic community and commercial firms as they are believed to play a major role in digital transformation. Due to the very nature of their definition, CPS can come in various domains and forms: Inter-net of Things, industrial internet solutions, unmanned smart logistics, autonomous cars and many more are essentially CPS in a broad sense. Autonomy, emergent behavior, real-time control and actionable analytics are amongst highest priority and most difficult challenges in building CPS [16].

4.2.3 Complex Event Processing

Events are a natural way to express and communicate observations [17] such as changes in position of a delivery vehicle, a barcode scanner reading from a pallet or rising temperature in a warehouse. These events can be analyzed, aggregated, and formed to a context using complex event processing (CEP) technology. The aim being an immediate, adaptive and knowledgeable control of underlying pro-cesses. The concept of CEP was described in the early 2000’s when advances in general computing technology, as well as information storage and retrieval tech-niques, first allowed to execute complicated queries continuously [18]. Conse-quently, CEP allows to combine pieces of information at runtime. For instance, ra-ther than running a report on late deliveries over a past period, one aims to detect a late delivery while it is still happening and trigger corrective actions. Figure 4.1 illustrates the process in CPS from physical observations to create control reactions with CEP technology.

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522 Real-time Event Processing for Smart Logistics Networks

Figure 4.1 Process from Physical Observation to Reaction with CEP Tech-nology

This technology is nowadays primarily used in information systems in the bank-ing, insurance and government sector. It enables real-time intelligence use cases such as credit card fraud detection based on transactions and respective locations where it searches continuously for any suspicious patterns (for example physically impossible happenings): 11:54 AM payment of 60€ at a gas station in Duisburg, Germany, followed by a withdrawal of 1500€ eleven minutes later from an auto-mated teller machine in Buenos Aires, Argentina, will raise an automated alert. The market for CEP solutions is projected to grow from one billion US dollars in 2014 to 4,7 billion US dollars in 2019, with events from connected things and smart de-vices being one key growth driver [19].

A study has analyzed that the number of events will grow excessively with the size and depth of the CPS context [20]. Hence, in visionary CPS scenarios like intelligent traffic control with thousands of interconnected cars or smart factories with nu-merous robots, workers and parts, CEP will play a major role to aggregate data and reason on information. There is also going to be more distributed architectures for CEP to cope with the dynamic and heterogeneous character of these scenarios.

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Extended Process-oriented Event Modeling Method 523

4.3 Extended Process-oriented Event Modeling Method

In the previous sections, we have elaborated on the potential of smart logistics sys-tems, how they are benefitting from advances in CPS engineering and the crucial role of complex event processing to gain real-time intelligence and create adaptive behavior. However, to date very few accounts exist on CPS engineering in total and specifically on event-driven systems for CPS. Because data structures are most probably unknown in early engineering phases, such as Requirements Engineering (RE), the engineering of new CPS will likely start with activity-oriented approaches [21], such as behavioral modeling with process diagrams. The rationale here is, that the processes to be supported do exist in some shape or form and are generally understood.

In the following, we summarize our findings of a literature review of existing event modeling languages [22] and present the result of an extension of the Process-ori-ented Event Model (PoEM) elaborated in [23].

4.3.1 Review of Event Modeling Languages

The compared models in [22] range from rather generic information systems mod-eling frameworks like UML to very specialized model types conceived for events in CPS. Generally, we found comprehensive coverage of critical aspects such as timing constraints and adaptive behavior. While all specific model types certainly have benefits and drawbacks, we find that PoEM is the most suitable for practical CPS engineering as it supports a stringent engineering of an event-based system from physical to cyber components.

To our surprise, none of the analyzed more specific models provides a methodo-logical component. Here, we see a major research gap to analyze and describe what steps are needed in a methodology to ensure thorough engineering of CPS.

As has been concluded, from a software engineering perspective these models in-sufficiently link the phases of requirements engineering and specification method-ology and are more appropriate as technical architecture artifacts. We refer to the central artifacts of requirements engineering as the business process(es) that the sys-tem aims to support. In other words, we follow a process-oriented modeling school which is, in our experience, better suited to involve stakeholders in these situations [21]. Business processes and activities are important as they are either a source of

Page 518: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

524 Real-time Event Processing for Smart Logistics Networks

event data or a target of triggered actions. Hence, there is a gap between the exist-ing CPS-specific event models and the typical modern requirements engineering artifact lifecycle: user stories, use cases, business processes, tasks and so on.

4.3.2 Methodology of ePoEM

Finding areas of improvement and potential for digitization can be a very challeng-ing task – especially in an environment like logistics where many stakeholders may be involved. Also, there are partially highly automated processes while other areas fully rely on manual labor. For structured discovery of digitization potential, there is, for example, the Interaction Room concept that combines aspects of agile and plan-driven methods together with novel ideas to create a “pragmatic middle-ground” [24]. To collect requirements against event-based CPS, we suggest a step-wise analysis approach which is building upon current RE techniques such as the Interaction Room. We link this to the specification of the event-based components (i.e. CEP technology) using steps taken from PoEM. These activities have been con-ducted for the use case described in the next section, we will further present the results of the workshop afterwards.

On the whole, the steps we consider necessary to engineer towards a CPS with CEP components are listed below.

1. Identify and order business processes and activities in system scope

2. Note physical objects affected by activities

3. Identify and annotate relevant physical observables

4. Attach measurable items to observations

5. Connect measurements to activities

6. Identify sensors to capture relevant measurements

7. Deduct data objects to store measurements

8. Identify and write deductive rules for events

9. Identify and write reactive rules for events

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Use Case Example 525

Figure 4.2 Activity Diagram with Object and Observable Annotations

To identify aspects of the use case with a lot of potential business value, stakehold-ers were interviewed. This is a common way to gather information on the business process to be supported. The discovery of the process was documented in the form of a relatively informal activity model, drawn directly in the workshop on a white-board. When the process was modeled, the stakeholders were asked to name phys-ical objects that take part in any of the activities. Those physical objects were noted down on the whiteboard as annotations to the activities. After we had an overview of the process and objects involved, we asked the stakeholder to prioritize the most important objects and activities based on assumed business value. In the third step, the stakeholders were asked to name relevant observable properties of each of the prioritized objects. The diagram in Figure 4.2 shows part of the final re-sults of steps 1 to 3 of the methodology. The example depicted here is the picking process with special highlight on the notification of a logistics service provider (LSP), when the picking of a batch is completed. The stakeholders annotated two entities (visualized by sticky notes): the LSP vehicle and the batch’s pallet. Both have their geo-spatial position as relevant observable. The following steps 4 to 6 use the identified entities and model relevant events based on these observables using PoEM (such as a delay of the vehicle). The last three steps are also covered in PoEM but can be considered implementation related, such that models could indeed already be CEP program code. We omitted these steps for the scope of this paper.

4.4 Use Case Example

Logistics is a classical cross-sectional function which is characterized by a multi-tude of actors and stakeholders impacting the planning and execution of the pro-cesses. Consequently, many interactions and an elaborate information flow be-tween the various parties precede and accompany the actual material flow. Typi-cally, there exists a considerable gap between the planning level and the execution

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526 Real-time Event Processing for Smart Logistics Networks

level leading to suboptimal process executions, especially in the case of deviations and exceptions. In large parts, this is related to opacity of deviations and errors occurring during individual processes and lacking visibility along the supply chain. With many logistics and supply chain processes suffering from such prob-lems, the authors have selected a typical example of a case of application.

The application example under examination refers to the warehouse of a producer of a large variety of mainly small high-quality lamps and lighting articles, who is situated in the West of Germany and distributes its products to customers in the entire world. The example contains a picking process which is an integral part of a comprehensive value creation process that ranges from the procurement of the var-ious components, their storage and retrieval at the company’s premises, the actual production process in the company, the storage of the finished goods, their re-trieval for picking purposes and, eventually, the dispatch of the goods. Typically, picking processes can be supported by an order picker machine.

The goal of the application example is the execution of the picking process without any errors or stock-outs and, following the goods-to-man principle, by running the order picker machine optimally [25]. More precisely, the bundling potential across the multitude of picking orders to be bundled is being considered in the example so that the order picker machine needs as few runs and as little time as possible. Thereby, all picking orders need to be processed and all order items picked cor-rectly and completely and, parallelly, the bundling potential fully exploited.

In addition, the pick-up process by a courier, express and parcel service provider needs to be organized in such a way that the volume to be hauled matches the vehicle capacity and the allocated time windows are met [25]. For that purpose, the visibility of ongoing processes within the warehouse (picking) and outside (haul-age) needs to be ensured to be responsive to upcoming deviations or even errors. Internally and for operational planning purposes, the picking orders are subdi-vided into different customer categories whose orders are treated individually in terms of times for the picking processes and departure.

For the preparation of the goods dispatch to the customers, the related shipping orders are decomposed and transferred into picking orders of finished good items to be retrieved from the warehouse [25]. A picking order consists of one or several items representing the different lighting articles available. As not all dispatch or-ders are known at once but arrive separately at the company, the related picking orders are revealed little by little only. This gradual awareness of the picking or-ders leads to inefficiencies since the picking of order items appearing in different

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Workshop Results 527

picking orders cannot be bundled but need to be picked separately, leading to un-necessary and suboptimal runs and, thus, a waste of resources. A batch is a bundle of order items from different picking orders that is picked together and consists of a maximum number of items. Hence, bundling is the creation of batches of maxi-mum size. Consequently, all picking orders known until the beginning of the pick-ing process are bundled manually into more or less optimal batches based on the competence and experience of the respective staff member [25]. The residual pick-ing orders that have become known after the beginning of the picking process are picked separately and sequentially, without any further bundling.

By providing meaningful data in real time, CPS are supposed to optimize internal picking processes and to synchronize these with the ones of external transporta-tion, namely the pick-up by a service provider. The workshop is designed to iden-tify process areas of business value and major beneficial impact.

4.5 Workshop Results

The immediate outcome of the first workshop session was the activity diagram of the parcel picking process with annotations on relevant physical objects and ob-servables (see Figure 4.2 ). As has been briefly discussed, the stakeholders were asked to describe the process of the use case and prioritize relevant physical ob-jects: namely the LSP vehicle and the pallet for the last steps of the picking process. The second workshop session then focused on understanding the value driving observations and how these affect the process – in other words a high-level under-standing of used sensors to capture observations, measurement formats and rules needed to deduct events and take (re)actions. The stakeholders focused on two particularly interesting observations. Firstly, in some instances parcels go missing due to erroneous handling. To detect this, there are several data needed. First, the optical camera system observing the warehouse will fail to see the parcels QR code. Also, the weighing station of the SRM will not be able to measure a weight for the parcel. Last not least there may also be an error in the SRM’s control unit. These pieces of information need to be consolidated to detect the situation of a missing parcel and alert the warehouse agent. Figure 4.3 shows how these pieces of information are deducted from objects and their observable to measurements and finally events resulting from the analysis (later, this analysis is executed by a CEP engine, compare Figure 4.1 ). This model of the event triggers and effects is a basis for the consigner to trigger a more detailed specification for this use case, as the data seems to be already available. In this case, a more technical discussion can be triggered about consolidating data and concrete CEP implementations –

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528 Real-time Event Processing for Smart Logistics Networks

“business as usual” for IT experts.

Figure 4.3 Detection of a missing parcel

The second aspect that was highlighted was the communication with the LSP re-garding the arrival time of the LSP vehicle and the cut-off time of the consigner. Here, relevant observations are the position of the pallet in the warehouse as well as the geo-position of the LSP vehicle. If the latter is near the consigner and the pallet is in the staging area then the cut-off time can be adjusted. However, if the vehicle is slower than 50km/h on average, we must assume a late arrival not within the next hour and adjust the cut-off time accordingly to a later point, if possible. This may give some additional flexibility to the consigner and the ramp agent needs to be informed (compare Figure 4.4 ). This high-level understanding of the potential event-based CPS allows the consigner to examine currently available data and discuss possible new data sources (sensors) - for example, access to the LSP vehicle’s position sensor.

More generally, the diagrams contain relevant use cases for the setup of smart lo-gistics CPS. The high level of abstraction allows to model a system that yields busi-ness value in short time. The diagrams can also be used as a discussion baseline to determine new requirements against sensor systems and internal information sys-tems. They also contain knowledge about the domain and relationships between physical entities that is beneficial for external IT developers.

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Acknowledgements 529

Figure 4.4 Cut-off time adjustment due to LSP vehicle and pallet events

4.6 Conclusion & Outlook

We have presented the methodology ePoEM which can be used to discover poten-tial for event-based CPS. This methodology bridges the gap between common re-quirements engineering and specialized event-based system specification ap-proaches. More specifically, we have argued that smart logistics use cases have a need for event-based technologies and have demonstrated the operationalization of the methodology with the help of a concrete example from a consigner perspec-tive. Using the method, we identified value-adding sensors, respective measure-ment and data models, and (high-level) rules of event detection and reaction. The presented results can be used to determine the scope of a smart logistics solution – ensuring that value drivers are clear and in focus, while less relevant parts are ne-glected. Moreover, the annotated process model and the gathered knowledge re-garding the analysis of some events is exploratory work for internal or external IT experts. In addition, the benefits of CPS and CEP in the transportation and logistics sector can be elaborated.

4.7 Acknowledgements

This work has been partially supported by the European Community through pro-ject CPS.HUB NRW, EFRE Nr. 0-4000-17.

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530 Real-time Event Processing for Smart Logistics Networks

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5 Optimierung von Beschaffungsentscheidungen unter Berücksichtigung der internen Logistik mithilfe der Digitalisierung der Supply Chain

L. Berger, C. Besenfelder, Dr.-Ing. M. Güller (TU Dortmund)

5 Optimierung von Beschaffungsentscheidungen unter Berücksichtigung der internen Logistik mithilfe der Digitalisierung der Supply Chain 533

5.1 Problemstellung ........................................................................................... 5345.2 Stand der Technik ....................................................................................... 5355.3 Zukunftsperspektiven ................................................................................ 5405.4 Konzeptentwicklung ................................................................................... 5445.5 Ausblick ........................................................................................................ 546

Literatur ........................................................................................................................ 547

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_33

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534 Optimierung von Beschaffungsentscheidungen

5.1 Problemstellung

Höhere Anforderungen an die Beschaffung, vor allem ausgelöst durch Globalisie-rung und Individualisierung, erfordern schnellere und bessere Einkaufsentschei-dungen in globalen Liefernetzwerken mit immer mehr und häufiger wechselnden Partnern. Einkaufsentscheidungen und Lieferantenauswahlprozesse betreffen viele andere Abteilungen und stellen die Weichen für die Effizienz nachgelagerter Prozesse. Im Sinne eines ganzheitlichen Supply Chain Managements müssen auch die zeitlich verzögerten und in anderen Abteilungen verorteten Auswirkungen von Einkaufsentscheidungen berücksichtigt und messbar gemacht werden. Die Di-gitalisierung bietet das Potential, dem Einkauf Assistenzsysteme zur Verfügung zu stellen, die die Einflüsse von Entscheidungen auf die Logistik in globalen Liefer-ketten, aber auch in Produktions- und Lagerstandorten, quantifizieren und damit objektiv zu besseren Entscheidungen führen können.

Es ergeben sich Probleme in operative Prozessen, da deren Berücksichtigung und Auswirkungen auf nachgelagerte Stufen des Materialflusses bei der Entschei-dungssuche vernachlässigt werden. Insbesondere die Logistik als Unterstützungs-funktion wird dabei häufig wenig betrachtet. Vorherige Entscheidungen werden mehrheitlich auf strategischer Ebene getroffen. Aufgrund der Unterscheidung in operative und strategische Ebene, die häufig noch nicht ausreichend verzahnt sind, ungenügend interagieren, und deren Auswirkungen aufeinander intransparent sind, entstehen Risiken und Probleme in der Supply Chain.

Strategische Entscheidungen müssen nicht nur mit Unternehmensstrategie und -zielen übereinstimmen, sondern sollten auch die Gesamtheit der Prozesse auf un-terschiedlichen Ebenen von Unternehmen und Netzwerken berücksichtigen.

Laut einer Umfrage, welche vom Bundesverband Materialwirtschaft, Einkauf und Logistik e.V. (BME) und Opus Capita 2016 durchgeführt wurde, liegen die größten Risiken der Lieferketten, nach Einschätzung der befragten Unternehmen, neben dem Lieferantenmanagement auch in der rasanten Technologieentwicklung, in der Effizienz im operativen Geschäft und vor allem in der mangelnden abteilungsüber-greifenden Vernetzung der Technologie. (BME/Opus Capita, 2016)

Die unternehmens- und Supply Chain übergreifende Vernetzung stellt also eine große Herausforderung für die Unternehmen dar. Sie kann den Prozess und die Qualität der Entscheidungsfindung unter anderem bei strategischen Beschaffungs-entscheidungen positiv beeinflussen. Inwiefern dies umgesetzt werden kann, wird im Folgenden ausgeführt.

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Stand der Technik 535

5.2 Stand der Technik

5.2.1 Entscheidungsparameter in der Beschaffung

Der Einkauf eines Unternehmens unterliegt seit Jahren einem großen Wandel. Er entwickelt sich sowohl inner- als auch außerbetrieblich zunehmend zu einer zent-ralen Schnittstelle in der Wertschöpfungskette. Durch Globalisierung haben sich unternehmensübergreifenden Netzwerke immer mehr ausgeweitet. Zum Ein-standspreis zusätzliche Kostenarten wie Prozess- und Logistikkosten fallen we-sentlich höher und vielfältiger aus und Investitionen und Risiken nehmen zu. Eine reine Betrachtung des Warenwerts führt schon allein wegen dieser zusätzlichen Kostenarten häufig zu falschen Entscheidungen. (Locker/Grosse-Ruyken, 2015)

Der Total Cost of Ownership (TCO) Ansatz berücksichtigt alle Kosten, die dem einzelnen Produkt über den gesamten Lebenszyklus direkt zugeordnet werden können (Gesamtkostenbetrachtung). Das sind neben dem Einstandspreis unter an-derem Lager- und Transportkosten, Entsorgungskosten, Wartung, Energie und Personal (Ellram, 1993). Es handelt sich um ein strategisches Instrument des Global Sourcing zur Berücksichtigung aller Kostenfaktoren, die bei der Beschaffung und Nutzung eines Gutes zu Ausgaben führen. Hauptziel von TCO ist die Bewertung der Lieferantenbeziehung bzgl. transaktionsübergreifender Kosten der Beschaf-fung (Schuh, 2014).

Teilweise fällt es Unternehmen schwer, für eine TCO-Berechnung alle wesentli-chen Kosten schnell, zuverlässig und exakt zu ermitteln (Bräkling/Oidtmann, 2012). Die Implementierung des ganzheitlichen Ansatzes gestaltet sich in der Pra-xis schwierig, da es durch mangelnde Transparenz und sich dynamisch verän-dernde Einflüsse und Bedingungen kaum möglich ist, alle relevanten Kostenarten zu identifizieren und verlässlich zu quantifizieren. Eine funktionsübergreifende Zusammenarbeit ist hilfreich, um eine gesamtkostenoptimierte Lösung schaffen zu können (Locker/Grosse-Ruyken, 2015). Die Expertise aller relevanten Unterneh-mensbereiche sollte cross-funktional eingebunden werden (Driedonks et al., 2010). In der Praxis stellt die Zusammenarbeit der Beschaffung mit anderen Funktionen im Unternehmen allerdings oftmals eine der größten Herausforderungen dar (Bundesverband Materialwirtschaft, 2008). Dies gilt nicht nur bezogen auf die Er-mittlung von Kosten, sondern genauso für alle anderen entscheidungsrelevanten Faktoren, welche im Lauf des Kapitels noch Erwähnung finden.

Um der modernen, strategischen Bedeutung des Einkaufs nachkommen zu kön-nen, darf er nicht rein an Kostenaspekten gemessen werden.

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536 Optimierung von Beschaffungsentscheidungen

„Vielmehr müssen Einkaufsziele anvisiert werden, die eine kostenoptimale, ter-mingenaue und qualitätsgerechte Versorgung auf Basis der leistungsfähigsten Wertschöpfungsketten sicherstellen und damit einen Beitrag zur Steigerung des Unternehmenswertes leisten.“ (Stollenwerk, 2016)

Hauptfaktoren für Beschaffungsentscheidungen gehen deutlich über die noch weit verbreitete Meinung, dass nur Kostenberücksichtigung und -einsparungen zählen, hinaus. Die 5 wichtigsten, in ihrer Berücksichtigung weit verbreiteten, weiteren Faktoren sind heute (Nolte, 2016):

‒ Einhaltung von Terminen ‒ Erfüllung der Qualitätseigenschaften nach unseren Anforderungen ‒ Einhaltung von Preisabsprachen und finanziellen Konditionen ‒ Einhaltung gesetzlicher Anforderungen ‒ Langfristiges Vorhalten von Beschaffungsobjekten bzw. dazugehöriger Er-

satzteile

Um die Anforderungen an diese Faktoren möglichst zuverlässig sicherstellen zu können, müssen sie bereits bei der Beschaffungsmarktforschung und bei der Aus-wahl von Lieferanten berücksichtigt werden.

Stakeholder werden bei der Lieferantenauswahl frühzeitig in den Entscheidungs-prozess eingebunden. Nur so können Lieferanten ausgewählt werden, die für das Gesamtunternehmen die beste Leistung erbringen. In der Literatur gibt es bislang wenige Ansätze zur Zusammenarbeit cross-funktionaler Teams bei Beschaffungs-entscheidungen (Meschnig, 2017). Vor allem im bereits strategisch ausgerichteten Source-to-Contract Prozess werden jedoch die Ziele und Anforderungen operati-ver Unternehmensbereiche und deren Prozesse wie beispielsweise die Lager- und Produktionslogistik kaum in Betracht gezogen.

5.2.2 Supply Chain Management

Supply Chain Management fasst Prozessgestaltungsaufgaben und Prozessausfüh-rungstätigkeiten in allen Teilbereichen von Lieferketten zusammen (Becker, 2008). Die Steuerung von Supply Chains ist eine ganzheitliche Aufgabe, die von der Pla-nung von Kapazitäten, über die Steuerung von Lieferabrufen, bis zur Beauftragung und Überwachung von konkreten Transporten reicht. Das Ziel ist die gemeinsame Ausrichtung aller Planungs- und Ausführungsprozesse der Supply Chain auf die Kundenanforderungen und eines daraus abzuleitenden Gesamtoptimums, gemes-sen an den Zielgrößen hohe Liefertreue, kurze Lieferzeiten, minimale Kosten, hohe Flexibilität und niedriger Kapitaleinsatz (Becker, 2008; Kurbel, 2005). Im Fokus der

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Stand der Technik 537

Betrachtung stehen dabei das unternehmensübergreifende Management von Ma-terial-, Waren-, Informations-, und Finanzflüssen entlang aller Wertschöpfungs-stufen sowie das Management von Kooperationen (Stölzle et al., 2005).

Das Materialflussmanagement ist, im Zuge einer stetig wachsenden Anzahl von Schnittstellen innerhalb der Supply Chain sowie stetig steigender Komplexität von Geschäftsprozessen, ein zentrales Anliegen aller Supply Chain Partner (Werner, 2013). Allerdings werden viele Anforderungen und Einflussfaktoren auf die zu steuernden Waren- und Informationsflüsse als gegeben angenommen und damit nicht aktiv beeinflusst. Gerade Einkaufsentscheidungen und Liefe-rantenauswahlprozesse haben einen großen Einfluss auf die Quellen des globa-len Netzwerks und die Stärke der Warenströme.

Zur Optimierung von gegebenen Liefernetzen existieren bereits viele mathemati-sche, simulationsgestützte und kombinierte Ansätze und Methoden (Preusser et al., 2006). Die quantifizierte Bewertung von Liefernetzwerkkonstellationen wird damit auf strategischer Ebene möglich und gerade im Bereich von Standortent-scheidungen oder Kapazitätsallokationen in eigenen Produktionswerken und La-gerstandorten auch genutzt. Die Kapazitäten von diesen eigenen Standorten wer-den in den Modellen aber meist als fix angenommen und daher auch als zu opti-mierende Variable in die Betrachtung einbezogen.

5.2.3 Intralogistik als Bestandteil der Supply Chain

Die Intralogistik ist ein Teilbereich der Unternehmenslogistik und bezeichnet alle logistischen Prozesse in oder an einem Standort. Umschlagen, Lagern, Transpor-tieren, Kommissionieren und Verpacken sind die bekanntesten operativen Aufga-ben der Intralogistik. Darüber hinaus werden die mit diesen Aufgaben zusammen-hängenden planenden und steuernden Prozesse innerhalb eines Standorts zum Aufgabengebiet der Intralogistik gezählt. Ziel ist die Bereitstellung des richtigen Werkstückes und des richtigen Werkzeuges in der richtigen Menge und Qualität, zur richtigen Zeit und am richtigen Ort zu minimalen Kosten (Droste, 2013).

Auch in der Intralogistik nimmt der Materiafluss und seine Planung und Steue-rung eine besondere Rolle ein. Alle Vorgänge des innerbetrieblichen Objektflusses, die mit der Beschaffung, Produktion und Distribution in Zusammenhang stehen, müssen koordiniert werden. Die zunehmende Varianten- und Produktvielfalt und andere steigende Kundenanforderungen betreffen die innerbetrieblichen Material-flüsse, die Fertigungs- und Montageeinheiten verknüpfen und deren Ver- und Ent-sorgung mit Roh- Hilfs- und Betriebsstoffen, Halbfabrikaten, Fertigprodukten und Werkzeugen gewährleisten. (Miebach/Müller, 2007; Martin, 2011)

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538 Optimierung von Beschaffungsentscheidungen

Es existieren viele Verfahren und Methoden, die es ermöglichen, die Konfiguration und Steuerung der Intralogistik bei einer gegebenen Auftragslast zu optimieren. Der Einfluss von Einkaufsentscheidungen ist an dieser Stelle erst über Entschei-dungen auf der Ebene der Supply Chain wirksam. Die Lieferantenauswahl alleine bestimmt noch nicht die konkrete Last von Wareneingang und folgenden Prozes-sen. Erst die Gebindegrößen, Lieferfrequenz und Umschlagplätze (bspw. Cross-Docking) legen fest, mit welcher Last und welchem Lastverlauf die Intralogistik planen kann bzw. muss.

In der Intralogistik werden Personal, Infrastruktur und Bestände des Standorts direkt geplant, gesteuert und beeinflusst. Die Relevanz der resultierenden Intra-logistikkosten ist nur in wenigen Branchen niedriger als die der Transportkosten (Miebach/Müller, 2007). Der Einfluss der Intralogistikkosten auf die Wirtschaft-lichkeit von Einkaufsentscheidungen darf daher nicht vernachlässigt werden.

5.2.4 Zielkonflikte

Durch die vorangegangenen Ausführungen wird deutlich, wie Einkaufsentschei-dungen oft auch erst in Kombination mit nachgelagerten Entscheidungsprozessen und Auswirkungen zu Einflüssen und damit auch Kosten führen, die momentan häufig nicht umfassend durch die verbreiteten Zielgrößen einbezogen werden können. Von den verschiedenen Unternehmensbereichen haben Beschaffungsent-scheidungen insbesondere auf die interne Logistik Auswirkungen, jedoch gibt es gerade zwischen diesen Disziplinen Interessenskonflikte.

In Zeiten des globalen Wettbewerbs werden, häufig aufgrund günstiger Einstands-preise, viele Produkte aus Übersee beschafft. Wenig berücksichtigt wird dabei oft, dass durch die langen Laufzeiten der Transporte und große Transportlosgrößen die Anforderungen an die interne Logistik in den Produktionsstandorten stark steigen. Anstelle von effizienten Ansätzen wie Just-in-Time-Anlieferungen müssen zum Mengenausgleich Zwischenläger angelegt und alternative Prozesse imple-mentiert werden, welche Kosten verursachen und die Komplexität erhöhen. Aus-gewählte Interessenskonflikte zwischen Logistik und Einkauf sind in Abbildung 5.1 gelistet.

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Stand der Technik 539

Abbildung 5.1 Ausgewählte Interessenskonflikte zwischen Einkauf & Lo-gistik

Rennemann, 2007

Interne Prozessrestriktionen sowie Herausforderungen wie erhöhte Flexibilität, kurze Produktlebenszyklen und steigende Kundenanforderungen können bei der Festlegung der Einkaufsstrategien nicht immer Berücksichtigung finden, da sie erst nachgelagert sichtbar werden.

Ein konkretes Beispiel für Probleme, die zwischen Einkauf und der Intralogistik, insbesondere der Wareneingangslogistik als Schnittstelle, entstehen können, ist die Beschaffung und Anlieferung einer zu günstigen Einstandspreisen in Übersee ein-gekauften großen Produktmenge verpackt in einem Seecontainer. Wenn zuvor zu-meist regional oder zumindest innereuropäisch eingekauft wurde, kann es bei-spielsweise passieren, dass für eine gesamte Containerladung zu wenig Lagerplatz zur Verfügung steht; dass die Tore und das Equipment nicht auf Containerentla-dung ausgelegt sind; dass das Personal auf andere Transport- und Lademittel spe-zialisiert ist; dass die Paletten ungewohnte Maße haben.

Die Ursachen von solchen Konflikten liegen zwischen Funktionsbereichen bei der Organisationsstruktur, dem Ziel- und Anreizsystem und bei funktionsübergreifen-den Kommunikationsbarrieren im Unternehmen. (Breitling, 2016)

Durch den stetig steigenden Bedeutungszuwachs der Logistik für den Unterneh-menserfolg wird deutlich, dass die Logistik bei Einkaufsentscheidungen wie der Lieferantenauswahl mit einbezogen werden soll und Einkauf und Logistik eng zu-sammenarbeiten müssen. Nach Breitling liegt besonders beim Lieferantenmanage-ment, in der Beschaffungsplanung und der Informationsversorgung hoher Bedarf an Koordination und Abstimmung vor (Breitling, 2016).

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540 Optimierung von Beschaffungsentscheidungen

5.3 Zukunftsperspektiven

Zukünftig wird die Informationsverfügbarkeit durch die Digitalisierung entlang der gesamten Supply Chain (SC) gesteigert. Die Nutzung dieser Informationen, um Wechselwirkungen abbilden und bewerten zu können, stellt eine der großen Aufgaben des Digital Supply Chain Management dar. Die Digitalisierung ergreift alle Unternehmensbereiche und –prozesse entlang der gesamten SC.

Im Folgenden werden einzelne Lösungsbausteine vorgestellt, die gemeinsam zu einer Bewältigung dieser Herausforderung beitragen können und damit die Trans-parenz und Ganzheitlichkeit von Entscheidungsprozessen, beispielhaft im Ein-kauf, erhöhen können.

5.3.1 Digitale Supply Chain

Die digitale Supply Chain ist charakterisiert durch folgende Sachverhalte:

Abbild der realen Supply Chain

Realtime Informationen stehen für Entscheidungsfindung zur Verfügung

Systeme integriert im Unternehmen sowie über Unternehmensgrenzen hinaus entlang der Supply Chain

Moderne IuK-Technologien

Digitale Geschäftsmodelle

Neue horizontale und vertikale Wertschöpfungsketten

Enabler für die Umsetzung einer digitalen Supply Chain sind u.a. Cloud-Compu-ting, Big Data Analytics (BDA) und Simulation. Es gilt, das Supply Chain Manage-ment aus verschiedenen Betrachtungsperspektiven, auch auf digitaler Ebene, wei-terzuentwickeln. (Hofmann, 2014)

Die Digitalisierung der horizontalen SC integriert und optimiert den Informations- und Warenfluss von Lieferanten bis zu den Kunden und rückwärtsgerichtet, wäh-rend die Digitalisierung der vertikalen SC für eine kontinuierliche Informations-versorgung innerhalb eines Unternehmens zwischen den einzelnen Funktionsbe-reichen sorgen soll. (Geissbauer et al., 2014)

Digitale Supply Chains werden umfassende Verfügbarkeit von Informationen und

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Zukunftsperspektiven 541

verbesserte Kollaboration und Kooperation garantieren, indem Prozesse und Sys-teme sektor- und technologieübergreifend zusammengeführt werden, was zur Vernetzung jedes integralen Teils einer SC führt (Raab/Griffin-Cryan, 2011).

Um sich den Herausforderungen der sich transformierenden Supply Chains stellen zu können ist es notwendig, Transparenz entlang der gesamten Wertschöpfungs-kette zu schaffen (Meißner, 2015). Diese Supply Chain Visibility kann als Fähigkeit beschrieben werden, zeitgerecht und in Gesamtheit Zugang zu Informationen und Wissen zu haben sowie diese relevanten SC Partnern zur Entscheidungsunterstüt-zung bereitzustellen (Goh et al., 2009).

In Zukunft werden die produzierten Datenmengen immer mehr informationstech-nisch automatisiert in der SC analysiert werden, was zu automatisierten Entschei-dungsprozessen führen kann (McIntire, 2014). Diese Entwicklung ist ein Grund für den kontinuierlichen Anstieg des Gesamtvolumens an Daten. Wenn Unternehmen mit diesen Daten umgehen können, kann das in Verbindung mit SC Visibility zur Steuerung vollkommen transparenter Prozesse beitragen (McIntire, 2014).

5.3.2 Big Data Analytics

Unternehmen analysieren ihre Daten schon seit mehreren Jahrzehnten, damit sie ihre Geschäftsaktivitäten besser überblicken können. Die Hauptaufgabe besteht darin Transaktionen und Prozesse zu überwachen und Unregelmäßigkeiten zu entdecken (Davenport et al., 2013; Chen et al., 2012). Arbeiten mit traditioneller Analytik beinhaltet, dass Manager Daten extrahieren und aufbereiten, Abfragen generieren und einfache Algorithmen anwenden, um die Daten zu analysieren. Außerdem werden durch statistische Methoden und Data Mining Techniken Er-gebnisse erzielt (Chen et al., 2012).

Traditionelle Analytik konzentriert sich stark auf deskriptive und prädiktive Auf-gaben mit dem Ziel Entscheidungen zu stützen und das Leistungsmanagement zu verbessern (Chen et al., 2012). Big Data wird in Zukunft eine wesentliche Rolle spielen. Unternehmen können Analysen zielorientierter, präziser und nahezu in Echtzeit durchführen (Russom, 2011). Dadurch kann Big Data an Wert gewinnen und ermöglicht so Unternehmen, auf sich schnell verändernde Geschäftsumfelder zu reagieren (Wang et al., 2016).

BDA kann auch bei der Verfolgung der folgenden Beschaffungs- und Einkaufsziele helfen:

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542 Optimierung von Beschaffungsentscheidungen

- Liefer- und Beschaffungsprozesse und zukünftige Nachfrage kontrollie-ren; sicherstellen, dass Beschaffungsstrategien auf alle Funktionen und strategischen Ziele der Organisationen abgestimmt sind (Bartels, 2006).

- Erleichterung der Entwicklung optimaler Beschaffungsstrategien durch Beurteilung des Angebotsmarkttrends, des Lieferanteninputs, der wirt-schaftlichen Situation (Wang et al., 2016).

- Lieferantenauswahl- und Lieferantenbewertungsprozess (Trkman et al., 2010).

- Unterstützung des Supply Risk Management: Vorhersage von Lieferun-terbrechungen durch Supply Chain Mapping, Bestimmung von Quellen der Lieferunsicherheiten.

Hahn und Packowski (2015) illustrierten einen verständlichen Rahmen bezüglich der analytischen Fähigkeiten im SCM (siehe Abbildung 5.2).

Abbildung 5.2 Framework für die Anwendung von Big Data Analytics auf SCM

Hahn/Packowski, 2015

5.3.3 Simulation

Während die qualitative Forschung bei der Entwicklung von ersten Rahmenbedin-gungen und der Hervorhebung von bewährten Methoden für Einkaufs- und Be-schaffungsstrategien hilfreich ist, ist sie begrenzt und subjektiv, da sie sich meist

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Zukunftsperspektiven 543

auf die Meinung von Experten stützt. Des Weiteren ist sie nicht in der Lage effizient mit der Unsicherheit und Supply Chain Dynamik umzugehen, da sie stochastische Verhaltensweisen und hoch komplexe Beziehungen zwischen den verschiedenen Objekten, die es bei realen Problemen gibt, nicht darstellen kann (Mele et al., 2006).

Im Gegensatz zu herkömmlichen Modellen ist die Simulation ein leistungsfähiges, computerbasiertes Tool, welches es ermöglicht, eine virtuelle Darstellung der kom-plexen Supply Chains ohne limitierende Annahmen zu modellieren (Banks, 2000). Sie befasst sich mit dem Problem der Quantifizierung der Daten und bietet die Möglichkeit, eine „What if“-Analyse auf Basis eines Modells des realen Systems durchzuführen. Simulation kann Entscheidungsträgern bei der Analyse von Sze-narien und bei der Auswahl geeigneter Lösungen helfen. Hierzu wurde eine Viel-zahl von Simulationsansätzen, insbesondere diskrete Ereignissimulationen, entwi-ckelt, um virtuelle Supply Chain Netzwerke als Entscheidungsinstrument zu mo-dellieren und zu analysieren (van der Zee/van der Vorst, 2005). Hierfür braucht man Entscheidungsunterstützungsinstrumente, bei denen Simulation integriert ist, um mit der Dynamik der Einkaufs- und Beschaffungsentscheidungen umzuge-hen.

Das Fehlen von verfügbaren Daten hat in der Vergangenheit oft dazu geführt, dass keine Simulationsansätze angewendet wurden. Es kann aber durch die Implemen-tierung einer digitalisierten Supply Chain beseitigt werden. Digitalisierte Supply Chain Prozesse ermöglichen die Erstellung einer kontinuierlichen Datenbasis, wel-che eine Erhöhung der Transparenz in Echtzeit unterstützt (Schlüter/Sprenger, 2016; Schöning/Dorchain, 2014). Das Zusammenspiel von Supply Chain Visibility Lösungen, die Analyse von Big Data und Cloud Technologie ermöglichen es Un-ternehmen, die Supply Chain Operationen mithilfe von Simulation zu optimieren. BDA bietet eine tiefere Analyse und Verarbeitung sowie neue Methoden für Simu-lationsprobleme mit riesigen Datenmengen. Darüber hinaus ermöglicht BDA die Modellierung und Simulation komplexer Systeme, da sie sich auf die Zusammen-hänge zwischen den Supply Chain Operationen und die Analyse der integrierten Daten im Zusammenhang mit Supply Chain Integration konzentriert. Integrierte BDA kann mit Simulation die nicht integrierten Daten aus verschiedenen Supply Chain Operationen zusammenfassen und eine globale Optimierung erreichen (Ranjan, 2014).

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544 Optimierung von Beschaffungsentscheidungen

5.4 Konzeptentwicklung

Die Vorteile der digitalen Supply Chain und damit verbunden von Big Data Ana-lytics und Simulation werden nun auf den Anwendungsfall der Schnittstellen zwi-schen Einkauf, SCM und Logistik übertragen.

Zwischen Einkauf und Logistik herrschen zahlreiche Zielkonflikte, die durch fehlende Transparenz bei Entscheidungen häufig nicht berücksichtigt werden. Die Digitalisierung von Supply Chains bietet das Potential, die Abhängigkeiten und teilweise erst verzögert auftretende Auswirkungen von Entscheidungen aufzuzeigen und damit bessere Entscheidungen zu treffen.

Zukünftig wird es einfacher, Gesamtkostenbetrachtungen wie TCO durchzufüh-ren. Gründe dafür sind eine zunehmende Digitalisierung, Vernetzung und dadurch Transparenz. Der Zugriff auf große Daten in Echtzeit wird unternehmens-übergreifend möglich. TCO berücksichtigen mit durchschnittlichen, prognostizier-ten Kosten, wie z.B. Lagerkostensätze, für die Kalkulation eher SOLL-Kosten als tatsächlich auftretende, realen, real-time und auf den konkreten Fall bezogenen Daten. Diese könnten durch Simulation aufgedeckt und mithilfe von Big Data Ana-lytics ermittelt werden.

Im Idealfall könnte das System beispielsweise in Echtzeit anhand von dynami-schen Lager- und Auftragsdaten prüfen, ob eine große Liefermenge auf einmal ver-einnahmt und untergebracht werden kann. Wo bisher Informationen über Email oder Telefon eingeholt wurden, können beispielsweise Bestandsdaten verlässlich abgerufen und prognostiziert werden, was die Prozesse im gesamten Netzwerk optimiert. (Zhang et al., 2011)

Die cross-funktionale Entscheidungsfindung wird durch Digitalisierung der Infor-mationsweitergabe und -auswertung und die entsprechende IT-Unterstützung für die Anwender vereinfacht und beschleunigt.

Durch eine ganzheitliche Betrachtung im Sinne des digitalen Supply Chain Ma-nagements wird es möglich, ein Gesamtoptimum für das Unternehmen zu fin-den, das die nachgelagerten Störgrößen bei der Einkaufsentscheidung berück-sichtigt und Produkte anforderungsgerecht beschafft. Dafür gilt es festzulegen, welche Informationen der Einkauf benötigt, um Interessen der internen Logistik zu berücksichtigen, und wie diese zusammenhängen. Entsprechende Entschei-dungsparameter unter Berücksichtigung der Argumente verschiedener Stake-holder werden für prozess- und kostenoptimale Beschaffungsstrategien entwi-ckelt.

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Konzeptentwicklung 545

Dafür spielt die Digitalisierung der Supply Chain für die Koordination eine zent-rale Rolle. Die Sichtbarkeit und bedarfsgerechte Verfügbarkeit von Daten in Echt-zeit sowie die dezentrale und autonome Organisation der Prozesse soll realisiert werden. Entscheidungsparameter und deren Zusammenhänge können mithilfe von Simulationsexperimenten fiktiv und an realen Beispielen überprüft werden.

Die verbesserte Entscheidungsgrundlage durch Digitalisierung korreliert mit den Zielen, die im Einkauf durch Industrie 4.0 verfolgt werden, denn zu diesen zählen laut einer Studie zum Einkauf 4.0 unter anderem (Pellengahr et al., 2016):

‒ Verfügbarkeit von Daten und Informationen in Echtzeit ‒ Verbesserte Datenqualität mit hohem Aussagegehalt ‒ Vollautomatisierter Informationsfluss ‒ Vereinfachte und verbesserte vertikale und horizontale Kommunikation ‒ Erhöhte Transparenz von Daten und Informationen in der SC ‒ Verbesserte Steuerungsmöglichkeit und Entscheidungsgrundlage ‒ Digitalisierung und Standardisierung von Prozessen und Abläufen ‒ Bessere weltweite Vernetzung über verschiedene Wertschöpfungsstufen

Starke vertikale und horizontale Vernetzung sind essentiell, um die Digitalisierung voranzutreiben. Besonders bei der horizontalen Vernetzung ist der Einkauf gefor-dert. Die vertikale und horizontale Prozesssicht wird durch den Einsatz von Tech-nologien und Systemen erleichtert. Beispielsweise werden unterschiedliche Sys-teme miteinander harmonisiert und integriert und Schnittstellen reduziert, damit ein Datenaustausch zwischen den Abteilungen und den SC Partnern stattfindet. Technologien und Systeme zur Datenverarbeitung und Big Data sind besonders bedeutend. (Pellengahr et al., 2016)

Einkaufsentscheidungen können zukünftig auf mehr Faktoren basieren und es können fundierte, auf Simulationsergebnissen basierende Entscheidungen getrof-fen werden. Außerdem werden Lieferanten, Kunden und Märkte durch detaillierte Auswertungen von Datenmengen besser verstanden. Auch für die Bewertung von Lieferantenperformance und die Implementierung von Risikomanagementprozes-sen im Einkauf dienen geeignete Analysen. (Weissbarth et al., 2016)

“Digital technologies will help procurement increase collaboration, analytics, and engagement using a spectrum of tools along the entire procurement value chain, from planning and sourcing to contract negotiations, order delivery, payment, and supplier management.” (Weissbarth et al., 2016).

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546 Optimierung von Beschaffungsentscheidungen

5.5 Ausblick

Die konkrete Schnittstelle zwischen einer Einkaufsentscheidung und dem Waren-eingangshandling wird durch Industrie 4.0 positiv beeinflusst. Zielkonflikten wer-den im Sinne des Gesamtoptimums unter Berücksichtigung aller Bereiche, auf die sich die Entscheidungen auswirken können, gelöst, was durch die zur Verfügung stehenden Informationen ermittelt wird.

Die beschriebene Problemstellung und bisher in ihrer Umsetzung noch unzu-reichende Lösungsentwicklung und deren Implementierungsmöglichkeiten zei-gen einen hohen Forschungsbedarf auf. Zunächst sollten konkrete Fälle aus der Praxis gesammelt werden, die den Handlungs- und Forschungsbedarf weiter un-termauern. Zukünftige Forschungsprojekte befinden sich in Überlegung. Die In-tegrierung von Unternehmen, die Anwendungsfälle bereitstellen können, ist si-cherlich essentiell für die Validierung einer möglichen technischen Lösung zur Breitstellung von Daten zur Entscheidungsunterstützung in Echtzeit. Über Plan-spiele oder Workshops können Unternehmen für die Probleme der unzureichen-den Informationsverfügbarkeit sensibilisiert werden. Auswirkungen nicht optima-ler Entscheidungen sowie Verbesserungsmöglichkeiten durch die Digitalisierung der Supply Chain und die Anwendung von Simulation und Big Data Analytics können aufgezeigt werden.

Im Zusammenhang mit der Einführung entsprechender IT-Lösungen ist es wich-tig, den Nutzen dieser und somit der zu vermeidenden Probleme durch nicht op-timale Entscheidungen zu quantifizieren und dadurch möglicherweise zu erzie-lende Einsparungen aufzuzeigen.

Es muss ein Simulationsmodell entwickelt werden, das mehrere Ebenen übergrei-fend anwendbar ist und in einer hoch leistungsfähigen IT-Umgebung implemen-tiert werden kann. Ebenen wie z.B. die Suppy Chain Ebene und die Fabrik-Ebene müssen verknüpft werden. So können die Auswirkungen bestimmter Entschei-dungen umfassend simuliert und bewertet werden. Mithilfe der Simulation, in die die großen vorhandenen Datenmengen einfließen, können Fragestellungen im Zu-sammenhang mit der Entscheidungsfindung quantitativ bewerten werden.

Eine große Herausforderung und weiteren Forschungsbedarf wird die technische Umsetzung darstellen.

Page 541: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Ausblick 547

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548 Optimierung von Beschaffungsentscheidungen

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Ausblick 549

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Page 544: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

6 Digitalisierung in gewerblichen Transportprozessen durch VR-Einbindung und Integration von Frontend und Backend in Routing- und Kundenprozessen

Prof. Dr. M. Klumpp, T. Neukirchen (FOM Hochschule Essen), Prof. Dr. V. Gruhn, M. Hesenius (Universität Duisburg-Essen), Prof. Dr. G. Sandhaus (FHDW Mettmann)

6 Digitalisierung in gewerblichen Transportprozessen durch VR-Einbindung und Integration von Frontend und Backend in Routing- und Kundenprozessen 551

6.1 Einführung ................................................................................................... 5526.2 Vision Physical Internet und Internet der Dinge .................................... 5526.3 Stand der Technik ....................................................................................... 5546.4 Beispielanwendungen ................................................................................ 5576.5 Innovationsprozess ..................................................................................... 562

Literatur ........................................................................................................................ 565

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_34

Page 545: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

552 Digitalisierung in gewerblichen Transportprozessen

6.1 Einführung

Neue technische und organisatorische Möglichkeiten der IT bieten die Chance, eine weiterführende Integration der Prozesse im Rahmen der Transportlogistik wie bspw. für das Routing von Auslieferfahrzeugen (z.B. KEP-Dienste, Retail- und Last-Mile-Distribution) zu realisieren. Dabei werden potenziell die derzeit in der Regel getrennten Bereiche Frontend (Kundenkommunikation z.B. per Online-Portal oder Smartphone-App) und Backend (Fahrzeugrouting, Fahreranweisungen und Dynamic Routing z.B. in Stausituationen) in „real time“ verbunden, indem Kunden-vorgaben direkt in die Fahrtanweisungen eines Fahrzeugs (z.B. über Smartphone, Tablet oder mit Datenbrille) eingebunden und eingeblendet werden.

Beispiele umfassen aktuelle Anwendungen zur Lieferzeitvorgabe bei KEP-Ser-vice.50 Dieser Beitrag stellt Beispiele und Entwicklungsrichtungen vor und präsen-tiert ein Konzeptmodell zur weiterführenden Einbindung von technischen Inno-vationen wie z.B. Virtual-Reality-Datenbrillen für Berufskraftfahrer oder Kommis-sionierer. Dabei wird auf die wesentlichen Herausforderungen wie z.B. die Ska-lierbarkeit, die Datenübertragung (real time), die Datenhaltung (Datenbanksys-tem) sowie die Berücksichtigung von Logistik- und Qualifikationsanforderungen für den Bereich der Distribution bzw. urbanen Logistik (Last Mile) eingegangen. Andere Anwendungsbeispiele finden sich in der Gamification-gestützten Kunden-einbindung in die In-Store Mikrologistik des Einzelhandels oder den Warehouse- und Kommissionierprozessen von Handels- und Logistikunternehmen. Vielver-sprechende Aspekte sind die Senkung der Arbeitskosten in begrenztem Umfang und neue Verknüpfungen von Kostensenkung und Kundenbindungsprogram-men.

6.2 Vision Physical Internet und Internet der Dinge

Das Konzept des Physical Internet wird auf Montreuil (2011) zurückgeführt, der bezüglich des Internet of Things (IoT) eine begriffliche Unterscheidung vornimmt. Aktuelle entwicklungen in diese Richtung werden auch unter dem Industrie 4.0-

50 Vgl. beispielsweise DHL: http://www.dhl.de/en/paket/pakete-empfangen/pake-tankuendigung-wunschtag.html.

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Vision Physical Internet und Internet der Dinge 553

Begriff subsumiert (Zijm, Klumpp, 2016, Stevens, Johnson, 2016). Ähnliche Be-schreibungen finden sich z.B. bei Rifkin (2014), der nur letztere Bezeichnung ver-wendet. Aus einer wirtschaftsphilosophischen Perspektive argumentiert Rifkin, dass die Möglichkeit nahezu kostenfreier weltweiter Vernetzung und Datentrans-fers die Grenzkosten für Produkte gegen Null gehen lässt, was er auf einen drama-tischen Anstieg der Energieeffizienz und Produktivität aufgrund der revolutionä-ren Infrastruktur des IoT zurückführt: „The emerging Internet of Things is the first smart-infrastructure revolution in history: one that will connect every machine, bu-siness, residence, and vehicle in an intelligent network comprised of a Communi-cations Internet, Energy Internet, and Logistics Internet, all embedded in a single operating system“ (Rifkin, 2014, S. 62). Montreuil bezeichnet mit Physical Internet ein logistisches System des automatischen Transports modularer Container von der Quelle zum Ziel durch ein Netzwerk mit Speichenarchitektur, während mit IoT dort die Vernetzung physikalischer Objekte über das Internet gemeint ist. Das Gesamtkonzept des Physical Internet wird in der Diskussion als langfristiges, das gesamte SCM übergreifendes Ziel betrachtet, das Themen der Nachhaltigkeit, Ef-fektivität und Effizienz globaler Wertschöpfungsketten, Informationsflüsse und horizontaler sowie vertikaler Kollaboration inkludiert (Shin, Treiblmaier, 2016). Dabei wird für eine derart tiefgreifende Zusammenarbeit beteiligter Akteure die Orientierung an sehr weit gefassten Nachhaltigkeitszielen vorausgesetzt und prob-lematisiert (Zijm, Klumpp, 2016): Im Hinblick auf Finanz- und Markt-, Sicherheits- und Umweltkriterien seien neue Entscheidungsmethoden und –wege nötig, die auch neue transnationale Regulierung und Organisationsformen bedingen wür-den. Zijm, Klumpp (2016) identifizieren als eine wesentliche Herausforderung in diesem Zusammenhang die Entwicklung eines Decision Support Systems, in dem automatisch und dezentral Entscheidungen ausgeführt werden. Im Rahmen der europäischen Technologieplattform ALICE sind fünf Roadmaps für Logistikinno-vation definiert; im Bereich Information systems for interconnected logistics bein-halten diese folgende Zwischenziele:

2020 – Interoperability between networks and IT applications for logistics

2030 – Full visibility throughout the supply chain

2040 – Fully functional and operating open logistics networks

2050 – Physical Internet

Insgesamt sollen „ real-time (re)configurable supply chains in (global) supply chain networks with available and affordable ICT solutions for all types of compa-nies and participants” erreicht werden (ALICE, 2014).

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554 Digitalisierung in gewerblichen Transportprozessen

6.3 Stand der Technik

Auf zwei Gesichtspunkte aktueller Entwicklungen und Perspektiven wird im Fol-genden eingegangen: Technische Aspekte für den Umgang mit real time-Daten und deren Realisierbarkeit und den optimalen Grad der Formalisierung im Digi-talisierungsprozess. Vorweg sei mit Verweis schon auf Krishna und Shin (1997) bemerkt, dass „any system where a timely response by the computer to external stimuli is vital is a real-time system”, dass es also hier nicht um eine quasi-instan-tane Antwort oder einen paradoxen Gleichzeitigkeitsbegriff geht. Vielmehr geht es um Rechtzeitigkeit, definiert über Deadlines, was jeweils nichts anderes ist als der späteste Zeitpunkt zur Vollendung einer Task. Insbesondere ist „real-time“ im All-gemeinen nicht äquivalent zu kurzen Antwortzeiten. Ein Echtzeitsystem liegt vor, wenn das angefragte System garantiert, innerhalb einer definierten Zeitspanne zu reagieren. Gerade in mobilen Netzen hängt die Zeitspanne zum Erhalt einer Ant-wort entscheidend davon ab, ob und wie schnell Daten übertragen werden können (vgl. Zimmerling et al., 2017).

6.3.1 Technische Aspekte für Realtime-Daten

Für die Umsetzung zeitkritischer Anwendungen ist die Verarbeitung von Daten in Echtzeit erforderlich, um neue Informationen über bestehende Auftrage oder neue Aufträge unverzüglich in laufenden Geschäftsprozessen zu berücksichtigen. Eine zusätzliche Herausforderung im SCM besteht darin, dass diese Daten nicht nur über verschiedene Unternehmensbereiche eines Unternehmens (z. B. Auftragsbe-arbeitung, WMD, Routenführung), sondern auch unternehmensübergreifend zwi-schen Kooperationspartnern (z. B. Zulieferer, Transportunternehmen, Warenemp-fänger) ausgetauscht werden.

Damit ergeben sich aus technischer Sicht ungünstige Voraussetzungen für die Im-plementierung von Echtzeitanwendungen (Reiher, 2007):

1. Die erforderliche Zeit zur Verteilung der Daten an die betroffenen Bereiche ist abhängig von der bestehenden Kommunikationsinfrastruktur im Unterneh-men / zwischen den Unternehmen und kann die Bearbeitungszeit verzögern.

5. Für eine Verarbeitung in Echtzeit empfiehlt sich grundsätzlich eine zentrale Datenhaltung, weil

‒ der physikalische Zugriff auf die Daten schneller erfolgen kann und ‒ einfachere / weniger Prüfungen der Daten bzgl. ihrer Integrität, Eindeutig-

keit und Aktualität erforderlich sind.

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Stand der Technik 555

Allerdings ist aus den o. g. Gründen eine zentrale Datenhaltung nicht möglich. Eine dezentrale Datenhaltung kann die Bearbeitungszeit verzögern.

Um dennoch eine zeitnahe Datenverarbeitung in der Logistik zu ermöglichen, ha-ben ten Hompel et al. bereits 2005 den Einsatz von Agententechnologien vorge-schlagen. Grundlage ist hier die autonome Kommunikation zwischen logistischen oder materialflusstechnischen Objekten innerhalb einer aktuellen Umgebung (ten Hompel et al., 2005).

Agententechnologien haben sich somit bis heute innerhalb der Logistik als Lö-sungsansatz für die Kommunikation verteilter Systeme, wie z. B. beim Cross-Do-cking an Umschlagplätzen oder beim Einsatz intelligenter Ladungsträger - weiter etabliert (Sandhaus, Klumpp, 2013).

6.3.2 Die digitale Transformation mit dem IR:digital einleiten

Das zu Beginn des vorangehenden Abschnitts kurz skizzierte, weit verbreitete und persistente Missverständnis des Themas „real-time“ kann exemplarisch für die Probleme bei der Definition von Anforderungen gesehen werden, wenn z. B. zwi-schen Kundenwünschen und funktionaler Spezifikation “übersetzt“ werden muss. Generell wirft die digitale Transformation komplexe Fragestellungen auf und ohne durchdachte Lösungen, die die involvierten Partner mit einer “gemeinsamen Spra-che“ ausstatten, können Digitalisierungspotentiale nicht zureichend eingeschätzt werden.

Digitalisierung geht über den Einsatz papierloser Kommunikation hinaus: sie durchdringt alle Aspekte des beruflichen und privaten Alltags. Damit sind Insel-lösungen, die nur einen Teil eines Arbeitsschrittes oder einzelne Geschäftsprozesse digitalisieren immer mit der Schwierigkeit konfrontiert, Schnittstellen zum „alten Weg“ zu bieten. Digitalisierung muss demnach ganzheitlich gedacht, also mit allen Beteiligten besprochen und aus allen Perspektiven betrachtet werden. Die Rich-tung für die ersten Schritte zur digitalen Transformation sind aber oft nicht klar zu erkennen: wo liegt eigentlich das Digitalisierungspotential? Wie müssen Produkte und Services angepasst werden? Oder müssen neue Geschäftsfelder erschlossen werden? Wie müssen Geschäftsprozesse angepasst werden, um für die zukünftige Entwicklung gerüstet zu sein? Welche Voraussetzungen für eine erfolgreiche Di-gitale Transformation sind schon vorhanden und welche müssen noch geschaffen werden?

Dabei gibt es nicht den einen Weg zur digitalen Transformation – jede Branche und

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556 Digitalisierung in gewerblichen Transportprozessen

jede Organisation ist anders auf die aktuellen Entwicklungen vorbereitet. Eine Me-thode zur digitalen Transformation muss entsprechend unterschiedliche Betrach-tungspunkte bieten und auf individuelle Nuancen eingehen können. Der „Interac-tion Room for Digitalization Strategy Development“ (IR:digital, Book et al., 2016), der auf dem bewährten Interaction Room – entwickelt und in zahlreichen Projek-ten erprobt (ein Erfahrungsbericht findet sich u. a. bei Grapenthin et al., 2014) am paluno, dem Institut für Software-Technik der Universität Duisburg-Essen – ba-siert, bietet einen umfassenden Blick auf das vorhandene Digitalisierungspotential und ermöglicht die Identifikation der notwendigen strategischen Entscheidungen, um die digitale Transformation einzuleiten. Dabei werden die zentralen Aspekte beleuchtet: involvierte Partner, Berührungspunkte für Nutzer und wesentliche physische Artefakte werden auf unterschiedlichen „Landkarten“ (engl. Canvas) dargestellt, um einen Überblick über alle interessanten Aspekte zu bekommen.

Im IR:digital wird auf übermäßige Formalisierung verzichtet – stattdessen arbeitet das Team mit einfachen skizzierten Modellen, die mithilfe unterschiedlicher An-notationen (z. B. „Geschäftswert“ oder „Kundenmehrwert“, aber auch „Unsicher-heit“ und „Komplexität“) bewertet und anschließend diskutiert werden. Ein Team ist üblicherweise interdisziplinär zusammengestellt und bringt somit unterschied-liche Perspektiven und weitreichendes Fachwissen zusammen. Neben technischen Spezialisten, die sich mit den neuesten Trends und Technologien auskennen und die Auswirkungen und Möglichkeiten von z. B. Augmented Reality und Wearab-les einschätzen und umsetzen können, müssen auch die Fachbereiche aktiv ihre Perspektive einbringen, um das notwendige Spezialwissen über Prozesse und mögliche Rahmenbedingungen, z. B. rechtliche Fragestellungen oder Sicherheits-anforderungen, einzubringen. Geführt von einem Moderator erarbeitet das Team gemeinsam einen Überblick über das Digitalisierungspotential und die daraus fol-genden Ziele.

Die „Partner-Canvas“ zeigt, mit welchen Partnern zusammengearbeitet wird. Part-ner können hier z. B. Kunden und Lieferanten sein, mit denen ein Unternehmen Informationen oder reale Objekte austauscht. Die hier definierten Beziehungen sind die Basis für die Identifikation notwendiger Schnittstellen und technischer Protokolle, über die Daten, Produkte und Services den Partnern angeboten und von den Partnern bezogen werden.

Auf der „Touchpoint-Canvas“ definiert das Projektteam für die identifizierten Partner die Reihenfolge und Kanäle, die zur Kommunikation verwendet werden. Diese Berührungspunkte zeigen zum einen, an welcher Stelle noch Optimierungs-bedarf bzw. analoge Kommunikation besteht und zum anderen, welche Kanäle unterschiedliche Zielgruppen verwenden wollen. Die detaillierte Betrachtung der

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Beispielanwendungen 557

einzelnen Berührungspunkte ist notwendig, um die passende Strategie sowie die Priorisierung der Zielgruppen zu definieren.

Die „Physical-Object-Canvas“ stellt dann die Brücke zwischen echten, physikali-schen Objekten und der virtuellen Welt her. Sie definiert, welche physischen Ob-jekte Informationen über ihren Zustand liefern können, welche Daten eigentlich relevant sind und an welcher Stelle die vorhandene technische Struktur z. B. um passende Sensoren erweitert werden muss.

6.4 Beispielanwendungen

Drei Beispielanwendungen sollen einerseits oben genanntes illustrieren, dienen andererseits aber auch als konkrete Anwendungsfälle für Anwendungsentwick-lungen und –pilotierungen im Kontext aktueller Forschungsprojekte.

6.4.1 Beispiel Paketdienst Retoure

In einer Beispielbeschreibung wird hier dargestellt, wie die hier beschriebene Real-time-Verbindung von Online-Frontend und Real-World-Backend in der Logistik konkret aussehen könnte. Dazu wird der Fall eines Auslieferfahrzeuges (Paket-dienst oder andere Last-Mile-Verkehre) mit dem Auslieferfahrer in einem Regio-nalgebiet genutzt.

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558 Digitalisierung in gewerblichen Transportprozessen

Abbildung 6.1 Streckenänderung KEP-Dienst bei direkter Verbindung zu On-line-Kundenanforderung.

Ein beliebiges Regionalfahrzeug befindet sich ausgehend von einem Depot wie in der oben abgebildeten Routendarstellung auf einer „Delivery-or-Pick-up“-Tour, bei der Sendungen ausgeliefert oder aufgenommen werden. Die ursprünglich bei Fahrtantritt geplante Strecke ist blau hinterlegt und dauert für den Fahrer ca. 44 Minuten; das Fahrzeug befindet sich an der blauen Markierung etwa auf der Hälfte der zurückgelegten Routenstrecke. Wenn nun ein Kunde die Möglichkeit hat, bei-spielsweise via Smartphone / App eine Abholung einer Sendung (z.B. Retoure ei-ner Anlieferung vom Vortag) zu registrieren und diese Information real time in die Planungs- und Steuerungssysteme der Logistikplanung übermittelt werden kann, so bestünde die Möglichkeit, dass das Regionalfahrzeug schon ca. 20 Minuten spä-ter bei der Adresse des Kunden durch einen kleineren Umweg (hier ca. 500 Meter zusätzlicher Fahrweg) ankommt und die Sendung bereits mitnimmt. Dies würde neben der schnellen Reaktion auf die Kundenanfrage (Qualitäts- und Serviceleis-tung, welche zu Kundenzufriedenheit beitragen kann) weitere mögliche Vorteile generieren:

■ Das Risiko den beauftragenden Kunden für die Sendungsrücknahme nicht anzutreffen sinkt signifikant, da bei einer vergleichsweise schnellen Reakti-onszeit < 30 Minuten davon ausgegangenen werden kann, dass der Kunde auf

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Beispielanwendungen 559

den Fahrer wartet und noch angetroffen wird (u.a. durch direkte Rückmel-dung der App wann der Fahrer eintreffen wird, sozusagen ein „Rückkanal“ der Tourenplanung in die Frontend-App des Kunden).

■ Damit sinken auch die durchschnittlichen Kosten aus vergeblichen Anfahrten, bei denen Kunden nicht angetroffen werden.

■ Je nach vorliegenden weiteren Ausliefer- und Übernahmestandorten am Fol-getag ist die hier dargestellte Zusatztour (plus ca. 500 Meter) eine deutliche Verkürzung der für die Anfahrt dieses Kundenpunktes zurückzulegenden Strecke und stellt damit eine Reduktion der Fahrtkosten des Auslieferfahrzeu-ges dar.

■ Gleichzeitig werden auch die Fahrtzeit des Fahrers und damit die Personal-kosten reduziert.

Voraussetzung ist jedoch die Realisierung einer im Beitrag dargestellten real time-Datenverbindung zwischen typischen Frontendsystemen (hier die Retouren-App auf dem Smartphone des Kunden) und Backendsystemen (hier die Fahrzeug- und Routenplanung des Regionalfahrzeugs). Diese Verbindung umfasst zudem mehr als nur eine reine Datenübergabe, sondern muss auch verschiedene Entschei-dungs- und Verarbeitungsroutinen umfassen (beispielsweise ob im Beispielfall durch die Hinzunahme eines Abholauftrages wie abgebildet spätere Liefertermine auf der Tour gefährdet sein könnten).

6.4.2 Beispiel Auftragsabwicklung (einschl. Order Picking)

Die Abwicklung eines Transportauftrages beginnt üblicherweise mit dem Order Picking im Lager des Zulieferers. Das moderne Order Picking ist heutzutage so eng mit dem WMS verbunden, dass Aufträge bzgl. der Warenverfügbarkeit, La-gerstandort, Auftragsdringlichkeit etc. priorisiert und verarbeitet werden können. Insbesondere die Ware-zum-Mann Kommissionierung (Pick-to-Tote) setzt ausge-klügelte technologische Ausrüstungen und Algorithmen für die Anlieferung der Transportbehälter zur optimalen Kommissionierung voraus.

Die Mehrzahl der Lager ist jedoch nicht mit diesen kostspieligen Technologien aus-gerüstet und somit sind papierbasierte Kommissionieraufträge oder bestenfalls Pick-By-Voice am weitesten verbreitet (Theel, 2015).

Außerdem ist bei der Verarbeitung neuer Informationen über bestehende oder neue Aufträge nicht nur das Order Picking, sondern der gesamte Transportauftrag

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560 Digitalisierung in gewerblichen Transportprozessen

betroffen, wie z. B. Verpackung, Beladung, Routenführung und Auslieferung. Die Herausforderung besteht also darin, auf Basis neuer Informationen, bestehende Prozesse zeitnah möglichst effizient anzupassen.

Voraussetzung für eine solche Anpassung ist es, über die aktuell laufenden Pro-zesse so zeitnah informiert zu sein, dass auf Veränderungen und deren Auswir-kungen entlang der Wertschöpfungskette unverzüglich reagiert werden kann. Dazu etablieren sich zurzeit unterschiedliche Lösungsansätze:

1. Eventbasiertes Prozessmonitoring (z. B. von eurodata, www.eurodata.de): Die Daten der an einem Prozess (z. B. Transportauftrag) beteiligten Systeme (z. B. WMS, Order-Picking-System) werden gesammelt und zur Analyse so aufbe-reitet, dass sich Schwachstellen im Prozess erkennen (z. B. Stillstandzeiten) und durch eine Anpassung verbessern lassen.

2. Devicebasiertes Prozessmonitoring (z. B. Evertracker, www.evertracker.com): Die Ware eines Transportauftrages wird mit einer Sendeeinheit versehen, die in Echtzeit die lückenlose Sendungsverfolgung ermöglicht. Der Vergleich von Soll- und Istprozess deckt eventuelle Abweichungen auf, so dass entweder di-rekt im laufenden Prozess eingegriffen werden kann oder die Informationen für spätere Prozessoptimierungen zur Verfügung stehen.

3. Automatische Ursachenanalyse beim Prozessmonitoring (z. B. celonis, http://www.celonis.com/Proactive-Insights/): Wie 1, jedoch sind zusätzlich die Sollprozesse im Monitoring-System hinterlegt, so das Abweichungen automa-tisch erkannt werden. Abweichungen werden einer (automatisierten) Ur-sachanalyse unterzogen und (automatisch) Vorschläge zur Prozessoptimie-rung erstellt.

6.4.3 Beispiel Retail Micrologistics

Ein weiteres Anwendungsfeld stellt der Bereich Retail Micrologistics, speziell Int-ralogistik am Point of Sale, dar. Konzepte, die auf Augmented Reality und/oder Predictive Analytics basieren, sind vielfältig; beispielhaft sei hier auf Ansätze zur Kundeneinbindung in die Instore-Logistik verwiesen (Customer-aided Instore Micrologistics CAIM, Neukirchen, Klumpp, 2017). Customer-aided Instore-Micro-logistics stellt einerseits ein Konzept für eine konkrete Anwendung im Handel dar, andererseits steht es für ein Hinterfragen ‚klassischer‘ Determinanten erfolgrei-chen Einzelhandels-Marketings, die teils erheblich von Store Layouts und Verweil-dauer abhängen und so im Zuge der fortschreitenden Implementierung von In-dustrie 4.0-Systemen und individualisiertem Marketing obsolet werden können.

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Beispielanwendungen 561

Zumindest im Übergangszeitraum zur ggf. vollen Automatisierung der Intralogis-tik bietet dies Forschungspotential für alle angrenzenden Bereiche (z.B. Marketing, Softwareentwicklung, Machine Learning). Eine Idee betrifft die Einbindung des Kunden in das Replenishment, d.h. das Wiederauffüllen von Angebotsflächen im Einzelhandel. Raum für derartige Überlegungen wird vor allem durch die nach wie vor prohibitiv hohen Kosten für eine volle Automatisierung der Intralogistik geschaffen (Bonini et al., 2015, Montreuil, 2011). Um eine Alternative für etablierte Verfahren am Point of Sale darzustellen, müssen idealerweise alle Stakeholder in dieser Umgebung einbezogen werden: Zentraler Aspekt des Konzeptes ist die Nut-zung mobiler Anwendungen und von Augmented Reality, um Kunden individu-alisierte, gezielte Vorschläge für einzelne Replenishments bei oder vor Betreten der Ladenfläche zu machen. Es wird eine opt in-Lösung vorgeschlagen, d.h. nur zu diesem Zeitpunkt zustimmende Kunden sind im Weiteren involviert. Diese wäh-len auf Hinweise hin eine Anzahl Waren, die auf einem Abschnitt einer aufgrund von Kundendaten generierten Einkaufsroute mitgeführt wird. Prinzipiell existie-ren keine Beschränkungen bezüglich der Art der Präsentation, auch diese kann in-dividuell angepasst sein in Abhängigkeit von Kundendaten und –präferenzen, dem generell heterogenen Einkaufsverhalten entsprechend (Sorensen et al., 2017). Während Potential für Kosteneinsparungen existiert, ist hier vor allem an gezieltes, individualisiertes Marketing gedacht: Mit der Einbindung mobiler Apps und Aug-mented Reality-Funktionen wird deren motivierendes Design entscheidend (z.B. Gamification). Zwar ist ein naheliegender Gedanke schlicht jener der Verknüpfung mit monetarisierbaren Anreizen, z.B. Loyalty-Programmen. Langfristig erfolgver-sprechender ist jedoch auf intrinsische Motivation abzielendes Design. Sofern dies unter der Prämisse der Maximierung der Verweildauer von Einzelhandelskunden geschehen soll (Hui et al., 2013), ist es folgerichtig, replenishment-Vorschläge so zu wählen, dass sie in die erwartete (bzw. durch eine Einkaufsliste festgelegte) Ein-kaufsroute integriert werden bzw. diese nur unerheblich verlängern. Andererseits zeigt das Beispiel chaotic storage eine andere mögliche Herangehensweise auf: de-signierte Bereiche der Verkaufsfläche sind dem customer-aided replenishment vorbehalten und zugleich unsortiert, d.h. shelve-layouts werden endogen durch die CAIM-Lösung bestimmt. Prinzipiell ließe sich dies auf gesamte Verkaufsflä-chen ausweiten, dies entspräche einer Spiegelung des chaotischen Lagers auf die Kundenseite, dessen Orientierung nicht mehr auf Erfahrungswerten und einer festgelegten ‚Geografie‘ des Marktes basieren, sondern mittels Navigation durch eine individualisierte mobile App (Smartphone, AR-Brille) erfolgt.

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562 Digitalisierung in gewerblichen Transportprozessen

6.5 Innovationsprozess

Ein vorwettbewerblicher Innovationsprozess kann exemplarisch in der folgenden Projektstruktur abgebildet werden (in Anlehnung an Design Science Research Me-thodology DSRM). Wie in Peffers et al. (2008) dargestellt, beinhaltet dies im Allge-meinen die Schritte problem identification and motivation, definition of objectives for a solution, design and development, demonstration, evaluation. Zudem sei auch der As-pekt communication, begleitend und abschließend, Teil des Innovationsprozesses (vgl. Hevner et al. 2004):

Einer Prozess- und Anforderungsanalyse, in der ausführlich die bestehenden Vor-arbeiten und Prozesse in Bezug auf zu bearbeitende Anwendungsfelder „Paket-dienst, Order Picking, Replenishment“ im Hinblick auf eine Integration der Pro-zesse (Frontend UND Backend, Routing, VR-Anwendung) folgt eine Anforde-rungsanalyse für die adressierten Anwendungsfelder als Grundlage für die Aus-wahl und Bewertung von Digitalisierungs- und Integrationslösungen.

Auf dieser Grundlage erfolgt die Evaluation und Selektion technischer Lösungen: Aus einer zu erstellenden Gesamtübersicht der in Frage kommenden technischen Lösungen (je Anwendungsfeld), werden Kriterien für die Bewertung der Lösun-gen hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit, Übertragbarkeit oder notwendiger Adapta-tion auf der Grundlage der Anforderungsanalyse formuliert und zur Selektion ge-eigneter Lösungen (max. 3 Lösungen je Anwendungsfeld zur Pilotierung) eine Nutzwertanalyse/AHP-gestützte Analyse mit Hilfe dieser Kriterien durchgeführt. Die Konzeptualisierungsmöglichkeiten der Lösungen im jeweiligen Anwendungs-kontext werden durch die Methoden C-K-Designtheorie, DSRM sowie des In-tegrated Technology Roadmapping (ITR) gestützt, wobei Trends im Sinne einer Extrapolation und (zukünftige oder gewünschte) Bedarfe auf Basis einer Retropo-lation eingearbeitet werden.

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Innovationsprozess 563

Abbildung 6.2 Designzyklus nach Vaishnavi, Kuechler, 2007.

Erste Pilotierung: Selektierte Pilot-Anwendungen werden im jeweiligen Pra-xiskontext (Unternehmen) je Anwendungsfeld implementiert. Dabei werden die spezifischen Anforderungen an die jeweiligen Logistikprozesse berücksichtigt und im Idealfall die notwendigen Techniklösungen durch Herstellerfirmen zur Verfü-gung gestellt. Für einen ersten Anwendungsfall wird eine Fallstudie je Anwen-dungsfeld ausgearbeitet. Hierzu werden mit den Konsortialpartnern praxisnahe Realisierungsmöglichkeiten und -phasen diskutiert. In Interviews und in Work-shops mit den Beschäftigten sollen die in den Analyse- und Selektionsphasen iden-tifizierten Prozesse konkretisiert und mögliche Potentiale sowie Hemmnisse dis-kutiert werden. Hierdurch wird zum einen Akzeptanz geschaffen, es werden aber auch Hemmnisse frühzeitig erkannt, auf die im weiteren Projektverlauf eingegan-gen werden kann. Basierend auf den Erkenntnissen wird ein Leitfaden entwickelt, der die Einführung der neuen Technologien bzw. Prozesse begleiten und vereinfa-chen soll. Der Pilotversuch wird zum einen begleitet durch Interviews und Umfra-gen unter Stakeholdern. Hierdurch sollen neue Hemmnisse und Barrieren identi-fiziert sowie weitere Potentiale gehoben werden. Begleitendes Monitoring und Prozessanalysen ermöglichen zum anderen die wissenschaftliche Auswertung der neuen Technologien und machen Aussagen zu den Auswirkungen hinsichtlich Zeit, Kosten und Belastung möglich.

Feedback- und Anpassungsphase: Es erfolgt eine umfangreiche Analyse als Feed-back aus den Pilotierungen in den jeweiligen Anwendungsfeldern. Auf dieser

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564 Digitalisierung in gewerblichen Transportprozessen

Grundlage wird – soweit technisch und ökonomisch möglich – eine Anpassung bzw. Verbesserung der technischen Lösungen für die Anwendungsfelder reali-siert.

Beispielhaft können hier die folgenden Spezifika der gewerblichen Logistikpro-zesse im Bereich Transport- und Intralogistik sowie Lager genannt werden, auf die im Rahmen der Testerfahrungen in den Anwendungsfeldern spezifisch eingegan-gen wird:

1. Besondere Anforderungen im Umgang mit technischen Instrumenten (z. B. Datenbrille, HUD etc.),

2. Qualifikationsbedarf für den Umgang mit/die Akzeptanz von automatischem Prozessmonitoring und –optimierung,

3. Anforderungsspezifikationen für die Gestaltung von Arbeitsplätzen und Tä-tigkeitsbeschreibungen in der Transport- und Intralogistik (Dynamisches Routing in real-time, kundenunterstütztes Replenishment),

Zweite Pilotierung: Die überarbeiteten technischen Lösungen werden in einem zweiten Praxistest umfangreich getestet. Dabei sollen beispielsweise variierende Anforderungen (Saisonzeiten mit geringen und hohen Durchsatzmengen, wech-selnde Sortimente/Warengruppen/Verkaufsflächen) berücksichtigt werden. Dies wird durch die wechselnde Betrachtung der Anwendungsfelder/Praxispartner im Umsetzungszeitraum dieses Arbeitspaketes realisiert. In Abhängigkeit der reali-sierbaren Zeitabstände zwischen mehreren inkrementelle Auslieferungen erfolgen weitere Pilotierungsschritte.

Abschlussevaluation: Die Projektpartner führen eine Abschlussevaluation durch, die alle Erfahrungen und Testergebnisse umfasst (alle Anwendungsfelder, beide Testdurchführungen, ggf. mehrere Techniklösungen). Hierzu werden z. B. im Rah-men eines Expertenworkshops beispielsweise auch Vertreter von Technikanbie-tern sowie weitere interessierte Anwendungsunternehmen und assoziierte Pro-jektpartner mit hinzugezogen. Gleichzeitig wird daraus eine Gesamtempfehlung je Anwendungsfeld sowie ein Leitfaden für weitere Praxisanwender in Bezug auf die untersuchten Anwendungsfelder erstellt.

Transfer: Die Projektpartner arbeiten daran, alle entwickelten Anwendungen in den Anwendungsbereichen in die Fachöffentlichkeit – insbesondere Unternehmen aus Industrie, Handel und Logistik mit Logistikfunktionen in Transport, Lager- und Intralogistik– zu übertragen und zu kommunizieren. In einer abstrahierenden Gesamtsicht entspricht dem Innovationsprozess somit die Darstellung als allge-meiner Designzyklus (reasoning in the general design cycle, Vaishnavi, Kuechler,

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Innovationsprozess 565

2007).Die Phasen der Anwendungsentwicklung und –pilotierungen stellen selbst erst wesentliche Lernprozesse im Hinblick auf Konzepte, Rahmenbedingungen und die entstehenden komplexen Systeme dar. Deshalb ist es erforderlich und an-gesichts des Projektumfangs zweckmäßig, sich in diesen Phasen agiler Entwick-lungsmethoden zu bedienen.

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566 Digitalisierung in gewerblichen Transportprozessen

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Page 560: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

7 Antwortmengenprogrammie-rung für autonome Fahrzeuge im innerbetrieblichen Verkehr

S. Schieweck, Prof. Dr. G. Kern-Isberner, Prof. Dr. M. ten Hompel (TU Dortmund)

7 Antwortmengenprogrammierung für autonome Fahrzeuge im innerbetrieblichen Verkehr 567

7.1 Einleitung und Zielsetzung ....................................................................... 5687.2 Zellulare Transportsysteme ....................................................................... 5697.3 Antwortmengenprogrammierung ............................................................ 5707.4 Systemdesign ............................................................................................... 5717.5 Evaluation .................................................................................................... 5767.6 Zusammenfassung und Ausblick ............................................................. 579

Literatur ........................................................................................................................ 580

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_35

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568 Antwortmengenprogrammierung für autonome Fahrzeuge

7.1 Einleitung und Zielsetzung

Autonomer Personen- und Güterverkehr auf öffentlichen Straßen erlebt in jünge-rer Vergangenheit dank intensiver Entwicklungsarbeit besondere mediale Auf-merksamkeit. In abgeschlossenen Bereichen ist die Vision der autonomen Fahr-zeuge schon lange Realität: „Schwärme“ intelligenter Fahrzeuge beliefern in intra-logistischen Systemen vollautomatisch Arbeitsstationen, an denen bestellte Auf-träge zusammengestellt und verpackt werden können. Die Verwendung derartiger Fahrzeuge vereint auf einzigartige Weise eine hohe Durchsatzleistung mit großer Flexibilität [KSK+12].

Die Koordination und Steuerung der Fahrzeuge erfordert ein immenses Know-how aus dem Bereich der Digitalisierung von ursprünglich manuellen und/oder statischen Prozessen. Besonders die Forderung nach größtmöglicher Flexibilität der Systeme erfordert ein Umdenken bei der Architektur der notwendigen digita-len Systeme. Die Fahrzeuge sollen nicht nur in ihrer heimischen Umgebung flexi-bel auf Änderungen reagieren, sondern auch dazu in der Lage sein, ihre Umge-bung schnell und unkompliziert wechseln zu können.

Bisherige Ansätze verwenden üblicherweise klassische, imperative Programmie-rung, deren Implementierung dank ihrer Charakteristika vielfach hochkom-plex, -spezifisch und für Außenstehende schwer verständlich ist. Insbesondere die Verwendung deduktiver Programme reduziert die Komplexität und Länge von Computerprogrammen und unterstützt somit wesentlich deren Verständlichkeit und Wandelbarkeit. Im vorgestellten Artikel soll die Vision der Verknüpfung von industriellen autonomen Fahrzeugen in der Branche der Intralogistik und Metho-den der logischen Programmierung genauer beleuchtet werden. Am Beispiel des ZFT-Systems des Fraunhofer Instituts für Materialfluss und Logistik IML werden Implementierungen vorgestellt, bei denen ein Paradigma der logischen Program-mierung (Antwortmengenprogrammierung, AWM [GL88, GL91]) für bestimmte Aufgaben eingesetzt wird.

Zunächst wird die Entwicklung zellulärer Transportsysteme diskutiert und ver-wandte Forschung dargestellt. Anschließend wird eine kurze Einführung in die Antwortmengenprogrammierung vorgenommen. Danach werden verschiedene implementierte Ansätze grundsätzlich beschrieben. Diese werden im nachfolgen-den Kapitel anhand einer Simulation evaluiert, bevor mit einer Zusammenfassung und einem Ausblick geschlossen wird.

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Zellulare Transportsysteme 569

7.2 Zellulare Transportsysteme

Das Konzept von Zellulären Transportsystemen basiert auf autonomen (zellula-ren) innerbetrieblichen Fördereinheiten. Diese Einheiten können in Form von in-telligenten Fahrzeugen oder autonomen Stetigfördermodulen vorliegen. Zelluläre Transportsysteme basieren auf einer Steuerungsarchitektur von mehreren kleinen, selbstorganisierenden, intelligenten Einheiten, die dazu in der Lage sind, eigen-ständig Entscheidungen zu treffen und entsprechend zu agieren. In diesem Artikel wird der Fokus auf zelluläre Transportfahrzeuge gelegt, die in Ware-zur-Person Kommissioniersystemen zum Einsatz kommen [KSK+12].

In den vergangenen Jahren wurden, insbesondere in Gegenwart des Trends zu-nehmender Dezentralisierung, eine Reihe verschiedener Arten von zellulären Transportsystemen entwickelt. Der Begriff der zellulären Einheiten wurde erst-mals in [Hom06] erwähnt. Aus gleichem Hause stammt auch die Entwicklung der zellulären Fördertechnik (ZFT) [KSK+12], welche Gegenstand der vorliegenden Untersuchungen ist. Das Alleinstellungsmerkmal des Systems ist, dass sich die Fahrzeuge sowohl innerhalb von Regalen, als auch auf dem Hallenboden bewegen können. In Kapitel 7.4 findet eine detailliertere Beschreibung des Systems statt.

Ein weiteres prominentes Beispiel ist das KIVA-System [Gui08]. Die Fahrzeuge ar-beiten, wie auch das ZFT-System, in einem Ware-zur-Person Kommissioniersys-tem, bewegen sich allerdings lediglich auf dem Hallenboden. Anstatt Behältern transportieren sie einzelne, abgetrennte Regaleinheiten zu Kommissionierarbeits-plätzen. Das System wurde im Jahr 2012 von Amazon aufgekauft, seitdem finden keine weiteren Publizierungen statt. Zum Zeitpunkt der letzten Publikationen war der Grad der Dezentralisierung noch vergleichsweise gering. Die Idee der durch Fahrzeuge beweglichen Regale wurde von anderen Herstellern aufgegriffen [swi16, Gre15].

Bisherige Forschungen im Bereich der zellulären Transportfahrzeuge beziehen sich eher auf grundsätzliche Betrachtungen, die den Einsatz der Systeme überhaupt erst ermöglichen. Das Potenzial, welches durch den Einsatz deduktiver Program-mierung in derartigen Systemen entsteht, wurde bis dato noch nicht evaluiert. Die vorliegende Arbeit befasst sich somit als eine der ersten mit der Vereinigung von Methoden der Wissensrepräsentation aus der Informatik mit den maschinenbauli-chen und elektrotechnischen Themen der Logistik im Kontext von intelligenten Transportfahrzeugen. Ein erster Ansatz, der auch im vorliegenden Artikel Ver-wendung findet, wurde in [SKH16] publiziert.

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570 Antwortmengenprogrammierung für autonome Fahrzeuge

7.3 Antwortmengenprogrammierung

Das formale Fundament von AWM wurde in den 1980er und 1990er-Jahren [GL88, GL91] gelegt. Insbesondere in der jüngeren Vergangenheit erfährt AWM, zum Teil aufgrund der Verfügbarkeit potenter Rechenmaschinen und effizienter Solver, hohe Aufmerksamkeit. AWM wird vielfach als rechentechnische Verkörperung von nichtmonotonem Schließen bezeichnet [AKL+05], dem Nachbilden von menschlichen Entscheidungen unter unsicherem Wissen und unvollständigen In-formationen. Der folgende Abschnitt führt in das Konzept vom AWM ein und er-läutert die zugrundeliegende Semantik. Weiterreichende Ausführungen können beispielsweise aus [DFP09, Geb13] entnommen werden.

Ein Antwortmengenprogramm besteht aus einer endlichen Zahl von Regeln r der Form

𝑟:𝐻 ← 𝐴n, … , 𝐴5, 𝑛𝑜𝑡𝐵n, … , 𝑛𝑜𝑡𝐵^

worin H, Aj und Bj Literale sind und 0 ≤ m,n gilt. Ein Literal kann die Ausprägungen A und ¬A annehmen, wobei A ein Atom ist (bspw. eine logische Variable). H ist der Kopf und A1,…,An, not B1,…,not Bm. der Rumpf von r. Die Mengen pos(r) = {A1,…,An} und neg(r) = {B1,…,Bm} sind die positiven und negativen Rumpfliterale von r. Die Interpretation einer solchen Regel ist wie folgt: Wenn alle Literale von pos(r) gelten und kein Literal aus neg(r) gilt, dann wird H gefolgert. Eine Regel ohne Rumpflite-rale ist ein Fakt und besagt, dass H ohne jede Bedingung gilt [AKL+05].

Wichtig für das Verständnis von AWM ist, dass not kein gewöhnlicher Negati-onsoperator ist. Es besagt hingegen, dass ein Literal A entweder nicht Teil der gül-tigen Antwortmenge ist oder aber das Literal ausdrücklich negiert ist (¬A). Dadurch kann Unsicherheit über den Status von A berücksichtigt werden. Die Ver-wendung des klassischen Negationsoperators “¬” ist nach wie vor möglich [DFP09].

Eine Antwortmenge des Programms P ist eine Menge von Literalen, die alle Regeln von P erfüllt. Wird ein reales Problem in einem Antwortmengenprogramm abge-bildet, ist die Antwortmenge eine gültige Lösung des Problems. Für ein Programm können keine, eine oder mehrere Antwortmengen existieren. AWM-Solver gestat-ten die Auswahl von Antwortmengen unter Beachtung von Zielfunktionen. For-mal muss für die Suche nach einer gültigen Antwortmenge das Redukt PS von P für den Zustand S definiert werden [GL88]:

𝛲C ∶= 𝐻 ← 𝐴n, … , 𝐴5. 𝐻 ← 𝐴n, … , 𝐴5, 𝑛𝑜𝑡𝐵n, … , 𝑛𝑜𝑡𝐵^. ∈ 𝛲, {𝐵n, … , 𝐵^} ∩ 𝑆 = ∅}

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Systemdesign 571

Nach den Begründern der formalen Grundlagen von AWM wird die Bildung des Reduktes auch Gelfond-Lifschitz-Reduktion genannt. Sie wird über die folgenden beiden Schritte vorgenommen [GL88]:

1. Alle Regeln, deren Rumpf ein not B mit BÎS enthält, werden entfernt. Da B in S enthalten ist, kann keine dieser Regeln schließen.

2. In den verbleibenden Regeln werden alle Literale C aus neg(r) (mit den zuge-hörigen not-Ausdrücken) entfernt. Da CÏS ist, haben sie keine weiteren Aus-wirkungen.

Das Redukt wird für jeden Zustand S aus einer Kandidatenmenge gebildet, von denen angenommen wird, dass es sich um eine Antwortmenge handeln könnte. Durch einen einfachen Bottom-Up-Ansatz kann geprüft werden, ob es sich bei dem Redukt um eine Antwortmenge handelt [DFP09]. Die Größe der Kandidatenmenge hat wesentlichen Einfluss auf die Dauer des Lösungsvorgangs und ist wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen verschiedenen AWM-Solvern.

Zur Veranschaulichung ist folgendes AWM-Programm gegeben [SKH15]:

𝑖𝑛𝐵𝑒𝑎𝑟𝑏𝑒𝑖𝑡𝑢𝑛𝑔(𝐴) ← 𝑓𝑟𝑒𝑖𝑔𝑒𝑔𝑒𝑏𝑒𝑛 𝐴 , 𝑣𝑒𝑟𝑓𝑢𝑒𝑔𝑏𝑎𝑟 𝐴 . (1)𝑣𝑒𝑟𝑓𝑢𝑒𝑔𝑏𝑎𝑟(𝐴) ← 𝑛𝑜𝑡𝑟𝑒𝑠𝑒𝑟𝑣𝑖𝑒𝑟𝑡 𝐴 , 𝑏𝑒𝑧𝑎ℎ𝑙𝑡(𝐴). (2) 𝑓𝑟𝑒𝑖𝑔𝑒𝑔𝑒𝑏𝑒𝑛(𝐴) ← 𝑏𝑒𝑧𝑎ℎ𝑙𝑡 𝐴 . (3) 𝑏𝑒𝑧𝑎ℎ𝑙𝑡 4711 . (4)

Auftrag 4711 ist nach Fakt (4) bezahlt. Ein bezahlter Auftrag wird freigegeben (3). Sofern die Artikel des Auftrags nicht anderweitig reserviert sind, wird der Auftrag als verfügbar deklariert (2). Ist ein Auftrag freigegeben und verfügbar, kann er in Bearbeitung gehen (1).

Konventionell arbeiten AWM-Solver in zwei Stufen, dem Grundieren und dem Lö-sen. Beim Grundieren wird das nutzergenerierte Programm P durch ein äquiva-lentes Programm grnd(P) ersetzt, in dem alle möglichen Ausprägungen von Vari-ablen instanziiert sind. Auf Basis von grnd(P) werden gültige Antwortmengen ge-sucht. Durch neuartiger Formalismen und Algorithmen wird die strikte Trennung zwischen Grundieren und Lösen teilweise aufgehoben, zugunsten von bspw. kur-zen Lösungszeiten in volatilen Umgebungen mit ähnlichen, wiederkehrenden Problemstellungen [GKK+14].

7.4 Systemdesign

Die Zellulare Fördertechnik wurde am Fraunhofer Institut für Materialfluss und

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572 Antwortmengenprogrammierung für autonome Fahrzeuge

Logistik IML in Zusammenarbeit mit der Dematic GmbH entwickelt. Die Fahr-zeuge lagern Kleinladungsträger aus Regalen aus und transportieren sie zu Kom-missionierstationen, wo die bestellten Artikel aus den Behältern entnommen wer-den können.

Die Fahrzeuge sind in der Lage, sich sowohl auf dem Hallenboden als auch inner-halb der Regale zu bewegen. Die Überwindung von Höhenunterschieden erfolgt durch Lifte an den Enden der Regale. Die Fahrzeuge bewegen sich auf einem vir-tuellen Graphen, der das Wegenetz des Systems abbildet.

Abbildung 7.1 Zellulare Fördertechnik des Fraunhofer IML [Fra17]

7.4.1 Aufgabenstellung

Die Identifikation der Aufgabenstellung erfolgt unter der Prämisse, durch den Ein-satz von AWM ohne physische Änderung des vorhandenen Systems möglichst weitreichende Leistungsverbesserungen durch erweiterte Planung erzielen zu können. Bekannt sind die Vorzüge von AWM bei kombinatorischen Fragestellun-gen mit höherer Komplexität [Geb13]. Eine prominente Aufgabenstellung bei der operativen Planung einer Flotte von Fahrzeugen ist die Disposition, d.h. die Zu-weisung von Fahraufträgen zu den jeweiligen Fahrzeugen [LAK06]. Im speziellen Kontext der WzP-Kommissionierung ist eine unmittelbar verknüpfte Aufgaben-stellung die Zuweisung von Kommissionieraufträgen zu Kommissionierstationen. Beide haben direkten Einfluss auf die Fahrstrecke des Fahrzeugs, wechselseitige Beziehungen (ein Auftrag benötigt freie Kapazität an einer Kommissionierstation und kann aus diesem Grund nicht disponierbar sein) und es besteht Potenzial zur weiterreichenden Optimierung des Gesamtsystems (bspw. bezüglich des Auslas-tungsgrades der Stationen). Es wird grundsätzlich davon ausgegangen, dass alle Positionen eines Kommissionierauftrags zur gleichen Station transportiert werden

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Systemdesign 573

müssen, so dass ein Umpacken in den gleichen Auftragsbehälter ohne weitere Konsolidierung möglich ist.

7.4.2 Basiskonzept

Die konzeptionelle Basis von Multiagentensystemen ermöglicht die Implementie-rung von Auktionen zur Vergabe von Fahraufträgen. Ein Dispositionsagent veröf-fentlicht einen Fahrauftrag, und alle verfügbaren Fahrzeuge antworten mit einem Gebot. Bei Vollauslastung des Systems wird immer der zuerst verfügbare Fahr-zeugagent antworten und den Zuschlag bekommen, was in einem konventionellen FIFO-Verfahren resultiert.

Angelehnt an einen „rollierenden Horizont“ [LAK06] wird im vorliegenden An-satz ein Auftragspool mit bestimmter Poolgröße definiert, aus welchem die Fahrauf-träge dem (oder den) Fahrzeugen zugewiesen werden können. Die Fahraufträge werden entsprechend des Zeitpunktes ihres Auftragseingangs in den Auftragspool aufgenommen. Ein Fahrauftrag entspricht in der Regel einer Kommissionierauf-tragsposition (oder mehrerer, falls der gleiche Artikel bei mehreren Aufträgen nachgefragt wird). Das Protokoll der Auftragsvergabe unterscheidet sich je nach verwendetem Ansatz. An dieser Stelle werden zwei Planungsansätze mit dezent-raler Architektur (mit hybrider und vollständig deklarativer Programmierung) und ein zentraler Ansatz diskutiert. Weitere Ansätze wurden implementiert und zum Teil bei der Evaluation (Kapitel 7.5) verwendet.

7.4.3 Implementierung

Die Implementierungen zur Umsetzung der Planungsaufgabe operieren mit einem beschränkten Planungshorizont bezüglich zweier Kriterien. Die primäre Bewer-tung, welcher Fahrauftrag von welchem Fahrzeug zu bevorzugen ist, findet an-hand der Entfernung des Lagerortes des Behälters zum aktuellen Standort des Fahrzeugs statt. Die weiteren Schritte zur Vervollständigung des Fahrauftrags werden nicht in die Bewertung mit einbezogen, da sie unabhängig von der gewähl-ten Fahrzeug-Fahrauftrag Relation konstant bleiben und die Bearbeitung eines Auftrags bis zu einem gewissen Zeitpunkt unumgänglich ist. Die weiteren Krite-rien zur Bewertung der Fahraufträge sind eine gleichmäßige Auslastung der Kom-missionierstationen und die Zahl von Auftragspositionen, die mit einem einzelnen Fahrauftrag erfüllt werden kann. Weiterhin ist der Horizont bezüglich der Zuwei-sung von Kommissionieraufträgen zu Kommissionierstationen beschränkt. Es werden ausschließlich Kommissionieraufträge und deren Kapazitätsbelegung be-

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rücksichtigt, für die noch offene Fahraufträge bestehen. Es wird somit davon aus-gegangen, dass Fahraufträge, die bereits einem Fahrzeug zugewiesen sind, eine eventuell kritische Station vorher erreichen und die Kapazität wieder zur Verfü-gung steht. In dem Fall, dass keine Kapazität vorhanden ist, muss das Fahrzeug die Station erneut anfahren.

Das ZFT-System ist die materielle Ausgestaltung eines Multiagentensystems. Um die Planung unter Einbeziehung von den im System verfügbaren Informationen zu ermöglichen, wurde eine Blackboard-Architektur implementiert. Auf dem Blackboard werden relevante Informationen wie offene Fahraufträge, Relationen von Kommissionieraufträgen zu –stationen und die Zusammensetzung von Kom-missionieraufträgen abgebildet. Bestimmte Agenten haben Schreibe- und Leser-echte für das Blackboard. Zur Vermeidung von Interferenzen kann nur ein Agent zur selben Zeit auf das Blackboard zugreifen.

7.4.3.1 Dezentrale Planung

Der Ansatz der dezentralen, hybriden Planung gliedert sich in das vorliegende Multiagentensystem wie folgt ein. Jedes Fahrzeug trifft zu dem Zeitpunkt, wenn es nach einem neuen Auftrag sucht, seine eigene, lokale Entscheidung auf Basis des beschränkten Horizontes. Der dem Fahrzeug zugehörige Planungsagent be-zieht die benötigten Informationen aus der Umgebung und überführt diese in eine AWM-Instanz. Die durch den AWM-Solver clingo [GKK+14] gewonnene Lösung kann unmittelbar umgesetzt werden.

Zur Ermittlung der Wegstrecke zwischen der aktuellen Position des Fahrzeugs und den jeweiligen Behälterpositionen wird in dieser Implementierungsform der Wegfindungsalgorithmus nach Dijkstra [Dij59] verwendet, welcher sich gegen-über dem A*-Algorithmus in Vorstudien für die vorliegende Graphenstruktur als überlegen erwiesen hat. Die kombinatorische Lösung des Routingproblems ist zeit-aufwändig und bezüglich einer Laufzeitbewertung speziellen Algorithmen unter-legen. clingo bietet im Microsoft Windows-Build die Möglichkeit, die imperative Sprache Lua in das AWM-Programm einzubinden, in welcher der Dijkstra-Algo-rithmus implementiert wurde. Es werden somit sowohl deklarative als auch impe-rative Programmierung entsprechend ihrer jeweiligen Vorzüge verwendet, wes-halb die Bezeichnung als hybrider Ansatz erfolgt.

Der Ansatz zur hybriden, dezentralen Planung wurde bereits in [SKH16] beschrie-ben. Interessierte Leser werden für weitere Informationen, bspw. bezüglich des AWM-Programms, auf diesen Artikel verwiesen.

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Systemdesign 575

7.4.3.2 Dezentrale Planung mit Nummerierungskonzept

Der im vorherigen Kapitel beschriebene Ansatz nutzt klassische, imperative Pro-grammierung zur Ermittlung der Wegstrecken. Der verwendete Routing-Algorith-mus zieht, insbesondere aufgrund der Häufigkeit der Berechnung, einen ver-gleichsweise hohen Aufwand mit sich. Theoretisch steigt dieser quadratisch mit der Anzahl der Knoten im Graphen [WW13] und proportional zur Poolgröße.

Der Versuch, imperative Programmierung in der vorliegenden Planungsaufgabe zugunsten von geringeren Berechnungszeiten zu eliminieren und dennoch hohe Systemleistung zu erzielen, resultiert in dem vorliegenden Ansatz. Dabei wird von der Prämisse ausgegangen, dass sich Start- und Endpunkt (also Auslager- und Rücklagerort) eines Fahrauftrags immer innerhalb eines Regals befindet. Die zu den Lagerorten gehörigen Knoten auf dem Weggraphen werden nun so benannt, dass ein einfacher Vergleich der Lagerbezeichnungen ausreicht, um die zu Verfü-gung stehenden Behälterpositionen bewerten zu können. Eine beispielhafte Num-merierung ist in Abbildung 7.2 dargestellt.

Abbildung 7.2 Nummerierungskonzept im Lagerregal

Das Multiagentensystem wird um einen Nummerierungsagenten erweitert, der die Benennung der Lagerplätze entsprechend festgelegter Regeln vornimmt. Er ar-beitet ebenfalls mit einem AWM-Programm, welches Informationen zur Länge der Regalfront, Anzahl der Regalebenen und Position der Ein- und Ausgänge des Re-gals benötigt und eine Anzahl von 2-Tupeln mit jeweils der alten und der neuen Bezeichnung der Lagerorte ausgibt.

7.4.3.3 Zentrale Planung

Die dezentralen Ansätze fügen sich in den aktuellen Trend ein, einzelnen Entitäten die Entscheidung zugunsten mehrerer lokalen Optima zu gewähren, anstatt die Suche nach einem globalen Optimum anzustreben. Einerseits ist ein globales Op-timum unter Annahme vollständigen Wissens in keinem Fall schlechter als eine

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Vielzahl lokaler Optima. Andererseits weist die Suche nach einem globalen Opti-mum eine höhere Komplexität auf und die genannte Annahme trifft selten zu. Mit der an dieser Stelle beschriebenen Implementierung soll evaluiert werden, inwie-fern sich die Operation auf Basis eines globalen Optimums auf die Ausbringungs-menge auswirkt und die gestiegene Komplexität durch den AWM-Solver bewäl-tigt werden kann.

Ein zentraler Planungsagent entscheidet über die Vergabe der Fahraufträge. Da die Planung in diesem Fall für alle Fahrzeuge zugleich stattfindet, wird zunächst die Poolgröße neu definiert. Befinden sich nv Fahrzeuge im System, müssen auch min-destens nv Fahraufträge zur Verfügung stehen. Zusätzlich wird die ursprüngliche Poolgröße n hinzugezogen, wodurch dem zentrale Planungsagent 𝑛e75 = 𝑛 + 𝑛b − 1 Behälterpositionen zur Verfügung gestellt werden. Der Agent veröffentlicht seine Entscheidung auf dem Blackboard. Innerhalb einer Planungs-periode wird einem Fahrzeug immer genau ein Fahrauftrag zugewiesen. Eine neue Planung wird immer dann angestoßen, wenn ein Fahrzeug für seine Identität keine offene Zuordnung auf dem Blackboard vorfindet. Die Neuplanung findet dann wieder für alle Fahrzeuge statt. Der zentrale Planer benötigt die Informationen der einzelnen Fahrzeugagenten, wie beispielsweise den Endpunkt des aktuell zuge-wiesenen Auftrags oder den aktuellen Standort. Als primäre Zielgröße wird die Gesamtdistanz, die zur Anfahrt aller Fahrzeuge zu den Auslagerpositionen benö-tigt wird, minimiert. Die sekundäre und tertiäre Zielgröße bleibt entsprechend Ka-pitel 7.4.3 bestehen.

7.5 Evaluation

Die Implementierungen wurden in einem Demo3D-Simulationsmodell evaluiert. Zur Schaffung einer Vergleichsbasis wurden sowohl die beschriebenen Ansätze getestet, wie auch Implementationen mit klassischer Programmierung und ein First-Come-First-Served (FIFO) Ansatz als Bezugsgröße (folgend gekennzeichnet mit Δ). Der Experimentierplan sieht ein Basissystem vor, von dem ausgehend ein-zelne Parameter variiert werden. Das Basissystem hat ein Regal mit einer Kapazität von 500 Lagerplätzen, fünf Kommissionierstationen, fünf Fahrzeuge, eine Poolgröße von fünf Auftragspositionen und gleichverteilte Zugriffshäufigkeit der Artikel. Den Planungsagenten, ob zentral oder dezentral, wird eine Zeit von 200 Sekunden gewährt (die Zeit, die ein Fahrzeug in etwa für eine Auftragsbearbeitung benötigt). Ist die optimale Lösung nach 200 Sekunden noch nicht gefunden, wird ein Timeout ausgelöst. Dann kann entweder keine Lösung gefunden sein oder eine

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Evaluation 577

Lösung ohne Wissen über deren Optimalität existieren. Wurde keine Lösung ge-funden, wird der Simulationslauf abgebrochen.

Abbildung 7.3 Variation der Fahrzeuganzahl

In Abbildung 7.3 wird die Anzahl der Fahrzeuge im Basissystem variiert. Generell sinkt die Leistung (die Anzahl der erfüllten Fahraufträge) der Fahrzeuge mit stei-gender Fahrzeuganzahl aufgrund von Blockierungs- und Stauungseffekten. Die höchste Leistung wird im vorliegenden System vom zentralen Ansatz erzielt (Zawm, Δ19% über alle Experimente). Die Berechnungszeit des zentralen Ansatzes steigt exponentiell, so dass die Experimente mit 20 Fahrzeugen nicht durchgeführt werden konnten. Die dezentralen, hybriden Ansätze erzielen eine Verbesserung von 13% (awm_dij) und 12% (imp_dij). Mit den dezentralen Ansätzen mit Num-merierungskonzept werden um 7% (awm_num) und 6% (imp_num) höhere Leis-tungen erzielt. Die Berechnungszeit der dezentralen Ansätze bleibt, wie zu erwar-ten, unabhängig von der Fahrzeuganzahl konstant, da die Größe der Instanz un-abhängig von der Fahrzeuganzahl ist. Für den imperativen, dezentralen Ansatz mit Nummerierungskonzept und die FIFO-Experimente wurden keine messbaren Berechnungszeiten aufgezeichnet.

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Abbildung 7.4 Variation der Poolgröße

Die Poolgröße wird in Abbildung 7.4 variiert. Mit steigender Poolgröße steigt die Leistung der einzelnen Fahrzeuge. Über alle Experimente erzielen der zentrale (Δ13%) sowie die dezentralen, hybriden Ansätze (Δ13% AWM, Δ12% imperativ) die höchste Leistung, gefolgt von den dezentralen Ansätzen mit Nummerierungs-konzept (jeweils Δ6%). Auffällig ist, dass der Leistungsanstieg des zentralen An-satzes vergleichbar gering ausfällt, so dass die dezentralen, hybriden Ansätze bei steigender Poolgröße höhere Leistung erzielen. Die Berechnungszeit steigt bei al-len Ansätzen mit der Poolgröße. Der höchste Anstieg ist beim zentralen Ansatz zu erkennen, der niedrigste bei awm_num (man beachte die logarithmische Skala der y-Achse).

In allen Experimenten ist eine klare Abhängigkeit der Berechnungszeit von dem Aufwand zur Wegberechnung durch den Dijkstra-Algorithmus zu erkennen. Iso-lierte Experimente zeigen, dass im vorliegenden Weggraphen des Basissystems durchschnittlich 0,25 Sekunden je Wegberechnung benötigt werden. Insbesondere beim dezentralen Ansatz entfällt nahezu der vollständige Berechnungsaufwand auf die Wegberechnung. Die Reduzierung des Berechnungsaufwands durch das Nummerierungskonzept ist erfolgreich, allerdings mit deutlichen Einbußen bei

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Zusammenfassung und Ausblick 579

der Fahrzeugleistung. Dies ist vor allem in der Bewertung der Lagerorte auf unter-schiedlichen Ebenen begründet. Während die Dijkstra-basierten Ansätze immer die Orte mit kürzester Entfernung priorisieren, wählen die nummerierungsbasier-ten Ansätze grundsätzlich diejenigen Lagerorte, die sich auf einer niedrigeren Ebene befinden. Somit wird das Ende der Lagergasse schneller erreicht und der langwierige Weg über die Lifte häufiger zurückgelegt. Weiterhin besteht eine ge-ringe Reduzierung der Leistung der imperativen Ansätze gegenüber den Ansät-zen, die mit AWM implementiert wurden. Erklärbar ist dies durch die starre Struk-tur imperativer Programme. In der vorliegenden Implementierung sind die AWM-Ansätze dazu in der Lage, die Nutzung von Fahraufträgen zu priorisieren, die mit der Bewegung eines Behälters mehrere Kommissionieraufträge zu beliefern. Die imperativen Ansätze nutzen diese Fahraufträge ebenfalls aus, gestehen ihnen aber keine Priorisierung zu. Zuletzt ist auffällig, dass sich die Leistung des zentralen Ansatzes mit steigender Poolgröße im Vergleich zu den anderen Ansätzen ver-schlechtert. Eine höhere Leistung ist zunächst plausibel, da nach einem globalen Optimum gesucht wird. In diesem Fall wird mit steigender Poolgröße jedoch der begrenzte Horizont bezüglich der Kapazität der Kommissionierstationen signifi-kant. Beim zentralen Ansatz wird mit vergleichsweise weitem Ausblick in die Zu-kunft geplant, während beim dezentralen Ansatz die Entscheidung genau dann getroffen wird, wenn sie auch benötigt wird. Es ist also möglich, dass eine Stati-onskapazität im zentralen Ansatz als „belegt“ bewertet wird, obwohl sie im tat-sächlichen Arbeitsablauf wieder freigegeben wurde. Diese Eigenschaft lässt sich allerdings nur durch deutlich gesteigerte Komplexität (d.h. eine genaue Planung der Systemzustände in Abhängigkeit des Parameters Zeit) eliminieren.

7.6 Zusammenfassung und Ausblick

Im vorliegenden Artikel findet die Verknüpfung der innovativen und insbeson-dere in den letzten Jahren vielbeachteten Methode der Antwortmengenprogram-mierung mit intelligenten, zellulären Transportfahrzeugen statt.

Der Ansatz, die Auftragsdisposition und die Zuweisung von Kommissionierauf-trägen zu Kommissionerstationen mit einem rollierenden Horizont und einem Auftragspool zu lösen, liefert signifikant höhere Leistungen als der konventionelle FIFO-Ansatz. Es wird deutlich, dass die Abstraktion des Problems mit dem darge-stellten Nummerierungskonzept zur gewünschten Verringerung der Berech-nungszeit, jedoch ebenfalls zu Einbußen in der Fahrzeugleistung führt. Die Berech-nungszeit ist, insbesondere bei den dezentralen Ansätzen, als akzeptabel einzustu-fen, eine weitere Verringerung ist jedoch wünschenswert. Aufgrund der starken

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580 Antwortmengenprogrammierung für autonome Fahrzeuge

Abhängigkeit der Berechnungszeit von der Wegberechnung zum Vergleich der Fahraufträge sind Untersuchungen im Bereich von Datenbank- und Cachesyste-men zur Speicherung von Ergebnissen bereits durchgeführter Routenberechnun-gen sinnvoll.

Antwortmengenprogrammierung als Konzept verspricht, nicht nur bezüglich der im Artikel gezeigten Systemleistung, großes Potenzial im Kontext volatiler Umge-bungen. Die Länge von Antwortmengenprogrammen ist deutlich geringer als die-jenige vergleichbarer, klassisch programmierter Implementierungen. Weiterhin sind die Programme vollständig deduktiv, d.h. sie sind innerhalb ihrer Regeln und bezüglich der Reihenfolge der Regeln unabhängig von der Reihenfolge. Aus diesen Gründen ist eine kurzfristige Anpassung der Programme, bei Änderung der An-forderungen an das System, vergleichsweise einfach möglich.

Literatur

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Zusammenfassung und Ausblick 581

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[WW13] Weicker, Karsten; Weicker, Nicole: Algorithmen und Datenstrukturen. Wiesba-den: Springer Fachmedien, 2013.

Page 575: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

8 BaustellenCheck: Crowd-basierte Bewertung der Qualität von Baustelleninformationen auf Autobahnen

G. Hermanns, Dr. J. Wahle (TraffGo Road GmbH)

8 BaustellenCheck: Crowd-basierte Bewertung der Qualität von Baustelleninformationen auf Autobahnen .............................................. 583

Abstract ........................................................................................................................ 5848.1 Einleitung ..................................................................................................... 5848.2 Informationen der Bundesländer .............................................................. 5858.3 Lösungen in anderen Staaten .................................................................... 5868.4 Floating Car-Daten für Baustellen ............................................................ 5888.5 Feedback-Schleife und Benchmark-System ............................................. 5918.6 Zusammenfassung ...................................................................................... 595

Referenzen ...................................................................................................................... 596

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_36

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584 Crowd-basierte Bewertung der Qualität von Baustelleninformationen

Abstract

Ungenaue, falsche oder fehlende Angaben zu Straßenbaustellen verärgern die Ver-kehrsteilnehmer und können zu einer inadäquaten Routenwahl führen. Präzise In-formationen zu Baustellen können Störungen im Straßenverkehr verringern, wodurch die Verkehrssicherheit und die Leistungsfähigkeit der Straßeninfrastruk-tur verbessert werden. Im Projekt proFUND wir die TraffGo Road GmbH gemein-sam mit den Partnern Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) [1] und INRIX [2] ein Crowd-basiertes Feedback-System für die Informationsqualität von Baustellen auf bundesdeutschen Autobahnen entwickeln. Das Ziel des Projektes ist es, die vorhandenen Informationen zu analysieren, zu qualifizieren und letztlich zu ver-bessern. Der Name der Anwendung wird „BaustellenCheck“ sein.

8.1 Einleitung

Kürzlich hat der Verkehrsdatenanbieter INRIX eine umfassende und detaillierte Studie über den Einfluss von Verkehrsstaus in über 1000 Städten in über 38 Län-dern veröffentlicht [3]. In dieser Studie werden Ausdehnung und Einfluss von Ver-kehrsstaus für unterschiedliche Tageszeiten analysiert und in einem Einflussfak-tor, dem INRIX Congestion Index, zusammengefasst. Eines der Hauptresultate der Studie ist, dass der typische Autofahrer in diesen Städten durchschnittlich 9 % sei-ner Fahrzeit in Staus mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 14 km/h. Ob-wohl das Projekt proFUND auf Autobahnen statt auf den städtischen Verkehr zielt, zeigt die für die Studie ausgewertete große Datenmenge klar die Größe des Poten-zials auf, das in der Stauanalyse durch Floating Car-Daten liegt. Der Datenpool von INRIX besteht derzeit aus ca. 300 Millionen verbundenen Fahrzeugen und Ge-räten weltweit. In Kapitel 8.4 wird beschrieben, wie die Analyse von Floating Car-Daten in diesem Projekt eingebunden wird.

Die BASt betreibt derzeit das „Baustelleninformationssystem des Bundes und der Länder“ (BIS) [4], eine Webseite zur Übersicht über derzeitige und geplante Bau-stellen auf Bundesautobahnen. Die dargestellten Informationen werden von den Straßenbaubehörden der Bundesländer zur Verfügung gestellt. In den meisten Fäl-len geschieht dies über den „Mobilitäts Daten Marktplatz“ (MDM) [5]. Dieser er-laubt Anbietern und Nutzern von Verkehrsdaten die Bereitstellung von, die Suche nach und das Abonnement von Verkehrsdaten. Online-Daten können zwischen Anbietern und Nutzern ausgetauscht werden. Die Plattform leitet die zur Verfü-gung gestellten Daten dabei unverändert an die Nutzer weiter [5]. Im Laufe der

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Informationen der Bundesländer 585

Jahre hat die BASt Feedback von den Verkehrsteilnehmern zum BIS erhalten. Die-ses Feedback zeigt, dass die dargestellten Information im BIS nicht immer konsis-tent sind mit den tatsächlich von den Verkehrsteilnehmern vorgefundenen Situa-tionen auf der Straße. Zum Beispiel sind Start- und Endzeit, Dauer oder weitere Charakteristiken einer Baustelle oft nicht korrekt. Zudem ist es für den Verkehrs-teilnehmer anhand der Darstellung bislang nicht möglich, den Einfluss einer Bau-stelle auf die eigene Fahrt einzuschätzen. Derzeit gibt keine bundesweit konsis-tente Information darüber, wie ein solcher Schweregrad oder Impact-Faktor aus-sieht.

Auf Ebene der Bundesländer gibt es derzeit mehrere individuelle Lösungen für Verkehrsinformationsportale. Zum Teil sind diese Portale nutzerfreundlicher auf-gebaut als der BIS, und sie zeigen teilweise umfassendere Informationen zu Ver-kehrsstörungen, Routing und Baustellen an. Das Gesamtziel dieses Projektes ist es daher, die vorhandenen Informationen über Baustellen auf Bundesautobahnen zu analysieren, qualitativ zu bewerten und letztlich zu verbessern.

8.2 Informationen der Bundesländer

Es gibt derzeit zahlreiche Quellen für Baustelleninformationen, sowohl kommer-ziell als auch behördlich. Verkehrsdatenprovider wie INRIX [2] bieten umfassen-den Live-Verkehrsdaten und historische Analysen, während die behördlichen Ein-richtungen für gewöhnlich Verkehrsmanagement- und Stauinformationen bereit-stellen. Im Projekt proFUND werden die Partner zunächst die vorhandenen Infor-mationen zu Baustellen auf Bundesautobahnen untersuchen. Eine der Hauptquel-len hierfür sind die durch die Bundesländer bereitgestellten Informationen. Einige Bundesländer betreiben ihre eigenen Webseiten, auf denen Baustellen und Baustel-leninformationen dargestellt werden. Jede dieser Seiten besitzt jedoch eine eigene Struktur, eigene Visualisierung und eigene Informationsaufbereitung. Dies verhin-dert eine gemeinsame Strategie zur Darstellung von Informationen. Zudem richten sich diese Seiten an die Nutzer des jeweiligen Bundeslandes und sind somit von sehr geringem Nutzen für Verkehrsteilnehmer, die mehrere Bundesländer durch-fahren.

Wie zuvor erwähnt, gibt es das bundesweite Informationsportal für Baustellen auf Autobahnen, das BIS [4], auf dem Informationen zu aktuellen und zukünftigen Baustellen angezeigt werden. Die Bundesländer sind verpflichtet, die Baustellenin-formationen über ein offenes Datenportal zur Verfügung zu stellen. Dies ist der

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586 Crowd-basierte Bewertung der Qualität von Baustelleninformationen

MDM [5], auf dem eine Vielzahl an verkehrsbezogenen Daten zur Verfügung ge-stellt wird. Für Baustellen sind dies beispielsweise Position und Dauer, Anzahl der in der Bauphase zur Verfügung stehenden Fahrstreifen oder die Breite der Fahr-bahnen in der Baustelle. Mit dem MDM haben die Nutzer die Möglichkeit, diese Daten von einer vereinheitlichten Quelle herunterzuladen. Aus diesem Grund wird die erste Datenquelle für proFUND das BIS sein, der Informationen anzeigt, die von den Bundeländern über den MDM zur Verfügung gestellt werden. Dabei wird auch analysiert werden, in welcher Qualität und Vollständigkeit die einzel-nen Bundesländer die Informationen bereitstellen.

Bisher ist es beispielsweise so, dass die Bundesländer nur verpflichtet sind, Bau-stellen ab einer Dauer von 4 Tagen an den Bund, und damit den MDM und das BIS, zu melden. Baustellen kürzerer Dauer können, müssen aber nicht gemeldet werden. Dies führt erneut zu einer unterschiedlichen Genauigkeit der vorhande-nen Informationen je nach Bundesland und eine ganze Reihe von Baustellen taucht auf dem BIS-Portal gar nicht auf.

Noch wichtiger im Sinne dieses Projektes ist aber, dass die zur Verfügung gestell-ten Informationen häufig nicht aktuell sind. Ein typischer Fall ist zum Beispiel, dass eine Baustelle für einen längeren Zeitraum geplant und somit auch gemeldet wird, als sie dann tatsächlich dauert. Ebenso gibt es die umgekehrten Fälle, dass eine Baustelle noch nicht beendet wurde, obwohl sie laut BIS ihr Enddatum über-schritten hat. Dies liegt dann darin begründet, dass die ursprünglich gemeldeten Plandaten nicht an die Verzögerung der Bauarbeiten angepasst wurden. Dies führt dann zur Verärgerung bei den Verkehrsteilnehmern, da diese ihre Routen anhand falscher Informationen geplant haben und nun unerwartet im Stau stehen.

Dies alles addiert sich zu einer sehr heterogenen Landschaft an Baustelleninforma-tionen, die die Bundesländer zur Verfügung stellen. In proFUND werden die Pro-jektpartner daher die unterschiedlichen Informationsgüten erfassen, zusammen-führen und bewerten.

8.3 Lösungen in anderen Staaten

Ein Beispiel dafür, was mit einer besseren Informationsqualität und einer darauf abgestimmten verbesserten, nutzerfreundlichen Visualisierung der Informationen erreicht werden kann, ist die Webseite roadworks.org [6]. Diese Seite zeigt Baustel-leninformationen für Großbritannien an, erweitert um zusätzliche verkehrsrele-vante Informationen wie Live-Verkehrslage, Informationen zu Veranstaltungen usw.

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Lösungen in anderen Staaten 587

Abbildung 8.1 zeigt Screenshots der Webseite: die linke Seite zeigt die Karte mit eingeblendeten Symbolen für Baumaßnahmen. Die unterschiedlichen Symbole re-präsentieren unterschiedliche Anlässe für Bauarbeiten, wie z. B. Elektrizitäts- oder Telekommunikationsarbeiten. Die Farbe der Symbole geben die erwartete Wahr-scheinlichkeit für Fahrtzeitverluste durch die Baustelle an, wobei Rot für sehr wahrscheinliche, Gelb für mögliche und Grün für wenig wahrscheinliche Fahrzeit-verluste steht. Diese erste Ebene an Informationen gibt dem Nutzer bereits einen guten ersten Überblick über den zu erwartenden Einfluss der Baustellen auf seine Fahrten.

Abbildung 8.1 Screenshots der Webseite roadworks.org. Links: Kartenüber-sicht mit Symbolen für Baustellen; rechts: Beispiel eines Po-pup-Fensters mit weiterführenden Informationen zu einer Baustelle.

Auf der rechten Seite zeigt Abbildung 8.2 einen Screenshot eines Popup-Fensters das sich öffnet, wenn ein Nutzer auf eines der Baustellensymbole in der Karte klickt, in diesem Fall ein rot gefärbtes Symbol, das auf wahrscheinliche Verzöge-rungen in der Reisezeit hinweist. Das Popup zeigt unter anderem detaillierte In-formationen zur erwarteten Dauer, zur Lage, sowie zu zuständigen Behörden und

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588 Crowd-basierte Bewertung der Qualität von Baustelleninformationen

Firmen. Diese Informationen sind nicht nur für den Verkehrsteilnehmer interes-sant, sondern auch für Behörden und Firmen, die sich mit den Bauarbeiten befas-sen. Voraussetzung für eine nutzerfreundliche Darstellung ist eine gute Qualität der Informationen, die durch die beteiligten Behörden zur Verfügung gestellt wer-den.

Roadworks.org besitzt allerdings keine Funktion für ein strukturiertes Feedback, wie sie für das Benchmarking in proFUND geplant ist. Somit wird die Qualität der Baustelleninformationen nicht durch die Straßennutzer validiert und es gibt keine Möglichkeit festzustellen, ob die dargestellten Informationen korrekt und vollstän-dig sind. Aus diesem Grund sind die Feedback-Schleife und das Benchmarking-System, die im Folgenden beschrieben werden, in proFUND wichtige Komponen-ten.

8.4 Floating Car-Daten für Baustellen

Die durch die Bundesländer zur Verfügung gestellten Baustelleninformationen machen nur einen Teil der verfügbaren Daten aus. Ein weitere wichtige Quelle für das Projekt sind Baustelleninformationen des Verkehrsdaten-Providers INRIX, die auf der Auswertung von Floating Car-Daten (FCD) basieren. Die FCD stammen von Navigationsgeräten verschiedener Fahrzeughersteller, von Telematik-Diens-ten, Apps und weiteren GPS-basierten Diensten. Die Nutzer geben zudem Feed-back über Störungen im Verkehrsfluss wie Unfälle oder Staus über die App INRIX Traffic [7]. Zugleich erhält INRIX Informationen über Verkehrsstaus und Störun-gen aus weiteren Quellen. Alle diese Informationen werden zusammengeführt und analysiert.

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Floating Car-Daten für Baustellen 589

Abbildung 8.2 Durchschnittliche stündliche Geschwindigkeit an Werktagen im September 2014 und 2016 auf der Autobahn A40; schwarz: Tage ohne Baustelle (2014); blau: Tage mit Baustelle (2016). Analyse zur Verfügung gestellt von INRIX.

Die große Zahl an Floating Car-Daten erlaubt eine detaillierte Analyse von histori-schen Verkehrsdaten. Die Abbildung 8.2 und Abbildung 8.3 zeigen den Einfluss einer Baustelle auf die Durchschnittsgeschwindigkeiten auf der A40 in östlicher Richtung zwischen den Anschlussstellen Moers und Duisburg-Häfen. Die Analyse wurde von INRIX zur Verfügung gestellt und zeigt eine hohe Auflösung der Da-ten. Beide Abbildungen zeigen die durchschnittlichen Geschwindigkeiten der Fahrzeuge im Tagesverlauf an Werktagen für zwei unterschiedliche Zeiträume: in Abbildung 8.2 zeigt die blaue Linie die durchschnittlichen Geschwindigkeiten pro Tageszeit (stündlich) für den September 2016. In dieser Zeit gab es eine aktive Bau-stelle in dem Streckenabschnitt. Die schwarze Linie dagegen zeigt die Durch-schnittsgeschwindigkeiten für September 2014, als es dort keine Baustelle gab. Der Unterschied in den Geschwindigkeiten ist klar zu erkennen. In 2014 gab es die ty-pischen Einbrüche der Geschwindigkeiten für den Berufsverkehr am Morgen und am späten Nachmittag. Außerhalb des Berufsverkehrs bewegt sich die Durch-schnittsgeschwindigkeit um die zulässige Höchstgeschwindigkeit, die 2014 100 km/h betragen hat. 2016, während der Baustellenzeit, war das Tempolimit auf

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590 Crowd-basierte Bewertung der Qualität von Baustelleninformationen

80 km/h herabgesetzt. Die Durchschnittgeschwindigkeiten sind in diesem Zeit-raum deutlich geringer als in 2014. Der Geschwindigkeitsabfall in der Morgen-spitze des Berufsverkehrs ist weiterhin sichtbar und sogar größer als in 2014, im Tagesverlauf sind die Durchschnittgeschwindigkeiten klar geringer als in 2014. Die Berechnung der stündlichen Durchschnittsgeschwindigkeiten über einen ganzen Monat (nur Werktage) gewährleistet, dass diese Geschwindigkeitseinbrüche nicht einer temporären ungewöhnlichen Situation geschuldet sind, sondern dass sie in der Tat auf die Baustelle zurückzuführen sind.

Abbildung 8.3 Raum-Zeit-Diagramme der Durchschnittgeschwindigkeiten für dieselbe Situation und dieselben Zeiträume wie in Abbildung 8.2; links: Zeitraum mit Baustelle (2016); rechts: Zeitraum ohne Baustelle (2014). Analyse zur Verfügung gestellt von IN-RIX.

Abbildung 8.3 zeigt einen Vergleich zwischen den Raum-Zeit-Diagrammen der stündlichen Durchschnittgeschwindigkeiten aus Abbildung 8.2: Die linke Seite zeigt die durchschnittlichen stündlichen Geschwindigkeiten an Werktagen im Sep-tember 2016, die rechte Seite zeigt dasselbe für September 2014. Die Länge des Au-tobahnabschnitts in Abbildung 8.3 beträgt 2,5 km, die Baustelle befindet sich zwi-

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Feedback-Schleife und Benchmark-System 591

schen den Kilometern 1,25 und 2,0. Die Durchschnittsgeschwindigkeit wird an-hand einer Farbskala wiedergegeben, wobei Dunkelrot Geschwindigkeiten unter-halb von 15 km/h symbolisiert und Blau Geschwindigkeiten oberhalb von 100 km/h. In 2014 fallen die Durchschnittsgeschwindigkeiten nicht unter 50 km/h (symbolisiert durch Gelb) im Berufsverkehr und bewegen sich ansonsten rund um das Tempolimit von 100 km/h. In 2016 dagegen sinken die Durchschnittsgeschwin-digkeiten unter 15 km/h und zudem ist eine Geschwindigkeitsgrenze ca. 1,2 km flussabwärts der Anschlussstelle Moers zu erkennen. Diese befindet sich an dem Streckenabschnittinnerhalb der Baustelle, an dem eine Reduzierung von drei auf zwei Fahrstreifen erfolgt, unmittelbar danach beginnt die eigentliche Baustelle. Dies zeigt, dass mit der Analyse von Floating Car-Daten Baustellen lokalisiert und identifiziert werden können. Die Analyse bestätigt zudem, dass die zulässige Höchstgeschwindigkeit in der Tat von 100 km/h auf 80 km/h in der Baustelle ge-senkt wurde.

In proFUND werden die Projektpartner daher die Baustelleninformationen, die INRIX zur Verfügung stellt, analysieren und mit den Informationen der Bundes-länder sowie weiterer Quellen kombinieren. Auf diese Weise sollen zunächst Un-terschiede in den Informationsgehalten ausfindig gemacht und wichtige Einfluss-faktoren der Baustellen auf den Verkehr identifiziert werden. Zum Beispiel sollen anhand der Floating Car-Daten Baustellen identifiziert werden, für die keine Infor-mationen im BIS hinterlegt sind. Dies sind vor allem Baustellen, die weniger als 4 Tage dauern, die von den Bundesländern nicht gemeldet werden müssen. Die Ana-lyse wird letztlich ein detailliertes Bild der Informationslage anhand der Meldun-gen durch die Bundesländer liefern.

Im Projekt werden weitere Datenquellen verwendet werden wie Radiostationen, Polizeireporte und Daten von Logistikflotten, aber dies ist außerhalb des Rahmens dieses Artikels.

8.5 Feedback-Schleife und Benchmark-System

Ein wesentlicher Teil von proFUND ist die Gewinnung des Feedbacks der Ver-kehrsteilnehmer. Damit zielen die Projektpartner darauf, nicht nur harte Fakten wie Tempolimits oder Anzahl der vorhandenen Spuren zu erfassen und zu quan-tifizieren, sondern auch darauf zu erfassen, wie die Verkehrsteilnehmer eine Bau-stelle oder einzelne Aspekte davon empfinden. Dies betrifft also sowohl die Kor-

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592 Crowd-basierte Bewertung der Qualität von Baustelleninformationen

rektheit der angezeigten Informationen, als auch den empfundenen „Schwere-grad“ einer Baustelle, also die Erfassung dessen, als wie störend ein Verkehrsteil-nehmer eine Baustelle empfindet. Für diesen Zweck werden die Projektpartner eine Anwendung namens „BaustellenCheck“ entwickeln (als Desktop- und als mo-bile Version mittels responsivem Design), mit der die vorhandenen Informationen zu Baustellen dargestellt und bewertet werden können. Daraus wird ein Bench-marking der Baustellen abgeleitet werden.

Abbildung 8.4 Schema der Feedback-Schleife.

Abbildung 8.4 zeigt das Schema der geplanten Feedback-Schleife in proFUND. Zunächst werden die existierenden Baustelleninformationen der verschiedenen Quellen gesammelt und aggregiert. Die vorgesehenen Quellen sind dabei das BIS der BASt, Floating Car-Daten und Baustelleninformationen von INRIX, Verkehrs-meldungen von Radiostationen und Automobilclubs, sowie so viele weitere Quel-len wie möglich.

Im nächsten Schritt werden die heterogenen Daten gegenseitig auf ihre Plausibili-tät hin geprüft und entsprechend gefiltert. Dann können sie in eine gemeinsame Datenbank zusammengeführt und anschließend visualisiert werden. Um diese Baustellen einem ersten Benchmarking zu unterziehen, werden Routinginformati-onen und Floating Car-Daten von INRIX herangezogen, die Statusinformationen, Reisezeitverluste etc. mit einer Genauigkeit von bis zu 50 m enthalten. Darüber hinaus gibt es zahlreiche weitere Aspekte von Baustellen, die als mögliche Bench-

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Feedback-Schleife und Benchmark-System 593

marking-Faktoren in Frage kommen. Zum Beispiel könnte neben Reisezeitverlus-ten auch die Stauanfälligkeit, gemessen in Häufigkeit der auftretenden Staus in festgelegten Zeiträumen, als Benchmarking-Faktor dienen. Für die Bewertung der Qualität der Baustelleninformationen werden korrektes Start- und Enddatum oder Vollständigkeit der Informationen wichtige Kriterien sein. Die genaue Ausarbei-tung der Benchmarking-Faktoren wird ein wesentlicher Bestandteil des Projektes sein.

Im nächsten Schritt werden die vorab evaluierten Informationen den Verkehrsteil-nehmern in der App zur Verfügung gestellt. Das Ziel ist es dabei, die Verkehrsteil-nehmer mit allen derzeit verfügbaren Informationen einer Baustelle zu versorgen. Die Informationen werden, soweit möglich, visualisiert und für einen schnellen Zugriff in einer Karte dargestellt. Zusätzlich ist es angedacht, die Informationen über die jeweiligen Kanäle der Datenlieferanten (INRIX, Radiostationen etc.) sowie den MDM zu verbreiten. Der BaustellenCheck ist dabei aber stets die Hauptan-wendung und somit der vorrangige Verbreitungsweg.

Nachdem die Baustelleninformationen den Nutzern in einer konsolidierten und strukturierten Weise zur Verfügung gestellt wurden, können sie anhand dieser In-formationen ihre jeweiligen Routen planen. An diesem Punkt zielt das Projekt auf unterschiedliche Nutzergruppen wie zum Beispiel Pendler, Urlaubsreisende, Spe-diteure oder Schwerlastverkehre. In Abhängigkeit vom Benchmarking der Bau-stelle können die unterschiedlichen Nutzer nun entscheiden, ob sie die Baustelle durchfahren oder eine Alternativstrecke nehmen wollen. Speziell Spediteure und Schwerlasttransporte dürften von präzisen Informationen zu zulässigem Höchst-gewicht oder Spur- und Fahrbahnbreiten profitieren. Umgekehrt können auch Baustellenfirmen und die für die Baustellen zuständigen Behörden vom Dienst profitieren, indem sie sich einen schnellen Überblick über die Baustelle verschaffen können. Die Berücksichtigung derart unterschiedlicher Nutzerbedürfnisse wird daher einen weiteren wichtigen Aspekt im Projekt ausmachen.

Bis zu diesem Punkt repräsentieren die gesammelten und dargestellten Informati-onen den derzeitigen Qualitätsstand der Baustelleninformationen. Im nächsten Schritt werden die Verkehrsteilnehmer nun ermutigt, über den BaustellenCheck ein qualifiziertes Feedback zur Korrektheit der dargestellten Daten und zum emp-fundenen Schweregrad der Baustelle abzugeben. Die Strukturierung der App und der Informationen darin gewährleistet, dass das Feedback in einer strukturierten Weise eingeholt wird. Nur dadurch wird sichergestellt, dass die gewonnenen In-formationen automatisiert auswertbar bleiben. Dies ist eine deutliche Verbesse-rung gegenüber dem bisherigen Feedback per E-Mail, das im Freitext erfolgt und

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594 Crowd-basierte Bewertung der Qualität von Baustelleninformationen

somit keine automatisierte Auswertung zulässt. Das Feedback kann entweder di-rekt während der Fahrt (durch Beifahrer) oder nach der Fahrt am Desktop abgege-ben werden. Das Feedback wird sich auf die Stärke der Auswirkungen und die Korrektheit der Informationen beziehen. Zum Beispiel könnten die Nutzer Feed-back darüber abgeben, ob die Anzahl der vorhandenen Spuren oder das vorgege-bene Tempolimit korrekt mitgeteilt wurde – oder ob die Informationen überhaupt vorhanden sind. Ein Pendler, der eine Baustelle passiert, die nicht korrekt ange-kündigt wurde, könnte sich in einem unerwarteten Stau wiederfinden. Da dies seine pünktliche Ankunft am Zielort beeinträchtigen könnte, könnte er an einer Abgabe eines Feedbacks interessiert sein.

Das Feedback der Verkehrsteilnehmer wird im BaustellenCheck in einer struktu-rierten Art und Weise erhoben und aufbereitet werden. Statt lediglich einen E-Mail-Link oder ein Freitextfeld zur Verfügung zu stellen, wird die Anwendung derart gestaltet, dass die Nutzer den Benchmarking-Faktoren Werte zuweisen kön-nen. Diese Werte könnten zum Beispiel als eine farbkodierte Skala implementiert werden, mit Werten von 1 bis 10 (Integer-Werte), oder als Checkboxen mit vorde-finierten Antworten. Diese Strukturierung bietet den wesentlichen Vorteil, dass die Datengeber das Feedback zügig und in einer strukturierten Weise auswerten kön-nen. Im Gegensatz dazu wird Feedback bisher mittels E-Mails und Kontaktformu-laren erhoben. Der Freitext darin ist für eine Computer-gestützte Analyse nicht zu-gänglich. Da die Zahl dieser Feedback-Meldungen zunimmt, wird die Auswertung für die zuständigen Behörden und Datenlieferanten, vor allem für die BASt als Be-treiber des BIS, zunehmend aufwändiger. Aus diesem Grund werden sowohl die Verkehrsteilnehmer, als auch die Behörden und Datenlieferanten vom strukturier-ten Feedback-System des BaustellenChecks profitieren.

Damit die Feedback-Schleife funktioniert, wird es sehr wichtig sein, eine ausrei-chende Anzahl von Nutzern von der Teilnahme zu überzeugen. Innerhalb des Pro-jektes werden daher unterschiedliche Nutzergruppen und Communities ange-sprochen werden, wie zum Beispiel Staumelder für Automobilclubs und Radiosta-tionen, Nutzer der App des Partners INRIX, Mitglieder von Logistikvereinigungen und Speditionen, sowie die mit der Einrichtung der Baustellen befassten Behörden und Firmen. Letztlich ist es das Ziel, so viele Quellen für Feedback einzubinden wie möglich, so dass eine ausreichende Datenbasis für statistische Analysen zur Verfügung steht.

Die Analyse der durch das Feedback gewonnenen Daten ist der nächste Schritt in der Feedback-Schleife. Das Feedback wird gesammelt und aufbereitet, so dass Da-tenanomalien, wie zum Beispiel Falschberichte herausgefiltert werden. Anschlie-ßend wird das Feedback zunächst evaluiert um Diskrepanzen zwischen den zur

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Zusammenfassung 595

Verfügung gestellten Baustelleninformationen und der Realität auf der Straße aus-findig zu machen. Die Erkenntnisse werden dann mit den zuständigen Datenliefe-ranten geteilt. So wird ein zusätzlicher Test der Datenplausibilität implementiert und die Datenlieferanten der Baustelleninformationen erhalten die Möglichkeit, ihre Informationsqualität zu verbessern. Im Anschluss werden die Benchmarking-Faktoren aus dem Feedback und aus der Floating Car-Daten-Analyse ausgewertet. Die Ergebnisse werden mit den Informationen verglichen, die den Nutzern ur-sprünglich zur Verfügung gestellt wurde. Zusammenfassend werden dann das Nutzerfeedback und die Floating Car-Daten-Analyse zur Optimierung der Baustelleninformationen beitragen. Die Feedback-Schleife wird dann vollendet, in-dem die Ergebnisse in den Datenfusionsprozess aus dem ersten Schritt integriert werden.

Letztlich werden die Projektpartner einen optimierten Baustellen-Feed mit Baustelleninformationen aller Bundesländern sowie Richtlinien und Vorschläge zur Verbesserung der Informationsqualität veröffentlichen.

8.6 Zusammenfassung

Insgesamt ist die Informationsqualität zu Baustellen auf Bundesautobahnen sehr heterogen und von wechselnder Qualität. Im Projekt proFUND wird die derzeitige Informationslage erfasst und mittels Floating Car-Daten-Analyse bewertet. Ein Crowd-basiertes Feedback-System für Baustellen wird in der Anwendung Baustel-lenCheck umgesetzt werden. Das Gesamtziel des Projektes ist es, die Baustellenin-formationen zu analysieren, mit strukturiertem Feedback zu qualifizieren und letztlich zu verbessern.

Als zentrales Ergebnis werden die Projektpartner einen optimierten Baustellen-Feed für Bundesautobahnen veröffentlichen, zusammen mit Empfehlungen und Richtlinien für eine Verbesserung der Informationsqualität.

8.6.1 Danksagung

Die Autoren danken den Partnern der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) und INRIX für die Zusammenarbeit, sowie dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur für die Förderung des Projektes.

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596 Crowd-basierte Bewertung der Qualität von Baustelleninformationen

Referenzen

[1] Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt), http://www.bast.de [2] INRIX, http://inrix.com/ [3] INRIX 2016 Traffic Scorecard, http://inrix.com/scorecard/ [4] Baustelleninformationssystem des Bundes und der Länder (BIS),

http://www.bast.de/DE/Fahrzeugtechnik/Baustelleninformation/baustelleninforma-tion.html

[5] Mobilitäts Daten Marktplatz (MDM), https://service.mdm-portal.de/mdm-portal-appli-cation/index.do

[6] https://roadworks.org/ [7] INRIX Traffic Maps & GPS, https://play.google.com/store/apps/details?id=inrix.an-

droid.ui&hl=en

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9 GPS- und Mobilfunkdaten in Verkehrsplanung und Verkehrsmanagement

H. Hochgürtel (INRIX Europe GmbH)

9 GPS- und Mobilfunkdaten in Verkehrsplanung und Verkehrsmanagement ................................................................................. 597

9.1 Intelligente Mobilitätslösungen, Connected-Car-Dienste und Bevölkerungsstrom-Analysen für smartere Städte ................................ 598

9.2 Mehr Effizienz im Verkehr ........................................................................ 5999.3 Optimierte Verkehrsnetzwerke ................................................................. 5999.4 Quelle-Ziel-Matrizen und Stauanalysen .................................................. 6019.5 Roadway Analytics ..................................................................................... 6029.6 Erreichbarkeitsanalysen ............................................................................. 6059.7 Mehr Parkkomfort ....................................................................................... 6069.8 Mehr Sicherheit auf unseren Straßen ....................................................... 6079.9 Bessere städtebauliche Planung ................................................................ 607

Referenzen ...................................................................................................................... 608

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_37

Page 590: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

598 GPS- und Mobilfunkdaten in Verkehrsplanung und Verkehrsmanagement

9.1 Intelligente Mobilitätslösungen, Connected-Car-Dienste und Bevölkerungsstrom-Analysen für smartere Städte

INRIX [1] arbeitet mit führenden Autoherstellern und Behörden auf der ganzen Welt zusammen, um die Mobilität über weltweite Verkehrsnetzwerke hinweg zu verbessern. Angesichts einer beispiellosen Geschwindigkeit beim städtischen Be-völkerungswachstum werden immer mehr innovative Informations- und Visuali-sierungstechnologien eingesetzt, um Bewegungsmuster von Menschen und Waren nachvollziehen zu können.

Als weltweit führender Anbieter von Verkehrsinformationen, Connected-Car-Diensten und Smart City-Analysen unterstützt INRIX Autofahrer, informiert Stadtplaner und fördert den Handel.

Angesichts des enormen Bevölkerungswachstums kommt dem Bewegungsma-nagement eine ständig steigende Bedeutung zu. Über die Hälfte der Weltbevölke-rung lebt bereits in Ballungszentren. Und die Städte werden immer größer. Heute gibt es bereits 29 Megastädte mit zehn Millionen oder mehr Einwohnern, bis zum Jahr 2030 sollen es 41 sein – eine große Belastung für eine Infrastruktur, die schon jetzt altert.

INRIX unterstützt Städte dabei, das urbane Leben ihrer Einwohner zu verbessern. Nach der Gründung im Jahr 2005 hat INRIX den Weg für einen bahnbrechenden Ansatz beim Verkehrsmanagement bereitet, indem nicht nur Daten aus Straßen-sensoren, sondern auch aus Fahrzeugen selbst analysiert werden. Das Big Data Crowd Sourcing war geboren, und konnte nicht nur Verkehrsinformationen für jede Straße, jede Autobahnauffahrt und jeden Verkehrsknotenpunkt bereitstellen, sondern so auch Verkehrsbehinderungen erheblich reduzieren.

Heute verfügt INRIX über Niederlassungen in Nordamerika, Europa und China, und ein Netzwerk von 250 Millionen vernetzten Geräten deckt über 40 Länder so-wie nahezu acht Millionen Kilometer Straße ab. INRIX macht sich seine Fähigkei-ten beim Sammeln, der Aggregation sowie der Analyse von Big Data zu Nutze, um Probleme rund um vernetzte Autos, die Effizienz von Verkehrsmanagement, Be-völkerungsbewegungen und vielem mehr zu lösen.

Page 591: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Optimierte Verkehrsnetzwerke 599

9.2 Mehr Effizienz im Verkehr

Angesichts kontinuierlich zunehmender Verkehrsprobleme hat sich heute selbst die kürzeste Fahrt zu einem stressreichen Ereignis entwickelt.

Die Connected Car Services von INRIX helfen Verbrauchern dabei, ihre Strecken und Fahrtzeiten besser zu managen. Außerdem werden die von INRIX gelieferten Echtzeit-Verkehrsdaten auch an Verkehrsbehörden übermittelt, um so das Ma-nagement des täglichen Verkehrsflusses durch die Städte zu erleichtern. Da INRIX sowohl mit Autoherstellern als auch mit Verkehrsplanern zusammenarbeitet, weiß INRIX, wie sich alle Elemente sinnvoll miteinander verbinden lassen.

Der BMW i3 und i8 etwa nutzen die INRIX-Technologie, um sich mit städtischen Verkehrsnetzwerken zu verbinden. Die Echtzeit-Verkehrsdaten und intermodalen Diensten leiten die Fahrer der Elektrofahrzeuge von BMW auf die schnellstmögli-che Fahrtroute um – und zwar ganz gleich, ob es sich dabei um eine alternative Straßenstrecke oder eine Verbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln handelt.

Die PTV Group nutzt die Echtzeit-Verkehrsdaten von INRIX dagegen für ihre Mo-delllösung Optima [2], die eingesetzt wird, um Verkehrsstörungen im Großraum Paris auf der Île-de-France durch ein intelligentes Verkehrsmanagement zu redu-zieren.

9.3 Optimierte Verkehrsnetzwerke

Klassischen Verkehrsdatendiensten mangelt es an einer detaillierten Einsicht in die Straßenverhältnisse auf allen Straßen innerhalb einer bestimmten Region. Her-kömmliche TMC-Verkehrsmeldungen decken viele Straßen, insbesondere Auto-bahnauffahrten und Nebenstraßen, nicht ab. Die Informationen zu Straßen, die ab-gedeckt werden, sind oft nicht so detailliert und präzise.

INRIX XD Traffic nutzt Daten aus vielen verschiedenen Quellen, darunter Fuhr-parks, Autos, Straßensensoren und Smartphones. So werden mehr Straßen abge-deckt, die Daten sind genauer und gleichzeitig werden die Standards der Automo-bilbranche in Sachen Qualität und Zuverlässigkeit der Daten aufrechterhalten. Ab-bildung 9.1 zeigt den Vergleich zwischen TMC- (links) und INRIX XD-Straßenseg-menten (rechts) für den Raum Dortmund. Die höhere räumliche Auflösung der XD-Segmente (nutzerdefinierte Sub-Segmente von bis zu 100 m) erlaubt eine deut-lich bessere Abdeckung als das TMC-System. INRIX Incidents erfasst und über-mittelt Warnmeldungen zu Unfällen, Baustellen und Wetterverhältnissen auf den

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600 GPS- und Mobilfunkdaten in Verkehrsplanung und Verkehrsmanagement

Straßen, damit Verkehrsteilnehmer in Echtzeit über verkehrsbehindernde Ereig-nisse informiert werden. Bessere Informationen erfassen Verkehrsstörungen schneller und lokalisieren diese genauer als die klassische TMC-Segmentberichter-stattung. So können Verkehrsbehörden wirkungsvoll reagieren, die allgemeine Si-cherheit auf den Straßen verbessern und Verzögerungen aufgrund von Behinde-rungen reduzieren.

Abbildung 9.1 Vergleich der Straßensegment-Einteilung nach TMC (links) und nach INRIX-XD (rechts) für den Raum Dortmund.

Die dänische Straßenverwaltung (Vejdirektoratet) nutzt INRIX XD Traffic, um his-torische und Echtzeit-Verkehrsinformationen für 30.000 Straßenkilometer im gan-zen Land zu bekommen [3]. Damit ist Dänemark weltweit das erste Land, das GPS-Sensordaten heranzieht, um landesweit einen reibungslosen Verkehrsfluss zu ge-währleisten.

Die Bayerische Straßenbauverwaltung – Zentralstelle Verkehrsmanagement (ZVM) verwendet die Echtzeitdaten von INRIX seit 2012 und hat im Jahr 2014 IN-RIX XD Traffic implementiert [4]. Heute liefert INRIX sehr detaillierte Echtzeit-Verkehrsdaten für mehr als 2.600 Kilometer Straßen in Bayern. Auch die bayeri-sche Verkehrsinformationszentrale nutzt INRIX-Daten für die Gefahrenanalyse und kann so eigene Verkehrsnachrichten senden und Autofahrer über Gefahren informieren.

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Quelle-Ziel-Matrizen und Stauanalysen 601

9.4 Quelle-Ziel-Matrizen und Stauanalysen

Mit dem Produkt INRIX Trips werden anonymisierte Einzelfahrtdaten (Trip) für den zu untersuchenden Zeitraum und das gewünschte Gebiet bereitgestellt. Dabei sind nicht nur Fahrten enthalten, die im betrachteten Gebiet starten oder enden, sondern sämtliche Fahrten die im Zeitraum durch das gewählte Gebiet führten. Das Ende einer Fahrt ist erreicht, wenn die Quelle länger als 5 Minuten bewegungs-los am gleichen Ort verbleibt. Die Daten werden von INRIX als csv-Datenarchiv geliefert und enthalten die in Tabelle 9.1 angegebenen Informationen.

Tabelle 9.1 Datenfelder von INRIX Trips.

Datenfeld

Beschreibung

TripId ID der Fahrt

DeviceId Geräte-ID der Datenquelle

ProviderId ID des Lieferanten (der Flotte)

Mode Fahrtmodus

StartDate Startzeitpunk (UTC) der Fahrt

EndDate Endzeitpunkt (UTC) der Fahrt

StartLocLat Geographische Breite des Startorts

StartLocLon Geographische Länge des Startorts

EndLocLat Geographische Breite des Zielorts

EndLocLon Geographische Länge des Zielorts

IsStartHome „true“ wenn Fahrt am Heimatort beginnt

IsEndHome „true“ wenn Fahrt am Heimatort endet

ProviderType Kategorie der Flotte

ProviderDrivingProfile Fahrprofil der Flotte

VehicleWeightClass Gewichtsklasse des Fahrzeugs

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602 GPS- und Mobilfunkdaten in Verkehrsplanung und Verkehrsmanagement

Die Kategorisierung der Flotten bzw. Fahrzeuge wird von den Datenlieferanten vorgenommen. Es wird zwischen den folgenden Kategorien unterschieden. Abbil-dung 9.2 zeigt eine Quelle-Ziel-Analyse mit INRIX Trips für den Raum Köln: In der Karte sind alle Fahrten eingetragen, die den Raum Köln am 09.03.2015 Tag pas-siert haben.

Abbildung 9.2 INRIX Trips für den Großraum Köln (Kölner Ring) am 09.03.2015; links: europaweite Übersicht, rechts: Großraum Köln.

9.5 Roadway Analytics

INRIX Roadway Analytics ist ein spannendes neues Analyse-Tool, das Verkehrs-behörden dabei unterstützt, zu verstehen, was in ihrem Straßennetzwerken pas-siert. Mit INRIX Roadway Analytics kann die Effizienz des Straßennetzes bewertet und verbessert werden und es kann so der Nutzen öffentlicher Investitionen ma-ximiert werden. Das Tool besteht aus einem einzigartigen Satz an Werkzeugen für die Analyse und Visualisierung von Verkehrsdaten. Es erlaubt dem Nutzer Ana-lysen durchzuführen sowie Berichte und Veröffentlichungen zu erstellen, mit de-nen politischen Entscheidern, Verkehrsteilnehmern und Behörden die notwendi-gen Informationen an die Hand gegeben werden können. Tabelle 9.2 zeigt Daten-felder der historischen Daten, anhand derer die Analysen in Roadway Analytics durchgeführt werden:

Page 595: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Roadway Analytics 603

Tabelle 9.2 Datenfelder der historischen Daten

Datenfeld

Beschreibung

SegmentID ID des INRIX Segments

BinId ID des 15-Minuten Zeitintervalls

DayOfWeek Tag der Woche

MinutesFromMidnight Startzeitpunkt der Daten in Minuten nach Mit-ternacht

SpeedKPH Durchschnittsgeschwindigkeit je Segment, Zeitintervall und Wochentag

TravelTimeInSecondsFrom Reisezeit in Sekunden je Segment, Zeitinter-vall und Wochentag

StdDevKPH Standardabweichung der Geschwindigkeit

PercentileKPH05 Geschwindigkeit des 5. Perzentils der Daten

PercentileKPH10 Geschwindigkeit des 10. Perzentils der Daten

PercentileKPH90 Geschwindigkeit des 90. Perzentils der Daten

PercentileKPH95 Geschwindigkeit des 95. Perzentils der Daten

PercentileKPH99 Geschwindigkeit des 99. Perzentils der Daten

FailureRateKPH40 Prozentsatz der Fahrzeuge mit Geschwindig-keit kleiner 40 km/h

FailureRateKPH60 Prozentsatz der Fahrzeuge mit Geschwindig-keit kleiner 60 km/h

FailureRateKPH120 Prozentsatz der Fahrzeuge mit Geschwindig-keit kleiner 120 km/h

FailureRateKPH140 Prozentsatz der Fahrzeuge mit Geschwindig-keit kleiner 140 km/h

Page 596: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

604 GPS- und Mobilfunkdaten in Verkehrsplanung und Verkehrsmanagement

Abbildung 9.3 zeigt einen Vergleich zwischen den Raum-Zeit-Diagrammen der stündlichen Durchschnittgeschwindigkeiten eines Autobahnabschnitts der A40 bei Duisburg. Die linke Seite zeigt die durchschnittlichen stündlichen Geschwin-digkeiten an Werktagen im September 2016, die rechte Seite zeigt dasselbe für Sep-tember 2014. Die Länge des Autobahnabschnitts beträgt 2,5 km, zwischen den Ki-lometern 1,25 und 2,0 befindet sich eine Baustelle. Die Durchschnittsgeschwindig-keit wird anhand einer Farbskala wiedergegeben, wobei Dunkelrot Geschwindig-keiten unterhalb von 15 km/h symbolisiert und Blau Geschwindigkeiten oberhalb von 100 km/h. In 2014 fallen die Durchschnittsgeschwindigkeiten nicht unter 50 km/h (symbolisiert durch Gelb) im Berufsverkehr und bewegen sich ansonsten rund um das Tempolimit von 100 km/h. In 2016 dagegen sinken die Durchschnitts-geschwindigkeiten unter 15 km/h und zudem ist eine Geschwindigkeitsgrenze ca. 1,2 km flussabwärts der Anschlussstelle Moers zu erkennen. Der Einfluss der Bau-stelle ist in der Analyse klar zu erkennen.

Page 597: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Erreichbarkeitsanalysen 605

Abbildung 9.3 INRIX Analytics für einen Autobahnabschnitt der A40. Links: Vergleich zwischen stündlichen Durchschnittsgeschwindigkei-ten im September 2016 und 2014, dunkelrot: < 15 km/h, grün: > 80 km/h; Mitte: schematische Darstellung des Stre-ckenabschnitts; rechts: Kartendarstellung.

9.6 Erreichbarkeitsanalysen

Anhand der Floating Car-Daten können Erreichbarkeitsanalysen durchgeführt werden. Dies ist sowohl für Echtzeitdaten als auch mittels typisierten Daten für Prognosen möglich. So können Einzugsgebiete beliebiger Standorte untersucht werden. Abbildung 9.4 zeigt eine Erreichbarkeitsanalyse für Dortmund. Das gelbe, blaue und rote Polygon markieren diejenigen Orte, die mit dem Pkw inner-halb von 30 bzw. 45 bzw. 60 Minuten erreichbar sind. Die äußere, rote Polygon-grenze erreicht man von Dortmund aus also in 60 Minuten mit dem Auto.

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606 GPS- und Mobilfunkdaten in Verkehrsplanung und Verkehrsmanagement

Abbildung 9.4 Reisezeitenpolygone für Dortmund mit 30 (gelb), 45 (blau) und 60 (rot) Minuten Fahrzeit.

9.7 Mehr Parkkomfort

Autofahrer, die einen Parkplatz suchen, sind für bis zu 30 Prozent der Verkehrsbe-hinderungen in Städten verantwortlich und machen das Parken zu einem der größ-ten Probleme für Fahrer, Städte und Gemeinden auf der ganzen Welt.

Mit INRIX On-Street Parking und INRIX Off-Street Parking können Autofahrer in nordamerikanischen und europäischen Städten schnell passende Parkmöglichkei-ten finden, vergleichen und bezahlen.

Mit Zugang zu Informationen über sofortige Verfügbarkeit, Parkgebühren und Einschränkungen können Autofahrer nun effizient einen Parkplatz in der Nähe ih-res Zielortes finden und Parkplätze anhand verschiedener Faktoren vergleichen.

Zudem lassen diese sich diese über das Mobiltelefon oder Armaturenbrett reser-vieren und bezahlen. So gelangen Autofahrer schneller an ihr Ziel, während Ver-kehrsstörungen gleichzeitig reduziert werden.

Page 599: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Bessere städtebauliche Planung 607

BMW integriert INRIX On-Street Parking bereits in seine Fahrzeug-Navigations-systeme ConnectedDrive. Das Interface informiert Autofahrer von Straße zu Straße über verfügbare Parkmöglichkeiten und verwendet dabei Farbkodierungen, um die Wahrscheinlichkeit anzugeben, mit der ein bestimmter Parkplatz bei Ankunft noch verfügbar sein wird.

Nutzern von Audi Connect stellt INRIX Informationen aus INRIX Off-Street Par-king zur Verfügung, die unter anderem Wegbeschreibungen zu Parkhauseinfahr-ten, Öffnungszeiten und Preisen sowie akzeptierten Zahlungsmethoden beinhal-ten.

9.8 Mehr Sicherheit auf unseren Straßen

Laut dem US-amerikanischen Verkehrsministerium (U.S. Department of Transpor-tation) hat fast ein Viertel der Unfälle wetterbedingte Ursachen. Häufig werden zur Bestimmung von Straßenverhältnissen die Daten herkömmlicher Wettervor-hersagen verwendet, die atmosphärischen Daten. Doch diese liefern uns keinerlei Informationen darüber, wie die Straßenoberfläche wirklich aussieht. Selbst teure Straßensensoren verfügen nur über eine eingeschränkte Reichweite.

INRIX Road Weather stellt Behörden und Autofahrern Echtzeitinformationen über die aktuellen Straßenverhältnisse zur Verfügung - sofort und ganz ortsspezifisch. Denn nur mit Warnmeldungen in Echtzeit können wir wissen, wo tatsächlich ge-fährliche Bedingungen vorherrschen. Dieses Wissen kann Leben retten.

Die INRIX Road-Weather-Daten verbessern die Verkehrsplanung und ermögli-chen eine schnellere Reaktion auf Wetterereignisse, sodass Verkehrsbehörden Le-ben retten und ihre Ressourcen effektiver einsetzen können.

9.9 Bessere städtebauliche Planung

Die weltweite Verstädterung führt zu einer immer stärkeren Belastung urbaner Mobilitätsressourcen von Autobahnen über Straßen bis hin zu Bussen, Zügen und U-Bahnen. In der Vergangenheit haben sich Maßnahmen zur Messung der tatsäch-lichen Bewegungen großer Bevölkerungsmassen in der Stadt stets als kosteninten-siv und schwer umsetzbar erwiesen. Dennoch müssen diese Bewegungsströme verstanden werden, um die Herausforderungen an urbane Mobilität erfolgreich meistern zu können.

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608 GPS- und Mobilfunkdaten in Verkehrsplanung und Verkehrsmanagement

Auf Basis anonymisierter und aggregierter Daten aus Mobilfunknetzen, vernetzten Autos und Smartphones analysiert INRIX Insights Bevölkerungsströme ungeach-tet der genutzten Verkehrsmittel. Stadtplaner können mit derartigen Informatio-nen über Fahrtzeiten, Abfahrts- und Zielorte sowie Bevölkerungsdichten bereits heute intelligentere Städte mit effektiveren Straßennetzen und intermodalen Ver-kehrslösungen entwickeln.

Das Florida Department of Transport (FDOT), die Florida State University und CDM Smith nutzen historische Verkehrsdaten von INRIX für ganz Florida, um Verkehrsengpässe zu lokalisieren, besser zu verstehen und landesweiten Pla-nungsorganisationen zur Verfügung zu stellen. Anhand der historischen Ver-kehrsdaten des INRIX-Archivs konnte CDM Smith Ort, Geschwindigkeit, Rich-tung und Fahrtzeit von 250 Millionen Aufzeichnungen der Verkehrsdatei bestim-men. Durch die Kombination aus aktuellen Daten und allgemein anerkannten Zu-verlässigkeitsmaßnahmen kann das Unternehmen die Gebiete genau identifizie-ren, die am stärksten von Verkehrsstaus betroffenen sind. So kann das FDOT nun die Verbesserungsmaßnahmen priorisieren, die nötig sind, um die schlimmsten Verkehrsengpässe im gesamten Bundesstaat zu beseitigen.

Referenzen

[1] INRIX: www.inrix.com [2] PTV Optima: http://vision-traffic.ptvgroup.com/de/produkte/ptv-optima/ [3] Verkehrslage der dänischen Straßenverwaltung (Vejdirektoratet): https://trafikk-

ort.vejdirektoratet.dk/ [4] Haspel, Ulrich, et al. "Nutzung von Floating-Car-Daten zur Verbesserung der Verkehrs-

lage im Freistaat Bayern." AGIT Journal 1 (2015): 157-162

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Mobilität und digitale Transformation - Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte - Schlussbetrachtung

Prof. Dr. H. Proff, Dr. T. M. Fojcik (Universität Duisburg-Essen)

Nachdem auf dem 5. Wissenschaftsforum 2013 darüber diskutiert wurde, welche weitreichenden Innovationen in der Mobilität notwendig werden, beim 6. Wissen-schaftsforum 2014 konkrete Entscheidungen im Übergang in die Elektromobilität betrachtet wurden, die Innovationen ermöglichen, beim 7. Wissenschaftsforum 2015 neben nationalen auch internationale Entwicklungen in der Mobilität einbe-zogen wurden und beim 8. Wissenschaftsforum 2016 innovative Produkte und Dienstleistungen in der Mobilität, d.h. individuelle, integrierte und vernetzte Kun-denlösungen diskutiert wurden, ging es beim 9. Wissenschaftsforum 2017 um die Herausforderungen durch die digitale Transformation für die Mobilität.

Die Forschungsbeiträge konnten vier Themenbereichen zugeordnet werden. Sie sind in diesem Tagungsband zusammengefasst.

Forschungsthemen im Automotive Management betreffen

■Herausforderungen durch die Digitalisierung in der Automobilindustrie

■ Kundenlösungen und Dienstleistungen sowie

■ digitale Perspektiven des Automobilmanagements.

Hierbei ging es um Ansatzpunkte der Digitalisierung im Management, um Reak-tionen der Manager auf die Digitalisierung, um digitale Geschäftsmodelle, bran-chenübergreifende Innovationen und um digitale Dienstleistungsinnovationen. Weiterhin ging es um E-Carsharing und Plattformökonomie, aber auch um Dis-ruptionen als Herausforderung in der automobilen Mobilität, um Entscheidungen über die Unternehmensgrenzen, Big Data Analytik für vernetzte Fahrzeuge und um Controlling in Zeiten der Digitalisierung.

Die Forschungsthemen im Automotive Engineering konzentrieren sich auf

■Herausforderungen durch die Digitalisierung in der Automobilindustrie

■ vernetzter Fahrzeuge sowie

■ Fahrerassistenzsysteme im Übergang in eine digitale Welt.

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2018H. Proff und T.M. Fojcik (Hrsg.), Mobilität und digitaleTransformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-20779-3_38

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610 Schlussbetrachtung

Dabei wurde z.B. über kosteneffiziente Brennstoffzellenkomponenten, reale Fahr-zyklen, aber auch über Elektrofahrzeuge und elektrische Energienetze diskutiert. Zudem ging es um Sicherheitsprozesse, autonomes Fahren, Verkehrsflusssimula-tion, Bewegungsprofile und Simulationen für autonome und elektrische Fahr-zeuge.

Forschungsthemen zu Digitalisierung in der urbanen Mobilität betreffen

■Nahverkehr und Politikberatung

■ E-Mobilität in der Logistik sowie

■ elektromobilitätsbezogene Geschäftsmodelle

Dabei ging es u.a. um Quartierbussysteme, urbane Mobilitätshubs, digitale Fahr-gastinformationen, urbane Frachtlogistik, aber auch um Digitalisierung von Um-schlagsprozessen, den Einsatz von Elektrofahrzeugen in der Logistik und Lösun-gen für die letzte Meile. Zudem wurde über das multifunktionale Elektromobil, die Digitalisierung als „Ermöglicher“ verbesserter Elektrofahrzeuge und über in-telligente Ladeinfrastruktur diskutiert.

Forschungsthemen zur digitalen Wertschöpfungskette betreffen

■ digitale Fertigungstechnologie

■ Digitalisierung in logistischen Systemen und

■ Digitalisierung und Verkehr

Diskutiert wurde dabei über digitale Arbeit, digitale Materialbereitstellung, Echt-zeitkommunikation sowie die „Smart Digital Supply Chain“, aber auch über digi-tale gewerbliche Transportprozesse und die Nutzung autonomer Fahrzeuge im in-nerbetrieblichen Verkehr. Zudem wurde die Frage gestellt, wieviel Logistik der Verkehr verträgt und über crowd-basierte und Big Data Lösungen sowie über Deep Learning-Algorithmen und Mobilität gesprochen.

Auf dem 9. Wissenschaftsforum Mobilität wurden in 45 Beiträgen und vier Ple-numsvorträgen vor allem Herausforderungen und künftige Wege der digitalen Transformation in der Automobilindustrie angesprochen. Auch wenn die techni-schen und betriebswirtschaftlichen Beiträge wieder keinen vollständigen und sys-tematischen Überblick über die Entwicklungen in einzelnen Themenfeldern bieten können, zeigen sich doch vier Forschungsgebiete, in denen an diesen Themen in-tensiv gearbeitet wird: auf dem Gebiet des Automotive Managements, des Auto-motive Engineering, der urbanen Mobilität sowie der digitalen Wertschöpfungs-kette.

Page 603: Mobilit¤t und digitale Transformation: Technische und betriebswirtschaftliche Aspekte

Schlussbetrachtung 611

Digitalisierung ermöglicht Veränderungen. Diese und weitere Veränderungen im Übergang von der alten Automobilwelt in eine neue digitale, vernetzte Welt alter-nativ angetriebener und oft von mehreren Personen geteilter Fahrzeuge werden deshalb beim

10. Wissenschaftsforum Mobilität

– Mobility in Times of Change – Past – Present – Future

am 7. Juni 2018 im inHaus-Zentrum in Duisburg untersucht.