Studia Philosophica 66 2007

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7/25/2019 Studia Philosophica 66 2007 http://slidepdf.com/reader/full/studia-philosophica-66-2007 1/261 STUDIA PHILOSOPHICA Vol. 66/2007 Was ist Philosophie? Qu’est-ce que la philosophie? Schwabe Redaktion: Anton Hügli Rédaction: Curzio Chiesa

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    S T U D I A P H I L O S O P H I C A Vol. 66/2007

    Was ist Philosophie?

    Quest-ce que la philosophie?

    Schwabe

    Redaktion: Anton HgliRdaction: Curzio Chiesa

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    STUDIA PHILOSOPHICA

    VOL. 66/20 07

    JAHRBUCH DERSCHWEIZER ISCHEN PHILOSOPHISCHEN GESELLSCHAFT

    ANNUAIRE DE LA SOCIT SUISSE DE PHILOSOPHIE

    SCHWABE VERLAG BASEL

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    WAS IST PHILOSOPHIE?

    QUEST-CE QUELA PHILOSOPHIE ?

    REDAKTION / RDACTIONANTON HGLI / CURZIO CHIESA

    SCHWABE VERLAG BASEL

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    2007 by Schwabe AG , Verlag, BaselSatz: post scriptum, www.post-scriptum.biz

    Druck: Schwabe AG , Druckerei, Muttenz / BaselPrinted in Switzerland

    ISBN 978-3-7965-2310-6www.schwabe.ch

    Publiziert mit Untersttzung der Schweizerischen Akademieder Geistes- und Sozialwissenschaften

    Publi avec laide de lAcadmie suisse des sciences humaines et sociales

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    Inhalt / Table des matires

    Was ist Philosophie?Quest-ce que la philosophie ?

    Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

    Philosophie in ihrem heutigen Selbstverstndnis

    Herbert Schndelbach : Was ist Philosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11Gerhard Seel : Wozu Philosophie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29Stefan Hebrggen-Walter : Das Ganze im Blick:

    Sellars ber die Aufgabe der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47

    Wissenschaft und PhilosophieMichael Esfeld : La philosophie comme mtaphysique

    des sciences . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61Christian Sachse : La philosophie comme rflexion

    sur les sciences . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77Harry Lehmann : Was ist Philosophie? Zur Koppelung

    und Entkoppelung von Wissenschaft und Philosophie . . . . . . . . 91

    Philosophie, Literatur und Gesellschaft

    Sebastian Hsch : Das Problem der Erkenntnis als Problemder Form: Literatur und Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

    Maria-Sibylla Lotter : Die Philosophie als Kritikerinvon Kritiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141

    Philosophie und Subjektivitt

    Manfred Frank : Subjektivitt und Argumentation . . . . . . . . . . . . . . 155Markus Christen : Autonomie eine Aufgabe fr die Philosophie . . 175

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    Historische Bestimmungen der Philosophie

    Erwin Sonderegger : Was wir nicht verlieren drfen . . . . . . . . . . . . 197Daniel Schulthess : Concorde philosophique et rduplication

    chez Leibniz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

    Wrdigung

    Andrea Poma : Denkerfahrung und Wahrhaftigkeit.Helmut Holzhey: Zu seinem 70. Geburtstag . . . . . . . . . . . . . . . . 221

    Rezensionsabhandlung / tude critique

    Marcello Ostinelli : Il senso della perplessit morale. Zu: CarlaBagnoli: Dilemmi morali (Genova: De Ferrari, 2006) . . . . . . . . 235

    Buchbesprechungen / Comptes rendus

    Ausweg Wachstum? Arbeit, Technik und Nachhaltigkeit in einerbegrenzten Welt,hg. vom Deutschen Studienpreis, Wiesbaden2007 (Stephan Schmid) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

    Harry Lehmann :Die flchtige Wahrheit der Kunst. sthetik nachLuhmann,Mnchen 2006 (Markus Koller) . . . . . . . . . . . . . . . . . 248

    Dominik Perler :Zweifel und Gewissheit. Skeptische Debattenim Mittelalter,Frankfurt a. M. 2006 (Peter Schulthess) . . . . . . . . 252

    Adressen der Autoren / Adresses des auteurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258Redaktion / Rdaction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

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    Was ist Philosophie?

    Quest-ce que la philosophie ?

    Vorwort

    Die Philosophie heute ist durch eine Aufsplitterung gekennzeichnet, die soweit reicht, dass die einzelnen philosophischen Disziplinen sich hufig gnz-

    lich unabhngig voneinander weiter entwickeln. Entsprechend drngt sichdie Frage auf, ob die Philosophie als solche berhaupt noch ber so etwaswie einen spezifischen Gegenstandsbereich verfge. Zunehmend schwierigerwird auch die Abgrenzung der Philosophie zu den Einzelwissenschaften.Die Beziehungen zwischen der Philosophie und anderen Wissenszweigenwie beispielsweise den Neurowissenschaften, der Psychologie, den Lebens-wissenschaften oder den Gesellschaftswissenschaften genauer auszuloten, istdarum heute eine dringend notwendige Aufgabe. Die mglichen Antwortenwerden selbstverstndlich sehr verschieden ausfallen, je nach Ausrichtung,

    Herkunft und allgemeinem theoretischen Hintergrund des Autors oder derAutorin. Es stellt sich darum auch immer wieder die meta-philosophischeFrage, ob es zwischen den philosophischen Richtungen der heutigen Zeitberhaupt noch einen gemeinsamen Grund gebe, auf dem man sich treffenknne.

    Die Schweizerische Philosophische Gesellschaft ist an ihrem Symposion2006 in Neuchtel diesen Fragen nachgegangen. Die wichtigsten Beitrgedieses Symposions sind in diesen Band der Studia Philosophicaeingegan-

    gen. Ein zustzlich angeforderter Beitrag von Herbert Schndelbach erffnetden Band.

    Anton Hgli Curzio Chiesa

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    Philosophie

    in ihrem heutigen Selbstverstndnis

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    HERBERTSCHNDELBACH

    Was ist Philosophie?

    This question cannot be answered in a simple form, because philosophy is a histori-cal phenomenon that has experienced many changes. Hence the contribution beginsby sketching what was called Philosophy in the past in order to, against the back-ground of this history of the concept, sketch what happens in philosophy today. Thethesis is that philosophy essentially concerns attempts at conceptual orientation in

    the domain of our fundamentals of thought, recognition and action. In philosophicaldiscourse explicative, normative and descriptive aspects can be distinguished. Seenon the whole, philosophy is a conversation and that explains what may seem strangeabout it, namely its close connection to the history of philosophy, the high measureof forgetting and remembering, and the remarkable consistency of a few core themesover the centuries.

    Was ist ?-Fragen setzen voraus, man knne sie durch eine stabile Cha-rakterisierung, wenn nicht gar durch eine Definition beantworten. Bei Na-

    trlichem, dessen Wesen schon genau bestimmt ist wie Wasser, Granitoder Licht mag dies angehen, und wenn es sich um schon Definiertes han-delt wie Dynamit, Nylon oder Laser ist es ganz leicht. Die Philosophiehingegen ist kein natrliches, sondern ein kulturelles Phnomen mit langerhistorischer Vergangenheit und tiefgreifenden Wandlungen, so dass man, umsie wirklich zu erfassen, in Wahrheit eine lange Geschichte erzhlen msste.Im brigen hat niemand ein fr alle Mal die Philosophie zu definieren ver-mocht, obwohl es immer wieder versucht wurde, und somit existiert keine

    Definition der Philosophie, die man nur zu zitieren bruchte, um ihr gerechtzu werden. Im brigen ist wohl der an der Philosophie Interessierte nichtwirklich an einer solchen Definition interessiert, sondern in der Regel mchteer wissen, was jeweils Philosophie genannt wurde (1), und was in der Ge-genwart unter diesem Titel betrieben wird (2). Er mchte nicht dabei stehenbleiben, dass dem, wonach er fragt, auf der einen Seite eine fast sprachloseVerehrung als Knigin der Wissenschaften entgegengebracht wird, um an-dererseits sich von Managern erklren lassen zu mssen, ihre Philosophiesei: Mglichst hohe Gewinne bei mglichst geringen Kosten. Dieses ver-

    wirrende Bild, das die Philosophie bei den meisten Zeitgenossen abgibt,kann man nur historisch erklren.

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    1. Kleine Begriffsgeschichte von Philosophie

    Philosophaist ein griechisches Wort und wird meist mit Liebe zur Weis-heit bersetzt. Aber das hilft uns nicht weiter, denn wer ist heute schon anWeisheit interessiert? Dieses altvterliche Wort verdeckt, was ursprng-lich mit sophagemeint war ein Wissen und Knnen jeder Art, das sichvon den vertrauten Fertigkeiten des Alltags abhob und das wir besser mitBildung im umfassenden Sinn wiedergeben sollten. In diesem Sinn lsstThukydides den Perikles in einer Rede sagen: Wir lieben das Schne (philo-kalomen),ohne verschwenderisch zu sein, und wir streben nach Bildung(philosophomen),ohne zu verweichlichen.1Hier wird deutlich, dass schon

    im klassischen Griechenland die Bildung unter Rechtfertigungsdruck stand,denn sie schien ja den traditionellen sportlichen und militrischen Tugen-den des harten Mannes entgegenzustehen. Die erste terminologische Fest-legung der Philosophie erfolgte durch Platon. Seine Gegner waren die So-phisten, also Mnner, die mit dem Anspruch auftraten, ber eine bestimmtesophazu verfgen und sie gegen Geld verkaufen zu knnen. Dabei handeltees sich vor allem um die sophader Redekunst, die einem die Chance er-ffnen sollte, seine Angelegenheiten vor der Volksversammlung oder vorGericht besonders effektiv vertreten zu knnen. Von seinem Lehrer Sokrates

    hatte Platon gelernt, dass derjenige, der um die Grenzen seines Wissens wei,weiser ist als der vermeintliche Weise, der unkritisch auf seinem Wissenbesteht, und so lsst Platon den Sokrates sagen: Jemanden einen Weisen(sophs)zu nennen dnkt mich etwas Groes zu sein und nur Gott zu ge-bhren; aber einen Freund der Weisheit (philsophos)oder dergleichen etwasmchte ihm selbst angemessener zu sein und schicklicher.2

    Dieses sokratische Element wurde durch Aristoteles in den Hintergrundgedrngt, denn bei ihm istphilosophadasselbe wie Wissenschaft im Sinne

    des begrndeten und im Idealfall bewiesenen Wissens. Diese Gleichsetzungblieb in unserer Tradition bis ins frhe 19. Jahrhundert verbindlich; so lieIsaac Newton sein physikalisches Hauptwerk 1687 unter dem Titel Philoso-

    phiae naturalis principia mathematicaerscheinen, und im 18. Jahrhundertgab es in Frankreich sogar eine Philosophie der Fische. Dem wurde seitder frhen Neuzeit (Descartes) die Forderung nach vollstndiger Begrn-dung hinzugefgt, die nur in einem System mglich sei, wobei meist dieEuklidische Geometrie als methodisches Vorbild diente. So formuliert auch

    1 Thukydides:Der Peloponnesische Krieg,II, 40.2 Platon: Phaidros,278d.

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    Kant: Das System aller philosophischen Erkenntnis ist [] Philosophie,3und noch Hegel betont: Philosophie ist wesentlich System,4wobei sichbeide nur dadurch unterscheiden, dass Kant die Philosophie qua vollstndigeSystemwissenschaft nur als eine Idee versteht, die wahrscheinlich nie reali-siert werde, whrend Hegel fr sein eigenes System beansprucht, dass sie inihm realisiert sei. Erst nach Hegel und dem so genannten Zusammenbruchdes Deutschen Idealismus in den Jahren nach 1831 treten Philosophie undWissenschaft auseinander und erzeugen die bis in unsere Gegenwart andau-ernde Debatte, wie sich Philosophie und Wissenschaft zueinander verhaltenund ob die Philosophie berhaupt eine Wissenschaft sei.

    Dieser nachhaltige Traditionsbruch lsst sich aus dem systematischen

    Konflikt zwischen den statischen und den dynamischen Aspekten im her-kmmlichen Wissenschaftskonzept erklren, in dem das Dynamische letzt-lich die Oberhand gewann. Das sokratische Wissen um das eigene Nicht-wissen war nie ganz aus dem Bewusstsein der Philosophen verschwunden,und schon bei Aristoteles findet sich die Bestimmung der wissenschaftlichenPraxis als Forschung (ztesis);Forschung aber ist nur dort sinnvoll, wo manwei, dass es vieles gibt, was man noch nicht wei. Die Frage war dann, wiesich Wissenschaft als System und als Forschung im Philosophiebegriff mit-einander vereinigen lassen. Freilich htte auch Platon zugestanden, dass es

    der Forschung bedarf, denn auch ihm zufolge bentigt der Philosoph Erzie-hung und Bildung (paidea),wie er sie im Hhlengleichnis beschreibt,5aberer war gleichwohl davon berzeugt, dass wir eigentlich schon alles wissen,weil unsere Seelen in der Prexistenz im Reich der Ideen das Wahre bereitsgeschaut htten, und es deshalb nur bestimmter Anlsse bedrfe, um uns zurAnstrengung der Wiedererinnerung (anmnesis)zu bewegen. Fr Aristoteleshingegen stammt all unser Wissen aus der sinnlichen Erfahrung (empeira),und so wird er trotz seiner These, dass trotzdem begrndete Wissenschaft

    mglich sei, zum Stammvater der Philosophie, die man Empirismus nenntund wesentlich durch Francis Bacon und John Locke begrndet wurde. Siewandte sich vor allem gegen die neuzeitliche Wiederauflage der anmnesis-Lehre durch Descartes, der die neuzeitlich reformierte Wissenschaft aufdie eingeborenen Ideen (ideae innatae)begrnden wollte. Die Traditiondes Rationalismus (Malebranche, Spinoza, Leibniz, Christian Wolff u. a.)

    3 Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft,B 866.4 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Werke(Theorie Werkausgabe) (Frankfurt a. M.:

    1969ff.), Bd. 8, S. 59.5 Vgl. Platon: Politeia, 420ff.

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    folgte ihm darin, denn man war davon berzeugt, dass nur die Vorstellungenund Wahrheiten, die nicht aus der wechselhaften Erfahrung stammen, alsoa priorisind, dazu geeignet seien, Philosophie als Wissenschaft im strengsystematischen Sinn zu begrnden.

    Auch Kant hielt daran fest, aber er versuchte angesichts des mchtigenAnwachsens der empirischen Forschung im 18. Jahrhundert, durch das dieuns vertrauten Einzelwissenschaften entstanden, die traditionelle Einheitvon Philosophie und Wissenschaft durch einen salomonischen Schieds-spruch zu retten: Alle Philosophie [] ist entweder Erkenntnis aus rei-ner [erfahrungsunabhngiger H. S.] Vernunft, oder Vernunfterkenntnisaus empirischen Prinzipien. Die erstere heit reine, die zweite empirische

    Philosophie.6Aber dieses Angebot blieb ohne Folgen. Kant selbst hattegelehrt, dass die Empirie keine Prinzipien im strikten Wortsinn bereitzustel-len vermag, und deswegen knne es in diesem Bereich auch keine Vernunft-erkenntnis geben, die diesen Namen verdient. Die Empiriker aller Fcherhingegen verzichteten gern darauf, denn ihnen war weniger an systemati-scher Begrndung als an innovativer Forschung gelegen. Zudem hatten siefr die Bezeichnung ihres wissenschaftlichen Tuns als Philosophie keineVerwendung mehr und berlieen sie gern denjenigen Kollegen, die mein-ten, ber Erkenntnisse aus reiner, d. h. erfahrungsunabhngiger Vernunft zu

    verfgen. Empirische Philosophie erschien jetzt wie ein hlzernes Eisen,whrend die reine Philosophie, die im Deutschen Idealismus und denSystemen des heute vergessenen Sptidealismus des 19. Jahrhunderts nocheinmal auflebte, zunehmend ins wissenschaftliche Abseits geriet und sichimmer nachhaltiger fragen lassen musste, was sie denn berhaupt noch mitWissenschaft zu tun habe. Nimmt man hinzu, dass noch fr Kant die reinePhilosophie dasselbe war wie die Metaphysik, die seit eh und je als die ersteund hchste Form der Wissenschaft galt, so versteht man auch, warum das

    Wort Metaphysik inzwischen wenn nicht gerade zu einem Schimpfwort, sodoch zur Bezeichnung eines unklaren, intellektuell verdchtigen oder irratio-nalen Denkens degenerierte.

    So geriet die Philosophie in eine Identittskrise, aus der sie sich bis in un-sere Tage nicht wirklich zu befreien vermochte. Ihr wissenschaftshistorischerHintergrund ist der bergang von der traditionellen Systemwissenschaft aufder Grundlage sicherer Prinzipien zur modernen Forschungswissenschaft,die sich demgegenber durch Methoden und Standards definiert. Fr Letzt-begrndungen durch erfahrungsunabhngige Prinzipien war da kein Raum

    6 Kant: Kritik der reinen Vernunft,B 868.

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    mehr, und damit verlor die Philosophie auch die Definitionsmacht ber das,was Wissenschaft sei und was nicht. Diese Autoritt hatte sich vor allen an-deren Hegel noch einmal angemat, wobei seine herablassenden und manch-mal verchtlichen uerungen ber die jungen Forschungswissenschaftenschlielich nur zur allgemeinen Philosophieverachtung im 19. Jahrhundertbeitrugen. Was sollte nun aus der Philosophie werden? Es gab verschie-dene Auswege. Zunchst lag es nahe, nach Anna Freuds Modell der Identi-fikation mit dem Angreifer gnzlich zur Gegenseite berzulaufen und zubehaupten, dass die moderne Wissenschaft alle unsere Fragen beantwortenknne und wir deswegen die Philosophie nicht mehr bentigten. Wollte mangleichwohl Philosoph bleiben, konnte man sich dem neuen Wissenschafts-

    konzept fgen und auch in der Philosophie vom System zur Forschung ber-gehen. Dann konnte man versuchen, sich in ein komplementres Verhltniszur Forschungswissenschaft zu setzen, ohne mit ihr im Einzelnen zu konkur-rieren. Ferner war es auch mglich, fr die Philosophie einen aparten Gegen-standsbereich zu reklamieren, um sich in ihm als selbststndige Wissenschaftneu zu formieren. Schlielich bot sich an, den Anspruch der Wissenschaft-lichkeit berhaupt fallen zu lassen, den Anschluss an die Literatur zu suchen,um dort philosophisch eigene Wege zu gehen.

    Dass die Philosophie berflssig sei, weil wir doch die Wissenschaften

    htten, war um die Mitte des 19. Jahrhunderts die herrschende Meinung,und sie wurde seither in immer neuen Varianten vertreten. Natrlich ist auchdas eine philosophische berzeugung, die man Naturalismus nennt, und diesicher ist, dass naturwissenschaftliche Methoden ausreichen, um alle traditio-nellen philosophischen Fragen zu beantworten. So wird auch heute noch ver-treten, dass die Evolutionsbiologie genge, um smtliche Rtsel des mensch-lichen Erkennens und Handelns aufzulsen.7Lange Zeit galt auch empirischePsychologie als ein solches Wundermittel.8Seit Neuestem erleben wir die

    Neurophysiologie in dieser Rolle, die das, was auf ihren Bildschirmen be-obachtet wird, fr die definitive Klrung dessen hlt, was tatschlich beiunserem Erkennen und Handeln abluft; da ist es kein Wunder, dass nichtnur die Willensfreiheit, sondern auch die Ideen von Verantwortung, Lob undTadel auf der Strecke bleiben.

    7 Zu nennen sind hier die Entwrfe der Evolutionren Erkenntnistheorie undEthik.

    8 Vgl. die Schriften des Behavioristen Burrhus F. Skinner, vor allemJenseits vonFreiheit und Wrde(1971).

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    Die Naturalisten, die die Naturwissenschaften als die wahre Philosophieprsentieren, gehen in der Regel auch dazu ber, deren Ergebnisse zu ver-allgemeinern und sie zu einem neuen, modernen Weltbild zusammenzuf-gen.9Damit ahmen sie nur nach, was die Forschungswissenschaftler einstdem Systemidealismus vorgeworfen hatten, nmlich sich von der wirklichenForschungspraxis zu entfernen, sich ber die zu erheben, um sie dann vonoben zu bevormunden. Gleichwohl bedienen die naturalistischen Genera-listen bis heute ein verstndliches Bedrfnis, denn die einzelnen, sich immerweiter ausdifferenzierenden Wissenschaften schaffen eine stndig anwach-sende Unbersichtlichkeit, die immer erneut die Frage provoziert, wie dennalles miteinander zusammenhngt: Das Haus der Wissenschaft mit seinen

    zahllosen Rumen muss doch auch ein Dach haben, unter dem sich allesvereint findet. Mit dieser Dach-Metapher sieht sich die Philosophie bis heutekonfrontiert; von der Knigin der Wissenschaften wurde stndig erwar-tet, dass sie das vielgestaltige und disparate wissenschaftliche Wissen zu-sammenfhrt und in eine berschaubare Landkarte eintrgt. Es lohnte sich,einmal eine Geschichte der Bestseller zu schreiben, die seit ber 150 Jahrendiese Nachfrage zu befriedigen versprachen.

    Eine Variante dieser Strategie lsst sich anhand einer anderen Metapherbeschreiben der des Fundaments des Wissenschaftsgebudes. Seit Aristo-

    teles bis zu Kant verstand sich die Metaphysik als die Wissenschaft, die alsErste Philosophie die allgemeinsten Prinzipien und Bestimmungen allesSeienden darzustellen habe. Diese Aufgabe wird auch nach dem angeblichenEnde der Metaphysik noch fr aktuell gehalten, aber jetzt der wissenschaft-lichen Grundlagenforschung zugewiesen. Hatten die Philosophen noch ge-glaubt, genau sagen zu knnen, was Raum, Zeit oder Materie sei, so erwartetman dies jetzt nur noch von der Theoretischen Physik. Was Leben bedeutet,sagen uns die Molekularbiologen, und Geist die Hirnforscher, und wer

    sollte etwas dagegen sagen.Wollte man hingegen das Feld der Philosophie nicht einfach verlassenund zu den Wissenschaften berlaufen, musste man sich fragen, wie in die-sem Bereich die Ablsung der System- durch die Forschungswissenschaftmglich sei. Was also konnte Forschung in der Philosophie bedeuten? Manhat fter behauptet, die einzelnen Wissenschaften htten sich von der Philo-

    9 Einschlgig sind hier die Werke der von Marx und Engels als Vulgrmateria-listen bezeichneten Autoren Ludwig Bchner, Vogt und Moleschott, aber auchdas in zahlreichen Auflagen erschienene BuchDie Weltrtselvon Ernst Haeckel(1899).

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    sophie emanzipiert und ihr dadurch gar keinen eigenen Erkenntnisbereichbrig gelassen, aber dies beruht auf einer optischen Tuschung. In der Tatwaren bis ins 19. Jahrhundert alle freien, d. h. nicht auf Anwendung ausge-richteten Wissenschaften wie die Theologie, Jurisprudenz und Medizin ineiner vierten Fakultt vereint, die im Sinne des aristotelischenphilosopha-Begriffs als Philosophische Fakultt bezeichnet wurde. Was wir heute dieNaturwissenschaften nennen, gehrte bis in die 60er Jahre ebenfalls dazu,und noch heute gibt es in der Schweiz philosophisch-historische und philo-sophisch-naturwissenschaftliche Fakultten. Den Fachphilosophen im en-geren Sinn, die in der Regel Professuren fr Metaphysik innehatten, billigteman in dieser Fakultt aus Traditionsgrnden eine gewisse Fhrungsrolle zu,

    weil Metaphysik eben als erste, d. h. als Prinzipienwissenschaft galt, aberdamit war es nach dem bergang von der System- zur Forschungswissen-schaft zu Ende. Es bedurfte gar keiner Befreiung der Einzelwissenschaftenaus der Bevormundung der Philosophie als Universalwissenschaft, weildie Forscher die Philosophen nicht lnger brauchten, um ihre Forschungs-felder abzustecken oder ihre Wissenschaftlichkeit zu garantieren; das hattensie schon seit langem selber bernommen, und so berlie man die reinenPhilosophen gern sich selbst.

    Die Naturwissenschaftler hatten sich schon seit dem 17. Jahrhundertkaum noch um die Metaphysik gekmmert und ihre eigenen Methoden undStandards entwickelt; darum war es nur konsequent, dass sie in Deutschlandnach 1860 aus der Philosophischen Fakultt auszogen und eine eigene Fakul-tt grndeten. Im Rest der alten Philosophischen Fakultt aber hatten inzwi-schen die Historiker und Philologen die Fhrung bernommen. Was sie be-trieben, hatte seit Aristoteles und noch bei Kant als nicht wissenschaftsfhigim Sinn des Systemmodells gegolten, sondern nur als Kunst (tchne, ars).Nach dem bergang vom System zur Forschung aber bestand kein Grund

    mehr, diesen Knsten den Wissenschaftsstatus vorzuenthalten, wenn manihn methodologisch zu definieren vermochte, und genau dies geschah z. B. inder Form einer Hermeneutik oder Historik,10wo die lngst praktiziertenForschungs- und berprfungsregeln explizit formuliert wurden. Fr dieseneuen historisch-hermeneutischen Forschungsdisziplinen brgerte sich vorallem durch Wilhelm Dilthey die Bezeichnung Geisteswissenschaften ein,und damit erffnete sich fr die Philosophen die Chance, im Rahmen ihrer

    10 Grundlegend waren hier: Friedrich D. E. Schleiermacher:Hermeneutik und Kritik(1838), sowie Johann Gustav Droysen:Historik. Vorlesungen ber Enzyklopdieund Methodik der Geschichte(seit 1857).

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    angestammten Fakultt ebenfalls historisch-hermeneutisch zu forschen undso ihrer Identittskrise zu begegnen. Dabei entstand die paradoxe Situation,dass bis in die Zeit der Universittsreformen der 70er Jahre in Deutschlanddie Fachphilosophen in der Philosophischen Fakultt nur eine kleine Minder-heit unter lauter Historikern und Philologen waren, was die Neigung ver-strkte, es in Fragen der Wissenschaftlichkeit dieser starken Mehrheit nachMglichkeit nachzutun. So entstanden umfangreiche philosophiehistorischeWerke und unendlich verdienstvolle kritische Texteditionen der Klassiker derPhilosophie, ja man kann sagen, dass wir dieser historisch-hermeneutischenWende berhaupt erst das sachgeme und kritisch berprfbare Bild vonder philosophischen Vergangenheit verdanken, ohne das wissenschaftliches

    Philosophieren heute gar nicht denkbar wre. Zugleich aber hlt sich bisheute das Gercht, Philosophie sei Geisteswissenschaft, also nichts an-deres als historisch-hermeneutische Forschung; sie bestehe also darin zuerforschen und zu wissen, was Platon, Aristoteles oder Kant alles gemeintund gesagt haben. Noch bis vor wenigen Jahrzehnten war es an vielen Uni-versitten besser, bei Promotionen oder Habilitationen umfangreiche Werkeber historisches Denken zu prsentieren und dabei eigene Gedanken zuvermeiden, denn die konnten angesichts der groen philosophischen Ver-gangenheit ja nur unwissenschaftlich sein.11

    Tatschlich hatte sich aber die Philosophie der Neuzeit immer primr anden Naturwissenschaften orientiert, wobei sich Descartes und Kant selbstausdrcklich auch als Naturforscher verstanden hatten und in diesem BereichBedeutendes beitrugen. Die Geisteswissenschaften gab es ja erst spter, undals man nach der Mitte des 19. Jahrhunderts entdeckte, dass es gute Grndegibt, die Philosophie zu rehabilitieren, weil die einzelnen Wissenschaftennicht alle unsere Fragen beantworten knnen, war damit freilich nicht dieidealistische Systemphilosophie gemeint. Der Schlachtruf lautete Zurck

    zu Kant!, denn der hatte zwar die Metaphysik neu begrnden wollen, aberdiesem Vorhaben das Projekt einer Untersuchung und Kritik unseres Ver-nunftvermgens vorangeschickt, das in einer Zeit, in der Wissenschaftleroffensichtlich ungerechtfertigte Geltungsansprche erhoben und sogar damitbegannen, weltanschauliche Weltbilder anzubieten, unter dem Titel Erkennt-nistheorie wieder attraktiv wurde. Die Kantbewegung und der Neukantia-nismus, der bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderts an den Universitten

    11 Vgl. dazu meine Streitschrift:Morbus hermeneuticus. Thesen ber eine philo-sophische Krankheit,in H. S.: Vernunft und Geschichte. Vortrge und Abhand-lungen(Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1987) S. 279ff.

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    dominierte, propagierten in diesem Sinn ein komplementres Verhltnis vonPhilosophie und Wissenschaft, wobei wegen ihrer Nhe zum historischenKant primr die Mathematik und die Naturwissenschaften gemeint waren;erst Wilhelm Dilthey unternahm spter den analogen Versuch fr die Geistes-wissenschaften. Komplementr bedeutete dabei, dass sich die Philosophieals Wissenschaft nicht in inhaltliche Fragen der Forschungswissenschafteneinmischt, sondern sich auf die logischen, methodologischen und erkenntnis-theoretischen Probleme der Forschung als solcher konzentriert und ebendadurch zu den Forschungserfolgen beitrgt. So entstand das Konzept derPhilosophie als Wissenschaftstheorie, das durch die Zusammenfhrung mitder Tradition der sprachanalytischen Philosophie seit Russell und Wittgen-

    stein seit den 30er Jahren begann, die internationale philosophische Szeneweitgehend zu prgen. In Deutschland kam dieser Einfluss erst in den 60ernan, aber auch hier fhrte er dazu, dass pltzlich fast berall Professuren frWissenschaftstheorie eingerichtet wurden.

    Ein weiterer Ausweg aus der Identittskrise der Philosophie als Wis-senschaft wurde von den Philosophen beschritten, die versuchten, fr ihreForschungen einen selbststndigen und von den Wissenschaften nicht be-tretbaren Bereich abzustecken. Hier ist vor allem die Konzeption EdmundHusserls der Philosophie als Phnomenologie zu nennen, die seit dem Be-

    ginn des 20. Jahrhunderts deswegen besonders attraktiv war, weil sie inAbgrenzung von der logisch-methodologischen Selbstbegrenzung der Neu-kantianer ein neues sachhaltiges und dabei zugleich streng wissenschaft-liches Philosophieren zu ermglichen schien.12(Jetzt sollte nicht mehr nurdauernd das Messer gewetzt werden, jetzt wollte man endlich schlachten.)Diese Faszination hat bis heute angehalten, und wenn auch die phnomeno-logische Tradition inzwischen viele verschiedene Formen ausgebildet hatte man denke an so verschiedene Autoren wie Martin Heidegger, Max Scheler,

    Helmuth Plessner oder Merleau-Ponty in Frankreich so blieb sie doch einesehr bestndige Gegenbewegung gegen den Rckzug der Philosophie aufWissenschaftstheorie und Sprachanalyse. Sie schien vor allem das Rckgratder kontinentalen Traditionen abzugeben gegen die Kolonisierung durch dasAngelschsische. Die Frage war seit den Anfngen nur, wie man das ph-nomenologische Forschungsfeld gegenber dem der empirischen Wissen-schaft abgrenzen wollte. Husserl vertraute hier auf eine bloe Einstellungs-vernderung: eine epoch,d. h. die Enthaltung von allen Existenzbehaup-tungen sollte gengen, um das reine Wesen der Bewusstseinsphnomene

    12 Vgl. Edmund Husserl: Philosophie als strenge Wissenschaft(1911).

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    beschreibbar zu machen, ohne es damit der Psychologie zu berantworten.Diese Idee einer Wesensphnomenologie als strenge Wissenschaft erwiessich zwar als besonders fruchtbar, denn sie regte manche der bedeutendstenphilosophischen Werke des vergangenen Jahrhunderts an, aber ihr genauerwissenschaftstheoretischer Status blieb bis heute ungeklrt; wahrscheinlichwar genau diese Unklarheit die Ursache der Faszination, die bis heute vomphnomenologischen Zu den Sachen! ausgeht.

    Der Gretchenfrage Philosophie als Wissenschaft? konnte man schlie-lich auch dadurch ausweichen, dass man dieses Junktim aufkndigte, denWissenschaftsanspruch der Philosophie ausdrcklich preisgab, und zwarin der berzeugung, dass er dem Wesentlichen der Philosophie entgegen-

    stehe. Zu nennen ist hier vor allem Sren Kierkegaard, der im Zeichen desexistenziellen, das Individuum in seiner konkreten Lebenssituation betref-fenden Denkens der herkmmlichen wissenschaftlichen Philosophie vorallem Hegel eine den Menschen irrefhrende und sein Eigentliches ver-deckende Objektivierung vorwarf. Karl Jaspers Konzept der Philosophie alsExistenzerhellung, Martin Heideggers Verdikt Die Wissenschaft denktnicht und der gesamte Existenzialismus haben Kierkegaards Vorschlag an-genommen und weitergefhrt. Dieser Trend war zudem mchtig verstrktworden durch den Eindruck, dass die auf Logik und Wissenschaftstheorie

    sowie auf historisch-hermeneutische Forschung fixierte Universittsphilo-sophie nicht das Ganze sein knne, und so waren auch andere bedeutendephilosophische Ausbruchsversuche aus dem Wissenschaftsgefngnis zu ver-zeichnen, fr die Friedrich Nietzsche das Vorbild geliefert hatte. Die ge-samte Lebensphilosophie (Georg Simmel, Oswald Spengler, Ludwig Klages,u. v. a.) ist hier zu nennen, aber auch so starke und nur schwer irgendwoeinzuordnende Autoren wie Ernst Bloch, Walter Benjamin oder TheodorW. Adorno gehren dazu. Der franzsische Poststrukturalismus hat dann aus-

    drcklich dafr pldiert (Derrida), die traditionelle Unterscheidung zwischenPhilosophie und Literatur aufzuheben und das Ideal der Wissenschaftlichkeitauf sich beruhen zu lassen, und auch dies fand hier zu Lande Gehr, wasman anhand der zahlreichen Publikationen von Peter Sloterdijk besttigtfinden mag.

    2. Was Philosophen tun

    Nach dieser komplizierten Vorgeschichte bietet das, was heute Philoso-phie genannt wird, ein sehr komplexes Bild. Man kann das so ausdrcken:

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    Philosophie ist ein Plural. Was gegenwrtig unter diesem Titel betriebenwird, reicht von der kritischen Edition philosophischer Texte und deren In-terpretation ber die System-, Ideen- und Begriffsgeschichte sowie die viel-gestaltige Problemdiskussion bis hin zur Publizistik in den Feuilletons undkonkreten Lebensberatung in der Philosophischen Praxis. Das alles wirdPhilosophie genannt und hat seine eigene Berechtigung. In dieser Situa-tion sind Alleinvertretungsansprche unangebracht. Die Zeiten, in denen dieunentbehrlichen geisteswissenschaftlichen Anteile der Philosophie alsodas Historisch-hermeneutische als Mastab der Wissenschaftlichkeit vonPhilosophie berhaupt galten, sind vorbei. Umgekehrt lsst sich das reinkomplementre Verhltnis von Philosophie und Wissenschaft schon des-

    wegen nicht mehr aufrechterhalten, weil es da an klaren Trennlinien fehlt,13und deswegen knnen die herkmmliche Analytische Philosophie und dieWissenschaftstheorie, die lange Zeit die Wissenschaftlichkeit der Philoso-phie fr sich gepachtet zu haben schien, nicht den gesamten philosophischenProblembereich abdecken. Die Philosophen sind andererseits gut beraten,wenn sie sich nicht gegen die Einsichten der Wissenschaften abschotten undzudem Impulse aus der literarischen Produktion aufnehmen. Hinzu kommendie wachsenden Ansprche der ffentlichkeit an die Philosophie. Das philo-sophische Interesse hat in den letzten Jahrzehnten stndig zugenommen, vor

    allem in der Politikberatung, und hier sollten sich die Beteiligten daran erin-nern, dass die Philosophie niemals nur ein Orchideenfach war, fr das esheute vielfach gehalten wird. Seit ihren Anfngen war sie ein wesentlicherMotor der europischen Aufklrung und eine Produktivkraft der Leitideen,an denen sich unsere moderne Welt immer noch orientiert. Der ffentlich-keitsanspruch an die Philosophie ist freilich nicht problemlos, denn in un-serer wissenschaftlichen Zivilisation findet nur das Gehr, was hieb- undstichfest ist, also nach wissenschaftlichen Standards berprft werden kann.

    Deswegen mssen die Philosophen ihr Fach eben auch als Wissenschaftbetreiben und dort ihren speziellen und hufig schwierigen Untersuchungennachgehen, denn nur dann haben sie zu den drngenden Fragen der Zeitetwas zu sagen, was Gewicht und Bestand hat. Die ihrem demokratischenAuftrag verpflichtete Philosophie muss somit im Spannungsfeld zwischenWissenschaft und Aufklrung operieren, und wenn sie dies verlsst, drohtentweder die folgenlose Spezialisierung in einer intellektuellen Subkultur

    13 Vgl. Willard Van Orman Quine: Two dogmas of empiricism(1951), jetzt deutschin ders.: Von einem logischen Standpunkt, bers. von P. Bosch (Frankfurt a. M.,Berlin, Wien: Ullstein, 1979).

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    oder das unverbindliche Geschwtz, das den allgemeinen bullshit14nur nochvermehrt.

    Um den Kernbereich der Philosophie abzustecken, muss man versuchen,das Besondere und Eigene der Ttigkeit zu bestimmen, die man Philoso-phieren nennt. Es handelt sich dabei um eine besondere Art des Denkens,um Nachdenken, und so kann die Philosophie als eine Kultur der Nachdenk-lichkeit gelten. Nachdenken meint dabei, dass wir dabei unseren Gedankenhinterherdenken, sie zum Thema machen, um sie zu klren, zu ordnen undin grere Zusammenhnge einzuordnen. Das Nachdenken ist kein Privilegder Philosophen, denn es geschieht unendlich oft auch im Alltag, und ohneso etwas gbe es auch keine Wissenschaft. Philosophisch wird dieses Nach-

    denken, wo es grundstzlich wird, und wir mssen grundstzlich werden,wenn wir die bersicht verloren haben und bemerken, dass wir mit unse-ren bisherigen Denkweisen in eine Sackgasse geraten sind. In diesem Sinnsagt Ludwig Wittgenstein: Ein philosophisches Problem hat die Form: Ichkenne mich nicht aus.15Hier mag man einwenden, die Konfusion knnedoch nicht der einzige Anlass fr das Philosophieren sein, hatte es nichtPlaton und mit dem Staunen (thaumzein)beginnen lassen und Descartesund seine Nachfolger mit dem Zweifel? Platon selbst beschreibt das Staunennicht als bloes sthetisches Fasziniertsein, sondern als einen Zustand des

    Schwindels, ja der schmerzhaften Irritation,16und die cartesianische Zwei-felsmethode, die auch Kant befolgt, ist ja auch nichts anderes als eine Ant-wort auf die Erfahrung, dass die Situation der Philosophie ausweglos ist,wenn man so weiter macht wie bisher. Was somit das Philosophieren aufden Weg bringt, sind unabweisbare gedankliche Orientierungsbedrfnisse,die sich im Bereich des Nachdenkens ber unsere Gedanken bemerkbar ma-chen und uns ntigen, dieses Nachdenken mit anderen Mitteln und mit ver-schrften Anforderungen fortzusetzen. Somit kann man das Philosophieren

    verstehen als den Versuch gedanklicher Orientierung im Bereich der Grund-stze, die unsere gesamte Lebenspraxis bestimmen, also unseres Denkens,Erkennens und Handelns.

    Man mag einwenden, diese Bestimmung des Philosophierens als Nach-denken ber unsere Gedanken sei zu eng, und wo bleibe die Wirklichkeit.Dazu ist zu sagen, dass es die Aufgabe der Wissenschaften ist, sich direkt der

    14 Der Ausdruck von Harry G. Frankfurt als Titel seines Buches (Frankfurt a. M.:Suhrkamp, 2006).

    15 Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, 123.16 Vgl. Platon: Thetet,155c undMenon,80a.

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    Wirklichkeit zuzuwenden, und dass es wohl unmglich ist, einen Realitts-bereich auszumachen, den man der Philosophie als ihr propriumzuordnenknnte. Die Texte und Ideen der Vergangenheit knnen es doch nicht sein,denn dann wre Philosophie nur eine Art von Literatur- und Geschichts-wissenschaft, und die Phnomene der Phnomenologen sind ein ziemlichunsicheres Feld, das sich, wie deren Verfechter selbst zugeben mssen, nurber die gedankliche Zuwendung zu schon Gedachtem berhaupt erschlie-en lsst. Der Wirklichkeitsbezug der so bestimmten Philosophie ist frei-lich nicht ausgeschlossen, aber er ist eben nur als indirekter mglich berden Umweg ber unsere Gedanken ber die Wirklichkeit. Zudem waren dieVersuche grundstzlicher gedanklicher Orientierung niemals das alleinige

    Privileg derer, die man als Philosophen bezeichnet; es geschah und geschiehtimmer wieder gerade in den Wissenschaften selbst. Die folgenreichstenNeuorientierungen unseres Denkens erfolgten in der Moderne gerade nichtdurch Philosophieprofessoren, sondern durch bedeutende Wissenschaftlerwie Charles Darwin, Sigmund Freud oder Albert Einstein, und jede Philo-sophiegeschichte wre unvollstndig, die diese gedanklichen Leistungennicht bercksichtigte.

    Wenn man somit einrumt, dass das so beschriebene Philosophierennicht nur in philosophischen Seminaren, sondern auch und gerade in den

    Wissenschaften erfolgt und man msste hier auch bedeutende Literatenhinzunehmen , dann hat man zwar die Philosophie aus der babylonischenGefangenschaft der Geisteswissenschaften befreit, aber muss sich sofort dieFrage gefallen lassen, warum sie dann, wenn sie ohnehin berall praktiziertwerden kann, als selbststndiges Universittsfach existieren muss. Dafrgibt es nur eine pragmatische Rechtfertigung. In der Regel haben die Wis-senschaftler keine Zeit fr das grundstzliche Nachdenken, und deswegenist es vernnftig, in der Wissenschaftslandschaft bestimmte Inseln auszu-

    weisen, auf denen dies auf wissenschaftlichem Niveau mglich bleibt. DerVorteil dieser Regelung ist, dass die Nachdenklichen aus allen Richtungendiese Insel ansteuern knnen, also nicht nur die Naturwissenschaftler, son-dern auch die Vertreter aller brigen Disziplinen, um hier die kompetentenGesprchspartner bei ihren Orientierungsversuchen zu finden. Das beinhaltetumgekehrt die Verpflichtung der Philosophie als Fach, sich nicht nur mitihren eigenen und hufig selbst produzierten Problemen zu beschftigen,sondern fr das offen zu sein, was an nachdenklichen Fragen von auenan sie herangetragen wird. Diese knnen die Philosophen sicher nur selten

    allein beantworten, und so mssen sie sich hufig erst kundig machen, umsie wirklich zu verstehen; sie erfllen aber ihre Aufgabe, wenn sie das ge-

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    meinsame, interdisziplinre Philosophen zu ermglichen versuchen und dazuaus eigener Fachkompetenz etwas beitragen.

    Die Frage ist dann: Welche Mglichkeiten haben die Philosophen denn,zur Lsung unserer grundstzlichen Orientierungsprobleme beizutragen?Wie kann man das philosophische Nachdenken genauer fassen? Beschrei-ben lsst es sich nur anhand der sprachlichen Praxis, d. h. der Form desDiskurses, den die Philosophierenden fhren, denn in ihre Gehirne knnenwir nicht hineinschauen. Die Philosophie Platons war bestimmt von demErschrecken, was der Fall wre, wenn die Sophisten mit der These Rechthtten, es gbe keine Wahrheit, sondern blo Meinungen, und was die Men-schen fr gerecht hielten, sei immer nur eine Machtfrage. Diese Situation

    eines unertrglichen thaumzeinbrachte das auf den Weg, was wir bis heuteals die grundlegenden Fragestellungen der theoretischen und praktischenPhilosophie ansehen: Was ist Wahrheit? Was ist Gerechtigkeit? AkzeptableAntworten knnen wir nur dann geben, wenn wir zunchst fragen, was dieBegriffe Wahrheit und Gerechtigkeit bedeuten, und das gelingt nur, wennwir zunchst untersuchen, wie die jeweiligen Begriffswrter gebraucht wer-den. Dass sich Begriffe nicht unabhngig von ihrer sprachlichen Verwendunganalysieren lassen, hat uns die sprachanalytische Philosophie gelehrt, unddaraus folgt, dass die Begriffe nichts anderes sind als die Regeln des frkorrekt gehaltenen Gebrauchs der Begriffswrter. Diese Praxis der Begriffs-klrung schliet selbstverstndlich mit ein, dass man nicht bei der bloenKonstatierung des jeweils Gemeinten stehen bleibt, sondern auch zu klrenversucht, ob jener Gebrauch angemessen ist oder nicht doch zu korrigierenwre. Man kann dies unter dem Stichwort explikativer Diskursder Philo-sophie zusammenfassen, und es gibt gute Grnde, ihm mit Wittgenstein einenmethodischen Primat in der wissenschaftlichen Praxis des Philosophierenszuzuweisen.

    Mit hinreichend geklrten und korrigierten Begriffen wie Wahrheit oderGerechtigkeit kann man sich aber nicht begngen, denn wir wollen sieauch anwenden, wenn es strittig ist, ob eine Behauptung wahr oder eine Ent-scheidung gerecht ist. Jetzt geht es nicht mehr blo um die Bedeutung vonwahr und gerecht, sondern um Kriterien des Wahr- und Gerechtseins, unddies ntigt uns, in den normativen Diskurs der Philosophie berzuwechseln.Hier geht es um Geltungsfragen, und sie waren es, die die neuzeitliche Phi-losophie mit dem Zweifel beginnen und sich bei Kant als Kritische Philoso-phie voll entfalten lieen. Das bedeutet nicht, dass Explikatives dabei keine

    Rolle spielte, aber es stand nicht im Zentrum der Untersuchungen, weil manin vielen Fllen der traditionellen Begrifflichkeit vertraute. Erst als dieses

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    Vertrauen schwand, trat der explikative Diskurs als grundlegende Aufgabedes Philosophierens deutlich hervor, und sein Medium ist seitdem vor allemanderen die methodische Sprachanalyse, die man mit Wittgenstein auch alsPhilosophische Grammatik bezeichnen kann.

    Nicht nur Husserl und die Phnomenologen, sondern auch der spteWittgenstein haben darauf bestanden, dass es auch deskriptive Aufgaben derPhilosophie gibt, also auch ein deskriptiver Diskursunentbehrlich sei. BeiHusserl selbst ist unklar, wie buchstblich sein Bestehen auf der Methode desBeschreibens zu verstehen ist; hufig spricht er in einem Atemzug auch vonAnalyse, was nahelegt, dieses Beschreiben als Metapher fr die Begriffs-und Gedankenexplikation zu verstehen, und tatschlich geschieht in seinen

    Werken hauptschlich genau dies. Beim spten Wittgenstein der Philoso-phischen Untersuchungenist auch vom Beschreiben unserer tatschlichenRedepraxis die Rede, womit sich die Philosophen zu begngen htten, aberdamit ist keineswegs empirische Linguistik gemeint, sondern die gedank-liche Vergegenwrtigung der Regeln, denen wir in unseren Sprachspielenjeweils schon folgen. Husserl und Wittgenstein verbindet trotz aller Unter-schiede, dass sie das Beschreiben betonen, um alle voreiligen Erklrungs-versuche aus der Philosophie auszuschlieen. Zunchst soll klar werden,was tatschlich in unserem Denken und Sprechen geschieht, ehe man dazu

    bergeht, zu fragen, warum es geschieht und mit welchem Recht. Ob esim gedanklichen Bereich wirklich beschreibbare Sachverhalte gibt, wie diePhnomenologen behaupten, ist sicher umstritten; gleichwohl hat der de-skriptive Diskurs in der Philosophie einen unbestreitbaren Platz, denn wirknnen die explikativen und normativen Probleme nicht angehen, ohne eineMenge ber die Wirklichkeit zu wissen und dies uns beim Philosophierenzu vergegenwrtigen.

    Die Unterscheidung zwischen dem explikativen, dem normativen und

    dem deskriptiven Diskurs der Philosophie hat den Vorteil, dass man mitihrer Hilfe innerphilosophische Konfusionen und methodische Fehler iden-tifizieren und bearbeiten kann. Die gehen hufig auf Diskursvermengungenzurck. Wer glaubt, ein befriedigend geklrter Wahrheitsbegriff tauge des-wegen schon als Wahrheitskriterium, erzeugt einen Kurzschluss zwischendem explikativen und dem normativen Diskurs und geht dadurch in die Irre.Kant schreibt dazu: Die alte und berhmte Frage, womit man die Logikerin die Enge zu treiben vermeinte, ist diese: Was ist Wahrheit?Die Na-menserklrung der Wahrheit, dass sie nmlich die bereinstimmung der Er-

    kenntnis mit ihrem Gegenstand sei, wird hier geschenkt und vorausgesetzt;man verlangt aber zu wissen, welches das allgemeine und sichere Kriterium

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    der Wahrheit einer jeden Erkenntnis sei.17Kant zeigt dann, dass diese be-rhmte Wahrheitsdefinition als Wahrheitskriterium gerade nicht geeignet ist,weil dies auf einen Zirkel fhrt, denn man muss ja den Gegenstand schonkennen, um entscheiden zu knnen, ob unsere Erkenntnis von ihm damitbereinstimmt; also ist bei der Anwendung eines solchen Kriteriums, dieber wahr oder falsch entscheiden soll, Wahrheit schon vorausgesetzt. Wer meint, es genge, etwas genau zu beschreiben, um daraus schlieen zuknnen, was zu tun sein, wechselt unmittelbar vom Deskriptiven ins Nor-mative ber und begeht den berhmten Naturalistischen Fehlschluss vonSein auf Sollen. Verbreitet ist auch die berzeugung, man msse, um dieBedeutung von Wrtern zu klren, nur angeben, worauf sie sich beziehen,

    d. h. die Bedeutung von Baum sei der Baum, und da brauche man dochnur hinzusehen. Wo es aber nichts zu sehen gibt wie bei nicht mehr existie-renden oder abstrakten Gegenstnden hilft das nicht weiter, denn niemandkann einfach auf Napoleon oder den Kapitalismus hinweisen. Die Erklrungder Wortbedeutung durch Hinweis funktioniert also nur in vergleichsweisewenigen Fllen. Das Hinweisen aber ist in der Regel mit Beschreibungenverbunden, und so kann man jene simple Bedeutungstheorie auf die Ver-mengung des explikativen mit dem deskriptiven Diskurs zurckfhren. Infast allen Fllen sind wir bei Begriffsexplikationen darauf angewiesen, die

    Regeln anzugeben, denen wir beim Gebrauch der Begriffswrter folgen,und so sagt Wittgenstein: Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauchin der Sprache.18

    Was Beobachter dessen, was Philosophen tun, nachhaltig zu irritierenvermag, sind vor allem drei Besonderheiten: die enge Bindung an die Phi-losophiegeschichte, das ungewhnlich hohe Ausma des Vergessens undWiedererinnerns und die bemerkenswerte Konstanz einiger weniger The-men. Beim Physikstudium kann man die Geschichte der Physik auf sich

    beruhen lassen, aber in der Philosophie kommt man ohne deren Geschichtenicht aus. Bei den meisten Wissenschaften ist es selbstverstndlich, dassdas neue Wissen auf dem lteren aufbaut, und so sagte Carl Friedrich vonWeizscker einmal, wer nicht wisse, was die Wissenschaft schon wei, knnesie auch nicht voranbringen. Die Philosophie bietet da ein gnzlich anderesBild. Natrlich kommt man dabei ohne ein bestimmtes Grundwissen nichtaus, aber von einem kontinuierlichen Wissensfortschritt kann hier einfachnicht die Rede sein. Vor allem das 20. Jahrhundert zeigt, wie im Diskurs der

    17 Kant: Kritik der reinen Vernunft,B 82.18 Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, 43.

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    Philosophie immer wieder neue, lebhafte Debatten aufkommen, abebben unddann wieder vergessen werden, wodurch sie nur noch dafr gut sind, dassjemand darber promoviert. Als Beispiele knnen gelten: Der Werturteils-streit, die Kontroverse zwischen Martin Heidegger und Ernst Cassirer, derPositivismusstreit, die Debatten ber die methodologisch definierte Einheits-wissenschaft und die wissenschaftlichen Erklrungen, die Aufregungen umdie radikale Vernunftkritik; der von Neurophysiologen angezettelte Kampfum die Willensfreiheit wird auch bald in diese Reihe gehren. Was diewenigen hartnckigen Themen betrifft, so kann man den Philosophen mitgutem Grund vorwerfen: Seit bald 2500 Jahren wollt ihr herausbekommen,was Wahrheit oder Gerechtigkeit seien; ihr seid immer noch dabei, habt also

    offenbar bisher immer noch nichts Haltbares vorzuweisen. So etwas gibt esin keiner anderen Wissenschaft.Die Philosophie kann sich hier nur durch den Hinweis rechtfertigen,

    dass sie ein Gesprch ist. Die gedankliche Orientierung im Bereich unserertheoretischen und praktischen Grundstze, die ihren Kern ausmacht, ist eineAufgabe, die die Selbstverstndigung unserer gesamten Kultur betrifft, unddie ist nur intersubjektiv lsbar. Das Philosophieren gert dadurch unver-meidlich zu einem vielstimmigen und hufig dissonanten Konzert, in demes unklug wre, diejenigen, die ihre Stimmen nicht mehr selbst erhebenknnen, einfach auszuschlieen. Das vergangene Denken unserer Traditionmuss darum hier notwendig auch zu Wort kommen, und damit dies mglichbleibt, brauchen wir die historisch-hermeneutische Forschung auch in derPhilosophie. Wie in allen Gesprchen wechseln auch in dem der Philo-sophie die konkreten Gesprchsanlsse, und daraus erklrt sich sie wandel-bare Aktualitt der philosophischen Gesprchsthemen. Hufig stehen hiererbitterte Kontroversen am Anfang, die sich aber meist unter dem Druck vonArgumenten und Gegenargumenten wechselseitige Relativierungen gefallen

    lassen mssen, um schlielich alle polemische Energie einzuben, denn dernchste Streitpunkt steht ja schon auf der Tagesordnung. Und warum diemerkwrdige Daueraktualitt philosophischer Themen? Tritt die Philosophienicht dauernd auf der Stelle? Gibt es hier gar keinen Fortschritt? Dazu ist zusagen, dass trotz allen kulturellen Wandels unsere grundstzlichen Orientie-rungsbedrfnisse sich auf die grundlegenden Situationen beziehen, die unserLeben bestimmen, und deswegen gibt es in Wahrheit gar nicht so viele ver-schiedene philosophische Probleme. Die Stoiker teilten die gesamte Philo-sophie ein in Logik, Physik und Ethik, und sie folgten dabei der Einsicht,

    dass es offenbar nur drei Basisbereiche unseres Weltumgangs gibt der desrationalen, theoretischen und des praktischen Weltverhaltens. Wenn sich hier

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    durch kulturellen Wandel Grundlegendes ndert, entstehen Orientierungs-bedrfnisse, die sich eben nur im erneuten Rekurs auf die Grundstze unse-res Denkens, Erkennens und Handelns bedienen lassen, und deswegen mussdie Philosophie unter vernderten Bedingungen immer wieder auf ihre altenThemen zurckkommen.19

    19 Um stndige Eigenzitate zu vermeiden, nenne ich die Titel der Arbeiten, in denenich ausfhrlicher auf das Thema Was ist Philosophie? eingegangen bin:Re-flexion und Diskurs. Fragen einer Logik der Philosophie (Frankfurt a. M.: Suhr-kamp, 1977), zum Diskurs der Philosophie insbes. S. 135ff.; Philosophie inDeutschland 1831-1933 (Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983), zur Situation derPhilosophie im 19. Jahrhundert insbes. S. 118ff.; Art. Philosophie,in Philo-sophie. Ein Grundkurs, hg. von H. S., Ekkehard Martens (Reinbek: Rowohlt TB,72004) S. 37ff.; Das Gesprch der Philosophie. Berliner Abschiedsvorlesung(2002), jetzt in H. S.:Analytische und postanalytische Philosophie. Vortrge undAbhandlungen 4(Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2004) S. 334ff.

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    GERHARDSEEL

    Wozu Philosophie?

    Since the end of the 18th century philosophy has been going through an identity crisiswhich threatens its very existence. This crisis is due to the emancipation of the em-pirical sciences in the course of which philosophy has lost nearly all its traditionalobjects. We first examine four traditional ways to overcome this crisis: (1.1) philoso-phy as the all embracing universal science, (1.2) philosophy as a priori knowledge,

    (1.3) philosophy as common sense, (1.4) philosophy as small talk. We show that theseconceptions have grave shortcomings and therefore are not convincing. Instead wepropose the following conception of philosophy: philosophy has to put and to answerradical questions, questions that spring from the conditions of human existence itself.We finally justify this conception by a reflection on the history of philosophy and ananalysis of the deep motivation of its founder, Socrates. This leads us to the insightthat to engage in moral philosophy is itself a moral duty.

    Der Titel meines Beitrags htte etwas altertmlicher formuliert eigentlichlauten mssen: Was ist und zu welchem Ende treiben wir Philosophie? Dennman kann den Zweck einer Sache schwerlich bestimmen, ohne zu wissen, umwelche Sache es sich genau handelt. Also sollte der Frage nach dem Zweckder Philosophie die Frage nach ihrem Wesen voraufgehen. Andererseits wis-sen wir seit Aristoteles, dass man das Wesen einer Sache am besten erfasst,wenn man ihren Zweck angibt. Es ergibt sich also, dass die Antworten aufdie beiden Fragen einander wechselseitig implizieren. Es gengt also nach

    dem Zweck der Philosophie zu fragen. Die Frage nach dem Wesen der Philo-sophie stellt sich dann von selbst. Aus methodischen Grnden will ich abermit der letzteren beginnen.

    1. Die Philosophie in der Krise

    Wer zur Beantwortung unserer Frage in einem einschlgigen Lexikonnachschlgt, wird vielleicht finden, Philosophie sei wrtlich bersetzt

    Liebe zur Weisheit. Diese Beschreibung ist bereits das Eingestndnis einerKrise. Die ersten Philosophen waren sich dessen bewusst, dass sie ber

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    Weisheit nicht verfgten, dass sie allenfalls beanspruchen konnten, unter-wegs zur Weisheit zu sein. So scheint es von Anfang an ein Wesenszug derabendlndischen Philosophie zu sein, etwas Vorlufiges zu sein, und dasEndgltige, dem sie vorluft, ist seltsam unbestimmt: Weisheit, aber washeit das? Wie kann man wissen, was das Endgltige der vorlufigen Philo-sophie ist, wenn man es noch nicht oder vielleicht nie besitzt? Ja, es magsogar sein, dass das Endgltige, wohin die Philosophie unterwegs ist, diePhilosophie selbst ist. Es wre dann das Wesen der Philosophie, sich ihresWesens nie sicher sein zu knnen, ihr Wesen in Frage zu stellen, ihrem Wesenhinterherzulaufen.

    Ich mache diese Vorbemerkungen nicht, um ein postmodernes Verwirr-

    spiel zu treiben, sondern um klarzumachen, auf welch schwieriges Ter-rain man sich begibt, wenn man ernsthaft die Frage nach dem Wesen derPhilosophie stellt. Geht es nach Nietzsche, so ist diese Frage von vorne-herein unbeantwortbar. Er sagt in der Genealogie der Moral (2.13): De-finierbar ist nur das, was keine Geschichte hat und wer wrde leugnen,dass die Philosophie eine Geschichte hat. Aber man kann Nietzsche ent-gegen halten, dass nur das, was definierbar oder zumindest identifizierbarist, eine Geschichte haben kann. Wie kann man eine Geschichte erzhlen,wenn man nicht wei, wessen Geschichte es ist? Wir sind also nach so viel

    Umschweife auf unsere Frage zurckverwiesen, aber sie ist nicht leichtergeworden.

    Sie ist vor allem deshalb so schwer zu beantworten, weil mit der Identittder Philosophie ihre Existenz in Frage steht. Dies wird besonders deutlich,wenn man die gegenwrtige Situation der Philosophie betrachtet. In der Tatstehen wir heute in einer gravierenden Autonomie- und Existenzkrise unsererDisziplin. Diese wird auf bizarre Weise von einer nie da gewesenen Popu-laritt verdeckt. Es ist so als wrde ein Todkranker noch einmal seine Kraft

    und Ausstrahlung wieder finden. Da gibt es in allen greren Stdten Philo-sophie-Cafs. Aber was dort ausgeschenkt wird, ist meist nur kalter Kaffee.Die groen Fernsehanstalten haben spezielle philosophische Sendereihenwie das Philosophische Quartett im ZDF und die Sternstunde Philosophiein DRS. In ersterer kann man Herrn Sloterdijk sich ber die Bedeutung derGlocken im Mittelalter weitschweifig verbreiten hren. Letztere hat ihre ei-gene Sternstunde dann, wenn sich Bundesrat Deiss ber die Zukunft derSchweizer Wirtschaft auslsst. Wir erleben eine nie dagewesene Schwemmephilosophischer Literatur. Aber sie ist das Produkt der unsinnigen Publish

    or Perish-Politik der akademischen Institutionen und kaut meist nur lngstBekanntes wieder. Alles dies sind eher Krankheitssymptome als Zeichen

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    einer wieder gewonnenen Gesundheit. Aber vielleicht tusche ich mich mitdieser allzu negativen Diagnose. Ich sollte sie begrnden.

    Woran kann man erkennen, dass sich die Philosophie heute in einerAutonomie- und Existenzkrise befindet? Es gibt zwei Aspekte, welche dieAutonomie und damit die Existenz einer Disziplin garantieren: 1. Die Diszi-plin hat einen besonderen Gegenstand, den sie mit keiner anderen Disziplinteilt. 2. Die Disziplin hat eine spezifische Methode zur Erforschung der Ge-genstnde. Leider ist es so, dass die Philosophie in beiden Hinsichten ihreEigenstndigkeit zu verlieren droht.

    1. Bereits in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts hat Wilhelm Windel-band diagnostiziert, dass die Philosophie dabei war, ihre Gegenstnde an die

    aufkommenden Einzelwissenschaften zu verlieren.1Er verglich die Philo-sophie mit Knig Lear, der alles seinen Kindern vererbt hat und sich am Endeals Bettler auf der Strae wieder fand.2In der Tat war die Philosophie zur Zeitdes Aristoteles die alle Gegenstnde erforschende universelle Wissenschaft.Aber im Laufe der Philosophiegeschichte haben sich neue Disziplinen vonihr emanzipiert und sie hat ihre Gegenstnde an diese neuen Disziplinenverloren. Das waren im Mittelalter die Theologie, die Rechtswissenschaftenund die Medizin, welche den Status eigenstndiger Fakultten hatten. DiePhilosophie war in die Artisten-Fakultt verbannt, der nur eine propdeuti-

    sche Rolle zukam. In der Neuzeit emanzipierten sich dann zuerst die Na-turwissenschaften und dann die konomie, die Soziologie und zuletzt diePsychologie von der Philosophie. Um es in einem anderen Bilde zu sagen,die Philosophie ist die Mutter der Wissenschaften, aber ihre Tchter habensich eine nach der anderen von der Mutter emanzipiert und deren Besitzunter sich aufgeteilt. So bleibt der Philosophie heute eigentlich kein eigenerGegenstand mehr. Es ist so, als habe die Philosophie ihre Existenzberech-tigung ihrem Charakter als Wissenschaft verdankt. Aber das tragische Re-

    sultat ihrer Geschichte scheint zu sein, dass sie diesen Charakter und damitihre Existenzberechtigung verloren hat. Ihre Vorlufigkeit, von der ich obengesprochen habe, bestnde dann darin, das Entstehen der Wissenschaftenvorzubereiten, und das Endgltige, auf das hin die Philosophie berschrittenwerden musste, wren dann die Wissenschaften.

    Man hat dieser Konsequenz dadurch zu entgehen versucht, dass man derPhilosophie die Rolle einer alles Wissen vereinigenden Universaldisziplin

    1 Wilhelm Windelband: Prludien: Aufstze und Reden zur Philosophie und ihrerGeschichte(Tbingen: Mohr, 7/81921), Bd. 1, S. 1-54.

    2 Ibid. S. 19.

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    zudachte: Die Philosophie soll die Ergebnisse der Einzelwissenschaften zueinem umfassenden Weltbild vereinigen und so fr die Konsistenz und denZusammenhang dieser Ergebnisse sorgen. Auf diese Rolle wrde sich dannihre Existenzberechtigung grnden. Aber auch dieser Ausweg ist nicht gang-bar. Hugo Dingler hat ihn einmal ironisch mit dem Diktum kommentiert, derPhilosophie bliebe dann nur brig, die Fortschritte der Wissenschaften mithehren Worten zu begleiten. In der Tat wre die Existenz der Philosophieparasitr, wrde man sie auf diese Weise konzipieren.

    2. Der einzige gangbare Ausweg aus dieser prekren Situation scheintder zu sein, den schon Wilhelm Windelband vorschlug: die Philosophiemuss ihre Eigenstndigkeit auf eine eigene Fragestellung oder auf eine ei-

    gene Methode grnden. Aber bei nherer Analyse zeigt sich, dass auch die-ser Vorschlag nicht ohne weiteres die Eigenstndigkeit der Philosophie zusichern vermag. Denn auch die Fragestellungen und Methoden, die manim Laufe der Philosophiegeschichte als eigentmlich philosophische Me-thoden ausgab, erweisen sich bei nherem Hinsehen als Methoden andererDisziplinen. Grob vereinfacht lassen sich folgende vier Methodenkonzepteunterscheiden:

    1.1 Die Philosophie ist eine Wissenschaft a priori

    Am Ende des Mittelalters und zu Beginn der Neuzeit wurde die Philosophievon den Rationalisten als Wissenschaft a priori nach dem Vorbild der Ma-thematik verstanden. Diese Konzeption wird bei Spinoza am deutlichstendurch seinen Anspruch ausgedrckt, die Metaphysik more geometrico zuentwickeln. Dasselbe Konzept liegt in der so genannten Schulphilosophievor. In der Tat war die traditionelle Metaphysik berzeugt, die Unsterblich-

    keit der Seele, die Kontingenz der Welt und die Existenz Gottes a priori be-weisen zu knnen. Gem dieser Konzeption wird die Philosophie auf eineArt Mathematik reduziert.

    Bekanntlich hat Kant gegen dieses Konzept eingewandt, dass die Philo-sophie im Unterschied zur Mathematik ihre Gegenstnde nicht konstru-iert. Diese sind ihr vielmehr auf eine noch aufzuklrende Weise vorge-geben. Weiter hat Kant gezeigt, dass die Metaphysik, sofern sie in Anspruchnimmt, ber die Dinge an sich wissenschaftliche Aussagen zu machen, sichin unauflsliche Widersprche verwickelt oder ihr Beweisziel einfach nicht

    erreicht. Die Kantische Kritik hat definitiv diese methodische Konzeptionder Philosophie obsolet gemacht.

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    1.2 Die Philosophie ist eine empirische Wissenschaft

    Schon zur Zeit des Rationalismus finden wir im vor allem in Englandentwickelten Empirismus eine alternative Konzeption der Philosophie,welche diese als eine empirische Wissenschaft begreift. Im 20. Jahrhundertwar es vor allem Quine, der einer solchen Auffassung von Philosophie dasWort geredet hat. Dies hngt mit Quines Holismus zusammen, gem wel-chem die Bedeutung eines wissenschaftlichen Satzes durch die Semantik derTheorie, zu der er gehrt, bestimmt wird und konsequenterweise eine em-pirische Falsifikation immer die Theorie als ganze und nicht den einzelnenwissenschaftlichen Satz trifft. Die Stze der Logik und der Philosophie (als

    allgemeinste Grundprinzipien einer Wissenschaft) sind dem gem eben-falls Teil der ganzen Wissenschaft und sind als solche ebenfalls empirischfalsifizierbar.

    Diese Konzeption verkennt vllig, dass die Logik und die Wissenschafts-theorie sich als Metatheorien auf einer anderen Ebene als die empirischenWissenschaften bewegen und daher ganz anderen Geltungskriterien unter-liegen. Quine selbst kommt in seinem Sptwerk (The Pursuit of Truth)dieserEinsicht nahe. Denn er erkennt (Prinzip der empirischen Indeterminiertheit),dass eine Vielheit einander ausschlieender Theorien mit der empirischen

    Basis kompatibel sein kann. Die Entscheidung zwischen diesen Theorienkann dann nicht mehr aufgrund von Experimenten getroffen werden, manmuss dazu vielmehr Kriterien wie Eleganz, Einfachheit etc. verwenden. Diesgilt natrlich a fortiori von den Stzen der Philosophie, welche ja nachQuine die oberste Ebene jeder Theorie bilden.

    1.3. Die Philosophie ist die theoretische Ausformulierung

    und Verlngerung des gesunden Menschenverstandes

    Angesichts der Schwierigkeiten, mit welchen die beiden ersten Konzep-tionen zu kmpfen haben, hat sich schon frh eine dritte methodische Kon-zeption der Philosophie etabliert, die common-sense-Philosophie und derPragmatismus. Schon zu Zeiten Kants gibt es bei Thomas Reid denVersuch, dem Humeschen Skeptizismus mit common-sense-Argumentenzu begegnen. Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts nimmtder Pragmatismus (James, Peirce, Dewey) diese Konzeption wieder auf. Das

    Grundprinzip dieser Richtung ist das folgende: Die Geltung wissenschaft-licher, ethischer oder rechtlicher Stze wird letztlich dadurch begrndet, dass

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    sie eine erfolgreiche Praxis ermglichen. Whrend die beiden ersten Kon-zeptionen von einem Primat der Theorie ausgingen, geht diese dritte voneinem Primat der Praxis aus. Hier wird Philosophie also auf den gesundenMenschenverstand reduziert.

    Auch diese Konzeption verfehlt nach meiner Meinung das Eigen-tmliche der Philosophie. Denn Philosophie hat nichts mit dem gesundenMenschenverstand zu tun. Jeder hat wohl schon einmal gezweifelt, ob er vorVerlassen der Wohnung den Gashahn geschlossen hat, das ist ein Zweifel desgesunden Menschenverstands, aber wer zweifelt schon an der Realitt derAuenwelt, seines eigenen Krpers oder an der Geltung der Logik? Jederhat schon einmal in Zweifel gezogen, dass es in der konkreten Situation,

    in der er sich befindet, verboten ist, zu lgen. Aber wer bezweifelt schon,dass es berhaupt gltige Normen fr unser Handeln gibt. Letzteres ist derphilosophische Zweifel. Aber die Philosophen machen noch verrcktereSachen, sie beschftigen sich mit Stzen, die wahr sind, wenn sie falschsind, und falsch, wenn sie wahr sind. Sie denken sich Mengen von Stzenaus, die einerseits evidenterweise wahr, aber andererseits nicht miteinanderkompatibel sind. Das stt wohl kaum auf Verstndnis beim Mann auf derStrae. Philosophie kann also nicht die Verlngerung des gesunden Men-schenverstandes sein. Um es auf grobe Weise zu sagen: Common sensephilosophy makes no sense.

    1.4 Philosophie ist small talk auf hohem Niveau

    Angesichts der genannten Probleme, die mit den traditionellen Auffassun-gen der Philosophie verbunden sind, hat sich im vorigen Jahrhundert eineweitere Konzeption zu Wort gemeldet, die bereit ist, den traditionellen An-

    spruch der Philosophie auf Wahrheit und Geltung gnzlich aufzugeben. Ichmeine den so genannten Postmodernismus. Diese Richtung treibt die kri-tische Selbstreflexion der Philosophie bis zum Extrem mit dem Ergebnis,dass es keine letzten Wahrheiten in der Philosophie geben kann und dassman in der Philosophie alles behaupten kann. Anything goes ist die Pa-role der Postmodernen. Was bleibt ist dann, wie es Rorty3formuliert hat,die Philosophie als geistreiche, anregende und interessante Konversation

    3 Rorty bezeichnet sich selbst als psychological nominalist und global historicist(The Contingeny of Philosophical Problems: Michael Ayers on Locke,in ders.:Truth and Progress[Cambridge: Cambridge University Press, 1998] S. 286).

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    auf hchstem Niveau zu begreifen. Hier wird Philosophie also auf eine ArtLiteratur reduziert.

    Nach meiner Meinung verfehlt auch diese Auffassung das Wesen derPhilosophie. Denn die Philosophie kann die Suche nach Wahrheit und Gel-tung nicht aufgeben. Philosophie kann und darf natrlich amsant sein, aberPhilosophie ist nicht schne Literatur, sie ist nicht Teil der belles lettres.

    2. Was ist Philosophie?

    Nachdem ich gesagt habe, was Philosophie nicht ist, sollte ich nun sagen,

    was sie meiner Meinung nach ist. Die Philosophie ist nach meiner Auffas-sung ein vllig verrcktes Unternehmen. Sie stellt Fragen, die der gesundeMenschenverstand nie stellen wrde, radikale Fragen, die in der mensch-lichen Existenz, in der conditio humana selbst verankert sind und die mandaher sich nicht ersparen kann zu stellen. Denn der Mensch ist das Wesen,dem es in seiner Existenz um den Sinn seiner Existenz geht. Aber welchesind diese radikalen Fragen?

    Radikale Fragen sind Fragen nach den Fundamenten der Geltung mensch-licher Theorie und Praxis. Man kann dies leicht an den vier GrundfragenKants erkennen:(1) Was knnen wir wissen?(2) Was sollen wir tun?(3) Was drfen wir hoffen?(4) Was ist der Mensch?Die ersten drei sind klarerweise Geltungsfragen, nur die dritte scheint auf denersten Blick eine ontologische Frage zu sein. In Wahrheit ist aber auch sieeine Geltungsfrage.4Denn das Wesen des Menschen erweist sich als Grund

    der Geltungsansprche, die an den Menschen gerichtet sind. Diesen Fragenschliet sich eine Reihe weiterer Fragen an:(5) (im Sinne der dritten Kritik) Was ist die legitime Quelle unseres Ver-

    gngens?(6) Wie kann man die Herrschaft des Menschen ber den Menschen recht-

    fertigen?(7) Was ist der Sinn des Unterschieds von Arbeiten und Feiern?

    4 Auch Ernst Tugendhat versteht diese Frage in diesem Sinne. Deshalb hat er neu-lich die so verstandene Anthropologie als erste Philosophie bezeichnet. Vgl.ders.:Anthropologie statt Metaphysik(Mnchen: Beck, 2007) S. 34-54.

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    (8) Was ist eine gerechte Gesellschaftsordnung?(9) Was ist der Sinn der Geschichte?(10) Welche Verantwortung haben wir gegenber zuknftigen Generationen

    und der Welt, in der wir leben?Aber was macht diese Fragen zu radikalen Fragen? Die Radikalitt einerFrage bemisst sich nach dem Grad, in welchem sie die Herausforderung desSkeptizismus ernst nimmt. Taking scepticism seriously ist die Parole radi-kalen Philosophierens. Sicher hat Wittgenstein in ber Gewiheit5gezeigt,dass alles sinnvolle Zweifeln Grundlagen hat, die ihrerseits nicht gleichzeitigbezweifelt werden knnen. Aber dies ndert nichts daran, dass der Philosophverpflichtet ist, an allem zu zweifeln.

    Der Skeptizismus seinerseits ist radikal, sofern er sich nicht auf ein Ni-veau des Zweifelns beschrnkt. Wir sehen das sehr schn an den drei Thesendes Sophisten Gorgias:(1) Es gibt nichts.(2) Selbst wenn es etwas gbe, knnten wir es nicht erkennen.(3) Selbst wenn wir etwas erkennen knnten, wren wir nicht in der Lage,

    es mitzuteilen.Diese drei Fragen mssen bei allen philosophischen Untersuchungen undzwar in umgekehrter Reihenfolge abgearbeitet werden. In letzterem liegt

    brigens der Grund, warum wir mit sprachanalytischer Philosophie zu be-ginnen haben. Aber es wre auch falsch zu glauben, dass die Philosophiesich in Sprachanalyse erschpft. Auf die Semantik hat vielmehr Geltungs-reflexion zu folgen. Denn wenn einmal gesichert ist, dass unsere Sprache dieihr zugedachte Funktion erfllen kann, und wenn zum Zwecke des Philo-sophierens eine nicht mehr mit Mehrdeutigkeiten belastete Kunstspracheentwickelt ist, dann hat die Philosophie sich als nchstes um die Frage zukmmern, ob es fr unser Denken und Handeln und auch fr das Spielen gl-

    tige Regeln gibt und wie deren Geltung begrndet werden kann. Erst wenndiese Fragen im positiven Sinne beantwortet sind, macht es Sinn, nach derGrundstruktur der menschlichen Existenz und nach dem Platz des Menschenin der Welt zu fragen.

    Aber wie soll es die Philosophie anstellen, wenn sie nach Antworten aufdiese Fragen sucht? Hat sie berhaupt die methodischen Mittel, um den radi-kalen Skeptizismus zu berwinden? Die Frage nach der Methode der Philo-sophie, die wir hiermit stellen, ist natrlich selbst eine philosophische Frage

    5 Ludwig Wittgenstein: ber Gewiheit,hg. von G. E. M. Anscombe, G. H. vonWright (Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1982).

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    und steht als solche unter dem skeptischen Verdacht, dass es darauf keineAntwort gibt, und dass, sollte es eine solche geben, diese nicht begrndetwerden kann. Es scheint so, als wrden wir uns im Kreise drehen oder erneutauf einen infiniten Regress zurckgeworfen werden. Denn nach der oben auf-gestellten Forderung mssten wir uns zuerst der philosophischen Methodeversichern, um dann auf der Basis dieser Sicherheit die Frage nach der philo-sophischen Methode zu beantworten. Aber die Situation des Philosophen istnicht so verzweifelt, wie der Skeptiker es gerne htte. Die Philosophie mussnatrlich mit einem Vorschuss an Vertrauen in die Leistungsfhigkeit ihrerVorgehensweise starten, aber sie steht in der Pflicht, diese Leistungsfhig-keit dann reflexiv auszuweisen, ihre Arbeit reflexiv einzuholen und deren

    Ergebnisse so zu begrnden. Das ist freilich ein Zirkel, aber dass er nichtunbedingt vizis sein muss, werden wir noch sehen.Ich will zunchst einmal schlicht beschreiben, was nach meiner Meinung

    die richtige Vorgehensweise der Philosophie ist, und dann fragen, ob dieseVorgehensweise Aussicht auf Erfolg hat.

    These 1: Die Philosophie ist das haben wir oben gezeigt im Unter-schied zur Mathematik gar keine Wissenschaft a priori, sie ist vielmehr,schon um ihre Fragen formulieren zu knnen, auf empirische Fakten an-gewiesen. So knnte Kant seine Frage nach den Bedingungen gltiger em-

    pirischer Erkenntnis gar nicht stellen, wenn er nicht zunchst einmal einenBegriff der empirischen Wissenschaft, ihrer Vorgehensweise und ihrer defacto erhobenen Geltungsansprche htte. Diesen Vorbegriff kann er abernicht a priori besitzen, er muss ihn vielmehr aus der Erfahrung gewonnenhaben. Aber er belsst es natrlich nicht bei diesem Vorbegriff. Er nimmt dieskeptischen Einwnde gegen die Geltungsansprche der Wissenschaft ernstund sucht nach einer Mglichkeit, diesen zu begegnen. Das Eigentmlicheseiner Vorgehensweise liegt also in der geltungstheoretischen oder wie

    Kant sagen wrde kritischen Fragestellung. Die Philosophie hat also eineempirische Basis. Ich habe daher die Berhrungsngste, die manche Philo-sophen gegenber den empirischen Wissenschaften haben, nie verstanden.Allerdings haben die Phnomenologen das Angewiesensein der Philosophieauf Beobachtbares und Beschreibbares missverstanden. Sie haben geglaubt,die Philosophie selbst haben die Aufgabe, die Phnomene zu beschreiben,und sie kme auf diese Weise zu den Sachen selbst. In Wahrheit gewinntdie Philosophie selbst keine empirischen Erkenntnisse, sie macht sich dieselediglich zunutze. Das Entscheidende ist, dass die Philosophie mit Bezug auf

    die gegebenen Phnomene ihre radikalen kritischen Fragen stellt, also auchnach den Bedingungen der Mglichkeit derjenigen Wissenschaften fragt,

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    denen sie die Phnomene verdankt. Aber wie stellt es die Philosophie an,wenn es um die Beantwortung dieser Fragen geht?

    These 2: Das erste, was die Philosophie zu leisten hat, um eine Beantwor-tung der kritischen Fragen zu ermglichen, ist eine Analyse der in diesenFragen involvierten Begriffe und Stze. Obwohl diese Begriffe und Stzeselbst durchaus einen empirischen Ursprung haben knnen, ist die Begriffs-und Theoremanalyse ein apriorisches Geschft. Es geht darum, die logischenRelationen der Begriffe und Stze zu bestimmen, die der Theoriebildung ineinem bestimmten Bereich zugrunde liegen. Zu diesem Zwecke muss diePhilosophie sich auch um die Entwicklung der logischen Instrumente km-mern, die eine solche Analyse erst mglich machen.

    These 3: Es stellt sich bei dieser Arbeit jedoch heraus, dass es eine Mehr-zahl einander ausschlieender Begriffssysteme und Theorien gibt, ja dasssogar verschiedene Logiken entwickelt werden knnen, die allesamt ihreBerechtigung haben. Dies bringt die Philosophie in eine schwierige Situa-tion. Whrend die empirischen Wissenschaften, wenn es darum geht, eineEntscheidung zwischen konkurrierenden Theorien herbeizufhren, Beobach-tung und Experimente benutzen kann, stehen der Philosophie wie wir obengesehen haben diese Entscheidungskriterien nicht zur Verfgung. Um dieseLcke zu schlieen, hat die Philosophie seit Platon und Aristoteles zwei me-

    thodische Tricks entwickelt: das Gedankenexperiment und die so genanntentranszendentalen Argumente. Gedankenexperimente dienen dazu, kontra-faktische Situationen zu konstruieren, die im Endeffekt mgliche Weltenkonstituieren. Kmmert sich die empirische Wissenschaft um die Erkenntnisder wirklichen Welt, so ist die Philosophie die Erkenntnis mglicher Weltenmittels des Gedankenexperiments. Gedankenexperimente und die Erkenntnismglicher Welten sind jedoch keine Zwecke in sich selbst. Sie dienen inVerbindung mit transzendentalen Argumenten dazu, eine Entscheidung

    zwischen alternativen philosophischen Positionen herbeizufhren.These 4: Das wichtigste Instrument des Philosophen sind die so genann-ten transzendentalen Argumente. Worum handelt es sich dabei? Transzen-dentale Argumente dienen dazu, die obersten Prinzipien unseres Erkennensund Handelns zu begrnden. Daher haben sie bei der so genannten Letzt-begrndungsdebatte eine so groe Rolle gespielt. Man darf sie jedoch nicht wie es Albert6in dieser Debatte getan hat mit dem blichen deduktivenBegrndungsverfahren verwechseln. Es ist wie schon Aristoteles gezeigt

    6 Hans Albert: Transzendentale Trumereien. Karl-Otto Apels Sprachspiele undsein hermeneutischer Gott(Hamburg: Hoffmann und Campe, 1975).

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    hat von vorneherein klar, dass man mit dem blichen Begrndungsverfah-ren keine Letztbegrndung oberster Prinzipien leisten kann. Versucht mandies, gert man entweder in einen infiniten Regress oder in einen Zirkel oderman muss dogmatisch die Geltung der obersten Prinzipien einfach unter-stellen. Transzendentale Argumente aber versuchen etwas ganz anderes. Siestellen den Skeptiker, welcher die Geltung der fraglichen Prinzipien leug-net, vor die Wahl, entweder diese Prinzipien als gltig zu akzeptieren oderauf eine ihm liebe theoretische Position, respektive eine ihm liebe Praxiszu verzichten. Transzendentale Argumente zwingen also den Skeptiker,einen Preis fr seinen Skeptizismus zu zahlen. Es ist daher fr den Erfolgeines transzendentalen Arguments entscheidend, dass der zu zahlende Preis

    wirklich hoch ist, so hoch, dass wir normalerweise nicht bereit sind, ihn zuzahlen. Im Idealfall muss es sich um etwas handeln, auf das wir nicht ver-zichten knnen. In der transzendentalen Deduktion der Kritik der reinenVernunfthat Kant den Skeptiker vor die Wahl gestellt, entweder die Geltungder Kategorien zu akzeptieren oder auf den Anspruch der Geltung der em-pirischen Wissenschaften zu verzichten. In analoger Weise habe ich zu zei-gen versucht,7dass derjenige, der leugnet, dass es gltige oberste praktischePrinzipien gibt, auf die Praxis des Lobens und Tadelns verzichten muss, einePraxis, die unser tgliches soziales Leben allererst mglich macht.

    Aber es scheint sogar einen hheren Preis fr den Skeptizismus zu geben:Selbstwiderspruch. In der Tat finden sich in der umfangreichen Literatur Ver-suche zu zeigen, dass derjenige, der die Geltung bestimmter oberster Prin-zipien leugnet, sich in einem Selbstwiderspruch bewegt. Mit Bezug daraufhat K.-O. Apel die berhmte Formel geprgt: Die obersten Prinzipien sindohne Zirkel nicht zu begrnden, aber sie knnen auch ohne Selbstwider-spruch nicht geleugnet werden.

    Dabei kann der Selbstwiderspruch von zweierlei Art sein. Er kann ent-

    weder ein Widerspruch zwischen den Stzen sein, die der theoretische Geg-ner behauptet, oder es kann sich um einen Widerspruch zwischen dem, wasder Gegner behauptet, und dem, was er tut, wenn er es behauptet, handeln.Das letzte nennt K.-O. Apel8einen performativen Selbstwiderspruch. Kri-tisch ist dazu jedoch anzumerken, dass nur diejenigen, die bereits auf Ratio-

    7 Gerhard Seel: Wie weit kann man den Naturalismus in der praktischen Philo-sophie treiben?in Grazer philosophische Studien57 (1999) S. 275-310.

    8 Karl-Otto Apel:Das Problem der philosophischen Letztbegrndung im Lichteeiner transzendentalen Sprachpragmatik,in Sprache und Erkenntnis,hg. vonB. Kanitscheider (Innsbruck: Amoe, 1976) S. 55-82.

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    nalitt verpflichtet sind, den Selbstwiderspruch als einen Preis ansehen wer-den, den sie nicht bereit sind zu zahlen. Ich habe daher die These vertreten,das die Pflicht zur Rationalitt die oberste theoretische und praktische Pflichteines vernnftigen Wesens ist, und dass man diese Pflicht auch in einertranszendentalen Argumentation nicht rechtfertigen kann, ohne sie bereitsvorauszusetzen.9

    Obwohl sich meine Konzeption der Philosophie deutlich von den vierzuvor kritisierten Auffassungen unterscheidet, hat sie doch mit jeder etwasgemein.(1) Die Philosophie ist zwar keine Disziplin, die a priori ihre Gegenstnde

    konstruiert, aber sie kann auf apriorische Verfahren nicht vllig ver-

    zichten. Dies zeigt sich vor allem bei der Begriffsanalyse und bei derEntwicklung und Verwendung logischer Systeme. Auch die Gedanken-experimente beruhen nicht ausschlielich auf empirischen Daten, son-dern sind kontrafaktische und d. h. apriorische Konstrukte und auchdie transzendentalen Argumente enthalten apriorische Schritte.

    (2) Die Philosophie ist zwar keine empirische Wissenschaft, wie Quine undseine Anhnger behaupten. Aber da sie eine empirische Ausgangsbasisfr die Entwicklung ihre Fragestellungen bentigt, hat sie doch immerein empirisches Element. Somit hat meine Konzeption der Philosophie

    mit der Quines die Betonung der Notwendigkeit einer empirischen Basisgemein.

    (3) Aber auch mit der common-sense-Philosophie und dem Pragmatismushat meine Konzeption etwas gemein. Auch ich bin der Auffassung, dassdie Philosophie einen Sitz im Leben haben muss, dass sie ihre wich-tigsten Fragen aus der Einsicht in die Fraglichkeit der menschlichenExistenz bezieht und dass daher die praktische Vernunft einen Primatim Kreis der Gegenstnde philosophischer Reflexion besitzt.

    (4) Selbst mit den Postmodernen hat meine Konzeption der Philosophieetwas gemein. Es ist das Ernstnehmen des Skeptizismus und die ber-zeugung, dass es auf die letzten Fragen keine letzten Antworten gebenkann, die philosophischen Streitfragen also an einem bestimmten Punkteder Reflexion unentschieden bleiben mssen.

    9 Gerhard Seel: Ist der praktische Begrndungsregress abschliebar? in DerMensch und die Wissenschaften vom Menschen,hg. von G. Frey, J. Zelger (Inns-bruck: Solaris, 1983), Bd. 2, S. 609-619.

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    3. Sokrates und die Geschichte der Philosophie

    Ich habe meine Konzeption der Philosophie umrissen und damit auch ge-zeigt, wie die Philosophie aus ihrer gegenwrtigen Krise herauskommenkann. Aber worauf grndet sich eigentlich meine berzeugung, dass diedargelegte Konzeption der Philosophie die richtige ist? Ich habe eingangsbereits auf die Schwierigkeiten aufmerksam gemacht, denen jeder Versuch,das Wesen der Philosophie zu ergrnden, begegnet. Bernard Williams hatangesichts dieser Schwierigkeiten den khnen Ausspruch getan, die Philo-sophie sei das, wovon die Philosophiegeschichte die Geschichte ist.10Dashrt sich wie ein schlechter Witz an, aber Bernard Williams ist kein Mann

    fr schlechte Witze. Wir sollten also versuchen, seinen Ausspruch als ernst-hafte These zu deuten. Knnte er nicht gemeint haben, dass unser Verstnd-nis von Philosophie den Status eines Vorurteils hat und dass wir diesesVorurteil notwendigerweise aus der Geschichte der Philosophie beziehen,zu der unser eigenes Philosophieren unausweichlich gehrt. So jedenfallswrde Gadamer die Frage angegangen haben. Wenn mein eigenes Konzeptvon Philosophie in diesem Sinne ein Vorurteil ist, dann liegt seine einzigeRechtfertigungsquelle in der Geschichte der Philosophie. Nun kann nichtbestritten werden, dass auch diejenigen Konzeptionen der Philosophie, die

    ich oben kritisiert und zurckgewiesen habe, ihren Platz in der Philosophie-geschichte haben. Wie kann ich dessen ungeachtet behaupten, meine Auf-fassung sei durch die Philosophiegeschichte gerechtfertigt? Ich kann dasnur dann, wenn sich zeigen lsst, dass diese Auffassung einem privilegier-ten Moment der Philosophiegeschichte entspricht. Ich meine das Leben undDenken des historischen Sokrates, das man meist als die Geburtsstunde derPhilosophie ansieht.

    Im Platonischen Symposionfindet sich folgende Charakterisierung des

    Sokrates:11

    Wie aber dieser Mensch an Wunderlichkeit ist, er selbst und seine Reden, sowrde einer, auch wenn er noch so sehr suchte, niemanden finden, der ihm nahekommt, weder unter den Jetzigen noch unter den Alten, es sei denn, dass er ihn,wie ich es tue, mit keinem Menschen, sondern mit Silenen und Satyrn vergleichenwrde, ihn und seine Reden.

    10 Bernard Williams: What might Philosophy become?, in Philosophy as a Human-istic Discipline. Bernard Williams,hg. von A. W. Moore (Princeton: PrincetonUniversity Press, 2006) S. 212.

    11 Platon: Symposion,221d-e.

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    Worauf beruht die Wunderlichkeit des Sokrates? Sokrates ist das gelebteParadoxon und dieses Paradoxon entspringt aus der Radikalitt des Sokrati-schen Fragens. Die Grundfrage des Sokrates lautet: ?Wie sollich, wie sollen wir, wie soll man leben? Sokrates war berzeugt, dass diePhilosophie die Aufgabe hat, diese Frage zu beantworten, und dass derjenige,der dieses Wissen besitzt, ein gutes Leben fhren wird. Wer wei, was gutist, tut es auch, so lautet seine erste intellektualistische Grundberzeugung.Die zweite damit zusammenhngende ist, dass Tugend lehrbar ist. Und somachte er sich denn auf die Suche nach Tugendlehrern, nach Leuten also,die ber gltige Definitionen der Tugenden verfgen. Aber alle Definitionen,die ihm vorgeschlagen werden, erweisen sich als falsch, er selbst widerlegt

    sie mit Gegenbeispielen, aber er hat selbst auch keine Definition, die demElenchus standhlt. Das Einzige, was er den anderen voraus hat, ist, dass erwei, dass er nichts wei. Deshalb allein bezeichnet das delphische Orakelihn als den weisesten aller Athener.

    Sokrates ist berzeugt, dass das ungeprfte Leben nicht wert ist, gelebtzu werden, wie es in derApologie12heit. Aber er verfgt nicht ber die uni-versellen Mastbe zur Prfung des Lebens, die berkommenen Mastbeverwirft er, neue kann er nicht finden. Er verzweifelt am Ideal universellenpraktischen Wissens, er muss sich mit Kasuistik begngen. So geht er auf die

    Straen und Pltze Athens unermdlich auf der Suche nach Gesprchspart-nern, die ihm das berprfen ihres jeweiligen Lebens anvertrauen. Darbervernachlssigt er sein eigenes Leben und das Leben der Seinen. Sein Lebenerschpft sich in der berprfung des Lebens. Er wird uns als herunter-gekommene Figur, barfuss, in zerrissenen Kleidern geschildert, ein Gespttfr die Komdienschreiber. Und doch ein weiteres Paradoxon ist denHerrschenden diese Spottfigur nicht geheuer. Sie sehen in der Radikalittseines Fragens eine Gefahr fr die etablierte Ordnung, fr ihre Herrschaft.

    Er wird vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Aber nicht zuletzt durchseinen Tod wird er zum Vater der Philosophie, zum die Philosophiegeschichtebeherrschenden Beispiel des Philosophen. Sokrates Leben und Fragen ist dieGeburtsurkunde der Philosophie.

    Das Widersprchliche und Paradoxale, das wir in Sokrates und seinenReden angetroffen haben, erklrt, warum so unterschiedliche und entgegen-gesetzte philosophische Strmungen wie der Hedonismus und der Asketis-mus, der Dogmatismus und der Skeptizismus, der Absolutismus und derRelativismus sich auf Sokrates berufen konnten. Fr mein gegenwrtiges

    12 Platon:Apologie,38a.

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    Unter