Asaf Schurr: Motti
-
Upload
bloomsbury-verlag-gmbh -
Category
Documents
-
view
240 -
download
1
description
Transcript of Asaf Schurr: Motti
Motti
Asaf Schurr
Mott iAus dem Hebräischen von
Ulrike Harnisch
Berlin Verlag
Die Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel
Motti bei Babel, Tel Aviv
© Asaf Schurr
Published by arrangement with The Institute for The Translation
of Hebrew Literature
Für die deutsche Ausgabe
© 2010 BV Berlin Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: Nina Rothfos & Patrick Gabler, Hamburg
Typografie: Birgit Thiel, Berlin
Gesetzt aus der Meridien durch Greiner & Reichel, Köln
Druck & Bindung: CPI – Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany
ISBN 978-3-8270-0862-6
www.berlinverlage.de
Produktgruppe aus vorbildlich bewirtschafteten Wäldern und
anderen kontrollierten Herkünften
Zert.-Nr. GFA-COC-001278www.fsc.org
© 1996 Forest Stewardship Council
Für die brave Ugiya,
die einen neuen Weg geht.
Inhalt
Draußen 13
Dazwischen 97
Drin 111
Draußen 211
»Klar, ich hasse es zu malen. Erstens ist es Arbeit, zwei-
tens der Geruch, drittens der Dreck, viertens nimmt das
einen Haufen Platz weg. Ich male nicht gern. Ich male
nur, wenn ich muss.«
(Der israelische Künstler Rafi Lavi in einem Interview
mit Dana Gilerman, Haaretz)
11
Dieses Buch ist seinem Aufbau nach streng. Streng und
sehr einfach. Eine symmetrische Pyramide, ihre Spitze
aus Wolken und das Fundament euklidische Geometrie.
Dennoch ist es ein Buch, kein Konzert oder eine Auf-
führung; unmöglich für mich, unten im Saal zu sitzen
und während der Proben Kommentare abzugeben. Es
gibt keine Trennung zwischen Publikum und Bühne. Ihr
seid Schauspieler und Publikum in einem, und all das
entzieht sich bereits meiner Kontrolle. Ich kann euch
nur bitten, aufmerksam zu lesen, wenigstens nicht völ-
lig gleichgültig. Mit Heiterkeit sogar, wenn die Absätze
das hergeben. Mir ist das einerlei. Die meisten von euch
kenne ich ohnehin nicht und werde ich nie kennenler-
nen. Wenn ihr sterbt (selbst wenn es mitten im Kapitel
passiert), werd ich es nicht erfahren.
Ja, so ist das. In unseren Augen sind wir sehr wichtig,
aber den meisten anderen wird unser Tod nicht einmal
eine Randmeldung in der Lokalzeitung wert sein. Es
gibt Leute, denen begegnen wir jede Woche auf der Stra-
ße. Einige von ihnen sind bestimmt schon gestorben,
und wir haben es nicht einmal bemerkt. Und eines
Tages sind wir an der Reihe – und es wird denen, die
abends weiter mit dem Hund Gassi gehen oder den Müll
hinunterbringen, nicht auffallen.
Deshalb Einfachheit. Deshalb also. Daher gibt es
hier im Buch fast keine Spielchen, keine Täuschungen,
keine Durchtriebenheit. Ich manipuliere nicht. Alles
ist ganz einfach. Alles ist auf dem Tisch, keine Geheim-
nisse. Die Karten sind auf dem Tisch, die Tischdecke
liegt auch auf dem Tisch, alles ist auf dem Tisch, macht
den Kühlschrank auf – gähnende Leere. Alles ist auf
dem Tisch, restlos alles, seht darunter nach, auch nichts,
denn alles liegt offen ausgebreitet, und der Tisch – in der
Luft steht er.
Draußen
»Alle Sätze sind Resultate von Wahrheitsoperationen
mit den Elementarsätzen.
Die Wahrheitsoperation ist die Art und Weise, wie
aus den Elementarsätzen die Wahrheitsfunktion ent-
steht.
Nach dem Wesen der Wahrheitsoperation wird auf die
gleiche Weise, wie aus den Elementarsätzen ihre Wahr-
heitsfunktion, aus Wahrheitsfunktionen eine neue. Je-
de Wahrheitsoperation erzeugt aus Wahrheitsfunktio-
nen von Elementarsätzen wieder eine Wahrheitsfunktion
von Elementarsätzen, einen Satz. Das Resultat jeder
Wahrheitsoperation mit den Resultaten von Wahrheits-
operationen mit Elementarsätzen ist wieder das Resultat
Einer Wahrheitsoperation mit Elementarsätzen.
Jeder Satz ist das Resultat von Wahrheitsoperationen
mit Elementarsätzen.«
(Ludwig Wittgenstein: Tractatus logico-philosophicus)
17
1Motti liebte Menachem wie einen Bruder. Das heißt,
er hatte keine Wahl.
Gut möglich, dass sie sich in der Armee kennengelernt
hatten. Zum Beispiel. Bei Israelis nichts Ungewöhn-
liches. Möglicherweise schon vorher, in der Schule.
Kann sogar sein an der Uni. Allerdings war ihr Kräfte-
verhältnis von vornherein geklärt: Wenn Me na chem
einem freundschaftlich auf die Schulter klopfte, hatte er
einen schon in der Hand.
So sieht’s aus: Gleich eins auf die Schnauze – wie bei
Hunden –, so ein Auftakt kann die Beziehung zweier
Menschen, die Art ihres Verhältnisses für immer be-
stimmen. Ihm seine Form geben, sich wie Wasser seinen
Weg durch Felsen bahnen (d. h. Narben hinterlassen). Es
dürfte schwer sein, einen Kran aufzutreiben, der so ein
Kräfteverhältnis ins Wanken bringen kann. In Wolfs-
rudeln ist die Hierarchie eher im Fluss, während bei uns,
aus Reglement und Gewohnheit, die einmal festgelegten
Verhältnisse unverrückbar bleiben. Sollten sich Motti
und Menachem tatsächlich in der Armee kennengelernt
haben, ist wohl klar, wer wessen Vorgesetzter war. Es
ist klar, denn obwohl inzwischen viele Jahre vergangen
sind, hat sich das Reglement bei Motti tief eingebrannt,
18
es verliert nicht an Gültigkeit. Zwar weiß er, damals
war das eine Maske. – Damals, nur einige Wochen lang,
hatte Menachem ständig herumgeschrien, es hatte
Strafen gehagelt, er hatte so mächtig gewirkt, dass man
sich besser auf seine Seite schlug, andernfalls wäre er
unvermittelt aufgetaucht und hätte Befehle erteilt; man
konnte für praktisch alles bestraft werden. – Inzwischen
ist Menachem sein guter Freund. Und obwohl Motti
das weiß, haben ihn all die vergangenen Jahre (jede
ungemütliche Stunde von damals ist inzwischen gegen
hundert Freundschaftsstunden aufgewogen) nicht voll-
ständig überzeugt, dass das damals eine Maske war,
während es jetzt sein wahres Gesicht ist. Jeden Moment,
so fürchtet er, könnte Menachems Gesicht von ihm ab-
fallen wie Kleidung, die in die Wäsche gehört, und dann
würden darunter wieder die vertrauten Züge zum Vor-
schein kommen. Jeden Augenblick könnte er wieder
dazu übergehen, ihn zu misshandeln wie damals, und
er – Motti – würde gehorchen.
Der servile Gehorsam und die damit verbundene
Höflichkeit waren wunderbare Mittel, die, manchmal
wie mit einem Elektrozaun, eine saubere Zone um ihn
schufen. Luft zum Atmen. Keinen ließ er da hinein (be-
log er sich). Er fürchtete, dass er diesen Raum unbedingt
brauchte, aus Angst, andere würden ihn verletzen. Nie
hatte er zugegeben, nicht einmal gegenüber sich selbst,
versteht sich, dass der Grund ein völlig anderer war.
Motti nahm sich so wichtig, dass ihm angst und bange
war, andere schon mit der geringsten Tat zu verletzen,
ohne es ungeschehen machen zu können.
19
Hast du heute Abend schon was vor, fragte Mena-
chem ihn am Telefon. Ich dachte, ich lass Edna heute
mal zu Hause bei den Kleinen und gehe was trinken,
bist du dabei? Ich hole dich halb neun ab?
Klar, sagte Motti zu ihm. Halb neun.
Na dann bis dann, sagte Menachem. Halb neun.
Mann, ich steh auf dich.
Ich mag dich auch, Mann, sagte Motti.
He, Alter. Ist aus dir ne Schwuchtel geworden oder
was? Menachem prustete los.
Und Motti sagte, ach, ich red doch nur so daher. Das
war nicht ernst gemeint. Wollt nur mal hören, wie’s mir
über die Lippen geht.
Da liegt exakt das Problem: Alle reellen Sprachen
haben mit Verbreitung zu tun, und wenn auch nicht alle
reellen Probleme mit Sprache zu tun haben, rühren doch
viele daher, mal auszuprobieren, wie es über die Lippen
geht. Von dem Moment an, wo man etwas sagen will –
es muss nicht einmal etwas Sinnvolles sein –, entsteht
dieser geschwätzige Zwang, es auch auszusprechen, sich
nicht auf die Lippen zu beißen. So kommt die Sache in
Umlauf, und versuche mal einer, das Ganze dann noch
aufzuhalten (unmöglich). Es ist ein schöner und weit-
verbreiteter Irrtum, das Gesagte ab dem Moment, in
dem es ausgesprochen wurde, ja Gestalt angenommen
hat, für wahr zu halten. Sagen kann man jede Menge
Dinge, wundervolle Dinge. Das heißt noch lange nichts,
aber die Verlockung, oh, diese Verlockung, die Dinge
auszusprechen (das Bedürfnis, daran zu glauben).
20
2Er sitzt am Esstisch und liest Zeitung, sein Handy,
zerlegt in Einzelteile, trocknet gemächlich auf den
Wirtschaftsseiten (nach dem Telefonat mit Menachem
ins Waschbecken gefallen. Das Telefon. Nicht er). Seine
geliebte Hündin Laika legt den Kopf auf seinen Ober-
schenkel, unwillkürlich krault er sie hinterm rechten
Ohr. Auf einmal spitzt sie die Ohren und rennt zur Tür;
kurz darauf hört auch er Ariellas Schlüssel, sie kommt
die Treppe herauf. Jetzt ist er genauso aufgeregt wie
Laika, will sich beeilen, ihr entgegenzugehen. Und los
geht’s: Fix die Mülltüte aus dem Eimer holen. Noch
bevor sie die Tür erreichen wird, ist er vor Ort. Riegel
zur Seite und Tür auf. Sie kommt ihm auf der Treppe
entgegen, die bunte Tasche über der Schulter. Eilig geht
er auf sie zu, sie schaut ihn an und lächelt.
Schalom, Ariella.
Wieder lächelt sie ihn an, in ihrer Hand das kleine
Schlüsselbund.
Laika hat dich vermisst, sagt er und nimmt hastig die
ersten Treppenstufen. Drinnen wedelt Laika mit dem
Schwanz, hämmert gegen die verschlossene Tür. – Motti
ist ganz Ohr. Dieses Geräusch ist ihm vertraut, dennoch
streift sein Ärmel im Vorbeigehen beinahe Ariellas Haar.
21
Geduld ist eine Tugend. Eine holde Tugend. Motti wird
so lange warten wie nötig. Sein wahres Leben wartet auf
ihn, in der Zukunft verborgen wie ein Schmuckstück in
schwerem Stoff.
Inzwischen geht sie die Treppe hinauf, den Schlüssel
griffbereit. Sie schließt auf und geht hinein, dreht sich
um und lächelt ihn an, bevor sie sich in ihre Wohnung
zurückzieht. Wenn er dann nach oben geht, wird er
wieder für einen Moment an der Wand seines Wohn-
zimmers stehen, der Wand, die seine und ihre Wohnung
trennt. Er atmet ganz tief durch, die kalte Wand an
seiner Wange. Ein Geduldsmensch ist er. Jeden Tag aufs
Neue bricht ihm das Herz. (Jeden Tag. Ein biologisches
Wunder.) Immer aufs Neue bricht ihm das Herz und aus
dem Inneren entströmt Licht, strahlt, oder was Licht
eben so macht hinter dem Abgrund, in den Riss, der in
Motti klafft.
Abends kam Menachem vorbei und sie gingen was
trinken. Nicht, dass irgendwas von dem, was sie da re-
deten, große Bedeutung gehabt hätte. Menachem klopf-
te ihm dauernd auf die Schulter, redete vom Ficken und
lachte aus vollem Hals. Er zahlte für beide das Bier, ging
dann nach Hause und drehte eine Runde mit Laika.
Länger als sonst schnupperte sie an den Mülltonnen,
er schaute permanent auf die Uhr, weil er es auf die
Reihe bekommen wollte, sich akkurate sechseinhalb
Stunden Schlaf und einen Kaffee plus Dusche zu gön-
nen, bevor Ariella das Haus verlassen und er es erneut
auf die Reihe bekommen würde, ihr auf der Treppe zu
begegnen. Der Tag wird schon kommen, an dem er sie
22
ansprechen wird, vorerst bestand da kein Grund zur
Eile.
Wieder zu Hause, legten sie beide sich schlafen, Laika
und er. Er beeilte sich mit dem Einschlafen, um sich
nicht beim Nichtstun zu ertappen, verloren im Wald der
Minuten, wo es nichts zu tun gab. Am frühen Morgen
jaulte Laika, als hätte sie schlecht geträumt. Schlaf-
trunken rutschte sein Arm aus dem Bett. Er streichelte
sie, Laika beruhigte sich, und beide nickten wieder ein.
Mein kleines Rudel, so nennt er sie. Mein kleines Rudel.