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Leseprobe aus: Petermann, Training mit aggressiven Kindern, ISBN 978-3-621-27817-1 © 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-621-27817-1

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  • Leseprobe aus: Petermann, Training mit aggressiven Kindern, ISBN 978-3-621-27817-1© 2012 Beltz Verlag, Weinheim Basel

    http://www.beltz.de/de/nc/verlagsgruppe-beltz/gesamtprogramm.html?isbn=978-3-621-27817-1

  • Vorwort zur 13. Auflage

    Das vorliegende Buch existiert schon mehr als ein „halbes Praktikerleben“. In den34 Jahren seit dem ersten Erscheinen im Jahre 1978 hat kein Thema derKlinischen Kinderpsychologie und Kinderpsychotherapie so stark die Diskussionbestimmt, wie die Suche nach den Ursachen kindlicher Aggression und dieEntwicklung optimaler Behandlungsverfahren.

    Im Jahre 1978 haben wir mit dem Begriff „Training“ eine mutige Vokabelgewählt – in einer Zeit, in der die „freie“ Erziehung des Kindes gefördert, ge-sellschaftlich gewünscht und vielfach praktiziert wurde. Spätestens Ende der1980er-Jahre wurde offener und ohne einen ideologisch eingefärbten Blick überaggressives Verhalten bei Kindern und Jugendlichen diskutiert; seit diesem Zeit-punkt wurde unser Vorgehen umfassend akzeptiert. In den letzten Jahrenverschärfte sich die Diskussion um die Folgen aggressiven Verhaltens, da jetzt diePerspektive der Opfer aggressiver Angriffe im Mittelpunkt des öffentlichenInteresses stand. Die Belastungen und Ängste dieser Opfer bilden heute einwichtiges Thema der Klinischen Kinderpsychologie. Seit wenigen Jahren werdenauch verstärkt extreme Formen der Aggression im Kindes- und Jugendalterdiskutiert, die sich in einer besonders kaltblütigen und emotionslosen Aggressionäußern.

    Über die letzten mehr als 30 Jahre hinweg wollten wir mit unserem Vorgeheneine wirksame Hilfe für aggressive Kinder und ihre Familien anbieten. Wirwollten einige Hinweise geben, wie man der Eskalation entgehen kann, die vielenaggressiven Verhaltensweisen innewohnt.

    Als Zugang zur Behandlung aggressiver Kinder und ihrer Familien kombi-nierten wir die Kinderverhaltenstherapie mit einer besonders strukturiertenForm der Elternberatung, wir wählten also von Anfang an ein zweigleisigesVorgehen. Dieses Vorgehen blieb über die Jahre erhalten, obwohl immer wiederfamilientherapeutische Konzepte vorgaben, die Probleme aggressiver Kinder vieldirekter und einfacher lösen zu können. Leider sieht die therapeutische Realitätvöllig anders aus: Aggressives Verhalten bildet eine besonders stabile Verhal-tensstörung, die auch im Kindesalter nur schwer zu verändern ist, weswegen fastimmer auch mit dem Kind gearbeitet werden muss, um die Probleme undDefizite sozialer Kompetenz bei aggressiven Kindern auf der Verhaltensebeneanzugehen.

    Das vorliegende Buch stellt eine erprobte Methoden- und Materialsammlungdar, die über 30 Jahre und auch in der vorliegenden Auflage schrittweiseaktualisiert wurde. Aktualisiert bedeutet, dass neue wissenschaftliche Ergebnissezu den Ursachen aggressiven Verhaltens bei der Planung von Therapiebausteinenberücksichtigt wurden. Es bedeutet aber auch, dass Methoden und Materialien

    Vorwort 13

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  • für die praktische Arbeit mit Kindern und Familien zeitgemäß weiterentwickeltund umgestaltet wurden.

    Zu unserem Vorgehen erstellte das Institut für den wissenschaftlichen Film(Nonnenstieg 72, D-37075 Göttingen) schon in den 1980er-Jahren verschiedeneFilmdokumente, die einzelne Aspekte unserer Arbeitsweise illustrieren. Aufeinige dieser Dokumente, die von (staatlichen) Institutionen kostenlos als DVDausleihbar sind, soll hingewiesen werden:! Elterngespräche und Elternberatung (C 1487)! Kritische Situationen in der Kinderpsychotherapie (C 1538)! Autogenes Training mit Kindern (C 1539)Die angeführten Filmdokumente – mit den in Klammern angegebenen Be-stellnummern – machen in Kombination mit den Materialien dieses Buchesunser Vorgehen relativ leicht erlernbar. Seit Mitte der 1990er-Jahre liegt ein Filmder FernUniversität Hagen vor, der seit kurzem kostenfrei – mit Einwilligung derFernUniversität Hagen – von unserer Homepage heruntergeladen werden kann.Der Film geht ausführlich auf verschiedene Entspannungsmethoden für Kinderund Jugendliche ein. Interessenten finden den Film auf der Homepage des ZKPRunter dem Button „Transfer“, genauer unter dem Button „Videofilm-Download:„Entspannungstechniken für Kinder und Jugendliche“: http://www.zrf.uni-bremen.de“.

    Dieses Buch hatte wohlwollende Helfer. Das Lektorat des Verlages unterstützteuns bei der Neubearbeitung des Buches wie all die Jahre vorher in engagierterWeise. Wir danken den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unserer Kinder-ambulanzen für Psychotherapie an der Universität Bremen für die Mithilfe beider Erprobung neuer Konzepte und der Sammlung empirischer Daten zuunserem Vorgehen. Nur auf diese Weise können wir kontinuierlich die Wirk-samkeit unserer Arbeitsweise überprüfen.

    Unseren Lesern danken wir für viele Jahre der Treue.

    Bremen, im Januar 2012 Franz und Ulrike Petermann

    14 Vorwort

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  • Vorwort zur 1. Auflage

    Das vorliegende Buch wendet sich sowohl an Praktiker als auch Studenten, diean der Entwicklung und dem Einsatz von Trainingsprogrammen für Kinder imGrundschulalter interessiert sind. Aufgrund der Aktualität des Themas (Aggres-sion, Delinquenz, Hyperaktivität u.a.) kann der Leserkreis als ziemlich heterogenangenommen werden. Genau diese Heterogenität spiegelt sich auch in der Ge-staltung des Buches wider. Sie kann jedoch als günstig angesehen werden, da sicheine Reihe von oftmals vernachlässigten Zielsetzungen dadurch verwirklichenlässt. Im Einzelnen handelt es sich um folgende Zielsetzungen:a) Eine Konzeption einer verhaltenstherapeutisch orientierten Interventions-

    strategie, die die sozial-kognitive Lerntheorie von Bandura als theoretischenHintergrund ausweist;

    b) eine individuumzentrierte Diagnose- und Trainingsstrategie, die zu unter-schiedlichen Trainingsprogrammen zum Abbau aggressiver Verhaltensweisenbei Kindern führt;

    c) eine einzelfallanalytische Auswertung der Daten zur Trainingskontrolle, dieeine individuelle Überprüfung des Trainingserfolges gestattet und

    d) eine minuziöse Dokumentation der Arbeitsschritte und -materialien, dieeinen eigenständigen Einsatz des Trainings in der Praxis gestatten.

    Die Evaluation des Trainings ist allein schon von der Gewinnung einer adä-quaten Probandenstichprobe schwierig. Diese Schwierigkeiten haben wir zurGenüge kennengelernt; über sie zu berichten ist mühselig. Wir möchten vielmehrallen Beteiligten1, den Eltern, den Kindern, dem Hort, den Schulen, der Be-ratungsstelle, dem Psychologischen Institut Bonn und der Klinischen Abteilungfür Arbeits- und Sozialmedizin der Universität Heidelberg für die engagierteUnterstützung danken. Wir danken weiterhin dem Verlag Urban & Schwarzen-berg, vor allem Prof. Dr. Müller und Dr. Kutscher, für die gute Kooperation undhoffen, dass wir unseren Intentionen gerecht werden. – Sollten Fragen beim Leseroffen bleiben, Probleme bei der Durchführung des Trainings auftreten, Vor-schläge zu der Optimierung sich in der Praxis noch ergeben, sind wir gerne zueiner Korrespondenz bereit; wir glauben, dass eine solche Diskussion nicht nurwünschenswert, sondern notwendig ist – und dies für alle Beteiligten.

    Bonn, im März 1978 Franz und Ulrike Petermann

    1 Sämtliche Namen, Daten, Ortsangaben und sonstige identifizierbare Details wurdenverändert oder nicht explizit ausgeführt.

    Vorwort 15

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  • 4 Konzeption des Trainings

    4.1 Vorgehensweise

    Das vorliegende Training soll multimodal und multimethodal Wege zum Abbauvon aggressivem Verhalten aufzeigen. Die von uns vorgeschlagene Arbeitsweisebasiert im Wesentlichen auf folgenden Elementen:! Beziehungsaufbau,! Verhaltensmodifikation mit einem Kind, insbesondere durch den Einsatz von

    Wahrnehmungs- und Rollenspielen und! Eltern- und Familienberatung.

    KompakttrainingBei dem Training mit aggressiven Kindern handelt es sich um ein lerntheoretischbegründetes Vorgehen. Wir bezeichnen unser Vorgehen als zielorientiertes Kom-pakttraining, um damit den globalen Therapiebegriff zu spezifizieren.

    Wir hatten uns bisher damit beschäftigt, wie man Aggression definieren kannund wie es zu aggressiven Handlungen kommt. Im Weiteren werden wir ein Pro-zessmodell zur Veränderung aggressiven Verhaltens vorstellen, Ansatzpunkte füreine Intervention daraus ableiten und darstellen, welche Verhaltensweisen durchdas Training aufgebaut werden sollen.

    Wir werden uns hauptsächlich mit den Fragen auseinander setzen, nach wel-chen Prinzipien am besten alternatives, nicht-aggressives Handeln aufgebautwerden kann. Bei diesen Überlegungen greifen wir auf die Grundbegriffe dessozialen Lernens von Bandura zurück, mit denen sowohl die Entwicklung desaggressiven Verhaltens (s. Kap. 3.2), als auch dessen Modifikation begründetwerden kann. Bevor wir auf dieses Konzept eingehen, ist es notwendig, dieStand-ortbestimmung unserer Arbeitsweise zu vertiefen. Durch diesen Schrittwerden die Vorteile eines lerntheoretisch begründeten Vorgehens nachvollzieh-bar.Zielgerichtetes, lenkendes Vorgehen. Ein wichtiger Grundsatz unserer Arbeitsweisebesteht darin, in einem möglichst kurzen Zeitraum die Probleme eines Kindes und

    Definition

    Unter einem Kompakttraining verstehen wir ein Vorgehen, das mit einemgeringen Zeitaufwand deutliche Veränderungen bei aggressiven Kindernund deren Familien hervorrufen möchte.

    66 4 Konzeption des Trainings

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  • 4.2 Aggressives Verhalten: Prozessmodell und Interventionsmöglichkeiten 67

    seiner Familie zu beheben; dies erfordert ein zielgerichtetes, lenkendes Vorgehen.Das Kind bearbeitet mit Hilfe des Therapeuten verschiedene Materialien, und ineiner Kindergruppe wird neues Verhalten trainiert. In diesem Zusammenhang wer-den dem Therapeuten Basisfertigkeiten abverlangt, die zum Vertrauensaufbau bei-tragen (Petermann, 1996b, und Kap. 5.1.2).Anforderungshierarchie. Durch unser Vorgehen bringen wir ein Kind und seineFamilie in eine Anforderungssituation, die mit Hilfestellungen bewältigt wer-den kann. Die Anforderung nimmt – entsprechend den neu gewonnenen Fer-tigkeiten des Kindes und seiner Familie – zu. Dies bedeutet, dass wir dem Trai-ning mit aggressiven Kindern ein hierarchisches Prinzip zugrunde legen, beidem das Vorgehen – geordnet nach dem Schwierigkeitsgrad – stufenweise auf-einander aufbaut. Dadurch kann am ehesten gewährleistet werden, dass miteinem vertretbaren Zeitaufwand in effektiver Weise eine Intervention durchge-führt wird.

    Man kann mindestens sechs Gründe für ein Kompakttraining, wie wir es vor-schlagen, anführen (Petermann, 2011):(1) Aus ethischen Gründen ist es nicht zu vertreten, dass ein Kind über lange

    Zeit durch eine Verhaltensstörung belastet wird; d.h. ein schneller Erfolgwird sich besonders günstige auf die weitere Entwicklung auswirken.

    (2) Eine lang andauernde Verhaltensstörung führt zu erheblichen Defiziten in derpsychosozialen Entwicklung und oft auch in der kognitiven Leistungsfähigkeit.

    (3) Je früher die Verhaltensstörung auftritt und je länger sie anhält, umso gra-vierender und folgenschwerer ist dies für die Entwicklung eines Kindes. DieAuswirkungen reichen nicht selten bis ins Jugend- und Erwachsenenalter; siekönnen dann kaum noch aufgefangen werden.

    (4) Tritt nach einer lang andauernden Therapie ein Erfolg ein, so lässt sich die Bes-serung nicht eindeutig auf sie zurückführen, da sich ein Problemverhalten beiKindern durch günstige Umstände positiv verändern kann. Eine Erfolgskon-trolle und die Erklärung eines möglichen Erfolges ist demnach bei einer kurz-zeitigen Therapie besser möglich.

    (5) Die Eltern sind bei einem kurzfristigen Vorgehen eher motiviert, sich zu enga-gieren, da sie den Zeitraum und die damit auf sie zukommenden Belastungenbesser abschätzen können. Ebenso verhält es sich bei dem Kind.

    (6) Letztlich ist eine Behandlung von zeitlich kurzer Dauer finanziell besser zubestreiten als eine mehrjährige Therapie.

    4.2 Aggressives Verhalten:Prozessmodell und Interventionsmöglichkeiten

    Mit dem Prozessmodell von Kaufmann (1965) existiert ein theorieübergreifendesKonzept zur Beschreibung aggressiven Verhaltens in einer Situation, aus dem unmit-telbar Interventionsschritte abgeleitet werden können.

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  • 68 4 Konzeption des Trainings

    SituativeBedingungen

    GlobaleFaktoren

    AuslösendeFaktoren

    AggressivesVerhalten

    Ärger, Angriffe, Lärm, Hitze, Stress

    Lernerfahrungen, kulturelle Normen,Persönlichkeitsmerkmale

    Wahrnehmung eines Verhaltens als bedrohlich

    gewohnheitsmäßige Auswahl einer Handlung

    Hemmungspotentiale

    Bewertung der möglichen Konsequenzen

    Abbildung 4.1 Die auslösenden Faktoren für aggressives Verhalten nach Buss (1961) undKaufmann (1965) ÄrgerHemmungspotentiale

    4.2.1 Prozessmodell aggressiven Verhaltens von Kaufmann

    Kaufmanns Überlegungen basieren auf dem lerntheoretischen Konzept von Buss(1961). Buss (1961) geht zunächst einmal von einem situativen Bezugsrahmender Aggression aus, der das aktuelle Ausmaß des Ärgers einer Person, die An-griffe, denen eine Person gerade ausgesetzt ist, sowie äußere Bedingungenwie Lärm, Stress, Hitze usw. umfasst. Daneben spielen für das Auftreten vonAggression die bisherigen Lernerfahrungen, kulturelle Normvorstellungen undPersönlichkeitsmerkmale eine Rolle. Diese globalen Faktoren beeinflussen denEntscheidungsprozess, der zur Aggression führt (s. Abb. 4.1). Der Entschei-dungsprozess läuft blitzschnell zwischen der Wahrnehmung eines als feindseligbewerteten Verhaltens und der aggressiven Reaktion ab. Die Abbildung 4.1 inte-griert die situativen Bedingungen und die globalen Faktoren von Buss (1961)und die auslösenden Faktoren für aggressives Verhalten von Kaufmann (1965).

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  • Nach Kaufmann (1965) werden in diesem Entscheidungsprozess vier Stufendurchlaufen:(1) Wahrnehmung,(2) Handlungsauswahl und Gewohnheitsstärke,(3) Hemmungspotentiale sowie(4) Vorwegnahme und Bewertung der möglichen Konsequenzen.Die einzelnen Stufen werden unbewusst durchlaufen und stellen eine Kette vonaggressionsauslösenden Faktoren dar. Auf die einzelnen Stufen wird im Folgen-den ausführlich eingegangen.

    Stufe 1: WahrnehmungAuf der ersten Stufe wird entschieden, ob ein Ereignis als bedrohlich gilt odernicht. Dabei unterscheiden sich Kinder in ihren Wahrnehmungsgewohnheiten.So erleben aggressive Kinder manche Situationen sehr viel bedrohlicher alsnicht-aggressive Kinder. Insbesondere uneindeutige Situationen werden vonaggressiven Kindern schnell als bedrohlich erlebt.

    Stufe 2: Handlungsauswahl und GewohnheitsstärkeNachdem ein Ereignis als bedrohlich wahrgenommen wurde, wird auf der zweitenStufe entschieden, wie man darauf reagieren will (Handlungsimpuls). So kannman auf ein bestimmtes, als bedrohlich wahrgenommenes Ereignis entweder mitVermeidung oder mit angemessener Selbstbehauptung oder mit Aggression rea-gieren. Welche Reaktionsweise man wählt, hängt dabei von eingeübten und fastautomatisch ablaufenden Verhaltensweisen (Gewohnheitsstärke) ab. Im Falle deraggressiven Kinder heißt dies: Je häufiger ein Kind bisher gewohnt war, mitAggression zu reagieren, desto wahrscheinlicher wird es sich auch in neuenSituationen aggressiv verhalten. Die Wahl einer bestimmten Reaktion wird von denvorliegenden Wahrnehmungsgewohnheiten geprägt. Auf dieser Stufe wird alsodiese Entscheidung getroffen: „Wie will ich reagieren: Aggressiv oder nicht-aggressiv?“

    Stufe 3: HemmungspotentialeAuf dieser Stufe wird die eher generelle Entscheidung getroffen, ob die vorherausgewählte Handlung auch ausgeführt werden soll. Diese Entscheidung wirdstark von bisherigen Lernerfahrungen beeinflusst. Dabei spielen die früher erleb-ten Konsequenzen eine entscheidende Rolle. Sind z.B. aggressive Handlungenimmer bestraft worden, so kann der Gedanke an die Ausführung einer solchenHandlung prinzipiell heftige Angst auslösen. Die Handlungsausführung wirddurch die Angst gehemmt. Sind bisher keine oder kaum schlechte Erfahrungenmit der Ausübung von Aggression verknüpft gewesen oder hat der Nutzen vonaggressivem Verhalten gegenüber den negativen Konsequenzen überwogen, dannliegen in der Folge keine oder nur wenige Hemmungspotentiale für die ausge-wählte aggressive Handlung vor, und der Handlungsimpuls erreicht die nächste

    4.2 Aggressives Verhalten: Prozessmodell und Interventionsmöglichkeiten 69

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  • Stufe. Diese Entscheidung läuft meistens blitzschnell ab und wird nicht unbe-dingt als bewusste und geplante Entscheidung wahrgenommen.

    Bei aggressiven Kindern sind für Ärger- und Wutgefühle oftmals keine Hem-mungspotentiale vorhanden, während nicht-aggressive Handlungsimpulse abge-blockt werden, da sie subjektiv als erfolglos erlebt werden und nur die aggressi-ven Handlungen erfolgreiche Konsequenzen beim Gegenüber zu haben scheinen(„Mir hört ja doch niemand zu, außer ich schreie ganz laut und wütend!“ oder:„Wenn ich zurückschlage, dann lassen mich die anderen in Ruhe!“). Auf dieserStufe wird demnach allgemein entschieden: „Soll die ausgewählte Handlung aus-geführt werden: ja oder nein?“

    Stufe 4: Vorwegnahme und Bewertung der möglichen KonsequenzenNachdem auf der vorherigen Stufe prinzipiell entschieden worden ist, denaggressiven Handlungsimpuls zuzulassen, fällt im letzten Schritt eine eher situ-ationsorientierte Entscheidung, die die Handlungsauswahl endgültig festlegt.Dazu werden die Konsequenzen der ausgewählten Handlung überprüft. DieseEntscheidung wird getroffen, indem die möglichen Reaktionen der Umwelt aufdie beabsichtigte Handlung vorweggenommen werden. Erscheinen die wahr-scheinlich eintreffenden Konsequenzen als sehr unangenehm, dann wird ent-schieden, die geplante aggressive Handlung nicht auszuführen. Von Bedeutungist hierbei, wie prompt die negativen Folgen auf eine aggressive Handlung ein-treffen. So ist es z.B. für aggressive Kinder typisch, dass sie nur die kurzfristigenKonsequenzen einer Handlung wahrnehmen. Die negativen langfristigen Konse-quenzen einer aggressiven Handlung werden nicht beachtet. Sind die kurzfristi-gen Folgen positiv, so begünstigen sie das Auftreten aggressiven Verhaltens. Dienegativen langfristigen Folgen bleiben relativ wirkungslos.

    Allerdings muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass Kinder gene-rell Schwierigkeiten damit haben, die Konsequenzen ihrer Handlungen vorher-zusehen. Diese Fähigkeit hängt von der kognitiven Entwicklung ab. Kinder kön-nen aufgrund ihres kognitiven Reifegrades, besonders unter zehn Jahren, lang-fristige Konsequenzen ihrer Handlungen nicht ohne weiteres abschätzen.

    Auf dieser Stufe fällt also die situative Entscheidung, ob das Verhalten ausge-führt werden soll oder nicht. Lautet jetzt die Entscheidung „ja“, so wird derHandlungsimpuls auch tatsächlich ausgeführt.

    Wir haben also gesehen, dass nach Kaufmann (1965) mehrere Entscheidungsstu-fen zwischen dem äußerem Ereignis und einer Handlungsausführung durchlau-fen werden. Auf jeder Stufe wird dabei analysiert, ob die Bedingungen für eineHandlungsausführung auch tatsächlich vorliegen. Dieses Modell wurde bisher alseine strikte Aufeinanderfolge von Schritten beschrieben. Was geschieht nun,wenn auf einer Stufe die Entscheidung „Nein, keine Handlungsausführung“ lau-tet?

    70 4 Konzeption des Trainings

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  • 4.2 Aggressives Verhalten: Prozessmodell und Interventionsmöglichkeiten 71

    1.Stufe:

    Wah

    rneh

    mu

    ng

    2.Stufe:

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    hei

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    3.Stufe:

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    mu

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    3.Stufe:

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    4.Stufe:

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    mög

    lich

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    4.Stufe:

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    Abbildung4.2

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  • 72 4 Konzeption des Trainings

    Dies soll konkretisiert werden: Nehmen wir einmal an, dass! ein Ereignis als bedrohlich eingestuft worden ist (Stufe 1),! der Handlungsimpuls „körperlich aggressiv reagieren“ (z.B. schlagen) ausge-

    wählt worden ist (Stufe 2),! auf der Stufe der Hemmungspotentiale (Stufe 3) dieser Impuls jedoch

    blockiert wird und die Entscheidung „Stopp! Nicht ausführen!“ lautet.In diesem Fall wird die Entscheidung wieder an vorhergehende Entscheidungsstu-fen zurückverwiesen. So kann bspw. eine erneute Bewertung darüber vorgenom-men werden, ob ein Ereignis als bedrohlich gelten soll oder nicht (Stufe 1). Wahr-scheinlicher ist allerdings, dass auf Stufe 2 eine neue Handlungsauswahl erfolgt. Sokönnte jetzt der Handlungsimpuls „verbale Aggression“ (wie beschimpfen) ausge-wählt werden. Löst dieser dann auf der Stufe 3 keine Hemmungspotentiale aus underscheinen die möglichen Konsequenzen auf Stufe 4 nicht oder wenig negativ,dann wird der Handlungsimpuls ausgeführt. Eine solche Neuentscheidung ist aufallen Stufen des Entscheidungsprozesses möglich (s. Abb. 4.2).Aufrechterhaltung von aggressivem Verhalten. Mit dem Modell von Kaufmann(1965) können zudem eine Reihe von Prinzipien der Aufrechterhaltung von aggres-sivem Verhalten erklärt werden: Die Ausführung des aggressiven Verhaltens kannbspw. als befreiend empfunden werden, wodurch sich das Hemmungspotential fürsolche Handlungen verringert. Befreit fühlt sich ein Kind dadurch, dass die mit derwahrgenommenen Bedrohung einhergehende Angst durch aggressives Verhaltenreduziert wird (s. Abb. 1.1, S. 23). Dadurch tritt eine emotionale und physiologischeErleichterung ein, welche selbstverstärkend im Sinne einer negativen Verstärkung,also Entfernung einer aversiven Bedingung (C/ –, C = Condition/Bedingung), wirkt.

    Erfolge können für ein Kind darin bestehen, dass andere es „in Ruhe lassen“,Respekt oder sogar Angst vor ihm haben, dass es etwas durchsetzen oder einen Vor-teil bzw. Gewinn erzielen kann. Diese Konsequenzen stellen eine positive Verstär-kung dar (C+), die Verhalten aufbaut und sehr stabilisiert. Beide Verstärkungsprin-zipien (C+ & C/ –) erhalten also das aggressive Verhalten aufrecht, denn diese Konse-quenzen werden für ähnliche neue Situationen positiv bewertet und tragen somitzu einer ungünstigen Entwicklung im sozial-emotionalen Bereich eines Kindes bei.

    4.2.2 Ansatzpunkte einer Intervention

    Das Prozessmodell bietet die Möglichkeit, genau zu identifizieren, auf welcherStufe ein aggressives Kind Fehlentscheidungen trifft. Für ein gezieltes Trainingzum Abbau aggressiven Verhaltens ist die Kenntnis solcher Fehlentscheidungennotwendig. Prinzipiell kann die Modifikation auf allen Stufen einsetzen. Eserscheint jedoch einsichtig, dass ein Training, das auf der niedrigsten Stufebeginnt, den größten Effekt hat. Abbildung 4.2 stellt auf der einen Seite den Pro-zess in den vier Entscheidungsstufen dar, und parallel dazu werden möglicheInterventionsziele genannt, die aus dem Modell abgeleitet werden können. Aufdiese Ziele, entlang dem Kaufmann’schen Prozessmodell (1965), wird im nach-

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  • folgenden Kapitel 4.3 eingegangen; sie werden zudem mit den verursachendenpsychischen Faktoren verknüpft (s. Kap. 3.2).

    4.3 Therapieziele

    Es kann kaum bezweifelt werden, dass aggressives Verhalten negative Folgen fürdie Entwicklung eines Kindes besitzt. Mit Aggressionen sind Defizite im Bereichsozial kompetenten Verhaltens verbunden, die folgenschwere Verhaltenseinschrän-kungen bewirken. Einem Kind fehlen die Möglichkeiten, in nicht-aggressiver WeiseKontakte zu knüpfen und zu kommunizieren. Die Folge ist, dass aggressive Kinderhäufig sozial isoliert leben. Kontaktversuche werden zunehmend seltener gestartetund wenn sie erfolgen, geschieht dies ungeschickt, unangemessen oder aggressiv. Diedurch diese unangemessene Kommunikation hervorgerufene Isolation bedeutet fürein Kind eine Selbstschädigung in dem Sinne, dass kein situationsangemessenes unddifferenziertes Verhaltensrepertoire entwickelt wird. Daher genügt es nicht, dasaggressive Verhalten abzubauen. Diese Maßnahme würde lediglich zu einem nochgrößeren Verhaltensdefizit und einer weitgehenden Hilflosigkeit beitragen.

    Im Einzelnen kann das Zielverhalten in Anlehnung an das Modell von Kaufmann(1965) strukturiert werden. Eine gute Orientierung lässt sich aus der Stufenfolgedieses Modells ableiten (s. Abb. 4.2, S. 71).

    Ziele der therapeutischen Bemühungen! Als Voraussetzung: die Einübung von Ruhe und Entspannung,! differenzierte Wahrnehmung (Stufe 1),! angemessene Selbstbehauptung als Alternative zu aggressivem Verhalten

    (Stufe 2),! Kooperation und helfendes Verhalten als alternative Verhaltensweisen,

    die Aggression hemmen (Stufe 3),! Selbstkontrolle als Schritt zur Aggressionshemmung (Stufe 3) und! Empathiefähigkeit im Sinne einer Neubewertung der Folgen des eigenen

    Handelns aus der Sicht des Gegenübers (Stufe 4).

    ! Ziel der therapeutischen Bemühungen muss es sein, einem Kind Verhal-tensalternativen aufzuzeigen. Die Erweiterung sozial kompetenten Ver-

    haltens macht aggressives Verhalten zunehmend überflüssig, da das Kindwichtige zwischenmenschliche Bedürfnisse, wie das Bedürfnis nach Sozial-kontakt, nach Zuwendung, nach Anerkennung oder nach Selbstbehauptung,über angemessenes Verhalten befriedigen kann.

    4.3 Therapieziele 73

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  • Die Stufenfolge legt nahe, dass aggressives Verhalten durch eingeübtes, koopera-tives, helfendes und einfühlsames Handeln, welches gezielt verstärkt werdenmuss, abgebaut werden kann. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist jedoch, dassein Kind Situationen differenziert wahrnimmt sowie ein Mindestmaß an Ruheund Entspannung besitzt. Die Notwendigkeit, aggressiv zu reagieren, wird zudemdadurch verringert, dass sich ein Kind angemessen behaupten kann.

    Ruhe und EntspannungIn den bisherigen Ausführungen der Kapitel 1.5, 3.2 und 3.3 wurde deutlich, dassdie Entwicklung aggressiven Verhaltens in vielen Fällen einen langfristigen Ver-lauf darstellt und mit spezifischen Defiziten in der Wahrnehmung aggressiverKinder verbunden ist.Aggression und ADHS. Beginnt die Entwicklung aggressiven Verhaltens schon insehr frühem Kindesalter, so ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass dieser ungünsti-ge Entwicklungsverlauf bis in das Erwachsenenalter anhält. Aus diesem Grundhandelt es sich bei Aggression um ein über den Lebenslauf stabiles Pro-blem, aus dem sich weitere Störungen und Probleme im Jugend- und Erwachse-nenalter ergeben können. Eine aggressive Störung tritt zu einem hohen Prozent-satz gemeinsam mit einer ADHS auf (vgl. Witthöft et al., 2010). Eine ADHS kannin vielen Fällen als Vorläuferstörung aggressiven Verhaltens betrachtet werden. InLängsschnittstudien konnte gezeigt werden, dass sich Verhaltensstörungen inihrem Verlauf diversifizieren (Reid et al., 2002). Eine im Entwicklungsverlauffrüher entstandene Störung bleibt somit bestehen, wenn sich zu einem späterenZeitpunkt weitere Störungen aufbauen. Es liegt also eine mit dem Lebensalteransteigende Zahl von Verhaltensstörungen vor (Baving, 2008; Petermann & Peter-mann, 2008). Aus diesem Grund zeigen aggressive Kinder, welche einen frühenEntwicklungsbeginn ihrer Verhaltensstörung aufweisen, häufig die Symptome derHyperaktivität, Unaufmerksamkeit und Impulsivität. Diese Problemlage beein-trächtigt aggressive Kinder, effektiv in einem Training mitzuarbeiten. So erschwertdie zusätzlich vorliegende ADHS die Therapie.Aggression und Anspannung. Von den spezifischen Problemen aggressiver Kinderbesitzt vor allem die verzerrte sozial-kognitive Informationsverarbeitung weitrei-chende Folgen. So erwarten aggressive Kinder sehr viel häufiger bedrohliche Ereig-nisse aus ihrer Umwelt als andere Kinder. Diese Erwartungshaltung erzeugt einespezifische Aufmerksamkeit: Die Kinder suchen ihre Umwelt nach bedrohlichenund feindseligen Reizen ab. Ist zudem das aggressive Verhalten angstmotiviert(s. Kap. 1.2), so begünstigt dies eine andauernde Anspannung. Die Anspannungäußert sich bei den Kindern körperlich in einer hohen motorischen Unruhe undschränkt die Aufmerksamkeit für andere Reize, z.B. aufgabenbezogene Stimuli, ein.

    Die beschriebene Verhaltensproblematik lässt unschwer erkennen, dass aggres-sive Kinder eine Art „Vorbehandlung“ benötigen, um bei ihnen die Vorausset-zungen für eine zielgerichtete, strukturierte Therapiemitarbeit zu schaffen. Ausdiesem Grund wurde ein „Vorbereitungsritual“ für die Therapiesitzungen ent-

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  • 4.3 Therapieziele 75

    wickelt, das aus einem kindspezifischen Entspannungsverfahren besteht. Hierbeihandelt es sich um die sog. Kapitän-Nemo-Geschichten, die eine Kombinationvon imaginativen und kognitiven Entspannungsinstruktionen darstellen (Peter-mann, U., 2010, 2011).

    Folgen von EntspannungAufgrund der physiologischen Wirkung von Entspannung treten positive psy-chische, physische und Verhaltenseffekte auf (vgl. Petermann & Vaitl, 2009).Physische Reaktionen. Die Kennzeichen von physischer Entspannung beste-hen in fünf Reaktionen.(1) Neuromuskuläre Veränderungen: Die Skelettmuskulatur erschlafft.(2) Kardiovaskuläre Veränderungen: Eine kapillare Gefäßerweiterung

    führt zu einem Wärmeempfinden; vegetative Erregungszustände wer-den positiv durch einen erniedrigten Pulsschlag und abgesenktenarteriellen Blutdruck beeinflusst.

    (3) Respiratorische Veränderungen: Die Atmung wird flacher und gleich-mäßiger; die Atemfrequenz nimmt ab und die Menge der ein- undausgeatmeten Luft wird reduziert.

    (4) Elektrodermale Veränderungen: Entspannung führt zu geringererSchweißproduktion auf der Haut, sodass die elektrische Leitfähigkeitder Haut reduziert wird.

    (5) Zentralnervöse Veränderungen: Bei gelungener Entspannung treten alshirnelektrische Aktivitäten an der Schädeloberfläche vermehrt Alpha-wellen als Zeichen für einen entspannten Wachzustand auf.

    Folgen physischer Entspannung. Auf der Basis dieser physiologischen Ver-änderungen sind emotionale Reaktionen, vor allem negative wie Wut undAngst, weniger leicht auslösbar. Kognitive Veränderungen erhöhen dieFähigkeit zur selektiven Aufmerksamkeit und das Aktivitätsniveau einerentspannten Person, besonders ihre motorische Unruhe, wird gesenkt.

    Imaginatives EntspannungsverfahrenBei diesem Verfahren werden Vorstellungsbilder in die Entspannungsübun-gen integriert. Ein solches Vorgehen stellen die Kapitän-Nemo-Geschichtendar; hierbei handelt es sich um eine bildgetragene Kurzentspannungs-methode. Diese Geschichten sind als Fortsetzungsgeschichten konzipiert,und in sie sind die Schwere- und Wärmeübungen des autogenen Trainingsals kognitive Entspannungsinstruktionen integriert. Imaginative Technikensind für Kinder besonders deshalb geeignet, da sie! eine geringe Anforderung an die Konzentration der Kinder stellen,! der Phantasietätigkeit von Kindern im Alltag entsprechen und! eine hohe Attraktivität für Kinder besitzen.

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  • Mit erfolgreich eingesetzten, kindgemäßen Entspannungsritualen kann Erregungund Anspannung sowie motorische Unruhe abgebaut werden, was sich auf nach-folgende Tätigkeiten sehr günstig auswirkt.

    Differenzierte WahrnehmungDie bisherigen Ausführungen legten bereits an verschiedenen Stellen die Bedeu-tung einer differenzierten Wahrnehmungsfähigkeit für angemessenes Sozial-verhalten dar (s. Kap. 3.2, 3.3 und 4.2). Typische verzerrte Wahrnehmungen sindfür aggressive Kinder z.B.:! Schnelle Bewegungen werden von aggressiven Kindern eher als Angriff an-

    statt als freundliches Aufeinander-Zugehen wahrgenommen.! Bei erfahrener Schädigung und Verletzung können sie nicht ohne weiteres

    absichtliche und unabsichtliche Handlungen unterscheiden.Aggressive Kinder wissen oft auch nicht, in welcher Situation ein Verhalten ange-messen und in welcher unangemessen ist. Wie die Beispiele zeigen, muss dieWahrnehmungsfähigkeit aggressiver Kinder verbessert, d.h. differenzierter, wer-den (Petermann, U., 2008).Reizdifferenzierung. Ein erstes Ziel des Trainings betrifft die Reizdifferenzierung,die auch als Diskriminationsfähigkeit bezeichnet wird. Aggressive Kinder müssenlernen, Hinweise und Signale einer sozialen Situation richtig zu interpretierenund zu ordnen. Sie sollen sich also nicht sofort von jedem sozialen Reiz bedrohtfühlen, sondern zwischen bedrohlichen und unbedrohlichen Situationen unter-scheiden lernen.Reaktionsdifferenzierung. Ein zweites Ziel bezieht sich auf die Reaktionsdiffe-renzierung. Aus einer Vielzahl von Reaktionsmöglichkeiten muss eine der Situ-ation angemessene ausgewählt werden. Wenn ein Kind mit dem Spielzeug einesanderen Kindes spielen möchte, kann es z.B. diesem Kind das Spielzeug weg-nehmen oder es anbrüllen, ihm das Spielzeug zu geben. Weiterhin kann es sichtraurig oder beleidigt in eine Ecke zurückziehen oder das andere Kind bitten,ihm das Spielzeug zu überlassen. Es kann aber auch fragen, ob es mitspielen darfoder warten, bis das andere Kind damit zu Ende gespielt hat.Differenziertes Verhaltensrepertoire. Aggressive Kinder müssen lernen, verschie-dene Reize, Reaktionen bzw. Verhaltensweisen und deren Konsequenzen zuunterscheiden. Ihnen muss nahe gebracht werden, in welchem Zusammen-hang und in welcher Abfolge Reiz, Reaktion und Konsequenz zueinander stehen.Eine differenzierte Wahrnehmung führt dazu, dass eine Reaktion durch einenbestimmten Reiz ausgelöst, aber bei einem ähnlichen gehemmt wird. WichtigeVoraussetzung dafür ist ein differenziertes Verhaltensrepertoire, um den jeweili-gen Anforderungen entsprechend reagieren zu können. Diese Unterscheidungs-fähigkeit kann mit Hilfe eines so genannten Diskriminationstrainings gelerntund gezielt verstärkt werden (s. auch Abschnitte 5.5 bis 5.9). Diese Fähigkeitermöglicht eine Verhaltensdifferenzierung. Der Erwerb von neuem, angemesse-nem Verhalten, z.B. durch Modelllernen, kann nur über das Erkennen von

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  • Unterschieden erfolgen. Insbesondere für das Modelllernen ist also eine diffe-renzierte Wahrnehmung notwendig (Bandura, 1989).

    Eine differenzierte Wahrnehmung setzt voraus, dass sehr genau beobachtetwird. Damit geraten auch die nicht-bedrohlichen Reize ins Blickfeld. Dies ver-ringert die Notwendigkeit für aggressives Verhalten, sodass das Kind sehr vielgenauer prüfen kann, ob ein bedrohliches Ereignis tatsächlich vorliegt odernicht. Aufgrund dieser veränderten Wahrnehmungsgewohnheit wird viel öfterdie alternative Entscheidung „nicht-aggressive Reaktion“ getroffen. Diese Verän-derung in der ersten Stufe des Prozessmodells von Kaufmann (1965; s. Abb. 4.2,S. 71) hat Konsequenzen für die weiteren Stufen. Für die Handlungsauswahl inStufe 2 ist ein positives, differenziertes Sozialverhalten erforderlich, das vor allemangemessene Selbstbehauptung und kooperatives Verhalten umfasst. Wir werdenuns zunächst mit dem Ziel „angemessene Selbstbehauptung“ beschäftigen.

    Angemessene SelbstbehauptungBisher haben wir immer nur die negativen Folgen von Aggression herausgestellt.Dabei sind die negativen Züge aggressiven Verhaltens nur eine Seite der Medail-le! Die positiven Aspekte von Aggression müssen ebenfalls herausgearbeitetwerden; hierbei handelt es sich um Formen der angemessenen Selbstbehaup-tung. Mit ihrer Hilfe kann ein Kind seine Ziele und Interessen in für den ande-ren akzeptabler Weise erreichen oder durchsetzen. Die positiven Aspekte derAggression sind als sozialer Antrieb notwendig, um die eigenen Bedürfnissegegenüber besonders zudringlichen Mitmenschen zu behaupten. Die negativenFormen aggressiven Verhaltens sind bei der Fähigkeit, sich angemessen selbst zubehaupten, unnötig, wodurch die Gewohnheitsstärke für Aggression verringertwird. In Grenzen ist aggressives Verhalten von Kindern auch gegenüber ihrenEltern notwendig, um selbstständig zu werden und eigene Wege gehen zu kön-nen. Würde man solche notwendigen aggressiven Tendenzen durch ein Trainingversuchen zu verringern, hätte dies sozial unsichere Kinder und Jugendliche zurFolge.Positive Formen der Selbstbehauptung. Für Kinder und Jugendliche kann manfolgende Formen anführen:! Forderung nach einem eigenständigen Lebensbereich,! Forderung nach einem Ausgleich von Pflichten und Rechten innerhalb der

    Familie,! Durchsetzen von für die Altersgruppe akzeptablen Bedürfnissen in Familie

    und Freizeit,! Verteidigen eines Standpunktes und angemessen Kritik äußern,! Ärger und Wut bei Konflikten ohne Schädigung anderer oder von Gegen-

    ständen äußern und! faires Konkurrenzverhalten.Zwischen den positiven und negativen Formen der Aggression besteht einUnterschied sowohl in der Intensität des Verhaltens als auch in der Absicht.

    4.3 Therapieziele 77

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  • Selbstbehauptung bedeutet demnach, aus einem breiten Repertoire das Verhal-ten auszuwählen, das am besten den eigenen Bedürfnissen dient und dabei dasGegenüber am wenigsten einschränkt. Dies schließt alle Formen der nicht-aggressiven Durchsetzung ein. Bei positiver Aggression variiert das Ausmaß bzw.die Intensität der Selbstbehauptung mit dem realen Ausmaß an Bedrohung. Die-ses Verhalten dient in erster Linie dem Schutz der eigenen Person oder des Besit-zes.Negative Formen der Selbstbehauptung. Negative Formen sind dagegen durchfolgende Merkmale gekennzeichnet:! Eingeschränktes Verhaltensrepertoire,! massive Aggression bei realen und vermeintlichen Konflikten,! festgelegte Bahnen der Konfliktlösung,! nur aggressives Verhalten verfügbar und! keine Abwägung des eigenen Nutzens im Verhältnis zu fremdem Schaden.Angemessene Selbstbehauptung ist dadurch gekennzeichnet, dass der eigeneNutzen eines Verhaltens mit den (negativen) Folgen für das Gegenüber in Bezie-hung gesetzt wird. Ein aggressives Verhalten unterbleibt, wenn der Schaden fürdas Gegenüber unverhältnismäßig groß ausfällt. In diesem Falle wird man einenanderen Weg der Selbstbehauptung suchen, der weniger negative Folgen für dasGegenüber mit sich bringt. Angemessene Selbstbehauptung kann durch Rollen-spiele eingeübt werden.

    Kooperation und helfendes VerhaltenNeben angemessener Selbstbehauptung ist es ebenfalls notwendig, über koope-ratives und helfendes Verhalten zu verfügen. Diese Verhaltensweisen sind mitAggression unverträglich und bauen dadurch Hemmungspotentiale auf. Sie sindzudem sehr wichtig, um auch positive soziale Zuwendung zu erhalten. „Koopera-tion“ und „Hilfeverhalten“ werden unter dem Stichwort „prosoziales Verhalten“zusammengefasst. Dieses Verhalten bildet eine breitgefächerte Klasse von Verhal-tensweisen (Koglin & Petermann, 2006). Von daher mag es zu erklären sein, dasshinsichtlich der Begriffsbestimmung noch manches unklar und offen ist.

    Definition

    Unter prosozialem Verhalten versteht man in der Regel ein freiwilligesVerhalten, das anderen nutzen will und nicht an die Erwartungen äußererBelohnung gekoppelt ist. Dieses Verhalten wird entweder um seiner selbstWillen ausgeführt (Altruismus) oder ihm liegt ein Wiedergutmachungs-motiv zugrunde. Bei Kindern hat man festgestellt, dass sie prosozialhandeln, weil sie hoffen, in einer ähnlichen Situation, in der sie auf Hilfeangewiesen sind, auch Hilfe zu erhalten.

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  • Bei der Entwicklung prosozialen Verhaltens unterscheidet man zwischen altruis-tischem und kooperativem Verhalten (Caldarella & Merrell, 1997; Eisenberg,1995). Altruistisches Verhalten tritt unter anderem dann auf, wenn anderen Men-schen geholfen werden soll, die in Not geraten sind. Beim kooperativen Verhal-ten gilt es, den Hilfeappell des Gegenübers zu erkennen und mit dem Partnergemeinsam eine Lösung anzustreben. Für die Ausübung kooperativen Verhaltenssind verschiedene Elemente bedeutsam:! Die Erwartung einer Belohnung ist entscheidend, obwohl kooperatives Ver-

    halten auch an der Norm der sozialen Verantwortung orientiert ist und dergezeigte Einsatz nicht vollkommen durch einen erzielten Nutzen ausgeglichenwerden muss.

    ! Kooperatives Verhalten hängt von sozialen Verstärkern (Zuneigung, Lob,Anerkennung) ab.

    ! Schlechte Erfahrungen mit anderen können Kooperation erschweren.! Das Bedürfnis, aus einer sozialen Isolation herauszukommen, begünstigt

    kooperatives Verhalten.Mädchen weisen einen höheren Grad an Kooperationsbereitschaft auf als Jun-gen, was teilweise auf die geschlechtsspezifische Erziehung zurückzuführen seindürfte. Für die Stabilisierung von kooperativem Verhalten spielt neben Fremd-verstärkung auch Selbstverstärkung eine Rolle. Die Selbstverstärkung kann indem Gefühl bestehen, eine gute Tat ausgeführt zu haben. Dieses Gefühl wirdunter Umständen durch positive Reaktionen des Kooperationspartners (z.B.freundliches Verhalten) unterstützt. Auf diese Weise bilden sich Sympathie oderein intensiveres Einfühlungsvermögen beim kooperativen Helfer aus. Die damitverbundenen positiven Gefühle erhöhen die Wahrscheinlichkeit von Koopera-tions- und Hilfeverhalten in nachfolgenden Situationen. Umgekehrt verhindernWettbewerbs- und Stresssituationen das Auftreten von Kooperations- und Hilfe-verhalten. Empirische Befunde belegen, dass Kooperation und Hilfeleistungdurch Rollenspiele verbessert werden können (Walley, 1993).

    SelbstkontrolleSelbst wenn Kindern alternatives Verhalten zur Lösung von Konflikten aufgezeigtwird und sie zur Ausübung motiviert sind, werden sie in manchen Fällen den-noch nicht in der Lage sein, dieses positive Verhalten zu zeigen. Manche Kinderhaben nämlich nicht gelernt, starke aggressive Impulse zu beeinflussen undHemmungspotentiale zu entwickeln. Die Fähigkeit zur willentlichen Lenkungvon Verhalten stellt ein weiteres Ziel dar, das wir unter dem Begriff „Selbstkon-trolle“ zusammenfassen. Die Selbstkontrolle stärkt – bezogen auf das Modell vonKaufmann (1965) – die Hemmungspotentiale gegenüber Aggression (Stufe 3 desModells, Abb. 4.2, S. 71). Wir verstehen in diesem Zusammenhang unter Selbst-kontrolle nicht eine bestimmte Technik, Verhalten zu beeinflussen, sondern dieFähigkeit, mit aggressiven Impulsen in Konfliktsituationen besser umgehen zukönnen. Grundbedingungen der Selbstkontrolle bestehen in einer entspannten

    4.3 Therapieziele 79

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  • und ruhigen Haltung gegenüber Konflikten. Selbstkontrolle setzt außerdem einegenaue Wahrnehmung des Geschehens voraus, das zum Konflikt führt oderführen kann. Ebenso wichtig ist die genaue Beobachtung der eigenen Person.Entscheidend für die praktische Umsetzung dieses Zieles ist, dass es einem Kindgelingt, sein gewohntes impulsives Verhalten zu unterbrechen oder zu verzögern(Etscheidt, 1991; s. Kap. 5 und 6).

    Die Lerntheorie begreift Selbstkontrolle als Motivationsprozess, der entschei-dend dafür ist, dass positives Verhalten gezeigt wird (Bandura, 1989). Selbstkon-trolle erreicht man durch verschiedene Formen der Selbststeuerung. In Kapi-tel 4.4.2 wird auf zwei Vorgehensweisen zur Selbststeuerung eingegangen: dieSelbstverstärkung und die Selbstverbalisation. Da in diesem Abschnitt auch em-pirische Befunde berichtet werden, soll an dieser Stelle die Notwendigkeit vonSelbstkontrolle zum Abbau von aggressivem Verhalten nicht weiter belegt wer-den (s. auch Baving, 2008; Petermann & Petermann, 2008; Rothenberger &Schmidt, 2000).

    EmpathiefähigkeitDas sechste Therapieziel für aggressive Kinder bezieht sich auf die vierte Stufe desModells von Kaufmann (1965; s. Abb. 4.2, S. 71), nämlich die „Vorwegnahme undBewertung von Konsequenzen“. Die nachfolgenden Ausführungen werden sich miteinem Spezialfall dieser Stufe, nämlich der inneren Vorwegnahme von und Anteil-nahme an den Konsequenzen für das Opfer einer aggressiven Handlung beschäfti-gen (Frick, 1998). Es handelt sich um das Einfühlungsvermögen (Empathie), daseine emotionale und kognitive Komponente aufweist. Der emotionale Aspekt vonEmpathie bezieht sich auf das Mitfühlen im Hinblick darauf, was einem anderenwiderfährt. Die kognitive Komponente von Empathie meint die Übernahme derPerspektive eines anderen, also sich in einen anderen hineinzuversetzen (s.u.). Eskonnte belegt werden, dass eine hohe Selbstbezogenheit und Aggressionsneigungmit einem geringen Einfühlungsvermögen einhergehen; in der Regel wird dies mitDefiziten in der emotionalen Kompetenz aggressiver Kinder erklärt (Casey, 1996;Petermann & Wiedebusch, 2008; Thompson, 2006).Fähigkeit zur Rollenübernahme. Um sich in das Gegenüber eindenken zu können,muss man über die Fähigkeit der Rollenübernahme verfügen, und man muss fähigsein, die Absichten des anderen zu erkennen. Rollenübernahmefähigkeit bedeutet,sich in eine andere Person hineinzuversetzen, also mit den Augen des Gegenübersein Geschehen zu beurteilen. Das Hineinversetzen in einen anderen allein be-günstigt jedoch noch kein Hilfeverhalten. Dazu ein Beispiel: Die Empathiefähigkeitkann äußerst effektiv und gezielt Aggression ermöglichen, da die Gefühle undHandlungen eines anderen besonders genau vorhergesagt werden können; dieserlaubt es, gezielt zu verletzen. Erst wenn der Hilfebedürftige im Mittelpunkt desEmpfindens steht und Mitgefühl entsteht, kann Hilfeverhalten auftreten. Diesessoll das Leiden des Opfers vermeiden. Mit helfendem Verhalten wird Aggressionerschwert oder sogar verhindert (Mehrabian, 1997; Menesini et al., 1997).

    80 4 Konzeption des Trainings

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  • 4.4 Lerntheoretische Grundlagen therapeutischen Handelns 81

    Einbeziehen der Eltern. Einig sind sich die Kinderpsychologen darüber, dass dasEinfühlungsvermögen vom Erziehungsverhalten der Eltern beeinflusst wird, dasses bei Jungen weniger ausgeprägt ist als bei Mädchen, durch eine hohe Selbstbe-zogenheit und durch Konkurrenzverhalten behindert wird und durch Rollen-spiele trainierbar ist. Diese Ergebnisse verdeutlichen, dass das Ziel „Empathie-fähigkeit“ beim Abbau kindlicher Aggression nur erreicht werden kann, wenn dieEltern in die Arbeit einbezogen werden. Durch den Aufbau und die Festigungdes Einfühlungsvermögens kann man einer hohen Selbstbezogenheit und einem(aggressiven) Konkurrenzverhalten entgegenwirken. In den praktischen Kapitelndieses Buches (Kap. 5, 6 und 7) wird beschrieben, wie durch Rollenspiele Einfüh-lungsvermögen eingeübt und damit eine Voraussetzung für den Abbau aggressi-ven Verhaltens geschaffen wird.

    Vor allem die Ergebnisse zum Einfühlungsvermögen weisen darauf hin, dass einnachhaltiger Abbau von kindlicher Aggression nur möglich sein kann, wenn manauch die familiären Bedingungen ändert. So sind einige Therapieziele nur über dieBeeinflussung familiärer Interaktionen, des Freizeit- und Sozialverhaltens derFamilie sowie den Abbau falscher Erziehungshaltungen und Verstärkungsformenin der Familie erreichbar. In Kapitel 7 wird darüber genauer berichtet werden.

    4.4 Lerntheoretische Grundlagen therapeutischen Handelns

    Der Begriff „soziales Lernen“ ist eng mit dem Namen Albert Bandura verknüpft.Unter sozialem Lernen versteht man ein stellvertretendes Lernen; d.h., die un-mittelbare Erfahrung steht nicht im Vordergrund dieses Lernprozesses. Vielmehrwird ein Verhalten durch die Beobachtung und die Imitation von Verhaltenswei-sen anderer Personen erlernt. Deshalb wird in synonymer Weise auch von Vor-bildlernen, Modelllernen, Imitationslernen oder Beobachtungslernen gesprochen.

    4.4.1 Soziales Lernen

    Soziales Lernen besteht nicht in simpler Nachahmung, sondern wird durchselbstregulative Prozesse geprägt. Der Erwerb neuer Handlungsweisen steht ineiner vielseitigen Wechselwirkung mit selbstregulativen Prozessen. Die von Ban-dura hierzu konzipierte Theorie wird dementsprechend als sozial-kognitiveLerntheorie bezeichnet (Bandura, 1989; Petermann, U., 1992; Petermann &Petermann, 2011b). Mit Hilfe des sozialen Lernens lassen sich drei Effekte erzie-len:(1) Die Erweiterung von Erfahrung durch bloßes Hinsehen und Nachahmen. Es

    handelt sich hierbei um einen Beobachtungslerneffekt, der den Erwerbneuen Verhaltens ohne Versuch und Irrtum ermöglicht.

    (2) Hervorhebung oder Abschwächung von Verhalten. Dieser Lerneffekt ergibtsich, weil ein Beobachter sieht, in welcher Weise ein Modell belohnt oder

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