“Zwei Schritte vor und einen zurück? Transitionen, Transformation und gläserne Wände”.

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WESTFÄLISCHES DAMPFBOOT Alke Jenss, geb. 1981, M.A., Philipps-Universität Marburg, studierte Politikwis- senschaen, Friedens- und Koniktforschung und Romanistik an der Universität Marburg, ist Soziologin und PhD-Candidate an der Universität Marburg und assozi- iert im Promotionskolleg Global Social Policies. Sie war Promotionsstipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiung und des Frauenförderprogramms der Philipps-Universität (MARA) und als Dozentin an den Universitäten Kassel, Göttingen und Marburg. Sie arbeitet zu einer staatstheoretischen Perspektive auf Gewaltverhältnisse in Kolumbien und Mexiko. Journalistisch tätig u.a. als Redakteurin der Lateinamerika Nachrichten. Alke Jenss / Stefan Pimmer (Hrsg.) Der Staat in Lateinamerika Kolonialität, Gewalt, Transformation

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“Zwei Schritte vor und einen zurück? Transitionen, Transformation und gläserne Wände”.

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  • WESTFLISCHES DAMPFBOOT

    Alke Jenss, geb. 1981, M.A., Philipps-Universitt Marburg, studierte Politikwis-senschaften, Friedens- und Konfliktforschung und Romanistik an der Universitt Marburg, ist Soziologin und PhD-Candidate an der Universitt Marburg und assozi-iert im Promotionskolleg Global Social Policies. Sie war Promotionsstipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung und des Frauenfrderprogramms der Philipps-Universitt (MARA) und als Dozentin an den Universitten Kassel, Gttingen und Marburg. Sie arbeitet zu einer staatstheoretischen Perspektive auf Gewaltverhltnisse in Kolumbien und Mexiko. Journalistisch ttig u.a. als Redakteurin der Lateinamerika Nachrichten.

    Alke Jenss / Stefan Pimmer (Hrsg.)

    Der Staat in Lateinamerika

    Kolonialitt, Gewalt, Transformation

  • 1. Auflage Mnster 2014 2014 Verlag Westflisches Dampfboot Alle Rechte vorbehaltenUmschlag: Ltke Fahle Seifert AGD, MnsterDruck: ...Gedruckt auf surefreiem, alterungsbestndigem PapierISBN 978-3-89691-972-4

    Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet ber http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Frderhinweis Inhalt

    Ulrich BrandVorwort: Den Staat analysieren, um ihn zu verndern 7

    Alke Jenss / Stefan PimmerEinleitung: Theoretische Perspektiven aus der PeripherieDer Staat und seine Transformation in Lateinamerika 11

    Teil I: Der Staat in Lateinamerika. Theoretische AnnherungenLucio Oliver Costilla/Stefan Pimmer Konfigurationen von Staatlichkeit in LateinamerikaEine Kartographie der historischen Debatten 34

    Mabel Thwaites Rey / Hernn OuviaStaatlichkeit in Lateinamerika revisited. Die Dimension des Widerspruchs 59

    Martn CortsDer kreolische Leviathan: Anregungen fr eine Analyse 85

    Jaime OrtegaDer lateinamerikanische Staat im Denken Ren Zavaletas 106

    Petra PurkarthoferHerrschaft, Geschlecht und Staat in Lateinamerika 119

    Teil II: Staat, Kolonialitt, Perspektiven von Indigenitt

    Jos Guadalupe Gandarilla Salgado / David Gmez ArredondoKolonialitt der Macht, Kolonialitt des Staates und Eurozentrismus 140

    Luis TapiaDen Staat aus dem Zentrum rcken. Staatstheorie im bolivianischen Kontext 154

    Oscar Vega Camacho Was tun mit dem Staat? ber den verfassunggebenden Prozess in Bolivien 171

  • Teil III: Staat und Gewalt: Autoritre Transformationen

    Carlos Figueroa Ibarra / Octavio Moreno VeladorGewalt und staatliche Macht in Lateinamerika: von der Kolonialzeit zum Neoliberalismus 204

    Pilar CalveiroDie Gewalt des Staates 229

    Alke JenssDezentralisierung der Gewaltfunktion des Staates und counterinsurgency-Ordnung 238

    Teil IV: Staatliche Transformationen: Brche und Kontinuitten, Spielrume und Grenzen

    Dieter BorisAspekte der Staatsentwicklung und der Staatsanalyse in Lateinamerika 258

    Mabel Thwaites Rey / Hernn OuviaZwei Schritte vor und einen zurck? Transitionen, Transformationen und glserne Wnde 280

    Rhina RouxMexiko: Die groe Transformation als Bruch des Gesellschaftspaktes 301

    Die Autor_innen 317

  • 281Zwei Schritte vor und einen zurck?

    Mabel Thwaites Rey / Hernn OuviaZwei Schritte vor und einen zurck? Transitionen, Transformationen und glserne Wnde

    Die Analyse der lateinamerikanischen Staaten zu Anfang eines neuen Jahrtau-sends geprgt von einer der grten kapitalistischen Krisen seit den 1930er Jahren hat die Sozialwissenschaften herausgefordert: Herkmmliche Ana-lyseinstrumente mssen angezweifelt werden; es kommen neue Fragen nach Mglichkeiten und Grenzen einer radikalen Transformation in den Lndern der Region auf. Mehr noch, die Frage des Staates von Lateinamerika aus zu denken und dabei die von Venezuela, Bolivien und Ecuador eingeschlagenen Wege im Blick zu haben, bedeutet auch, die Tr zu einem Raum zu ffnen, in dem Prakti-ken und Theorien gleichermaen herausgefordert sind. Wenn, wie das Juan Carlos Monedero (2009) aufzeigte, die Neuerfindung des Sozialismus eine praktische Aufgabe ist, die theoretische Orientierung bentigt, dann ist es eine unum-gngliche Aufgabe fr kritische Intellektuelle, verschiedene Interpretationen des letzten Jahrzehnts zu diesen Erfahrungen miteinander abzugleichen. Doch auch wenn die genannten Lnder emblematisch sind fr Spannungen mit den Modi des traditionellen peripheren Kapitalismus und aus lateinamerikanischer emanzipatorischer Perspektive eine besondere Faszination ausben, ist eine nicht zu unterschtzende Frage, in welchem Ma diese aktuellen Prozesse anderswo nachgeahmt werden knnen.

    ber diese Fragestellungen hinaus gilt eines als sicher: Diese Erfahrungen haben die Problematik einer Transition zum Sozialismus erneut aufgeworfen, nicht nur in akademischen Zirkeln, sondern auch in Basis-Organisationen und so-zialen Bewegungen, die den Kapitalismus berwinden wollen. Deren wachsende, aber komplexe Radikalitt ebenso wie ihre Besonderheiten und Widersprchlich-keiten sind als Ansporn unersetzlich, die Region aus einer anderen Perspektive zu betrachten. Wir mssen uns also der Herausforderung stellen, die Kategorien der Sozialwissenschaften in Bezug auf das Phnomen Staat neu zu denken, und zwar im Verhltnis zu den sozialen und politischen Transformationsprozessen auf dem Kontinent. Diese kritische berprfung lsst uns zugleich die Notwendigkeit einer konzeptionellen Transition anmahnen, die erlaubt, die vorherrschende

    Wissensproduktion bei der Analyse solcher Prozesse zu dekolonisieren. Wir wollen dabei auf eine Epistemologie des Sdens (Santos 2009) hinaus.

    Angesichts dieser Herausforderungen ist das Ziel dieses Textes, fr die aktuelle Debatte, die sich auf mgliche Transitionswege ausrichtet, eine Reihe von Fragen wieder an die Oberflche zu holen, die die Diskussion dieser im Marxismus immer wieder zentralen Themen historisch bestimmt haben. Damit wollen wir mehrere vorlufige Hypothesen erarbeiten, die der Analyse der radikaleren politischen Prozesse in der Region ntzlich sein knnen.

    Dafr versuchen wir zunchst eine Reihe von Dichotomien zu dekonstruieren, die unserer Meinung nach falsche Alternativen erffnet haben, die sich gegen-seitig ausschlieen, etwa: friedlicher oder gewaltvoller Umbruch? Reform oder Revolution? Eine Konstruktion aus dem Inneren der kapitalistischen Gesell-schaft heraus oder eine Neugrndung, nach der Machtergreifung? Teilhabe an Institutionen oder anti-staatliche Bewegung? Wir wollen diese Fragen stattdessen als mgliche miteinander vermittelbare Monismen1 verstehen, die, wenn auch vielleicht asymmetrisch, auf Basis neuer revolutionrer Strategien miteinander verknpft werden knnen. Das heit zugleich nicht, die konstitutive Spannung zwischen diesen widersprchlichen Linien zu verkennen.

    Unser Ausgangspunkt dafr liegt bei einer kritischen berprfung der Po-lemik, die sich Zusammenhang mit der Frage nach einer Notwendigkeit eines gewaltvollen Wegs zur politischen Macht ergibt. Wir werden dann die Durch-setzungswege beschreiben, ber die Einfluss in der politisch-juridischen Ordnung erlangt wird und Vorstellungen von einer zuknftigen anderen Gesellschaft dort verankert werden knnen, noch bevor eine Machtergreifung stattfindet. Dies soll selbstverstndlich nicht die dem entgegengesetzte Forderung nach der berwindung der kapitalistischen Gesellschaft und damit des brgerlichen Staates selbst vernachlssigen.

    Dafr verweisen wir auf die organische Verbindung zwischen alltglichen politischen Kmpfen und dem strategischen Ziel, die gesellschaftlichen Pro-duktionsverhltnisse drastisch zu verndern. Betont wird der Beitrag, den eine Dialektik zwischen Reform und Revolution leistet, um diese Transition neu zu interpretieren. Ganz zentral ist es dabei, die subalternen Gesellschaftssektoren,

    1 Dieses Konzept aus der Philosophie versucht eine dialektische Einheitlichkeit he-rauszustellen: Diese soll die Dualitt durch ein Verhltnis von Heterogenitt und Komplementaritt zwischen den Elementen ersetzen. Fr eine Entwicklung dieses Begriffs kann der Artikel von della Volpe (1973) herangezogen werden.

  • 283282 Zwei Schritte vor und einen zurck? Mabel Thwaites Rey / Hernn Ouviadie von Diversitt und der tatschlichen Fhigkeit zur Selbstverwaltung geprgt sind, zu politischen Subjekten zu machen.

    Parallel werden wir uns mit den widersprchlichen Definitionen einiger mar-xistischer Autoren fr die Dimension des Staates beschftigen und uns von jenen Anstzen distanzieren, die den Staat als monolithischen Ausdruck der Macht der herrschenden Klasse bezeichnen und stattdessen eine Charakterisierung vor-schlagen, die den Staat in Bezug zur widersprchlichen und immer umkmpften Kristallisierung der Klassenkmpfe stellt. Diese Definition zwingt uns wiederum, Grenzen und Potentiale der popularen Teilhabe in den Schlsselinstanzen aus-zuloten, die das institutionelle Gerst des Staates ausmachen. Eine unserer Hy-pothesen ist, dass einige der neogramscianischen Anstze nicht an Aussagekraft verlieren, sondern nicht nur fr die Analyse der komplexen Wandlungsprozesse des Staates in Lateinamerika fruchtbar gemacht werden knnen, sondern auch, um die politischen Strategien zu berdenken, deren Umsetzung momentan in mehreren Lndern des Kontinents in emanzipatorischer Absicht versucht wird.

    Transition vor oder nach der Regierungsbernahme?

    Wie wir schon an anderer Stelle [vgl. Artikel der Autor_innen in diesem Band] argumentiert haben: Lateinamerika von Lateinamerika aus zu denken, bedeutet die Realitt, Problematiken und Besonderheiten, die uns als geographischen Raum und in der globalen Arena konstituieren, zum Ausgangspunkt zu ma-chen. Staatlichkeit mit einem Blick fr lateinamerikanische Besonderheiten zu problematisieren heit wiederum, die konstitutiven Differenzen jedes National-staats und die gemeinsamen Merkmale anzunehmen, die uns ein allgemeines Verstndnis der Geschichte und Entwicklungswege und die informierte Suche nach emanzipatorischen Rumen erlauben.

    Tatschlich sind die Verknpfungen der Nationalstaaten mit dem internatio-nalen Staatensystem und dem Weltmarkt auf zweifache Weise bedingt. Einerseits sind sie von historischen Akkumulationszyklen auf globaler Ebene abhngig, die bestimmen, welche Gter und Dienstleistungen fr den Weltmarkt mehr oder weniger relevant sind. Andererseits sind sie von der Zusammensetzung der und dem Krfteverhltnis zwischen den grundlegenden sozialen Klassen in jedem Land abhngig, die konomische und soziale Produktions- und Reprodukti-onsstrukturen bestimmen und ebenfalls je nach historischer Phase variabel sind.

    Daher ist es abgesehen davon, Eigenarten zu bercksichtigen, die die Staaten in unserer Region kennzeichnen, notwendig, Folgendes explizit zu machen: Sowohl das, was uns bestimmte Lesarten vorschlagen, die in der langen Tradi-

    tion des kritischen Denkens weniger sichtbar wurden (Gramsci, Poulantzas, Basso u.a.), als auch das, was uns die radikaleren politischen Erfahrungen in Lateinamerika momentan lehren (Bolivien, Ecuador, Venezuela), ist offensicht-lich eine Neuinterpretation der traditionellen Konzeption von Transition, wie sie Marx und Lenin dachten. Im Fall von Marx ist die Charakterisierung dieses Prozesses bekannt, die er in seinen kritischen Notizen zum Gothaer Programm macht. Hier skizziert Marx in groben Zgen, wie er sich den Weg der kapitalistischen Gesellschaft zum Kommunismus vorstellte. Doch das sagt uns kaum etwas ber die Transition oder einen revolutionren Prozess, also die Basis fr einen solchen steinigen und langen Weg. Seine Notizen beziehen sich vor allem auf die berbrckung zwischen dem Moment direkt nach einer Machtbernahme durch Arbeiter_innen und der tatschlichen Aussicht auf eine klassenlose Gesellschaft.

    Abgesehen von diesen verstreuten Anmerkungen (die, daran sei erinnert, nicht mit dem Ziel der Verffentlichung gemacht wurden) ist es mit Lenin hnlich. Der klassische Text, in dem er am ehesten auf den bergang eingeht, ist zweifellos Staat und Revolution, den er Wochen vor der Machtbernahme im Oktober 1917 schrieb. Doch dort wird wiederum detailliert auf die sogenannten Phasen des Kommunismus eingegangen; die Schritte, die vor diesem Weg des bergangs liegen, sind ausgelassen. Obwohl das eine Wiederholung sein knnte, muss daran erinnert werden, dass Lenins unmittelbares Interesse mit diesem Buch nicht in der Natur des Staates per se lag, sondern darin, in die konjunkturelle politische Debatte seiner Zeit einzugreifen in einem vorrevolutionren Kontext. Er pole-misierte ber die (Un-)Mglichkeit der Arbeiterklasse, an der Fhrung staatlicher Apparate beteiligt zu sein. Sein Problem war deshalb eher theoretisch-praktischer Natur. Deshalb ist die kritische Debatte ber den Staat fr Lenin untrennbar verbunden mit den konkreten Kmpfen, ihn (den brgerlichen Staat) zu zerstren oder ihn vllig absterben zu lassen (im Fall des proletarischen Staates). In jenem Kontext wird die Diktatur des Proletariats als die politische Form verstanden, die whrend der begonnenen Transitionsphase nach der Machtbernahme jenen komplexen gesellschaftlichen Transformationsprozess entfaltet, der die Basis einer kommunistischen Gesellschaft zu bilden erlaubt.

    Mit Lelio Basso war die zentrale Kategorie, auf die sich die damalige und sptere Rezeption dieser Texte bezog, die der Diktatur des Proletariats. In ihren ganz orthodoxen Ausprgungen wurde sogar der erste Teil des Begriffspaars berhht, eine Vokabel mit vorrangigem und fast einzigem Ziel: die Garantie eines Sieges, die Organisation von Klassengewalt als eindeutigem Charakteristikum des bergangsstaates. Hier wird der wichtige Beitrag von Marx abgewertet,

  • 285284 Zwei Schritte vor und einen zurck? Mabel Thwaites Rey / Hernn Ouviaeine revolutionre bergangsstrategie neuen Typs zu denken, die ihr Angebot nicht auf vergangene Erfahrungen wie die Franzsische Revolution sttzen sollte, sondern die in der recht glcklichen Formulierung des XVIII Brumaire ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit schpft, sondern nur aus der Zukunft (Marx 1972: 118). Aber ber die spezifischen Bedingungen hinaus, die diese Texte beeinflussten, erkennt Basso an, dass

    es klar [ist], dass die bergangsphase, von der Marx in diesem Absatz spricht, sich an der Machtbernahme durch das Proletariat orientiert, denn sonst knnte man nicht von einer revolutionren Diktatur sprechen, aber wir wrden ihn sehr wrtlich nehmen, wenn wir, nachdem Marx das Wort Transition einmal mit dieser Bedeutung benutzt hat, glauben wrden, dieses Wort nicht mehr in einem weiter oder enger gefassten Sinn benutzen zu knnen. (Basso 1972)

    Wenn es also bei Marx eine Vorstellung der Transition als Folgemoment der Machtbernahme gibt, kann man bei ihm gleichfalls, wenn auch weniger sys-tematisch, eine andere Bedeutung finden, die auf die langen und widersprchli-chen Vernderungen hinzielt, die vor jener bernahme beginnen und die lange nachdem diese erreicht ist, vollendet wird.

    Wir schlagen vorlufig vor, dass gerade die Strategie, schon jetzt die Anfn-ge der zuknftigen Gesellschaft zu sen, diesem langen bergang als zentrale Achse Struktur und Kohrenz verleiht. Aus dieser Sicht wre die Transition zum Sozialismus derselbe Prozess, der erst zur Machtbernahme fhrt und dann dazu, die Macht der subalternen Sektoren (poder popular) fr den Aufbau einer klassenlosen Gesellschaft zu nutzen. Basso verdeutlicht, dass schon zu Beginn die Mittel, die den Arbeiter_innen zur Verfgung stehen, divers sind, vor und nach der Machtbenahme:

    Der Machttransfer von der Bourgeoisie zur Arbeiterklasse muss auch einen radi-kalen Wandel der Instrumente und Formen der Machtausbung bedeuten, und nicht nur einfach den Wechsel derselben Instrumente und derselben Methoden von einer Hand zur anderen. (Basso 1972)

    Hier erscheint ein klarer Bruch in Bezug auf das Verhltnis zwischen Mitteln und Zweck, das die brgerliche, instrumentelle Rationalitt unterstellt, und Basso ruft dazu auf, die Mittel der Arbeiter_innen fr politische Artikulation so eng wie mglich aus einer vorlufigen Perspektive mit den Zielen der Transition zu verzahnen.

    Es ist also keineswegs berflssig zu betonen, dass jener besondere Moment (die Machtbernahme) gleichsam als Scharnier oder Wendepunkt fungiert. Das macht ihn nicht zu einer trennscharfen Linie zwischen zwei Phasen. Diese sind strenggenommen sehr eng verbunden und reprsentieren letztlich ein historisches

    Kontinuum in Bezug auf das langfristige politische Projekt, das dem Moment des Wendepunktes Sinn verleiht.

    Im Einklang mit dieser Lesart suggeriert Isabel Rauber:

    das Angebot gesellschaftlicher Vernderung, das davon ausgeht, eine eigene Macht von unten aufzubauen, erfordert, die Transition als Teil des ganzen Transforma-tionsprozesses des kapitalistischen Systems von innen heraus zu denken und vice versa. (Rauber 2006: 43)

    Innerhalb dieser komplexen Entwicklung von Krften, schliet sie, drckt sich das Ringen um Hegemonie in Konflikten zwischen kapitalistischen und anti-kapitalistischen Logiken aus, die tatschlich innerhalb der existierenden kapitalistischen Welt prsent sind. (Rauber 2006: 43)

    Sie fungieren deshalb tatschlich als Anfnge der zuknftigen Gesellschaft und erlauben eine instabile berbrckung zwischen dem Alten, das noch stirbt, und dem Neuen, das noch nicht geboren werden kann.2

    Es ist klar, dass diese anfnglichen Kerne sich nicht vollstndig entfalten knnen, wenn sie sich nicht in ein bewusstes und subjektiv gesttztes Projekt globaler Transformation einschreiben, das von den Arbeiter_innen und ihren strategischen Mitstreiter_innen angetrieben wird, wenn es also nicht schon jetzt erkmpft wird und progressiv Entscheidungsmacht in der Gesellschaft ergreift. Mit dieser Definition beziehen wir uns weder nur auf die Regierungsmacht noch vor allem auf diese. Stattdessen fassen wir damit, was in Worten Lelio Bassos (1974) aus einer engen Verquickung zwischen konomischer und politischer Macht entsteht. In diesem umfassenden Verstndnis sind beide, und zudem brokratische, kulturelle, Bildungs- und sogar religise Macht erfasst.

    Transition als Prozess: Fragile Dialektik zwischen Reform und Revolution

    Knnte man insofern an ein Kontinuum denken, das sich von der kleinen Wirkung sozialer Kmpfe auf die staatlichen Strukturen bis zu den greren Transformationen erstreckt, die progressive Regierungen angestoen haben? Wie sind in dieser Hinsicht die Begriffe Reform und Transition zu verstehen? Das Konzept der Transition ist nicht identisch mit dem der Reform, letztere kann in ersterer enthalten sein. Whrend Reform sich auf jeden Wandel bezieht, der

    2 In Anlehnung an Gramscis Ausspruch: In der Krise stirbt das Alte, wiewohl das Neue noch nicht geboren werden kann.

  • 287286 Zwei Schritte vor und einen zurck? Mabel Thwaites Rey / Hernn Ouviaeine existierende Situation in irgendeiner Weise modifiziert und/oder verbessert, unterstellt das Konzept der Transition eine ganze Reihe radikaler Vernderungen, von einem Punkt zum anderen, in einem Prozess, der verschiedene sukzessive Aktivitten umfasst. Eine Transition kann sich ausgehend von der bernahme staatlicher Macht durch politische und soziale Krfte vollziehen, die sich fr eine Vernderung der sozialen Ordnung einsetzen, aber es ist unwahrscheinlich, dass sich dies in einem weniger radikalen Umfeld durchsetzt, und ist meist begrenzt auf bestimmte Segmente der staatlichen Institutionalitt. Zwischen Reform und Transition steht nicht nur die Frage des Ausmaes und der Ziele, sondern der Krfteverhltnisse. Eine Regierung mit popularer Ausrichtung und Wurzeln, die aber in einem fr tiefgreifendere Vernderungen ungnstigen Kontext ent-standen ist, kann sich in ihren Vorschlgen fr Transformation begrenzt sehen oder blockiert durch mchtige ihr entgegengesetzte Interessenlagen. Was den Reformismus als politischen Begriff ausmacht, ist, dass hier nicht beabsichtigt ist, brgerliche Produktionsverhltnisse zu berwinden oder nur zu problemati-sieren. Reformismus ist insofern eine Reformstrategie innerhalb des Kapitalismus. Diese entsteht zum Selbstzweck und nicht als Teil eines Projekts, in dem man sich um Kohrenz und das Wissen ber weiterfhrende emanzipatorische Praktiken bemht, das eine sozialistische Vision htte.

    In dieser Lesart konstatieren wir also, dass das, was eine wirklich revolutionre Strategie von einer reformistischen unterscheidet, nicht ein gewaltsamer Kampf um die Machtbernahme ist, sondern vor allem die Fhigkeit, subjektiv in die objektiv vorhandenen widersprchlichen Entwicklungsprozesse der Gesellschaft einzugreifen. Diese Kapazitt grndet sich auf eine strategische Weitsicht, in allen Phasen und Momenten dieser Kmpfe jede einzelne dieser Aktivitten von unabhngig voneinander organisierten subalternen Gruppen mit den anderen zu verbinden, ob sie nun friedlich oder gewaltvoll ausgerichtet sind, und die Gesamtperspektive, die kapitalistische Gesellschaft zu berwinden, dabei im Blick zu behalten. Hier halten wir uns an den Ausspruch des brasilianischen Kollegen Francisco Weffort (1991): Er argumentierte, dass Revolutionen zwar immer eine Dimension von Gewalt beinhalten, es aber nicht das ist, was sie als solche definiert; das Element der Gewalt ist nur ein Aspekt des umfassenden Transformationsprozesses der Gesellschaft und nicht die Essenz, die ihm Sinn verleiht. Zusammenfassend: Was eine Revolution definiert, ist das pltzliche und markante Auftauchen der Gesellschaft [pueblo] auf der politischen Bhne und nicht das Vermgen militrischer Konfrontation einer Organisation oder eines sozialen Sektors gegenber den repressiven Apparaten des kapitalistischen Staates.

    Aus diesen Grnden mssen wir besttigen: Schien in den 1960er und 1970er Jahren in Lateinamerika (und im Fall Zentralamerikas auch whrend der 1980er Jahre) der bewaffnete Angriff auf die Staatsmacht das einzig gltige Modell und die Vorbedingung zu sein, um einen bergang zum Sozialismus in Gang zu setzen, so ist es heute kaum mglich, ein berall gleichfrmiges Muster zu denken, und noch viel weniger die klassische Dynamik des Aufstands als con-ditio sine qua non voranzustellen, um eine Transition zu beginnen.3 Dennoch knnen die politischen Entwicklungen in Lndern wie Bolivien, Venezuela oder Ecuador nicht einfach als friedvoll bezeichnet werden. Sondern dort stellen wir in unterschiedlichem Ausma und Intensitt Spannungen und Gewalt fest, die erschweren, dass sich Erfolge subalterner Gruppen festigen, denn sie werden infrage gestellt oder sind von Putschgerchten oder Gegenangriffen vonseiten reaktionrer gesellschaftlicher Sektoren bedroht, die den radikaleren Vernde-rungsprozessen ablehnend gegenberstehen.4

    Der Schlssel liegt insofern darin, wie die entsprechenden Krfteverhltnisse und gengend Untersttzung konstruiert werden knnen, um tiefgreifendere Transformationen zu erreichen. Und der Unterschied zwischen den Regierungen liegt zudem darin, welche Ressourcen sie mobilisieren, um die Krfteverhltnisse zugunsten der popularen Mehrheiten zu verndern. Denn es geht nicht einfach darum, das Gegebene als Begrenzung hinzunehmen, sondern von der gegebenen Situation aus emanzipatorische Horizonte zu ffnen.5

    3 Aus diesem Argument heraus ist es interessant, das Postulat von Ralph Miliband aus seinem Buch Marxism and Politics (1977: 178) noch einmal anzusehen. Dort bestreitet er den Unterschied zwischen Reformismus und einer revolutionren Strategie im Begriff einer friedlichen Transition gegenber einer Perspektive der gewaltsamen Machtbernahme: this is not in fact where the opposition necessarily lies: a consti-tutional accession to power might be followed by a wholesale revasting of institutions; and a seizure of power need not involve such a recasting at all.

    4 Viel diesseitiger und wesentlich weniger radikal sind Prozesse wie im argentinischen Fall der Konflikt zwischen Staat und herrschenden Sektoren der Landwirtschaft 2009, knnen aber herrschende Interessen angreifen und die politische Situation der Staaten anspannen.

    5 Dazu lohnt es, den ironischen Kommentar von Moulin (2002) hier wiederzugeben. Moulin konstatiert die Notwendigkeit, ber die alte Debatte hinauszuweisen, die sich mit den Wegen beschftigte, die die Revolution nehmen sollte: Vor einiger Zeit, als in Chile das Problem des bewaffneten oder friedvollen Weges in Mode war, sagte ein mrrischer chilenischer Politiker, ihn interessierten diese Eisenbahnprobleme nicht. Er hatte ganz recht. Das eigentliche Problem ist nicht eins der Wege. Es ist eins, das sich um die Gltigkeit des Sozialismus als historische Mglichkeit dreht.

  • 289288 Zwei Schritte vor und einen zurck? Mabel Thwaites Rey / Hernn OuviaAus dieser Perspektive muss eine Vorstellung vom bergang zum Sozialismus,

    die sich auf die Entwicklung einer radikalen politischen Praxis bezieht, einen dialek-tischen Zusammenhang herstellen, und zwar zwischen den vielfltigen alltglichen Kmpfen, die unterschiedliche subalterne Gruppen in ihren jeweiligen umkmpf-ten Rumen entfachen, und dem Ziel, die kapitalistische Gesellschaft grundlegend durcheinander zu bringen. Dabei darf sie nicht die Grenzen unterschtzen, die der Staat diesen Vorhaben mit seinem systemstabilisierenden Institutionengerst entgegensetzt. Es geht darum, dass all diese widerstndigen Elemente zu Mecha-nismen der Brche und Zentren von Gegenmacht werden, die eine globale Stra-tegie strken und zugleich jene Teilforderungen aus einer emanzipatorischen und gegenhegemonialen Perspektive immer wieder neu stellen. Eine solche Dynamik, die Kmpfe um Reformen mit der strategischen Perspektive eines Umbruchs zu verknpfen, wird richtungsweisend fr eine Vernderung der Krfteverhltnisse zugunsten der subalternen Klassen. Die bewusste Vermittlung der Kmpfe mit-einander zielt darauf, Durchbrche zu erffnen, die kapitalistische Integrations-mechanismen entkrften und emanzipatorische Rume anlegen knnen und so im gramscianischen Sinn die Zukunft zur Gegenwart machen. Denn wie Andr Gorz es auszudrcken wusste, ist eine Reform nicht unbedingt reformistisch,

    die nicht im Hinblick auf das, was im Rahmen eines gegebenen Systems und einer gegebenen Leitung mglich ist, gefordert wird, sondern im Hinblick auf das, was angesichts der Bedrfnisse und Forderungen der Menschen mglich gemacht werden muss (Gorz 2008: 58)

    Diese Art von Initiativen knnen, insoweit sie sich in die konstante Mobilisierung und den Druck vonseiten subalterner Gruppen einschreiben, als Weg dienen, der dort selbst die Zukunft, um die gekmpft wird, nhrt, ausdehnt und beschleunigt. Das ist letztlich der wirklich substantielle Unterschied zwischen einer sozialisti-schen und einer reformistischen Perspektive: Die erste denkt die unmittelbaren Forderungen und Teilerfolge immer im Verhltnis zum historischen Prozess in all seiner Komplexitt und will eine Gegenmacht strken. In der zweiten Pers-pektive wird man gewahr, dass sie auf die Gesamtheit der Verhltnisse, die die kapitalistische Gesellschaft konstituieren, berhaupt nicht Bezug nimmt. Das fhrt dazu, dass sie sich in der Routine alltglicher kleiner Kmpfe um Reformen verbraucht. Diese perpetuieren letzten Endes die Unterordnung der subalternen Gruppen, da sie sich nicht mit einem bergeordneten Ziel der berwindung der herrschenden Ordnung verbinden, auf das Basso sich bezog.

    Deshalb prsentiert sich den subalternen Sektoren eine nicht zu unterscht-zende Herausforderung. Statt sich auf die Manahmen und Forderungen zu beschrnken, die erhoben werden, whrend gegenhegemoniale politische Sub-

    jekte geformt und gestrkt werden, als wren es Momente an sich (d.h. die Ver-absolutierung des Was), sollten diese Forderungen im Verhltnis zu diesem historischen Prozess verstanden werden und diesen in all seiner Komplexitt verstehen (und vorranging das wie behandeln, d.h. die Vorstellung, wie sie in Zukunft umgesetzt werden knnen). Die vorlufige Gestaltung der zuknftigen Gesellschaft wre dann nicht nur von individuellen oder korporativen Erfolgen bestimmt, die an sich als gut bewertet werden, sondern von dem Echo, das sie fr den Aufbau und Ausstrahlung der Macht subalterner Klassen haben, die universal bedeutsam werden knnen.

    Doch diese Verbindung muss auch umgekehrt gedacht werden: Das Ziel oder die strategische Vision muss sich sprbar in den Mitteln dieses Aufbaus und den alltglichen Forderungen selbst wiederfinden. Diese Beziehung ist selbstverstnd-lich nicht harmonisch und nicht dasselbe wie eine vollstndige bereinstimmung zwischen beiden Polen. Sie wird eher zu einer widersprchlichen Verbindung, in der beide sich gegenseitig immanent sind [un contradictorio vnculo de inmanencia].

    Herausforderungen im Staat

    Nun haben wir das falsche Dilemma zwischen bewaffneter und friedlicher Durchsetzung infrage gestellt und die Vorstellung von der Revolution als in die Lnge gezogenem subjektiv-objektivem Prozess besttigt, die sich auf eine fragile Dialektik zwischen unmittelbaren Forderungen und groer Vision sttzt und die deshalb nichts mit dem einfachen aufstndischen Moment des Angriffs auf die Staatsmacht zu tun hat, auch wenn dieser als Mglichkeit bestehen bleibt. Uns bleibt die Frage danach, wie ein solcher komplexer und vielseitiger ber-gang zum Sozialismus voranzutreiben ist, mit dem Staat als problematischem Angelpunkt. Unverndert fragen sich zudem politisch linke Gruppierungen, ob ein Transitionsprozess zu einer postkapitalistischen Gesellschaft die staatlichen Apparate zum Zentrum der Auseinandersetzung machen soll oder ob die Kmpfe subalterner Gruppen sich vllig von ihnen distanzieren soll. Diese Frage hat sich in den 1990er Jahren mit den Bemhungen verschiedener autonomer Bewegun-gen, politische Angebote zu machen, noch verschrft, allen voran zweifellos des Zapatismus.

    Ein Blick auf historische Wandlungsprozesse zeigt, dass die politische Praxis des Widerstands und der Kampf gegen Herrschaftsformen, die sich im Staat kristallisieren, nicht dasselbe sind, wenn man auerhalb der Regierung steht, als wenn man in einem Vernderungsprozess an der Regierung beteiligt ist. Be-findet man sich auerhalb des Staates, in einer Konfrontation von auen, ist die

  • 291290 Zwei Schritte vor und einen zurck? Mabel Thwaites Rey / Hernn OuviaProtesthaltung klarer und leichter beizubehalten. Problematisch wird es, wenn die Umstnde es erlauben, populare Gruppen in die staatliche Institutionalitt zu integrieren: Das reicht von der Mglichkeit, kleinere Stellen in einer Reform-regierung auszufllen bis zur aktiven Beteiligung an einem ambitionierteren Transformationsprozess mit tiefgreifenderen Zielen, der eine grere berschnei-dung im institutionellen Gerst erfordert. Denn hier entfaltet sich die enorme staatliche Maschinerie mit all ihrem Gewicht, ihrer Funktion, Herrschaft zu reproduzieren. Hier steckt die entscheidende Konfrontation, die zu Revision, Widerstand und Transformation fhren kann.

    Im momentanen Kontext kapitalistischer Herrschaft auf globaler Ebene kn-nen der real existierende Staat und die gesellschaftlichen Verhltnisse, auf denen er basiert und die er durch seine Struktur, Werte und Funktionen verteidigt, nur kapitalistisch sein. Der Staat ist systematisch durch das Weltsystem begrenzt, das global die Ausprgungen von Produktion und Reproduktion strukturiert. Wie wir oben bereits angedeutet haben, strahlen globale Akkumulationszyklen, die den Aufstieg und Fall vom Preis der auf dem Weltmarkt gehandelten Gter und Dienstleistungen bestimmen, mit ihren Organisationsmustern auf die ver-schiedenen staatlichen Rume durch. Wird der Staat von einer revolutionren Regierung regiert, kann er im besten Fall, wie verschiedene Autor_innen betont haben,6 staatskapitalistisch oder, wenn man so will, ein brgerlicher Staat ohne Bourgeoisie sein, eine Institutionalitt ohne sozialen Konsens von keiner der grundlegenden Klassen, die aber letztlich dennoch im Sinne des nationalen und internationalen Kapitals agiert. Gleichzeitig jedoch ist dieser staatliche Raum ein Terrain, das zwischen Ausbeuter_innen und Ausgebeuteten umkmpft ist, die voneinander abweichende Politikprogramme vertreten und um Regierungs-posten ringen. Das heit, innerhalb der staatlichen Strukturen verschrfen sich die Auseinandersetzungen im Takt der gesellschaftlichen Widersprche, die ihn durchziehen und seine Politik und Handlungen bedingen.

    Auf dem Spiel steht hier die effektive Fhigkeit der subalternen Klassen, ihre Interessen so zu organisieren, dass sie das Beharrungsvermgen staatlicher Insti-tutionen und ihre Reproduktionslogik fr das System durchbrechen knnen. Das heit, die brokratische Dynamik der Ineffizienz und Korruption abzubauen, die Instanzen demokratischer Teilhabe lhmt, Funktionr_innen verfhrt und sie zu neuen Brokrat_innen macht, die ihre eigene Stellung festigen, Kritik unhrbar

    6 So etwa die berlegungen von Juan Carlos Monedero, Vctor Moncayo, Ral Prada und Mabel Thwaites Rey in der Zeitschrift Crtica y Emancipacin N 4 von 2010 (Buenos Aires: CLACSO).

    machen und Projekte des Wandels zu schwchen suchen. Das ist zweifellos eine Gefahr, die sicher jeden Transitionsprozess betrifft, der mittels Regierungskrften das institutionelle Terrain des Staates besetzen will, um die etablierten Struk-turen abzutragen, whrend sie von anderen Arten, gesellschaftliche Belange zu bearbeiten, ersetzt werden. Es ist das drngendste und komplexeste Dilemma fr diese bergangsregierungen und fr die gesellschaftlichen und politischen Krfte, die einen Wandel antreiben.

    Innerhalb der Zeitrume, die das Wahlsystem der reprsentativen Demokratie fr institutionellen Wechsel markiert, ist es, auch wenn Wahlen gewonnen werden, angesichts der Krze der Mandate sehr schwer, staatliche Institutionen so zu beset-zen, dass dies eine tiefgreifendere Transformation ihrer Logiken erlauben wrde je nachdem, in welchem Mae die staatliche Macht auf komplexen Produktions- und Reproduktionsmustern von Hegemonie beruht, die in der politischen und der Zivilgesellschaft verwurzelt sind. Gleichzeitig gibt es im Staat eine Reihe von Mechanismen der strukturellen Selektivitt, die Prioritten abstecken, Forde-rungen und Interessen blockieren und mehr oder weniger systematische Muster von Einschrnkungen und Mglichkeiten bilden, je nach ihrer Kompatibilitt mit der allgemeinen Dynamik kapitalistischer Akkumulation (vgl. Jessop 2008).

    Es sind diese starren, komplexen, dichten Strukturen nicht regierbar in dem Sinne, dass es nicht leicht ist, sie nur durch Trger_innen eines alternativen politischen Projekts anzupassen. Ihre Strke, die auf Regelungen und Verfah-rensmustern, institutionellem und spezifischem technischem Wissen beruht, fungiert als eine Art Bremse sogar fr die bescheidensten Vernderungen. Einen bergangsprozess anzuregen bedeutet, von einer staatlichen Realitt auszuge-hen, die funktioniert, aber im Hinblick auf gesellschaftliche Bedrfnisse und Forderungen unbefriedigend ist. Sie muss insofern in etwas anderes verwandelt oder vollstndig abgebaut werden. In jedem Fall fhrt das zu Widerstnden von denjenigen, deren Interessen in der Kontinuitt des status quo liegen. Hier finden sich nicht nur direkt vom System Begnstigte, sondern auch subalterne Sektoren, die in den staatlichen Strukturen arbeiten oder von denen leben, die verndert werden sollen, und das wird zu einem sehr komplexen Aspekt jeder Transformation. Der Widerstand staatlicher Gewerkschaften7 zum Beispiel ist fundamental, um Mglichkeiten und Grenzen von Vernderungen im ffentli-chen Sektor zu verstehen.

    7 In einigen lateinamerikanischen Staaten fungierten Gewerkschaften gleichsam als Mittlerinnen zwischen staatlichen Institutionen und den in formelle Arbeitsverhlt-nisse eingebundenen Sektoren der Bevlkerung (Anm. d. .).

  • 293292 Zwei Schritte vor und einen zurck? Mabel Thwaites Rey / Hernn OuviaDas Dilemma der Brokratie und die Gefahren der Partizipation

    Der oben genannte Aspekt verknpft sich mit dem zentralen Problem der Bro-kratien, denn diese Strukturen verleihen ihren Vertreter_innen Titel und Ehren und garantieren differenzierte materielle Bedingungen. Unmittelbar entsteht einWiderspruch zwischen der Notwendigkeit zum Wandel und der Abschaffung von brokratischen Funktionen, Posten und Aufgaben und dem Interesse derjenigen, die sie als persnliche Quelle materieller und/oder symbolischer Gter bewahren wollen. Die brokratische Falle wird so noch grer fr die Regierungen mit Ambitionen zum Wandel. Denn es gibt eine enorme Vielzahl von Aufgaben, die der Staat ausfhrt und die zumindest bergangsweise Gltigkeit besitzen, da sie Fragestellungen regulieren, die mit dem Leben im Jetzt zu tun haben. Zudem gibt es harte Kerne staatlicher/ffentlicher Handlungen, die ber lange Zeit weiterhin unabdingbar sein werden, und ein groer Teil dieser Aufgaben bringen spezifisches Wissen mit sich, dessen Weitergabe komplex ist.

    Die Frage ist also, wie diese nicht aufschiebbaren Aspekte bearbeitet wer-den. Denn ihre Praxis soll zugleich allgemein sozial ntzlich sein, aber nicht denjenigen, die sich um diese Aufgaben kmmern, solche Macht verleihen, die zur eigenen Bereicherung und zuungunsten anderer sozialer Gruppen genutzt werden kann. Das System der Mllentsorgung gut zu verwalten, scheint zum Beispiel keine sehr revolutionre Aufgabe. Doch auf Regierungen, die in Wah-len der periodischen demokratischen Prfung unterworfen sind, wird es groe Auswirkungen darauf haben, wie ihre Regierungsfhigkeiten dafr eingeschtzt werden, alltgliche Probleme zu lsen, ob die Straen sauber sind oder nicht. Doch um vom ffentlichen Sektor aus Aktivitten gut auszufhren, sind Wissen und vollste Verbindlichkeit notwendig. Ein Wissen, das nicht unbedingt oder in jedem Fall akademische Titel voraussetzt oder eine Meritokratie, sondern Leitungskapazitten, Organisationsfhigkeiten, die in neuen Bearbeitungsfor-men selbst erlernt werden knnen. Es gibt ein Spannungsverhltnis zwischen unterschiedlichen Wissensformen. Die Kunst, sie zu vermitteln, ohne dass eine sich in antidemokratischer Weise gegenber den anderen durchsetzt, wre ein wichtiges Merkmal einer erfolgreichen Transition.

    Die populare Partizipation an der Definition und in der Bearbeitung kollekti-ver Themen muss zwingend jedes transformatorische Projekt orientieren. Doch die historische Erfahrung zeigt, dass Partizipation weder dasselbe ist wie eine konstante massenhafte Mobilisierung und Entscheidung noch die permanente direkte Beteiligung an kollektiven Angelegenheiten. Die Momente grter Parti-zipation fallen meist mit kritischen Phasen zusammen: Dann fallen Forderungen

    zusammen, brechen mit irgendeinem Auslser auf und beschleunigen die Be-reitschaft fr kollektive Bewusstseinsbildung und die gemeinsame Beteiligung. Allerdings erreichen diese Momente begeisterter Beteiligung ein Maximum und flauen dann ab, entweder, weil das transformatorische Potential in Niederlagen verwssert wird oder weil es von staatlichen Stellen absorbiert und verarbeitet wird, mehr oder weniger umfassend und mehr oder weniger progressiv je nach den entstandenen Krfteverhltnissen. Es ist ja schon sehr komplex, eine massive, dauerhafte Partizipation in gemeinschaftlichen Angelegenheit zu denken, denn das wrde heien, immer in einem Mobilisierungszustand zu sein.

    Partizipation ist etwas viel komplexeres, als wir gemeinhin zugeben, die wir fr echte Demokratie, fr Horizontalitt sind. Die Tendenz, Aufgaben zu delegie-ren, ist relevanter, als wir anerkennen mchten, als stnde das Delegieren gegen unsere emanzipatorischen berzeugungen. Das Spannungsverhltnis zwischen Partizipation und Delegieren ist insofern ein reales Problem, das die Praxis lsen muss, denn es reicht nicht zu verknden, Partizipation sei etwas Gutes. Auch die Bemhungen von Aktivist_innen, einen optimalen und dauerhaften Zustand der Teilhabe fr alle diejenigen herzustellen, die theoretisch von Entscheidungs-findung im gemeinschaftlichen Leben betroffen sind, sind nicht ausreichend.

    Deshalb muss die Funktion von Regierung und Institutionendesign berck-sichtigt werden. Diese stufen das bertragen von Aufgaben nicht zur Ersatz-handlung herab, die die Subalternitt der Mehrheiten verfestigen wrde. Es geht darum, von sofort an die Praxis zu verndern, in der gemeinschaftliche Themen bearbeitet werden, Schwierigkeiten anzuerkennen und sich Alternativen auszu-denken, die tatschlich demokratische, reale, wirksame Formen vorwegnehmen und erahnen lassen, die von konkreten Subjekten verkrpert werden knnen und nicht in unpraktikable oder unhaltbare Idealisierungen verfallen.

    Eine monolithische Sicht auf den Staat stellt die Mglichkeit infrage, soziale Bewegungen knnten sich an der Amtsfhrung ffentlicher Rume beteiligen; sie weist auf die Gefahr hin, sie knnten von der herrschenden Dynamik kooptiert werden und verlren ihre Mobilisierungsfhigkeit, Kampfkraft und unabhngige Organisationsmglichkeiten. Dass die Institutionalisierung ihrer Forderungen die Bewegungen kanalisieren und brokratisch werden lassen kann, sie ihre Rolle als Knotenpunkte gesellschaftlicher Forderungen und ihr transformatorisches Potential verlieren knnen, ist tatschlich ein Risiko.

    Die Geschichte ist voller Beispiele von solchen Kanalisierungen. Doch sie zeigt auch, dass die absolute Unabhngigkeit der sozialen Bewegungen vom Staat und mit ihr das Beschwren der Gefahr, kooptiert zu werden sich nicht immer in eine dauerhafte Fhigkeit bersetzt, produktiv Forderungen, Dissens und Konsens

  • 295294 Zwei Schritte vor und einen zurck? Mabel Thwaites Rey / Hernn Ouviazu vermitteln. Besonders im Hinblick auf Bewegungen und Forderungen, die sich auf den Staat richten, kann das Ausbleiben ffentlicher Antworten, also von konkreten Formen, mittels derer der Staat die gesellschaftlichen Forderungen internalisiert, die Kraft der sozialen Bewegung schwchen, sei es durch Zermr-ben oder durch Niederlagen.

    Die Autonomie der sozialen Bewegungen vom Staat ist unabdingbar, damit sie ihre Interessen und Projekte verteidigen knnen. Aber der Staat oder der ffentliche Raum muss, wenn er die Forderungen der Bewegungen und ihm in politischen Auseinandersetzungen abgentigte Errungenschaften erfllt, dies in irgendeiner Weise formen. Jemand aus den staatlichen Apparaten oder Stellen muss die Aufgaben bernehmen, die solche Errungenschaften implizieren. Es kann ein auen der Bewegungen geben in Bezug auf den Staat, wenn es um Struktur und Apparat geht. Aber in jenem Fall muss klar sein, dass ein innen von Personen und Ressourcen gebildet wird, die ihre eigenen Praktiken, Inte-ressen, Wahrnehmungen, Routinen hineingeben und die damit die externen Forderungen der sozialen Bewegungen offenbar werden lassen.

    An diesem Punkt muss also deutlich sein, welche die Gefahren sind und wie man versuchen kann, sie einzuhegen. Denn im Auen zu bleiben, um Auto-nomie zu wahren, kann in jenen Kontexten ntzlich sein, in denen die Staaten klar brgerlich sind, Spaltungen widerstehen und Brche berdecken, die gesell-schaftliche Sektoren mit ihren Kmpfen verursachen. Und selbst in diesen Fllen prsentieren sich Probleme fr die Bewegungen, die irgendwie die Mglichkeit haben, in der ffentlichen Verwaltung, die mit ihren Forderungen zu tun hat, zu partizipieren. Das ist eine alte und komplexe Frage, die sich stellt, in Situationen, in denen Errungenschaften Auswirkungen auf die staatlichen Strukturen selbst bedeuten. Denn die Gefahr der Kooptation, der Vereinnahmung und/oder der Institutionalisierung der Bewegungsmitglieder, die Teil des Staatspersonals wer-den, gibt es immer, auch unter einer popularen oder linken Regierung.

    Es ist eine Gefahr, die die Bewegung selbst mit einschliet, wenn ihre Mit-glieder oder Vertreter_innen dann ihre Forderungen vereinnahmen lassen oder sich der Akkumulationslogik unterordnen. Das Problem verschrft sich in Ver-nderungsprozessen, in denen das staatliche Terrain im Ringen darum, das Alte und seine Privilegien zu bewahren und das Neue, Geforderte, Notwendige8 zu schaffen, von neuen Spaltungen durchzogen wird.

    8 Dieses Neue soll nicht nur die [staatliche] Steuerungsttigkeit tiefgreifend verndern, sondern die materiellen Bedingungen, auf denen diese grndet, die sie gegenseitig bestimmen und von ihr bestimmt werden.

    Hier mssen wir in einem Block zwei verschiedene Punkte zusammenbringen: Funktionr_innen mit Leitungsfunktion und politischem Willen, die Aufgaben bernehmen, fr die spezifisches Wissen notwendig ist, und die Gesellschaft, mittels sozialer Bewegungen und Gruppen, die nicht nur ihre Forderungen stellen und Prioritten und Aktionswege definieren, sondern die sich an ihrer Durchsetzung beteiligen. Damit wird die Funktionr_innen, die ffentliche Be-lange bearbeiten, von der Gesellschaft kontrolliert und die Bewegung wiederum muss partikulare Forderungen mit anderen Forderungen zu artikulieren wissen. Deswegen kann es nicht eine Stelle geben, die nur Ausdruck und Reprsentation von Bewegungsinteressen wre, denn so wren immer diejenigen erfolgreich, die am meisten Druck ausben, am besten organisiert sind etc. Es muss eine Vermittlungsinstanz auf umfassender Ebene geben, die allgemeine Prferenzen vermittelt und bildet. Zugleich mssen klare Instanzen der Partizipation und Kontrolle durch die Gesellschaft geschaffen werden, um Willkr und ein Aus-nutzen zu eigenem oder institutionellem Gewinn (was in dem Fall dasselbe sein kann) vorzubeugen.

    In Bolivien stellt sich heute die Herausforderung, die Pluralitt zu artikulieren. lvaro Garca Linera (2010) argumentiert, es sei notwendig, die ausschlielich mit formalen Titeln verknpfte herkmmliche Meritokratie zu ersetzen und Verdienste mit einzubeziehen, die mit aktiven Verpflichtungen zu tun haben, mit Biografien des politischen Kampfes. Aus Perspektive der Gesellschaft, der sozialen und politischen Bewegungen bezieht sich das Thema darauf, staatliche Stellen zu besetzen und zu verteidigen, die zugunsten popularer Interessen fungieren. Solche Errungenschaften knnen sich ber ein Gesetz, ein Planungsprogramm, ein bestimmtes neues ffentliches Institut vollziehen, das u.a. mit den geforderten Auftrgen betraut ist.

    ber die deutlichen Unterschiede der aktuellen Erfahrungen hinaus (und auf allgemeinerer Ebene auch ber die Unterscheidung zwischen Bewegungen mit indigenen und kommunitren Wurzeln und jenen, die ihre politische Arbeit in den groen urbanen Zentren verorten), geht es statt um eine Dichotomie zwischen der vlligen Distanz zum Staat und der Unterordnung unter dessen Zeitraster, Vermittlungen und Initiativen vor allem darum, klar zu differenzie-ren: Zwischen einer subalternen Partizipation in den Worten Lelio Bassos (1969) die zweifellos eine wachsende Integration der popularen Sektoren in das staatliche Rderwerk mit sich bringt und die tatschlichen Fhigkeiten, es aufzubrechen beeintrchtigt und einer autonomen und gegenstzlichen Partizipation libertrer Ausrichtung.

  • 297296 Zwei Schritte vor und einen zurck? Mabel Thwaites Rey / Hernn OuviaVorlufige Schlussfolgerungen

    Aufgrund der vorherigen kritischen berlegungen ist die sogenannte Macht-bernahme in einem Groteil der Region eben nicht Produkt eines pltzlichen Akts physischer Gewalt, der mit allem Vorherigen tabula rasa macht (der klassi-sche Angriff auf den staatlichen Himmel), sondern Ergebnis eines langfristigen Prozesses, der kapitalistischen Gesellschaft immanent. Sie ist die Synthese von Kontinuitt und Brchen wenn auch ohne historische Leerstellen , die aus dem Inneren der alten Gesellschaft heraus entsteht, und die die langsame Entwicklung der objektiven Bedingungen ebenso einschliet9 wie ein Klassenbewusstsein (das nicht quantitativ bemessen werden kann, sondern immer eine qualitative Dimension von Entwicklung hat). Aus dieser originren Perspektive gleichen die regionalen Spezifika in der Transition der widersprchlichen und in die Lnge gezogenen Phase, die einer Machtbernahme im umfassenden Sinn vorausgeht und sie gleichsam vorbereitet, mittels der Konstitution gegenhegemonialer und antikapitalistischer politischer Subjekte. Diese Phase hlt nach diesem Moment an, ist nicht unterbrochen, auch wenn die Grundlagen andere sind.

    Einige abschlieende berlegungen knnen wir formulieren: In diesem Ka-pitel haben wir zentrale Achsen der Debatte ber den Staat in Lateinamerika und die Mglichkeiten, sie mit einer Transition zu verbinden, aufgezeigt. In diesem Sinn war eines unserer zentralen Ziele, zu entschrfen, was bisher, auer in wenigen theoretischen und praktischen Ausnahmen, einander ausschlieende Optionen zu sein schienen. Stattdessen haben wir versucht zu zeigen, dass es hier Mglichkeiten einer schwierigen Komplementaritt gibt (die, wie wir gesehen haben, nicht frei von Spannungen ist).

    Eine Frage, die uns unentbehrlich scheint, ist, wie man vom kritischen Den-ken aus diese widersprchlichen Entwicklungen bersetzen und konzeptionell fassen kann, die sich momentan auf unserem Kontinent vollziehen. Vielleicht ist es, um eine Antwort geben zu knnen notwendig, sich den etymologischen und mehrdeutigen Sinn des Wortes traducir [bersetzen] bewusst zu machen: Gleichzeitig bezieht es sich auf Tradition (also das Vergessene wiedergewinnen), auf Traicin [Verrat, Bruch] (der in jeder Neu-Interpretation immer implizit und notwendig ist) und auf transicin [Transition] (zu etwas Erneuertem, das die me-chanische Wiederholung der Tragdie als Farce beendet). Dies war eine Absicht unseres Textes: Weniger sichtbar gewordene Traditionen des Marxismus und der

    9 Die materiellen Bedingungen grnden sich darauf, dass sich wachsende Elemente der zuknftigen Gesellschaft in die im weitesten Sinne verstandenen Produktivkrfte einschreiben.

    Geschichte derer von unten wiederzugewinnen, um sie neu zu interpretieren (oder traicionarlas, mit ihnen zu brechen), um die zuvor nicht dagewesenen He-rausforderungen zu fassen, die die politischen Entwicklungen in Lateinamerika mit sich bringen. So knnen wir beitragen zu einer transicin zu einem neuen theoretisch-praktischen Gerst, das auerdem Denkmuster und Matrix fr po-litische Aktion in unserer Zeit sein kann, die so schwer zu greifen ist.

    Die Frage, ob man in diese Richtung vorankommt (in der konfliktiven Realitt Lateinamerikas und im Bereich der intellektuellen Reflektion), lsst sich nicht a priori oder allein aus dem Lesen der Klassiker_innen oder bestimmter historischer Perspektiven sagen, die letztlich in Zerstrung endeten. Stattdessen muss es einen solidarischen Dialog mit jedem der komplexen politischen Projekte auf unserem Kontinent geben, die wir gleichsam als Versuchslabore betrachten knnen und die sich permanent im Wandel befinden, mit Erfolgen und Rckschlgen. So knnte man einer Gefahr entgehen, vor der Toms Moulin (2005: 46) vor einigen Jahren warnte, nmlich dass die konkreten Formen einen Sozialismus aufzubauen zu einem Modell zur Nachahmung oder einer Kopie werden, womit die Besonder-heiten jedes einzelnen historischen Konstruktionsweges verloren wren.

    Ebenso ist ein weiterer neuralgischer Punkt, der vertieft werden msste, die Dimension der Widersprchlichkeit des Staates, vielmehr noch wenn es sich um eine klar erkennbare Transitionsphase handelt. Denn eine Forderung, die sich im Staat niederzuschlagen vermag, wird nur schwer zu hundert Prozent umgesetzt werden und muss sich mit anderen Forderungen vermitteln lassen. Die eigenen Ansprche der notwendigen Anpassung zu unterziehen, damit sie mit anderen kompatibel werden, ist ein zentrales Thema, das Konflikte, Debatten, Verhand-lungen und Kompromisse mit sich bringt. Doch auerdem kann die Internali-sierung einer Forderung durch den Staat gerade die Mobilisierungskapazitten schmlern, die weitere Errungenschaften ermglichen wrden.

    Natrlich wird es hier komplexer, denn wie wir bereits beobachtet haben, bleiben die Kmpfe, die zu Erfolgen fhren, nicht ber lange Perioden auf dem gleichen Spannungsniveau, sondern steigen an, haben Hhepunkte und flauen wieder ab, so dass die grte Herausforderung darin besteht, Errungenschaften auszuweiten und die Mglichkeit fr andere, neue erffnen. Die Schwierigkeit liegt darin zu verhindern, dass das notwendige Verankern einer Forderung im staatlichen Gefge (das bedeutet, dass gemeinschaftliche Mittel mobilisiert werden knnen) zu brokratischen, antidemokratischen Verfestigungen fhrt.

    lvaro Garca Linera (2010: 12) fasst die Spannung zwischen der monopo-lartigen Macht des Staates und der demokratischen und partizipativen Vielfalt der sozialen Bewegungen zusammen:

  • 299298 Zwei Schritte vor und einen zurck? Mabel Thwaites Rey / Hernn OuviaWenn der Staat per definitionem Monopole innehat und die soziale Bewegung Demokratisierung der Entscheidung bedeutet, ist es ein Widerspruch, von einer Regierung der sozialen Bewegungen zu sprechen. Denn wenn der Bereich des Staa-tes Prioritt bekommt, ist die Konsequenz, dass sich eine neue Elite behauptet, eine neue politische Brokratie. Doch wenn nur der Bereich der Debatten auf dem Terrain der sozialen Bewegungen priorisiert wird, luft man Gefahr, den Bereich von Verwaltung und Staatsmacht zu vernachlssigen. Die Lsung ist, permanent in diesem Wrde bringenden Widerspruch des Klassenkampfs, sozialer Kmpfe zu leben und diesen zu nhren.

    Es ist insofern notwendig die rudimentre Konzeption vom Staat zu berwinden, die ihn als monolithischen Block und Instrument in Hnden der herrschenden Klassen versteht, und stattdessen zu einem komplexeren Verstndnis sowohl der Staatlichkeit wie der politischen Praxis selbst zu kommen. Aus dieser Perspektive sind Widerspruch und Asymmetrie zwei konstitutive Elemente der Konfigu-rationen von Staatlichkeit in Lateinamerika. Damit verfllt man nicht in eine Definition des Staates als feindlicher Festung, die eingenommen werden muss, wie in einer populistischen Sicht, die ihn zu einer vllig unbeschriebenen und kolonisierbaren Einheit machen will. In diesem Sinn ist Gramscis Strategie des Stellungskrieges aus seinen Gefngnisheften eine weiterfhrende Metapher, um eine Grozahl der neuen Formen politischer Intervention zu benennen, die in den letzten Jahren in der Region entstanden sind; hier ist es mglich, sich von Vorstellungen einer elitren Avantgarde und der alten Strategie eines Angriffs auf die Macht zu distanzieren. Von dieser Metapher aus wird Revolution als langfristiger Prozess verstanden, in dem sich politische Subjekte konstituieren, die wohl aus einem Konflikt mit vielen Facetten im Inneren der Gesellschaft hervorgehen, aber die Mglichkeiten, den Einfluss auf und die Partizipation in bestimmten Teilen des Staates nicht gering schtzen. Dies soll, wenn auch nicht aus einer antagonistischen Perspektive, die Elemente der neuen Gesellschaft in die juridisch-institutionellen Ordnung einfgen, um die symbolischen und materiellen Gegebenheiten wesentlich zu verndern und auf eine umfassende und wesentliche Demokratisierung nicht nur des Staates sondern des gesamten gesellschaftlichen Lebens hinzuwirken.

    Als er die Spannung zwischen geflligem Reformismus und emanzipatorischem Druck analysierte, zeigte Nicos Poulantzas (1979) in seiner Staatstheorie, dass die Frage, wer an der Macht ist und wofr, im Rahmen von Kmpfen um Selbstbe-stimmung und direkte Demokratie nicht vernachlssigt werden werden darf. Doch gleichzeitig knnen diese Kmpfe und Bewegungen sich nicht vllig auerhalb des Staates verorten, sondern mssen auf Vernderungen der Krfteverhltnisse auf dem Terrain des Staates selbst hinwirken. Fr den griechischen Theoretiker konnte

    sich eine Transformation der Staatsapparate, die auf die Auflsung des Staates hinzielt, nur auf wachsende Eingriffe der popularen Sektoren in den Staat sttzen, sowohl durch ihre gewerkschaftliche und politische Reprsentation, als auch durch die Ausbreitung neuer Formen direkter Demokratie und der Knotenpunkte und Netzwerke fr Selbstverwaltung, die Auswirkungen im Inneren des Staates haben (vgl. Poulantzas 1979). Dies ist also die Herausforderung fr ein emanzipatorisches Projekt: Die politische Demokratie, die je nach Gewichtung und mehrheitlichen Prferenzen eine allgemeine Richtung vorgeben kann mit einer Demokratie der Basis zu verbinden, die eine Vielzahl von Fragen des gesellschaftlichen Lebens von unten zu lsen und zu transformieren versucht.

    Aus dem Spanischen von Alke Jenss

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    Rhina Roux

    Mexiko: Die groe Transformation als Bruch des Gesellschaftspaktes

    Wenn man den Mechanismus des Marktes als ausschlielichen Lenker des Schick-sals des Menschen und ihrer natrlichen Umwelt oder auch nur des Umfangs und der Anwendung der Kaufkraft, zuliee, dann wrde dies zur Zerstrung der Gesell-schaft fhren [] Aber keine Gesellschaft knnte die Auswirkungen eines derartigen Systems grober Fiktionen auch nur kurze Zeit ertragen, wenn ihre menschliche und natrliche Substanz sowie ihre Wirtschaftsstruktur gegen das Wten dieses teufli-schen Mechanismus nicht geschtzt wrden. (Polanyi 1977: 100 [dt.: 2004: 112])

    Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts begann die Entfaltung eines gewaltsamen Prozesses der verallgemeinerten Expansion des Kapitals. Dieser Prozess struktu-rierte Beziehungen zwischen unterschiedlichen Kapitalfraktionen neu, vor allem aber die Form und Inhalt von Herrschaft, Widerstand und Auflehnung. Dieser Prozess zersetzt Schutzmechanismen der menschlichen (Lebens-)Welt; zerstrt politische Herrschaftsweisen, die noch auf Abhngigkeitsbeziehungen grnde-ten, die als natrlich oder heilig begriffen werden; vernichtet jahrtausendealte Verbindungen und Gleichgewichte zwischen Mensch und Natur; und integriert Arbeit, Territorien, Gemeinschaftsgter, Wissensbestnde und Fertigkeiten in die Kreislufe des Kapitals.

    Im mexikanischen Territorium untergrbt diese groe Transformation die materiellen und sozialen Grundlagen eines historisch herausgebildeten Staats-verhltnisses: jenes Staates, der aus der Mexikanischen Revolution hervorging. Aufgebrochen werden auch seine Kodizes von Befehl und Gefolgschaft, seine Art und Weise Legitimitt herzustellen seine Rituale und Symbolik. Allerdings ist bislang keine neue, stabile und dauerhafte Form der politischen Herrschaft an die Stelle des alten politischen Regimes getreten. Vielmehr vollzieht sich ein Absturz in eine Art hobbesschen Kriegszustand, in dem Gewalt und Schutz- und Straflosigkeit vorherrschen.

    Dieser Text prsentiert berlegungen zur Transformation des mexikanischen Staates in diesem Epochenwechsel. Es wird angenommen, dass es zum Verstnd-nis der Beharrungen und Brche des Staates in Lateinamerika nicht ausreicht,