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Band 384 Textanalyse und Interpretation zu Stefan Zweig Walburga Freund-Spork Alle erforderlichen Infos für Abitur, Matura, Klausur und Referat plus Musteraufgaben mit Lösungsansätzen

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Band 384

Textanalyse und Interpretation zu

Stefan Zweig

Walburga Freund-Spork

Alle erforderlichen Infos für Abitur, Matura, Klausur und Referatplus Musteraufgaben mit Lösungsansätzen

Theodor Fontane

fra u jenny tr eibeloder „Wo sich Herz zum Herzen find’t“

Textanalyse und Interpretation zu

Alle erforderlichen Infos für Abitur, Matura, Klausur und Referat

plus Musteraufgaben mit Lösungsansätzen

Martin Lowsky

königs erlä uterungenBand 360

2_Auflage_9783804419063.indd 1 15.02.2011 15:45:46

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Zitierte Ausgabe:Zweig, Stefan: Schachnovelle. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag,62. Auflage 2010.

Über die Autorin dieser Erläuterung:Walburga Freund-Spork, Studium der Germanistik und Geschichte an derUniversität Münster. Realschullehrerin, Fachleiterin für das Fach Deutsch Se-kundarstufe I, Mitautorin des Lehrplans Deutsch für die Sekundarstufe I (NRW),Referentin für Fort- und Weiterbildung bei der Bezirksregierung Detmold, stellv.Seminarleiterin am Studienseminar Sek. I in Paderborn.

In den Zeitschriften Diskussion Deutsch, Praxis Deutsch, Blätter für den Deutsch-lehrer und Literatur für Leser hat sie literaturdidaktische Beiträge vorgelegt.Literaturwissenschaftliche Untersuchungen zu Heinrich Heine, zu Novellen undRomanen der Gegenwart sowie zur modernen Essayistik sind von ihr in denUniversitäts-Taschenbüchern und in den Grabbe-Jahrbüchern erschienen. FrauFreund-Spork ist Autorin von Interpretationen und Lernhilfen namhafter Verlage.

Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung inanderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schrift-lichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52 a UrhG: Weder das Werk nochseine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt oder gespeichertund in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulenund sonstigen Bildungseinrichtungen.

1. Auflage 2012ISBN 978-3-8044-1986-5PDF: 978-3-8044-5986- , EPUB: 978-3-6986-© 2002, 2012 by C. Bange Verlag, 96142 HollfeldAlle Rechte vorbehalten!Druck und Weiterverarbeitung: Tiskárna Akcent, Vimperk

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INHALT

1. DAS WICHTIGSTE AUF EINEN BLICK –SCHNELLÜBERSICHT

6

2. STEFAN ZWEIG: LEBEN UNDWERK 10

2.1 Biografie 10

2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund 20

Wien als europäische Kulturstadt 20

Neue Ordnung in einer neuen Zeit 22

Der Erste Weltkrieg 23

Einschneidende Veränderungen durch dieMachtergreifung Hitlers ab 1933 25

Stefan Zweig im Londoner und brasilianischenExil (Petrópolis) 26

2.3 Angaben und Erläuterungen zuwesentlichen Werken 28

3. TEXTANALYSE UND -INTERPRETATION 33

3.1 Entstehung und Quellen 33

3.2 Inhaltsangabe 39

Einleitende Darstellung vor Ablegen des Schiffesnach Argentinien 40

Erzählerbericht zur Lebensgeschichte MirkoCzentovics 40

Schachspiel zwischen Ich-Erzähler und demSchotten McConnor 42

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INHALT

Dr. B. erzählt seine Lebensgeschichte 45

Schachduell zwischen Czentovic und Dr. B.mit glücklichem Ausgang 48

Schachduell zwischen Czentovic und Dr. B. mitglücklichem Ausgang 48

3.3 Aufbau 51

Zeitstufen 51

Kommentar 51

Zur Gattung 53

3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken 56

Die Hauptfiguren 56

McConnor 56

Mirko Czentovic 57

Die Figur des Ich-Erzählers 61

Der Ich-Erzähler als Moderator 62

3.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen 63

3.6 Stil und Sprache 68

3.7 Interpretationsansätze 72

Schachnovelle als psychologische Novelle 72

Schachnovelle als Denkmal eines an politischerVerfolgung gebrochenen Menschen 74

Schachnovelle als Aufeinanderprall zweiermonomanischer Menschen 74

Schachnovelle als stellvertretende Darstellungder Leidenden am Nazi-Terror 76

Schachnovelle als Antinomie zwischen geist-losem Funktionieren und intelligenterEinfühlsamkeit 77

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4. REZEPTIONSGESCHICHTE 80

5. MATERIALIEN 84

6. PRÜFUNGSAUFGABENMIT MUSTERLÖSUNGEN

89

LITERATUR 101

STICHWORTVERZEICHNIS 106

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1 SCHNELLÜBERSICHT 2 STEFAN ZWEIG:LEBEN UND WERK

3 TEXTANALYSE UND-INTERPRETATION

1. DAS WICHTIGSTE AUF EINEN BLICK –SCHNELLÜBERSICHT

Damit sich jeder Leser in dem vorliegenden Band rasch zurecht-findet und das für ihn Wichtigste gleich entdeckt, findet sich imFolgenden eine Übersicht.

Im 2. Kapitel wird Stefan Zweigs Leben beschrieben und der zeit-geschichtliche Hintergrund dargestellt.

Stefan Zweig lebte von 1881 bis 1942. Geboren wurde er in derS. 10 ff.

Kultur- und Kaiserstadt Wien; er starb in Petrópolis (Brasilien).Er wuchs in einer sehr wohlhabenden, dem jüdischenGroßbürgertum zugehörigen Familie auf. Nach Abitur undStudium der Literaturwissenschaft und Philosophie war es ihmvergönnt, sich einzig der Kunst und Schöngeisterei zu widmen.Einem Brotberuf musste er nicht nachgehen.Doch große politische und soziale Umwälzungen führten zuS. 23 f.

einschneidenden Veränderungen in seinem Leben. StefanZweig erlebte den Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf einerVortragsreise in Belgien und kehrte spontan nach Österreichzurück. In einem offenen Brief „an seine Freunde in Fremdland“geißelte er den völkerrechtswidrigen Überfall Deutschlandsauf Belgien, in dem er zum ersten Mal den nationalen demeuropäischen Gedanken voranstellte.Das Erscheinen Hitlers auf der politischen Bühne veränderteS. 25 f.

noch einmal die Welt, auch für Stefan Zweig. Antisemitismusschürte den Judenhass. Es kam zu barbarischen, geistlosenAktionen wie zur öffentlichen Bücherverbrennung am 10. Mai1933, der auch die Bücher Stefan Zweigs zum Opfer fielen.In Österreich schaltete die autoritäre Regierung des Kanzlers

6 STEFAN ZWEIG

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4 REZEPTIONS-GESCHICHTE

5 MATERIALIEN 6 PRÜFUNGS-AUFGABEN

Dollfuß im Kampf gegen faschistische Tendenzen das Parla-ment aus, ihm folgte nach seiner Ermordung 1934 Schuschniggals Kanzler, der wegen Forderungen Hitlers an Österreich zu-rücktrat. Unter seinem Nachfolger Seiß-Inquart wurde dannder Weg frei für die Annexion Österreichs durch Hitler.1936 hatte Zweig sich nach London ins Exil begeben und S. 26 f.

die englische Staatsbürgerschaft beim Einmarsch Hitlers inÖsterreich beantragt, die ihm 1940 zugestanden wurde. Vor-tragsreisen führten ihn nach New Haven (USA) und Petrópolis(Brasilien), wo er sich 1941 festzusetzen gedachte. Doch derauch in Brasilien wachsende Antisemitismus, das Verbot derdeutschen Sprache und das Abschneiden von der deutschspra-chigen Kultur führten ihn in schwere Depressionen, sodass ermit seiner zweiten Frau Lotte Altmann freiwillig aus dem Lebenschied.

Im 3. Kapitel wird eine Textanalyse und -interpretation angeboten.

Schachnovelle – Entstehung und Quellen:

Die Schachnovelle entstand als einzigesWerk Zweigs vollständig im S. 33 ff.

Exil. Er begannmit derNiederschrift 1941. Bevor Zweig imFebruar1942 aus dem Leben schied, hatte er das Manuskript auf den Wegan drei mögliche Verleger (in New York, Stockholm und BuenosAires) gebracht. Die Schachnovelle erschien auf Deutsch postumim Dezember 1942 als „Liebhaberdruck“ in limitierter Auflage inBuenosAires, imFrühjahr 1943 als allgemein zugänglicheAusgabeim Bermann-Fischer Verlag Stockholm.

Inhalt:

Auf einemPassagierdampfer auf demWeg vonNewYork nach Bue- S. 39 ff.

nos Aires fordert ein Millionär gegen Honorar den eingebildeten,

SCHACHNOVELLE 7

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1 SCHNELLÜBERSICHT 2 STEFAN ZWEIG:LEBEN UND WERK

3 TEXTANALYSE UND-INTERPRETATION

mitreisenden Schachweltmeister Czentovicz zu einer Schachpartieheraus. Der mitreisende Dr. B., ein von der Gestapo durch Haft undIsolation misshandelter Exilant aus Österreich, greift beratend indie Partie ein, und ihm gelingt, dass der Herausforderer gegen denWeltmeister einRemiserreicht.DasSchachspiel hatteDr.B. imblin-den Spiel mit sich selbst und im Nachspielen von 150 dargestelltenPartien aus einem gestohlenen Buch mit Spielanleitungen erlernt,um sich auf diese Weise während der Einzelhaft seine intellektuel-le Widerstandskraft zu erhalten. Durch die einseitige Anstrengunghatte er sich ein Nervenfieber zugezogen, in dessen Gefolge er ausder Haft entlassen worden war. Dr. B. will anhand des Spiels gegenden Weltmeister darüber Aufschluss erhalten, ob sein Tun in derHaft noch Spiel oder bereits Wahnsinn gewesen war. In der erstenPartie schlägt er denWeltmeister souverän, doch bei der Revanche,auf die er sich gegen seinen Willen einlässt, bricht das Nervenfie-ber erneut aus. Nur durch den Abbruch der Partie, für den derWeltmeister keinerlei Verständnis zeigt, kann er den vollständigenZusammenbruch vermeiden.

Personen:

Die Hauptpersonen sind Dr. B. und der amtierende Schachwelt-S. 55 ff.

meister Czentovic. Für die Lebensgeschichte Czentovics wird einErzähler eingeführt, während Dr. B. seine Lebensgeschichte selbsterzählt.

Der Stil und die Sprache Zweigs:

Zweig zeigt in der Novelle deutlich seine Vorliebe für Ich-Erzähl-S. 67 ff.

situationen.Die Syntax besticht durch Ausgewogenheit bei übersichtlicherGliederung und wohl kalkulierten Über- und Unterordnungen.

8 STEFAN ZWEIG

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4 REZEPTIONS-GESCHICHTE

5 MATERIALIEN 6 PRÜFUNGS-AUFGABEN

Der Stil ist sichtbarer Ausdruck einer großbürgerlichen Her-kunft und einer ästhetischen Lebensauffassung. AusgefalleneFremdwörter, Vorlieben für französische Konversation unddie Gestaltung des räumlichen Ambientes gehören ebensodazu wie der Umgang mit Bibelzitaten oder die Darstellungkomplizierter Seelenvorgänge.

Fünf Interpretationsansätze bieten sich an:

Die Schachnovelle kann als psychologische Novelle nach Johan- S. 77 ff.

nes Klein (1954) interpretiert werden.Ihre Funktion als Denkmal eines an politischer Verfolgunggebrochenen Menschen (Hellmuth Himmel, 1963) kann in denVordergrund gestellt werden.Sie kann als Aufeinanderprall zweier monomanischer Men-schen (Donald G. Daviau/Harvey J. Dunkle, 1973) gedeutetwerden.Eine Deutung als stellvertretende Darstellung aller unter demNazi-Terror Leidenden (Siegfried Unseld, 1993) bietet sich an.Die Antinomie zwischen geistlosem Funktionieren und intel-ligenter Einfühlsamkeit (Winfried Freund, 1998) kann schwer-punktmäßig thematisiert werden.

SCHACHNOVELLE 9

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1 SCHNELLÜBERSICHT 2 STEFAN ZWEIG:LEBEN UND WERK

3 TEXTANALYSE UND-INTERPRETATION

2.1 Biografie

2. STEFAN ZWEIG: LEBEN UND WERK

2.1 Biografie

Stefan Zweig1881–1942© SammlungRichter/Cinetext

JAHR ORT EREIGNIS ALTER

28.11.1881

Wien Stefan Zweig wird als zweiter Sohn desEhepaars Zweig in Wien geboren. SeineEltern gehören dem liberalen jüdischenGroßbürgertum an.

1887–1892

Wien Er besucht die Volksschule in derWerder-torgasse.

6–11

1892–1900

Wien Besuch des Maximiliangymnasiums im9. Bezirk. Er lernt dort vor allem alte Spra-chen, Geometrie und Physik, währendihm das, was ihm wissenswert erscheint,Französisch, Englisch, Italienisch, Musik,in zusätzlichen Privatstunden beige-bracht wird.

11–19

Herbst1900

Wien Nach einer ersten Bildungsreise nachdem Abitur nach Frankreich schreibter sich als Student für Philosophie undLiteraturwissenschaft an der Universi-tät Wien ein. Im Studium geht es ihmvor allem um die Beschäftigung mit derzeitgenössischen Literatur. Zweig bleibtzeitlebens Schöngeist und Ästhet.

19

1901 Wien Erste Buchveröffentlichung seiner Ge-dichte unter dem Titel Silberne Saitenim Verlag Schuster & Löffler. DieseVeröffentlichung zieht weitere in bekann-ten Journalen nach sich.

20

1902 Wien Beginn der Mitarbeit an der Neuen FreienPresse.

21

10 STEFAN ZWEIG

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1 SCHNELLÜBERSICHT 2 STEFAN ZWEIG:LEBEN UND WERK

3 TEXTANALYSE UND-INTERPRETATION

2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund

2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund

ZUSAMMEN-

FASSUNG Fünf wesentliche Phasen innerhalb der Lebenszeit StefanZweigs werden hervorgehoben:

Die Kulturstadt Wien am Ende des 19. JahrhundertsDie sozialen Veränderungen durch die Industrialisierungund ihre Folgen für Staat und Politik (ab 1848)Der 1. Weltkrieg (1914–1918) und die Folgen für Öster-reich im Frieden von VersaillesZwischen den Weltkriegen bis zur Hitler-Diktatur(1919–1933)Der Anschluss Österreichs an die Hitlerdiktatur (1938)und der 2. Weltkrieg (1939–1945)

Wien als europäische KulturstadtStefan Zweig wurde 1881 in die Gesellschaftsform der Habsburger1848–1916:

Kaiser FranzJoseph I. regiertHabsburgerMonarchie

Monarchie hineingeboren. Sie wurde von 1848 bis 1916 von KaiserFranz Joseph I. regiert. Er verstand es, den Vielvölkerstaat nochzusammenzuhalten, konnte dasReich letztlich jedochnicht vor demAuseinanderfall bewahren.

StefanZweig überschreibt das ersteKapitel seinerAutobiografieWeltoffenes Wien

Die Welt von Gestern „Die Welt der Sicherheit“4 und bringt damitzumAusdruck, dass dieMehrzahl derBewohnerdesVielvölkerstaa-tes sich kaum eine andere als die bestehendeGesellschaftsordnungvorstellen konnte. Die Kaiserstadt Wien, in der viele Menschen diegeistige Unabhängigkeit einem nationalen Denken vorzogen, warweltoffen. Stadt wie Staat waren tolerant und nahmen die verschie-

4 WVG. S. 13 ff.

20 STEFAN ZWEIG

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4 REZEPTIONS-GESCHICHTE

5 MATERIALIEN 6 PRÜFUNGS-AUFGABEN

2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund

denen Nationalitäten, Religionszugehörigkeiten und Sprachen alsselbstverständlichhin.Zweigspricht indiesemZusammenhangvonder allgemeinen Überzeugung, dass sich das 19. Jahrhundert inseinem liberalistischen Idealismus auf dem Weg zur besten allerWelten befand.5 Aus dem Blickwinkel des Sohns aus der bürgerli-chen Oberschicht stellen sich Zweigs erste 25 Lebensjahre als einreines Eldorado dar: Er lebte in einer europäischen Kulturstadt, derFrieden schien gesichert, der Bruderkrieg gegen Preußen lagmehrals ein halbes Jahrhundert zurück. DerWienerHof erschien alsHortund Wahrer einer tausendjährigen Tradition, was allein schon zumWeltbürgertum schlechthin erzog. Auch an der gesellschaftlichenOrdnung rüttelte zunächst niemand. Ander Spitze standdasKaiser-haus, es folgten die „gute Gesellschaft des internationalen Hoch-adels“, der niedrige Adel und die hochrangigen kaiserlichen Ver-waltungsbeamten. Die Industriellen, oft alteingesessene Familien,bildeten das liberale Großbürgertum, ihm folgten Kleinbürgertum(Handwerker) und das Proletariat. Diese Ordnung spiegelte sichin der Stadt Wien in der Zugehörigkeit zu bestimmten Stadttei-len, die sich in konzentrischen Kreisen um die Hofburg legten. Alsgroßbürgerliche Industrielle besaßen die Zweigs ein PatrizierhausamRing, der PrachtstraßeWiens. Karl Marx hatte seinKommunisti-sches Manifest bereits 1848 veröffentlicht, die erwähnte Sicherheitwar durch vorgestellte soziale Veränderungen gefährdet.

Wie die Eltern Zweigs zeichnete sich die Wiener Judenschaft imAllgemeinen durch Anpassung aus. Diese war inneres Bedürfnisund bot äußerlich der Minderheit Schutz. Die Juden lebten seit 200Jahren in Wien und betätigten sich, sofern sie zu Wohlstand undReichtum gekommen waren, als Mäzene und Kunstförderer durch

5 Ebd. S. 14.

SCHACHNOVELLE 21

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1 SCHNELLÜBERSICHT 2 STEFAN ZWEIG:LEBEN UND WERK

3 TEXTANALYSE UND-INTERPRETATION

2.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken

2.3 Angaben und Erläuterungenzu wesentlichen Werken

ZUSAMMEN-

FASSUNG DasWerkStefanZweigs ist zahlen-undgattungsmäßigaußer-ordentlich umfangreich. Es würde den Rahmen dieser Er-läuterung sprengen, wollte man jede Veröffentlichung miterklärenden und deutenden Worten versehen. Es wird da-her auf Einzelwerke zurückgegriffen, die exemplarisch füreine Gattung stehen. Da Stefan Zweig nach eigener Auffas-sung sein Talent als Lyriker nicht hoch einschätzte, wird dieLyrik ausgespart. Hervorgetreten ist Stefan Zweig durch No-vellen, Legenden, Dramen (auch Einakter), Trauerspiele undKomödien, Essays, Biografien, Porträts, historische Miniatu-ren, ein Libretto für den Komponisten Richard Strauß, durchÜbersetzungen, Vorträge, Feuilletonbeiträge und Briefe. Erist ein erzählerisches Talent.

1911–1927 erschien im Insel-Verlag eine dreibändige Novellen-sammlung mit dem Titel Die Kette. Ein Novellenkreis. Bd. 1, Dererste Ring: Erstes Erlebnis. Vier Geschichten aus Kinderland, 1911enthielt u. a. die Novelle Brennendes Geheimnis; Bd. 2, Der zweiteRing: Amok. Novellen einer Leidenschaft, 1922 u. a. die Novelle DerAmokläufer; Bd. 3, Der dritte Ring: Verwirrung der Gefühle. Drei No-vellen, 1927 u. a.Vierundzwanzig Stunden aus demLeben einer Frau.

Brennendes Geheimnis (Einzelausgabe 1913): Die PopularitätBrennendesGeheimnis(1911/13)

der Novelle ist auf das erotische Thema zurückzuführen, in derseriösen Literatur um die Jahrhundertwende noch unüblich. DerAutor nimmt sich der problematischen Entwicklung der jugendli-chen Psyche an.

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4 REZEPTIONS-GESCHICHTE

5 MATERIALIEN 6 PRÜFUNGS-AUFGABEN

2.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken

1911/1913 Brennendes Geheimnis

1911–1927 Die Kette

postum Schachnovelle

1939 Ungeduld des Herzens

postum Rausch der Verwandlung

1927 Sternstunden der Mensch-heit

postum Die Welt von Gestern

1917 Jeremias

1935 Die schweig-same Frau

Novellen Drama Historische Miniaturen

Opernlibretto Romane Epochenbild

An die Schwelle der Pubertät gelangt, begleitet der zwölfjährigeEdgar seineMutter bei ihremKuraufenthalt. Ein jungerBaronwähltsich die hübscheMutter für einen erotischenUrlaubsflirt aus. Edgarspürt die erotischen Spannungen zwischen den beiden Erwachse-nen und sucht den offenen Konflikt mit dem Baron. Zum Entsetzender Mutter reist dieser ab. Es kommt zu einem heftigen Streit undzum Vertrauensbruch zwischen Mutter und Sohn, weil diese ihreZuneigung zu dem jungen Mann ableugnet. Edgar reist allein nachWien zurück. Er löst damit zwar eine heftige Verwirrung aus, istaber aufgrund der erfolgreichen psychischen Verarbeitung seinerErfahrungen innerlich so gereift, dass er das brennende Geheimnisder Mutter vor dem Vater bewahren kann.

Der Roman Ungeduld des Herzens erschien 1939. Er wurde Ungedulddes Herzens(1939)

mehrfach verfilmt. Der junge Leutnant Hofmiller trifft bei einerAbendgesellschaft auf die schöne, aber gelähmte Tochter des rei-chen jüdischen Schlossherrn Kekesfalva. Ohne um ihre Krankheitzu wissen, fordert er sie zum Tanz auf. Seinen Fauxpas erkennend,verlässt er überstürzt das Fest, schickt aber am nächsten Tag zuseiner Entschuldigung der jungen Frau rote Rosen. Sie missdeu-tet diese Geste als Liebe. Aus Mitleid mit der sensiblen Edith führter fortan ein Doppelleben zwischen Militär und Teegesellschaften.

SCHACHNOVELLE 29

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4 REZEPTIONS-GESCHICHTE

5 MATERIALIEN 6 PRÜFUNGS-AUFGABEN

3. TEXTANALYSE UND -INTERPRETATION

3.1 Entstehung und Quellen

ZUSAMMEN-

FASSUNGDie Schachnovelle entstand als einziges Werk Zweigs voll-ständig im Exil. Er begann mit der Niederschrift 1941. EinenTag bevor Zweig imFebruar 1942 aus demLeben schied, hat-te er das Manuskript auf den Weg an drei mögliche Verleger(in New York, Stockholm und Buenos Aires) gebracht. DieSchachnovelle und Die Welt von Gestern, seine Erinnerungen,erschienen postum 1943 bzw. 1944 bei Bermann-Fischer.

Die Frage nach der Entstehungsgeschichte von Zweigs Schachno-vellewurde in den siebziger und achtziger Jahren vonmehrerenAu-toren14 erläutert. Bei allen Unterschieden im Einzelnen wird dochinsgesamt eine Linie deutlich, die hier nachgezeichnet werden soll.

Zweigs Meisternovelle ist die einzige Dichtung, die von Anfang Entstehungim brasilia-nischen Exil

bis Ende im brasilianischen Exil entstanden ist. Am Tage des Ein-zugs in den gemieteten Bungalow an der Peripherie von Petrópolis,einer Kleinstadt in der Nähe Rio de Janeiros, seiner letzten Bleibeim Exil, am 10. September 1941, schreibt er an seine erste FrauFriderike in New York:

„Petrópolis ist ein kleiner Semmering, nur primitiver, so wie An-no 1900 im Salzkammergut, die Hotels und Häuser auf dieserStufe [...]. Mit dem Bus oder der Bahn ist es eine Stunde und

14 Jeffrey B. Berlin (1982), Donald G. Daviau und Harvey J. Dunkle (1973), Ingrid Schwamborn(1984). Die von diesen Autoren verwendete Literatur ist im Literaturverzeichnis aufgeführt.

SCHACHNOVELLE 33

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1 SCHNELLÜBERSICHT 2 STEFAN ZWEIG:LEBEN UND WERK

3 TEXTANALYSE UND-INTERPRETATION

3.1 Entstehung und Quellen

40 Minuten zur Stadt (Rio). So wird man den heißen Sommerüberdauern und wer denkt über März und April hinaus. Ich willdort die Autobiographie („DieWelt von Gestern“) durcharbeitenund vielleicht etwas Neues beginnen.“15

Schonam29.9.1941schreibt er: „[...] habeeinekleineSchachnovel-le entworfen, angeregt davon, daß ichmir für die AbgeschiedenheiteinSchachbuchgekauft habeund täglichdiePartiengroßerMeisternachspiele.“16 ZweiggestehtErnstFeder,demnachUSAausgewan-derten Dichter, Theaterdirektor und Mitarbeiter von Bertolt Brechtam 28. 10. brieflich, er habe nicht viel gearbeitet, nur „eine kurio-se Novelle, eine Schachnovelle mit einer eingebauten Philosophiedes Schachs“17 entworfen. Feder, der in Rio wohnte und Kontaktmit den Zweigs pflegte – er spielte mit Stefan Zweig gelegentlichSchach –, berichtet über die Partien mit Zweig, er habe oft Mühegehabt, diesen gelegentlich eine Partie gewinnen zu lassen. Zweigwar also eher ein schlechter Schachspieler. Um den 8. Januar 1942Zweig war

ein schlechterSchachspieler

herum schickte Stefan Zweig die fertige Schachnovelle an FedermiteinemkleinenBriefchen, indemer ihnaufforderte, „rückhaltlos“alsdoppelter Fachmann in literarischen wie in Schach-Dingen, seineEinwände zu sagen.

An Hermann Kesten schrieb er am 15. Januar 1942, dass er eineNovelle in seinem beliebt-unglücklichen Format geschrieben habe,„zu groß für eine Zeitung und einMagazin, zu klein für ein Buch, zuabstrakt für das große Publikum, zu abseitig in seinem Thema.“18

Dennoch lag ihm offenkundig sehr viel an diesem Text, denn ervergleicht sich mit den „Müttern“, die „ihre schwächlichen, ande-

15 John M. Spalek u.a. (Hg.), Deutsprachige Exilliteratur seit 1933. Berlin/New York 2010. S. 376.16 Ebd.17 Zitiert nach Schwamborn (1984), S. 411.18 Hermann Kesten (Hg.), Deutsche Literatur im Exil: Briefe deutscher Autoren 1933–1949. Wien

1964. Zitiert nach Schwamborn (1984), S. 411.

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3.2 Inhaltsangabe

3.2 Inhaltsangabe

ZUSAMMEN-

FASSUNGAuf einem Passagierschiff von New York nach Buenos Airesfordert ein Millionär den mitreisenden SchachweltmeisterMirko Czentovic gegen Honorar zu einer Schachpartie her-aus. Während der Partie bekommt er beratende Hilfe vondem österreichischen Emigranten Dr. B., die dazu führt, dassihm ein Remis (Unentschieden) gegen den Weltmeister ge-lingt. Dr. B. hat das Schachspiel während seiner Isolations-haft durch die Gestapo in einem Hotelzimmer, in dem er vonder Umwelt hermetisch abgeriegelt war, gelernt. Dies wurdedurch den Diebstahl eines Schachbuchs mit 150 Modellpar-tien möglich, die er blind nachspielte, um seine intellektuelleWiderstandskraft zu erhalten. Durch die einseitige geistigeAnstrengung aber ergriff ihn einNervenfieber, das dazu führ-te, dass man ihn aus der Haft entließ. Nun lässt Dr. B. sicherstmalsauf einen tatsächlichenGegnerein,umfestzustellen,ob sein Spiel in der Isolationshaft bereits Wahnsinn gewesenist. In der ersten Partie schlägt er den Weltmeister, der ro-boterhaft wie eine Maschine spielt, ohne für seinen Gegnermitzudenken. Danach lässt er sich aber noch einmal – eigent-lich gegen den eigenen Willen – auf eine zweite Partie ein,während der sich das Nervenfieber erneut ankündigt. Nurdurch Abbruch der Partie kann er sich retten.

SCHACHNOVELLE 39

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1 SCHNELLÜBERSICHT 2 STEFAN ZWEIG:LEBEN UND WERK

3 TEXTANALYSE UND-INTERPRETATION

3.2 Inhaltsangabe

Schachnovelle;Verfilmung BRD1960 (Regie:Gerd Oswald),Mario Adorf undCurd Jürgensals Czentovicund Dr. B.© CinetextBildarchiv

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3.3 Aufbau

3.3 Aufbau

ZUSAMMEN-

FASSUNGDer zeitliche Aufbau ist durch abwechselnde Folgen von Ge-genwart und Rückblenden gekennzeichnet. Die erste Rück-blende erzählt die Lebensgeschichte Czentovics, die zweiteRückblende die Dr. B.’s. Die klassischen Merkmale der Gat-tung Novelle wie Wendepunkt, eine unerhörte Begebenheitsowie Leit- und Dingsymbole, zu denen bündige Aussagengemacht werden, werden umgesetzt.

ZeitstufenSchematische Darstellung:

GEGENWART Einleitende Darstellung vor Ablegen des Schiffes

RÜCKBLENDE Lebensgeschichte Czentovics, durch einen Erzähler ver-mittelt

GEGENWART Schachspiel zwischen Ich-Erzähler und dem SchottenMcConnor

RÜCKBLENDE Lebensgeschichte Dr. B.’s, von ihm selbst erzählt

GEGENWART Schachduell zwischen Czentovic und Dr. B.

KommentarDie von Zweig erzählte Zeit ist eng umrissen. Die Novelle setzt Zeitsprünge in

der Schachnovelleein in der Erzählgegenwart, unmittelbar vor Ablegen des Schiffsvon New York nach Buenos Aires. Nach wenigen Zeilen, in denendie Stimmung vor der Abfahrt eingefangen wird, wird zum ers-ten Mal zurückgeblendet, um den Lebenslauf des amtierendenSchachweltmeisters Mirko Czentovic, des prominentesten Passa-

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3 TEXTANALYSE UND-INTERPRETATION

3.3 Aufbau

giers an Bord, nachzuzeichnen. Erzähler der Lebensgeschichte istder Freund des Ich-Erzählers. Gleich zu Beginn wird daher dasVorstellung der

ersten Hauptper-son umfasst etwaein Viertel desGesamtumfangs

Augenmerk auf eine der Hauptpersonen gerichtet, denen Erzähl-handlungundErzählzielgelten. InnerhalbdiesererstenRückblendewird sukzessiv, d. h. der Reihe nach, anekdotenhaft gerafft, im Er-zählerbericht episch erzählt. Knapp ein Viertel des Gesamtumfangsentfällt auf die Vorstellung der ersten Hauptperson.

Aus der Rückblende wird die Erzählung in die Erzählgegen-wart überführt. Es geht darum, einen Weg zu finden, Mirko Czen-tovic in den geplanten Erzählverlauf zu integrieren. An dieser Stellegewinnt das Schachspiel erstmals zentrale Bedeutung. Die neueingeführten Personen, der Schotte McConnor und etwas späterDr. B., sind insofern mit dem Schachspiel eng verbunden, als es inihrem Bewusstsein eine Rolle spielt. McConnor ist Liebhaber undselbstbewusst ehrgeiziger Spieler, am liebsten Gewinner, Dr. B. istdurch sein Schicksal mit dem Schachspiel verflochten.

Konsequent wendet sich die Erzählung nun den Ereignissen imLeben Dr. B.’s zu, die ihn schicksalhaft mit dem Schachspiel ver-banden.Wieder handelt es sich umeineRückblende, allerdingsmitVorstellung der

zweiten Haupt-figur umfasst etwadie Hälfte desGesamtumfangs

dem Unterschied, dass Dr. B. dem Ich-Erzähler selbst den schick-salhaften Lebensabschnitt episch darlegt. Die Rückblende Dr. B.’sumfasst knapp die Hälfte des Erzählganzen. Sie ist, abgesehen vomErzähleinsatz, wo die Gesprächseröffnung noch indirekt durch denIch-Erzähler wiedergegeben wird und von ihrem Ende, wo wenigeSätze des Ich-Erzählers an Dr. B. gerichtet werden, monologischerzählt. Da Dr. B. selbst berichtet, handelt es sich um authentischesErzählen; das Erzählte ist nicht vermittelt und nicht anekdotenhaftdurchsetzt wie im Fall Czentovics. Mit Dr. B. ist die zweite Haupt-person eingeführt, und am Ende der Erzählung wird die Handlungin die Gegenwart zurückgeführt, indem Dr. B. der Schachpartiemit dem Weltmeister zustimmt. Sie endet, dramatisch zugespitzt,

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1 SCHNELLÜBERSICHT 2 STEFAN ZWEIG:LEBEN UND WERK

3 TEXTANALYSE UND-INTERPRETATION

3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken

3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken

ZUSAMMEN-

FASSUNG NebendenbeidenHauptpersonenMirkoCzentovic undDr.B.tauchender Ich-ErzählerundMcConnorauf.AlleübrigenPer-sonennehmendieRolle vonStatistenein.DieFigurenwerdenim Folgenden näher charakterisiert und auf ihre Konstella-tionen hin überprüft.

Die HauptfigurenDie auf das Wesentliche reduzierte Novelle kommt mit wenigenNovellentypisch

wenige Figuren Personen aus. Charakterisiert werden Czentovic, Dr. B. und Mc-Connor. Die übrigen Personen bleiben Statisten. So findet die Fraudes Ich-Erzählers, mit der er im Rauchsalon die erste Schachpar-tie spielt, um den Weltmeister anzulocken, beispielsweise nur eineeinzige Erwähnung. Aus der Mitspielergruppe gewinnt niemandKonturen. Auch vom Ich-Erzähler erfährt der Leser nur, dass er alsÖsterreicher ein Landsmann Dr. B.’s ist.

Dr. B., Czentovic und McConnor verhalten sich zueinander wieSpieler (Protagonist),Gegenspieler (Antagonist)undSpielleiter.DieSpielleiterfunktionübtMcConnor aus, indemerdiemateriellenFor-derungen Czentovics erfüllt und die Handlung durch die Fortset-zung der Spielsituation vorantreibt.

McConnor,ein vermögender schottischer Tiefbauingenieur, wird als Erfolgs-McConnor in

der Spielleiter-funktion

mensch vorgestellt, gewohnt, sich im Leben rücksichtslos durch-zusetzen. (26) Dies gilt für ihn in allen Lebenssituationen, auch imSchachspiel. Jede Niederlage bedeutet ihm persönliche Herabset-zung und Verlust an Persönlichkeitswert. Deshalb ist er weder wil-

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4 REZEPTIONS-GESCHICHTE

5 MATERIALIEN 6 PRÜFUNGS-AUFGABEN

3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken

lens noch bereit, Niederlagen im Spiel auf sich beruhen zu lassen.Ein verlorenes Spiel fordert ihn zu unmittelbarer Revanche heraus.Diese Haltung führt dazu, dass das Schachspiel an Bord zwischendem Ich-Erzähler und McConnor über Tage fortgesetzt wird. Ge-rade die Geringschätzung der Schachkunst des Ich-Erzählers wieder McConnors durch den nur kurz am Schachbrett auftauchendenWeltmeister, ruft den Ehrgeiz McConnors wach, der mit allen Mit- Blinder Ehrgeiz

als herausragendeEigenschaft

teln eine Partie gegen den Weltmeister durchsetzt. Die zutreffendeBeurteilung seiner Spielweise als „drittklassig“ (29) verärgert ihnerneut und stachelt ihn gewaltig an. Sich durchzusetzen, geht ihmüber alles.

Darüber hinaus ist seine temperamentvolle, spontane Art, diewährend des Spiels zu „unbeherrschter Leidenschaft“ und fanati-schem Ehrgeiz eskaliert, mit dafür verantwortlich, dass Dr. B. diePartie gegen Czentovic annimmt und sich, entgegen der zuvor ge-troffenen Entscheidung, auf ein weiteres Spiel einlässt.

Die Aufgabe dieser zweiten Partie durch Dr. B. verführt den we-nig einfühlsamen, gezielt die eigenen Vorstellungen durchsetzen-den McConnor zu der enttäuschten Apostrophierung des Dr. B. als„Damned fool!“ (Verdammter Narr!, 110)

Mirko Czentovicwird zwar als Schachweltmeister eingeführt, dochderErzählerwer- Czentovic als

Antagonisttet dessen intellektuelle Fähigkeiten völlig ab. Die Schule hat ge-zeigt, dass sein Gehirn schwerfällig arbeitet und ihm jede festhal-tende Kraft (9) fehlt. Von geistigen Dingen blieb „das maulfaule,dumpfe, breitstirnigeKind“ (9) unberührt. Er bliebhalb imAnalpha-betismus stecken. (12) Praktische Dienste erledigte er gehorsam,allerdings mit gehöriger Langsamkeit. Überraschend zeigt er im Einseitig be-

gabter Schach-weltmeister

Schachspiel eine „einseitige sonderbareBegabung“ (12).Mit zwan-zig ist er nach kurzer Ausbildung ungarischer Schachmeister und

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4 REZEPTIONS-GESCHICHTE

5 MATERIALIEN 6 PRÜFUNGS-AUFGABEN

3.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen

3.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen

Die Seitenangaben beziehen sich auf Zweig, Stefan: Schachnovelle.Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 62. Auflage:Oktober 2010.

S. 8 Aljechin, Alexander Russe, Schachweltmeister von 1927–1935und von 1937–1946.

Capablanca, RaúlJosé

Kubaner, Diplomat, Schachweltmeister von1921–1927, gab den Titel an Aljechin ab.

Tartakower,Savielly Bedeutender Schachspieler und Schach-schriftsteller. Das von Zweig in Rio gekaufteSchachbuch stammt von ihm.

Lasker, Emanuel Deutscher Schriftsteller, Schachweltmeister1894–1921, gab den Titel an Capablanca ab.

Bogoljubow, Efim Ukrainisch-deutscher Schachgroßmeister,konnte sich jedoch in den zwei Weltmeis-terschaftskämpfen gegen Aljechin nichtdurchsetzen.

Rzeszewski,Samuel Herman

Eigentlich „Reshevsky“: amerikanischerMeister (polnischer Abstammung); seinegroßen Schacherfolge fallen in die 1930erbis 1950er Jahre.

S. 11 Bileams Esel Gott verlieh der Eselin des heidnischen Pro-pheten Bileam die Fähigkeit zu sprechen(4. Mose, 22–24).

S. 12 Famulus Urspr. studentischer Gehilfe eines Hoch-schullehrers (heute noch im Bereich derMedizin gebräuchlich). Hier liegt ein ironi-scher Gebrauch vor.

enragiert Von frz. Rage = Wut hergeleitet, hier: begeis-tert, leidenschaftlich eingenommen.

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3 TEXTANALYSE UND-INTERPRETATION

3.6 Stil und Sprache

3.6 Stil und Sprache

ZUSAMMEN-

FASSUNG Das Kapitel zu Stil und Sprache geht ein aufdas von Zweig bevorzugte Strukturmittel der Rückblende,die monologisch angelegte ‚dialogische’ Struktur,die Prinzipien der Ich-Erzählung,die Erzählhandlung,den sprachlich stilistischen Gegensatz der Haupt-personen,Schriftsprache und Fremdwörter als Stilisierungs-prinzipien.

Mit der Schachnovelle schreibt Stefan Zweig seine erfolgreichs-te und am meisten zeitgemäße Novelle. Sie steht in sehr engemZusammenhang zu seinem Bergexil im brasilianischen Petrópolis.Wie auch in anderen Novellen, so bedient sich Zweig hier seinesRückblenden

als beliebtesStrukturmittel

äußerst beliebten Strukturmittels der Rückblende. Der NovellistZweig konstruiert eine dialogische Situation, in der ein Erzählereinem Gesprächspartner einen schicksalhaft einschneidenden Le-bensabschnitt offenbart. Die scheinbar dialogische Struktur ist imScheinbar

dialogischeMonologe

Wesentlichenmonologisch angelegt. Die Darstellung des Erzählerswird nur sehr selten durch eine zustimmende Geste oder einenknappen Kommentar des Zuhörers unterbrochen.

Die Schachnovelle zeigt Zweigs Vorliebe für Ich-Erzählsitua-Ich-Erzähl-situation fürAuthentizitätund Vertrauen

tionen. Die Ich-Erzählung ist charakterisiert durch Authentizitätund Vertrauen zum Gesprächspartner. Die Erzählhandlung wen-det sich dem Inneren des Protagonisten zu. Durch die persönliche

Perspektivischgetönte Erzähl-handlung

Betroffenheit ist sie emotional angereichert und perspektivisch ge-tönt.

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3 TEXTANALYSE UND-INTERPRETATION

3.7 Interpretationsansätze

3.7 Interpretationsansätze

ZUSAMMEN-

FASSUNG Im Folgenden werden nachvollziehbare und plausible Deu-tungsansätze knapp wiedergegeben, um Anstöße für be-gründete eigene Zugänge zu geben. Fünf Interpretationsan-sätze bieten sich an:

Die Schachnovelle kann als psychologische Novelle nachJohannes Klein (1954) interpretiert werden.Ihre Funktion als Denkmal eines an politischer VerfolgunggebrochenenMenschen (HellmuthHimmel, 1963) kann inden Vordergrund gestellt werden.Sie kann als Aufeinanderprall zweier monomanischerMenschen (Donald G. Daviau/Harvey J. Dunkle, 1973)gedeutet werden.Eine Deutung als stellvertretende Darstellung aller unterdem Nazi-Terror Leidenden (Siegfried Unseld, 1993)bietet sich an.Die Antinomie zwischen geistlosem Funktionieren undintelligenter Einfühlsamkeit (Winfried Freund, 1998)kann schwerpunktmäßig thematisiert werden.

Schachnovelle als psychologische NovelleSchon 1954 hat Johannes Klein in seiner Geschichte der deut-Psychologische

Novelle, die einenKrankheitsfallergründet

schen Novelle die Schachnovelle gewürdigt. Für ihn ist sie einepsychologische Novelle, die einen Krankheitsfall ergründet. Dievorliegende Krankheit ist eine Folge unmenschlicher Behandlung.Die Schuld, die aus den zeit- und weltgeschichtlichen Zusammen-hängen erwächst, besteht darin, dass die Tat einen geistigen Men-schendazu führt, sich imKampfgegendenUnmenschen zu spalten,

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3 TEXTANALYSE UND-INTERPRETATION

4. REZEPTIONSGESCHICHTE

ZUSAMMEN-

FASSUNG DieRezeptionsgeschichte zeichnet dieAufnahmederSchach-novelle 1942–1944 nach. Hingewiesen wird insbesonderedarauf, dass die Schachnovelle in manchen literaturwissen-schaftlichen Übersichten nicht den Platz findet, der ihr zu-steht. Ausführlich und kritisch wird die Verfilmung von GerdOswald 1960 beurteilt, nach dem Drehbuch von HerbertReinecker.

Die Schachnovelle erschien auf Deutsch zuerst im Dezember 1942in Buenos Aires bei Kramer-Pigmalión als „Liebhaberdruck“ ineiner limitierten Auflage von nur 300 Exemplaren, 1943 dann inStockholm bei Bermann-Fischer und 1944 in der Übersetzung vonBen Hübsch in New York.

1960 wurde sie mit Curd Jürgens in der Hauptrolle verfilmt, undseit der Taschenbuchausgabe 1974 hat sich die in über 40 Sprachenübersetzte Novelle in den siebziger und achtziger Jahren auf demdeutschen Buchmarkt zu einem Bestseller entwickelt. MittlerweileÜber 1.200.000

verkaufteExemplare

wurden weit über 1.200.000 Exemplare verkauft.38

Bei der Auswertung der literaturgeschichtlichen Erwähnungender Schachnovelle kann man erstaunliche Entdeckungen machen.In den Daten deutscher Dichtung von Albert und Elisabeth FrenzelwirddieNovellezwarerwähnt,dieTextkenntnis istabersoungenau,dass nur die unzutreffende Bemerkung, sie stelle den „erregendenAugenblick aus der überstandenen Haftzeit in einem Konzentra-

38 http://de.wikipedia.org/wiki/Schachnovelle (Stand Juli 2012)

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4 REZEPTIONS-GESCHICHTE

5 MATERIALIEN 6 PRÜFUNGS-AUFGABEN

Das Schachspielin der Isolations-haft findet im Film(BRD 1960) aufeiner kariertenTischdecke statt(Schauspieler:Curd Jürgens),© CinetextBildarchiv

Es ist sicher nicht übertrieben geurteilt, wenn man die Aussa-ge des Films mit der der Schachnovelle nur insofern vergleichenkann, als in beiden Fällen die Grausamkeit des Nazi-Regimes her-ausgestellt wird. Die im Film verwendete Handlung vergröbert diesensible und straff zugespitzteHandlungsführungZweigs auf unan-nehmbareWeise. Aus demKampf des human denkenden, geistigenMenschen gegen denUngeist des kalkulierenden Automatismus isteine Liebesgeschichte geworden, in der die Entscheidung für denguten und gegen den bösen Mann gefallen ist.

SCHACHNOVELLE 83

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3 TEXTANALYSE UND-INTERPRETATION

5. MATERIALIEN

In seinem Buch über die Novelle46 führt Winfried Freund mit Blickauf den Perspektivismus aus:

„InderNovelle ist einRückzugausder enttäuschendenWirklichkeitin eine Enklave der Selbstbewahrung und eigenbestimmten Han-delns ausgeschlossen. Sie zeigt den Menschen integriert in Zeitund Raum, in Gesellschaft und Geschichte und gebunden an dieeigenen elementaren existenziellen Bedingungen. Liebe ist wie derTod existenzielles Schicksal. Glück und Unglück fügen sich, ohneIn der Novelle

fügen sich Glückund Unglück ohneEinflussnahmedes Einzelnen

dass der einzelne unmittelbaren Einfluss zu nehmen vermag. DieNovelle ist mit den positiven wie mit den negativen Zufälligkeitendes Daseins befasst, mit den glücklichenWendungen im Leben desMenschen wie mit seiner Hinfälligkeit.

Überzeitlichkeit, Unvergänglichkeit, jede Form von Transzen-denz ist der Novelle im Grunde fremd. Ihr großes Thema ist derdem Hier und Jetzt zwischen Gelingen und Scheitern ausgesetzteMensch. Es gibt keine Auswege aus dem konkret bestimmten Da-sein, keine Sonderrechte für den einzelnen und kein individuellesHeldentum. Die Novelle zeigt den Menschen eingebunden in einunwandelbares Dasein, das sich ihm in seinen Erfahrungen und Er-lebnissen erschließt, über das er aber niemals verfügen und das ernoch weniger verändern kann. [...] Dort, wo der einzelne handelt,holen ihn die Konsequenzen seines Handelns ein. [...] Die Novel-le macht das scheinbar schicksalhaft Bestimmende durchschaubarals etwas durch den Menschen und durch menschliche Macht Ver-ursachtes, sie weigert sich aber in der Regel, Änderungen zumBesseren darzustellen.“

46 Winfried Freund (1988), S. 58–59.

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5 MATERIALIEN 6 PRÜFUNGS-AUFGABEN

6. PRÜFUNGSAUFGABENMIT MUSTERLÖSUNGEN

Unter www.königserläuterungen.de/download finden Sie im Internetzwei weitere Aufgaben mit Musterlösungen.

Die Zahl der Sternchen bezeichnet das Anforderungsniveauder jeweiligen Aufgabe.

Aufgabe 1 ***

Mechanische Präsenz und Kreativität – das Schachspielals LeitsymbolStellen Sie den Gegensatz der Schachspieler in seinerBedeutsamkeit für die Aussage der Novelle dar.

Das Schachspiel steht im Zentrum der Novelle. Als spannendes Er-eignis beherrscht es die Gedanken und das Handeln der auftreten-den Personen und bestimmt den Verlauf der Erzählung. Entwick-lung und Entfaltung der Hauptfiguren sind dominant gebunden andas Spiel. In ihm spiegeln sich die Positionen der Spieler, ihre Pro-bleme und Schicksale.

Bereits zu Anfang der Reise von New York nach Buenos Aires DARSTELLUNG

richten sich die Kameras der Journalisten auf den berühmtenSchachweltmeister Mirko Czentovic an Bord des Schiffes. Er istAnlass zu einer Rückblende in die Biografie des Schachgenies. DerIch-Erzähler erinnert sich an dessen kometenhaften Aufstieg undsein Freundweiß diese Erinnerungenmit dessen Lebensgeschichtezu illustrieren. Czentovic, aus armen Verhältnissen stammend, tutsichnichtmit großer Intelligenzhervor.Mehr zufällig kommter zumSchachspiel, als sein Ziehvater eine Partie unvollendet lässt, weil

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3 TEXTANALYSE UND-INTERPRETATION

er weggerufen wird. Er gewinnt. Auch die folgenden Spiele gegenimmer stärkere Gegner lassen ihn schnell als Sieger hervorgehen.Im Grunde schwerfällig und an nichts anderem interessiert, ent-wickelt er sich so in seinem engen Lebenskreis zum überlegenenSpieler. Hervorstechendes Merkmal seiner Spielweise ist eine un-geheure mechanische Präzision, der er sich verschreibt und seinePartien als eine Art Schachautomat absolviert. Hinter dem Spielverschwindet er selbst als Person und wird zum Funktionär abs-trakter Regeln. Sich der selbstgenügsamen Automatik des Spielsunterwerfend, verdrängt er jegliches persönliches Eigenleben. Ei-ne Vorstellung des Spiels außerhalb des konkreten Zugriffs auf dasSchachbrett und die Figuren ist für ihn ebenso undenkbar wie einspielerisch-strategischer Umgang mit den Regeln. Czentovic han-delt im Grunde wie eine Maschine, die ihre Arbeitsleistung erfüllt,ohne individuelle Akzente zu setzen. Sein Gegenspieler ist als Per-son für ihn bedeutungslos, es gilt allein, ihn durch die mechani-sche Anwendung der Regeln aus dem Feld zu schlagen. Er ist nichtunähnlich demApparatschick, der ungeachtet der beteiligtenMen-schen, die von angeblich höherer Stelle ergangenen Anordnungenund Weisungen, hier im Namen des Regelwerks, durchzusetzenversucht. Die Regel triumphiert über den Menschen, die Abstrak-tion über das Konkrete. Auf der Strecke bleibt das Individuelle imZugriff des Kollektiven.

Der Schachmaschine Czentovic gegenüber steht Dr. B., ein sen-sibler, kreativer Mensch, der am eigenen Leib die Praktiken na-tionalsozialistischer Macht erfahren hat. Er selbst ist es, der sei-ne Lebensgeschichte dem Ich-Erzähler vorträgt und sich dabei alsGegenspieler des Weltmeisters profiliert, gegen den er auf demSchachbrett antreten wird.

In der Isolationshaft eines Hotelzimmers, in der die GestapoGeheimnisse aus ihm herauszupressen sucht, erleidet er eine Be-

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5 MATERIALIEN 6 PRÜFUNGS-AUFGABEN

handlung, die auffällige Ähnlichkeiten mit der Spielauffassung vonCzentovic hat. Als Mensch gilt er nichts, wichtig ist allein seineBedeutung als Informationsträger. Wo die Mechanik der Spielstra-tegien geschichtlicheWirklichkeit wird, ereignen sichmenschlicheKrisen und Katastrophen. Kalkulierend und menschenverachtendsuchen die Inquisitoren der Gestapo an die geheimen Informatio-nen Dr. B.’s heranzukommen. Schon fast zermürbt, stößt er auf einSchachlehrbuch, dessen Partien er im Kopf nachspielt und dabeieindringt in die differenziertenRegeln des Schachspiels. Aber gera-de die Wiederholung des Immergleichen ermüdet ihn schließlich,sodass er beginnt, eigene Partien zu entwerfen und in schizophre-ner Aufspaltung die Rollen vonWeiß und Schwarz zu übernehmen.Doch die persönliche Belastung erweist sich als untragbar und ererleidet eine „Schachvergiftung“ (85/86), wie er seinen persönli-chen Zusammenbruch in Gestalt eines Nervenfiebers selbst nennt.

Auffällig aber ist bis zu seinem persönlichen Zusammenbruchder souveräne Umgang mit den Regeln, die fern von allem Selbst-zweck ihn als Person davor retten, Opfer einer tödlichen Mechanikzu werden. Das Spiel gegen sich selbst entfaltet seine Kreativitätbis zum Äußersten. In Czentovic und Dr. B. stehen sich Schachau-tomat und das spielende Individuum gegenüber, das Mensch ist,solange es spielt. Entscheidend ist nicht die Unterwerfung unterdie Funktion, sondern der humane Abdruck, der Einzelne, der sichdem Druck des Kollektiven entzieht, indem er souverän und spiele-risch umgehtmit den abstrakten Regeln. Dr. B. ist der homo ludens,für den das Spiel Quelle seiner Kultur und seiner Individualität ist.Der Mensch ist nicht da für die Norm, sondern die Norm für denMenschen.

Im Finale unterliegt der kreative Mensch der Schachmaschine,ein düsteres Licht werfend auf die allgemeine geschichtliche Ent-wicklung, die denMenschen und das Menschliche zentral bedroht.

SCHACHNOVELLE 91

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3 TEXTANALYSE UND-INTERPRETATION

Das Duell zwischen mechanischer Präzision und Kreativität bil-det leitsymbolisch die Opposition des bloß Mechanischen und vi-taler Menschlichkeit ab. Im Schachspiel vorweggenommen ist dergeschichtliche Ernstfall der Unvereinbarkeit des autoritären natio-nalsozialistischenMassenstaatsmit den nach Selbstverwirklichungstrebenden Menschen.

Aufgabe 2 **

Spieler und Gegenspieler – die ‚Schachnovelle‘als KonfliktmodellStellen Sie die Unterschiede der Hauptgegner imSchachspiel dar.

„... die heutigeNovelle ist die Schwester desDramas und die strengsteForm der Prosadichtung. Gleich demDrama behandelt sie die tiefstenProbleme des Menschenlebens; gleich diesem verlangt sie zu ihrerVollendung einen imMittelpunkt stehenden Konflikt von welchem ausdas Ganze sich organisiert (...).“ (Storm: Sämtliche Werke Bd. 4.Hrsg. von P. Goldammer. Berlin u. a. 1978. S. 618 f.)

Nach Storms Auffassung der Gattung teilt die Novelle mit demDrama die strenge Orientierung an einem Konfliktgeschehen. Die-ses erst setzt den Erzählverlauf in Gang, indem es die auftretendenPersonen einbindet in eine Handlung, die den Einzelnen bestimmt,ohne dass sich eine persönliche Entwicklung abzeichnet. Entschei-dend ist die Konflikthandlung. In ihrer Verwirklichung besteht dieeigentliche Funktion der Hauptfiguren, die sich ausschließlich pro-filieren als Träger des dramatischen Geschehens.

Wie im Drama stehen sich in Zweigs Novelle Spieler und Ge-DARSTELLUNG

genspieler gegenüber. Aus ihren unterschiedlichen Verhaltenswei-sen entwickelt sich eine dialektische Spannung: der eigentlich im

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