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W.I. LeninStaat und

RevolutionAugust-September 1917

Die Lehre des Marxismus vom Staat und dieAufgaben des Proletariats in der Revolution1

Oberes Titelbild: ARD Reporter wird am 23.5.2007 wg. Berutsausübung festge-nommen, Vanis commonswiki angenommen wg. Urheberrecht CC BY 2.5

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1 Geschrieben August bis September 1917; Abschnitt: 3 des II. Kapitels vor dem 17. Dez: 1918. Veröffentlicht 1918 als Broschüre im Verlag Shisn i Snanije.

2 - W. I. Lenin: Staat und Revolution

Inhalt SeiteVorwort zur ersten Auflage 5I. Kapitel - Klassengesellschaft und Staat 8

1. Der Staat - ein Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassengegensät-ze 8

2. Besondere Formationen bewaffneter Menschen, Gefängnisse u.a:143. Der Staat - ein Werkzeug zur Ausbeutung der unterdrückten Klasse

21II. Kapitel - Die Erfahrungen der Jahre 1848-1851 32

1. Der Vorabend der Revolution 322. Die Ergebnisse der Revolution 393. Marx' Fragestellung im Jahre 1852 47

III. Kapitel - Die Erfahrungen der Pariser Kommune 50vom Jahre 1871. Die Analyse von Marx

1. Worin bestand der Heroismus des Versuchs der Kommunarden? 502. Wodurch ist die zerschlagende Staatsmaschinerie zu ersetzen? 563. Aufhebung des Parlamentarismus 624. Organisierung der Einheit der Nation 695. Vernichtung des Schmarotzers Staat 73

IV. Kapitel - Fortsetzung 771. "Zur Wohnungsfrage“ 772. Polemik gegen die Anarchisten 803. Ein Brief an Bebel 854. Kritik des Entwurfs des Erfurter Programms 895. Die Einleitung vom Jahre 1891 zu Marx' 986. Engels über die Überwindung der Demokratie 105

V. Kapitel - Die ökonomischen Grundlagen für das Absterben das Staates. 108 1. Die Fragestellung bei Marx 108 2. Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus 112 3. Die erste Phase der kommunistischen Gesellschaft 119 4. Die höhere Phase der kommunistischen Gesellschaft 124Vl. Kapitel - Die Vulgarisierung des Marxismus durch die Op-portunisten 135Nachwort zur ersten Auflage 157

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1919 Auf dem Roten Platz

4 - W. I. Lenin: Staat und Revolution

Vorwort zur ersten Auflage

Die Frage des Staates gewinnt gegenwärtig besondere Bedeutungsowohl in theoretischer als auch in praktisch-politischer Hinsicht.Der imperialistische Krieg hat den Prozess der Umwandlung desmonopolistischen Kapitalismus in staatsmonopolistischen Kapita-lismus außerordentlich beschleunigt und verschärft. Die ungeheuer-liche Knechtung der werktätigen Massen durch den Staat, der im-mer inniger mit den allmächtigen Kapitalistenverbänden ver-schmilzt, wird immer ungeheuerlicher. Die fortgeschrittenen Län-der verwandeln sich - wir sprechen von ihrem "Hinterland" - in Mi-litärzuchthäuser für die Arbeiter.

Die unerhörten Greuel und Unbilden des sich in die Länge zie-henden Krieges machen die Lage der Massen unerträglich und stei-gern ihre Empörung. Sichtbar reift die internationale proletarischeRevolution heran. Die Frage nach ihrem Verhältnis zum Staat ge-winnt praktische Bedeutung.

Die in Jahrzehnten einer verhältnismäßig friedlichen Entwicklungangesammelten Elemente des Opportunismus haben die in den offi-ziellen sozialistischen Parteien der ganzen Welt herrschende Strö-mung des Sozialchauvinismus geschaffen. Diese Strömung(Plechanow, Potressow, Breschkowskaja, Rubanowitsch, dann inleicht verhüllter Form die Herren Zereteli, Tschernow und Co. inRussland; Scheidemann, Legien, David u.a. in Deutschland: Renau-del, Guesde, Vandervelde in Frankreich und Belgien; Hyndmanund die Fabier2 in England usw. usf.) - Sozialismus in Worten,

2 Fabier - Mitglieder "der Gesellschaft der Fabier", einer reformistischen Organi-sation, die 1884 in England gegründet wurde. Die Gesellschaft nannte sich nachdem römischen Feldherrn Fabius Cunctator ("der Zauderer"), bekannt durch sei-ne abwartende Taktik und sein Ausweichen vor Entscheidungsschlachten. DieMitglieder der Gesellschaft der Fabier waren vorwiegend Vertreter der bürgerli-chen Intelligenz: Wissenschaftler, Schriftsteller, Politiker. Sie leugneten die Not-wendigkeit des proletarischen Klassenkampfes und der sozialistischen Revoluti-on und predigten den friedlichen Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismusmittels kleiner Reformen. Im imperialistischen Weltkrieg 1914-1918 waren dieFabier Sozialchauvinisten. Eine Charakteristik der Fabier findet sich in LeninsVorwort zur russischen Übersetzung des Buches "Briefe und Auszüge aus Brie-

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Chauvinismus in der Tat - ist gekennzeichnet durch die niederträch-tige, lakaienhafte Anpassung der "Führer des Sozialismus" an dieInteressen nicht nur "ihrer" nationalen Bourgeoisie, sondern na-mentlich auch "ihres" Staates, denn die meisten sogenannten Groß-mächte beuten seit langem eine ganze Reihe kleiner und schwacherVölkerschaften aus und unterjochen sie. Der imperialistische Kriegist ja gerade ein Krieg um die Teilung und Neuverteilung dieser Artvon Beute. Der Kampf um die Befreiung der werktätigen Massenvom Einfluss der Bourgeoisie im allgemeinen und der imperialisti-schen Bourgeoisie im besonderen ist ohne Bekämpfung der oppor-tunistischen Vorurteile in Bezug auf den "Staat" unmöglich.

Wir betrachten zunächst die Lehre von Marx und Engels vomStaat und wollen besonders eingehend bei den in Vergessenheit ge-ratenen oder opportunistisch entstellten Seiten dieser Lehre verwei-len. Dann werden wir uns insbesondere mit dem Hauptvertreter die-ser Entstellungen befassen, mit Karl Kautsky, dem bekanntestenFührer der II. Internationale (1889-1914), die in diesem Kriege ei-nen so jämmerlichen Bankrott erlitten hat. Schließlich werden wirdie Hauptergebnisse der Erfahrungen der russischen Revolutionvon 1905 und besonders der von 1917 zusammenfassen. Die letzte-re schließt anscheinend gegenwärtig (Anfang August 1917) die ers-te Phase ihrer Entwicklung ab, jedoch kann diese ganze Revolutionüberhaupt nur verstanden werden als ein Glied in der Kette der so-zialistischen proletarischen Revolutionen, die durch den imperialis-tischen Krieg hervorgerufen werden. Die Frage des Verhältnissesder sozialistischen Revolution des Proletariats zum Staat gewinntsomit nicht nur eine praktisch-politische, sondern auch eine höchstaktuelle Bedeutung als eine Frage der Aufklärung der Massen dar-über, was sie zu ihrer Befreiung vom Joch des Kapitals in dernächsten Zukunft zu tun haben.

fen von Joh. Phil. Becker, Jos. Dietzgen, Friedrich Engels, Karl Marx u. A. an F.A. Sorge und Andere" (Werke, Bd. 12, S. 368/369), im "Agrarprogramm der So-zialdemokratie in der russischen Revolution" (Werke, Bd. 15, S. 170/171), inDer "englische Pazifismus und die englische Abneigung gegen die Theorie"(Werke, Bd. 21, S. 258/259) u. a.

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August 1917 Der Verfasser

W.I. Lenin

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Staat und Revolution August-September 1917

Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufgaben des Prole-tariats in der Revolution3

I. Kapitel - Klassengesellschaft und Staat

1. Der Staat - ein Produkt der Unversöhnlichkeit der Klassen-gegensätze

3 Die Schrift "Staat und Revolution" verfasste Lenin im August-September 1917in der Illegalität. Den Gedanken, dass es notwendig sei, die Frage des Staatestheoretisch auszuarbeiten, hatte Lenin in der zweiten Hälfte des Jahres 1916 ge-äußert. Damals schrieb er die Notiz "Jugend-Internationale" (siehe Werke, Bd.23, S. 163-167), in der er die antimarxistische Position Bucharins in der Fragedes Staates kritisierte und versprach, einen ausführlichen Artikel über die FrageMarxismus und Staat zu schreiben. in einem Brief an A. M. Kollontai vom 17.Februar 1917 (neuen Stils) teilte Lenin mit, dass er das Material über die FrageMarxismus und Staat fast fertig vorbereitet habe. Dieses Material hatte Lenin inkleiner, enger Schrift in einem Heft mit blauem Umschlag niedergeschrieben,das von ihm "Marxismus und Staat" betitelt wurde. Es ist eine Sammlung vonZitaten aus Werken von Karl Marx und Friedrich Engels nebst Auszügen ausBüchern von Kautsky, Pannekock und Bernstein mit kritischen Bemerkungen,Schlussfolgerungen und Verallgemeinerungen W.I. Lenins.

Nach dem ursprünglichen Plan sollte die Schrift "Staat und Revolution" aus sie-ben Kapiteln bestehen, doch hat Lenin das letzte, VII. Kapitel, "Die Erfahrungender russischen Revolutionen von 1905 und 1917", nicht geschrieben. Erhalten istnur ein ausführlich ausgearbeiteter Plan dieses Kapitels (siehe W.I. Lenin, "Mar-xismus und Staat", Berlin 1970, S. 124/125). Zur Herausgabe des Buches schriebLenin in einer Notiz an den Verleger, falls er sich »mit der Beendigung des VII.Kapitels zu sehr verspäten oder es übermäßig anschiwellen sollte, müsste mandie ersten sechs Kapitel gesondert, als ersten Teil erscheinen lassen...«

Auf der ersten Seite des Manuskripts wird der Autor mit dem Pseudonym "F.F.Iwanowski" bezeichnet. Unter diesem Pseudonym wollte Lenin sein Buch er-scheinen lassen, da es andernfalls die Provisorische Regierung beschlagnahmthätte. Das Buch wurde jedoch erst 1918 herausgegeben, und die Notwendigkeitdes Pseudonyms entfiel. Die zweite Auflage des Buches erschien 1919 mit demvon Lenin in das zweite Kapitel eingefügten neuen Unterabschnitt "Marx' Frage-stellung im Jahre 1852".

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Mit der Lehre von Marx geschieht jetzt dasselbe, was in der Ge-schichte wiederholt mit den Lehren revolutionärer Denker der un-terdrückten Klassen in ihrem Befreiungskampf geschah. Die großenRevolutionäre wurden zu Lebzeiten von den unterdrückenden Klas-sen ständig verfolgt, die ihrer Lehre mit wildestem Ingrimm undwütendstem Hass begegneten, mit zügellosen Lügen und Verleum-dungen gegen sie zu Felde zogen. Nach ihrem Tode versucht man,sie in harmlose Götzen zu verwandeln, sie sozusagen heilig zusprechen, man gesteht ihrem Namen einen gewissen Ruhm zu zur"Tröstung" und Betörung der unterdrückten Klassen, wobei manihre revolutionäre Lehre des lnhalts beraubt, ihr die revolutionäreSpitze abbricht, sie vulgarisiert. Bei solch einer "Bearbeitung" desMarxismus findet sich jetzt die Bourgeoisie mit den Opportunisteninnerhalb der Arbeiterbewegung zusammen. Man vergisst, ver-drängt und entstellt die revolutionäre Seite der Lehre, ihren revolu-tionären Geist. Man schiebt in den Vordergrund, man rühmt das,was für die Bourgeoisie annehmbar ist oder annehmbar erscheint.Alle Sozialchauvinisten sind heutzutage "Marxisten" - Spaß beisei-te! Und immer häufiger sprechen deutsche bürgerliche Gelehrte,deren Spezialfach gestern noch die Ausrottung des Marxismus war,von dem "nationaldeutschen" Marx, der die zur Führung des Raub-krieges so glänzend organisierten Arbeiterverbände erzogen habensoll!

Bei dieser Sachlage, bei der unerhörten Verbreitung, die die Ent-stellungen des Marxismus gefunden haben, besteht unsere Aufgabein erster Linie in der Wiederherstellung der wahren MarxschenLehre vom Staat. Dazu wird es notwendig sein, eine ganze Reihelanger Zitate aus den Werken von Marx und Engels selbst anzufüh-ren. Gewiss, die langen Zitate werden die Darstellung schwerfälligmachen und ihrer Gemeinverständlichkeit keineswegs förderlichsein. Es ist aber absolut unmöglich, ohne sie auszukommen. Alleoder zumindest alle entscheidenden Stellen aus den Werken vonMarx und Engels über die Frage des Staates müssen unbedingtmöglichst vollständig angeführt werden, damit sich der Leser einselbständiges Urteil bilden kann über die gesamten Auffassungender Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus und über die

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Entwicklung dieser Auffassungen, dann aber auch, um deren Ent-stellung durch das heute herrschende "Kautskyanertum" dokumen-tarisch nachzuweisen und anschaulich vor Augen zu führen.

Wir beginnen mit dem ver-breitetsten Werk von Fried-rich Engels: "Der Ursprungder Familie, des Privatei-gentums und des Staats",das 1894 in Stuttgart bereitsin sechster Auflage erschie-nen ist. Wir sind gezwungen,die Zitate selber aus demdeutschen Original zu über-setzen, da die russischenÜbersetzungen, so zahlreichsie sind, zum größten Teilentweder unvollständig oderäußerst unbefriedigend sind.

»Der Staat«, sagt Engelsbei der Zusammenfassungseiner geschichtlichen Analy-se, »ist also keineswegs eine der Gesellschaft von außen aufge-zwungne Macht; ebensowenig ist er "die Wirklichkeit der sittli-chen Idee", "das Bild und die Wirklichkeit der Vernunft", wieHegel behauptet. Er ist vielmehr ein Produkt der Gesellschaftauf bestimmter Entwicklungsstufe; er ist das Einverständnis,dass diese Gesellschaft sich in einen unlösbaren Widerspruchmit sich selbst verwickelt, sich in unversöhnliche Gegensätzegespalten hat, die zu bannen sie ohnmächtig ist. Damit aberdiese Gegensätze, Klassen mit widerstreitenden ökonomischenInteressen, nicht sich und die Gesellschaft in fruchtlosemKampf verzehren, ist eine scheinbar über der Gesellschaft ste-hende Macht nötig geworden, die den Konflikt dämpfen, inner-halb der Schranken der "Ordnung" halten soll; und diese, ausder Gesellschaft hervorgegangne, aber sich über sie stellende,

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sich ihr mehr und mehr entfremdende Macht ist der Staat.« (S.177/178 bei der sechsten deutschen Auflage.)4

Hier ist mit voller Klarheit der Grundgedanke des Marxismusüber die historische Rolle und die Bedeutung des Staates zum Aus-druck gebracht. Der Staat ist das Produkt und die Äußerung der Un-versöhnlichkeit der Klassengegensätze. Der Staat entsteht dort,dann und insofern, wo, wann und inwiefern die Klassengegensätzeobjektiv nicht versöhnt werden können. Und umgekehrt: Das Be-stehen des Staates beweist, dass die Klassengegensätze unversöhn-lich sind.

Gerade in diesem wichtigsten und grundlegenden Punkt beginntdie Entstehung des Marxismus, die in zwei Hauptlinien verläuft.

Auf der einen Seite pflegen bürgerliche und besonders kleinbür-gerliche Ideologen - die sich unter dem Druck unbestreitbarer ge-schichtlicher Tatsachen gezwungen sehen, anzuerkennen, dass derStaat nur dort vorhanden ist, wo es Klassengegensätze und Klassen-kampf gibt - Marx in der Weise "zu verbessern", dass der Staat sichals Organ der Klassenversöhnung erweist. Nach Marx hätte derStaat weder entstehen noch bestehen können, wenn eine Versöh-nung der Klassen möglich wäre. Bei den kleinbürgerlichen und phi-listerhaften Professoren und Publizisten kommt es - oft unter wohl-wollenden Hinweisen auf Marx! - so heraus, dass der Staat geradedie Klassen versöhne. Nach Marx ist der Staat ein Organ der Klas-senherrschaft, ein Organ zur Unterdrückung der einen Klasse durchdie andere, ist die Errichtung derjenigen "Ordnung", die diese Un-terdrückung sanktioniert und festigt, indem sie den Konflikt derKlassen dämpft. Nach Ansicht der kleinbürgerlichen Politiker istdie Ordnung gerade die Versöhnung der Klassen und nicht die Un-terdrückung der einen Klasse durch die andere; den Konflikt dämp-fen bedeute versöhnen und nicht, es den unterdrückten Klassen un-möglich machen, bestimmte Mittel und Methoden des Kampfeszum Sturz der Unterdrücker zu gebrauchen.

4 Siehe Friedrich Engels, "Der Ursprung der Familie, des Privateigentums unddes Staats", in Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 21, S. 165. Schrift vonFriedrich Engels. (Ebenda, S. 165-168.)

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Alle Sozialrevolutionäre und Menschewiki zum Beispiel sindwährend der Revolution 1917, als sich die Frage nach der Bedeu-tung und der Rolle des Staates gerade in ihrer ganzen Größe erhob,sich praktisch erhob als Frage der sofortigen Aktion, und zudemder Massenaktion - alle sind sie mit einem Schlag gänzlich zurkleinbürgerlichen Theorie der "Versöhnung" der Klassen durch den"Staat" hinab gesunken. Die zahllosen Resolutionen und Artikel derPolitiker dieser beiden Parteien sind völlig von dieser kleinbürgerli-chen und philisterhaften Theorie der "Versöhnung" durchdrungen.Dass der Staat das Organ der Herrschaft einer bestimmten Klasseist, die mit ihrem Antipoden (der ihr entgegengesetzten Klasse)nicht versöhnt werden kann, das vermag die kleinbürgerliche De-mokratie nie zu begreifen. Das Verhältnis zum Staat ist eines deranschaulichsten Zeugnisse dafür, dass unsere Sozialrevolutionäreund Menschewiki gar keine Sozialisten sind (was wir Bolschewikischon immer nachwiesen), sondern kleinbürgerliche Demokratenmit einer beinahsozialistischen Phraseologie.

Auf der anderen Seite ist die "kautskyanische" Entstellung desMarxismus viel feiner. "Theoretisch" wird weder in Abrede ge-stellt, dass der Staat ein Organ der Klassenherrschaft ist noch dassdie Klassengegensätze unversöhnlich sind. Außer acht gelassenoder vertuscht wird aber folgendes: Wenn der Staat das Produkt derUnversöhnlichkeit der Klassengegensätze ist, wenn er eine über derGesellschaft stehende und »sich ihr mehr und mehr entfremden-de« Macht ist, so ist es klar, dass die Befreiung der unterdrücktenKlasse unmöglich ist, nicht nur ohne gewaltsame Revolution, son-dern auch ohne Vernichtung des von der herrschenden Klasse ge-schaffenen Apparats der Staatsgewalt, in dem sich diese "Entfrem-dung" verkörpert.

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Diese theoretischvon selbst einleuchten-de Schlussfolgerunghat Marx, wie wir wei-ter unten sehen wer-den, auf Grund einerkonkreten historischenAnalyse der Aufgabender Revolution mitgrößter Bestimmtheitgezogen. Und geradediese Schlussfolgerunghat Kautsky, wir wer-den das ausführlich inunserer weiteren Dar-legung nachweisen,"vergessen" und ent-stellt.

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2. Besondere Formationen bewaffneter Menschen; Gefängnisse u.a.

»Gegenüber der alten Gentilorganisation«, fährt Engels fort,»kennzeichnet sich der Staat erstens durch die Einteilung derStaatsangehörigen nach dem Gebiet.«

Uns kommt diese Einteilung "natürlich" vor, sie hat aber einenlangwierigen Kampf gegen die alte Organisation nach Geschlech-tern und Stämmen erfordert.

»Das zweite ist die Einrichtung einer öffentlichen Gewalt,welche nicht mehr unmittelbar zusammenfällt mit der sichselbst als bewaffnete Macht organisierenden Bevölkerung. Die-se besondere, öffentliche Gewalt ist nötig, weil eine selbsttätigebewaffnete Organisation der Bevölkerung unmöglich gewordenseit der Spaltung in Klassen ... Diese öffentliche Gewalt existiertin jedem Staat; sie besteht nicht bloß aus bewaffneten Men-schen, sondern auch aus sachlichen Anhängseln, Gefängnissenund Zwangsanstalten aller Art, von denen die Gentilgesell-schaft nichts wusste.«

Prügelpolice London 1886

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Engels entwickelt nun den Begriff jener "Macht", die man alsStaat bezeichnet, der Macht, die aus der Gesellschaft hervorgegan-gen ist, sich aber über sie stellt und sich ihr mehr und mehr ent-fremdet. Worin besteht hauptsächlich diese Macht? In besonderenFormationen bewaffneter Menschen, die Gefängnisse und andereszu ihrer Verfügung haben.

Wir sind berechtigt, von besonderen Formationen bewaffneterMenschen zu sprechen, weil die jedem Staat eigentümliche öffentli-che Gewalt »nicht mehr unmittelbar zusammenfällt« mit der be-waffneten Bevölkerung, mit ihrer »selbsttätigen bewaffneten Or-ganisation«.

Wie alle großen revolutionären Denker sucht Engels die Auf-merksamkeit der klassenbewussten Arbeiter gerade auf das zu len-ken, was dem herrschenden Spießertum am wenigsten beachtens-wert, am gewohntesten erscheint, auf das, was nicht nur durch festeingewurzelte, sondern, man kann sagen, durch verknöcherte Vor-urteile geheiligt ist. Das stehende Heer und die Polizei sind dieHauptwerkzeuge der Gewaltausübung der Staatsmacht, aber - kanndenn das anders sein?

Vom Standpunkt der ungeheuren Mehrheit der Europäer am Aus-gang des 19. Jahrhunderts, an die sich Engels wandte und die keineeinzige große Revolution selbst miterlebt oder aus der Nähe beob-achtet hatten, kann das nicht anders sein. Für sie ist es völlig unver-ständlich, was das für eine »selbsttätige bewaffnete Organisationder Bevölkerung« ist. Auf die Frage, warum besondere, über dieGesellschaft gestellte und sich ihr entfremdende Formationen be-waffneter Menschen (Polizei, stehendes Heer) nötig geworden sei-en, ist der westeuropäische und der russische Philister geneigt, mitein paar bei Spencer oder Michailowski entlehnten Phrasen zu ant-worten, auf die Komplizierung des öffentlichen Lebens, die Diffe-renzierung der Funktionen u. dgl. m. hinzuweisen.

Ein solcher Hinweis hat den Anschein der "Wissenschaftlichkeit"und schläfert den Spießbürger vortrefflich ein, da er das Wichtigsteund Grundlegende vertuscht: die Spaltung der Gesellschaft in ein-ander unversöhnlich feindliche Klassen.

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Ohne diese Spaltung würde sich die »selbsttätige bewaffneteOrganisation der Bevölkerung« zwar durch ihre Kompliziertheit,die Höhe ihrer Technik usw. von der primitiven Organisation dermit Baumästen bewaffneten Affenherde oder der des Urmenschenoder der in der Gentilgesellschaft zusammengeschlossenen Men-schen unterscheiden, aber eine derartige Organisation wäre mög-lich.

Sie ist unmöglich, weil die zivilisierte Gesellschaft in feindlicheund noch dazu unversöhnlich feindliche Klassen gespalten ist, de-ren »selbsttätige« Bewaffnung zu einem bewaffneten Kampf unterihnen führen würde. Es bildet sich der Staat heraus, es wird eine be-sondere Macht geschaffen, besondere Formationen bewaffneterMenschen entstehen, und jede Revolution, die den Staatsapparatzerstört, zeigt uns sehr deutlich, wie die herrschende Klasse die ihrdienenden besonderen Formationen bewaffneter Menschen zu er-neuern sucht und wie die unterdrückte Klasse danach strebt, eineneue Organisation dieser Art zu schaffen, die fähig ist, nicht denAusbeutern, sondern den Ausgebeuteten zu dienen.

Engels wirft in der angeführten Betrachtung theoretisch dieselbeFrage auf, die uns jede große Revolution in der Praxis anschaulichund zudem im Ausmaß der Massenaktion stellt, nämlich die Fragenach dem Verhältnis zwischen den »besonderen« Formationen be-waffneter Menschen und der »selbsttätigen bewaffneten Organi-sation der Bevölkerung«. Wir werden sehen, wie diese Fragedurch die Erfahrungen der europäischen und der russischen Revolu-tionen konkret illustriert wird.

Doch kehren wir zur Darstellung von Engels zurück.

Er weist darauf hin, dass zuweilen, zum Beispiel hier und dort inNordamerika, diese öffentliche Gewalt schwach ist (es handelt sichum eine für die kapitalistische Gesellschaft seltene Ausnahme undum diejenigen Teile Nordamerikas in seiner vorimperialistischenPeriode, wo der freie Kolonist vorherrschte), dass sie sich aber, all-gemein gesprochen, verstärkt:

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»Sie [die öffentliche Gewalt] verstärkt sich aber in dem Maß,wie die Klassengegensätze innerhalb des Staats sich verschär-fen und wie die einander begrenzenden Staaten größer undvolkreicher werden - man sehe nur unser heutiges Europa an,wo Klassenkampf und Eroberungskonkurrenz die öffentlicheMacht auf eine Höhe emporgeschraubt haben, auf der sie dieganze Gesellschaft und selbst den Staat zu verschlingen droht.«

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Das ist nicht später als Anfang der neunziger Jahre des vorigenJahrhunderts geschrieben worden. Das letzte Vorwort von Engelsdatiert vom 16. Juni 1891. Damals nahm die Wendung zum Imperi-alismus - sowohl im Sinne der völligen Herrschaft der Trusts undder Allmacht der größten Banken als auch im Sinne einer grandio-sen Kolonialpolitik usw. - in Frankreich gerade erst ihren Anfang,noch schwächer war sie in Nordamerika und in Deutschland. Seit-dem hat die "Eroberungskonkurrenz" Riesenschritte vorwärts ge-tan, umso mehr, als zu Beginn des zweiten Jahrzehnts des 20. Jahr-hunderts der Erdball endgültig unter diese "konkurrierenden Erobe-rer", d.h. die räuberischen Großmächte, aufgeteilt war. Seit dieser

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Zeit sind die Rüstungen zu Lande und zu Wasser ins Ungeheure ge-wachsen, und der Raubkrieg 1914-1917 um die Beherrschung derWelt durch England oder Deutschland, um die Teilung der Beutehat das "Verschlingen" aller Kräfte der Gesellschaft durch die räu-berische Staatsmacht in solchem Maße gesteigert, dass eine völligeKatastrophe naht.

Engels vermochte schon 1891 auf die "Eroberungskonkur-renz" als auf eines der wichtigsten Merkmale der Außenpolitik derGroßmächte hinzuweisen; doch in den Jahren 1914-1917, als gera-de diese um ein vielfaches verschärfte Konkurrenz den imperialis-tisdien Krieg hervorgerufen hat, bemänteln die Halunken des Sozi-alchauvinismus die Verteidigung der Raubinteressen "ihrer" Bour-geoisie mit Phrasen über "Verteidigung des Vaterlandes", über"Schutz der Republik und der Revolution" u. dgl. m.!

Special Forces Brasilien

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1. Der Staat - ein Werkzeug zur Ausbeutung der unterdrücktenKlasse

Zur Aufrechterhaltung einer besonderen, über der Gesellschaftstehenden öffentlichen Gewalt sind Steuern und Staatsschulden nö-tig.

»Im Besitz der öffentlichen Gewalt und des Rechts der Steu-ereintreibung«, schreibt Engels, »stehen die Beamten nun da alsOrgane der Gesellschaft über der Gesellschaft. Die freie, willigeAchtung, die den Organen der Gentilverfassung gezollt wurde,genügt ihnen nicht, selbst wenn sie sie haben könnten . ..«

https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=455558

Es werden Ausnahmegesetze über die Heiligkeit und Unverletz-lichkeit der Beamten geschaffen. »Der lumpigste Polizeidiener ...hat mehr Autorität als alle Organe der Gentilgesellschaft zu-sammengenommen; aber der mächtigste Fürst und der größteStaatsmann oder Feldherr der Zivilisation kann den geringsten

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Gentilvorsteher beneiden um die unerzwungene und unbestrit-tene Achtung, die ihm gezollt wird.«

Hier wird die Frage nach der privilegierten Stellung der Beamten als Organe derStaatsgewalt aufgeworfen. Als das Grundlegende wird hervorgehoben: Wasstellt sie über die Gesellschaft? Wir werden sehen, wie die Pariser Kommune1871 diese theoretische Frage praktisch zu lösen suchte und wie Kautsky sie1912 reaktionär vertuschte.

»Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassenge-gensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten imKonflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der RegelStaat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, dievermittelst seiner auch politisch herrschende Klasse wird undso neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung derunterdrückten Klasse.«

Nicht nur der antike und der Feudalstaat waren Organe zur Aus-beutung der Sklaven und leibeigenen und hörigen Bauern, sondernes ist auch »der moderne Repräsentativstaat Werkzeug derAusbeutung der Lohnarbeit durch das Kapital. Ausnahmswei-se indes kommen Perioden vor, wo die kämpfenden Klasseneinander so nahe das Gleichgewicht halten, dass die Staatsge-walt als scheinbare Vermittlerin momentan eine gewisse Selb-ständigkeit gegenüber beiden erhält.« So die absolute Monarchiedes 17. und 18. Jahrhunderts, so der Bonapartismus des ersten unddes zweiten Kaiserreichs in Frankreich, so Bismarck in Deutsch-land.

Und so - fügen wir von uns hinzu - die Regierung Kerenski im re-publikanischen Russland, nachdem sie dazu übergegangen ist, dasrevolutionäre Proletariat zu verfolgen, in einem Moment, da die So-wjets infolge der Führung der kleinbürgerlichen Demokraten schonmachtlos sind und die Bourgeoisie noch nicht stark genug ist, umsie ohne weiteres auseinanderzujagen,

In der demokratischen Republik, fährt Engels fort, »übt derReichtum seine Macht indirekt, aber um so sichrer aus«, undzwar erstens durch die »direkte Beamtenkorruption" (Ameri-

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ka) und zweitens durch die »Allianz von Regierung und Börse«(Frankreich und Amerika).

Heute haben Imperialismus und Herrschaft der Banken diese bei-den Methoden, die Allmacht des Reichtums in jeder beliebigen de-mokratischen Republik zu behaupten und auszuüben, zu einer »au-ßergewöhnlichen Kunst entwickelt«. Wenn beispielsweise schonin den ersten Monaten der demokratischen Republik in Russland,sozusagen im Honigmond des Ehebundes der »Sozialisten« - derSozialrevolutionäre und der Menschewiki - mit der Bourgeoisie,Herr Paltschinski in der Koalitionsregierung alle Maßnahmen zurZügelung der Kapitalisten und ihrer Raubgier, ihrer Plünderung derStaatskasse durch Heereslieferungen, sabotierte, wenn dann der ausdem Ministerium ausgetretene Herr Paltschinski (der natürlichdurch einen anderen, ebensolchen Paltschinski ersetzt worden ist)von den Kapitalisten durch ein Pöstchen mit einem Gehalt von120.000 Rubeln jährlich »belohnt« wurde - wie nennt man dasdann? Direkte Korruption oder indirekte? Allianz der Regierungmit den Syndikaten oder »nur« freundschaftliche Beziehungen?Welche Rolle spielen die Tschernow und Zereteli, die Awksentjewund Skobelew? Sind sie "direkte" Bundesgenossen der Millionäre,die den Staat bestehlen, oder nur indirekte?

Die Allmacht des "Reichtums" ist in der demokratischen Repu-blik deshalb sicherer, weil sie nicht von einzelnen Mängeln des po-litischen Mechanismus, von einer schlechten politischen Hülle desKapitalismus abhängig ist. Die demokratische Republik ist diedenkbar beste politische Hülle des Kapitalismus, und daher begrün-det das Kapital, nachdem es (durch die Paltschinski, Tschernow,Zereteli und Co.) von dieser besten Hülle Besitz ergriffen hat, seineMacht derart zuverlässig, derart sicher, dass kein Wechsel, wederder Personen noch der Institutionen noch der Parteien der bürger-lich-demokratischen Republik, diese Macht erschüttern kann.

Es muss noch hervorgehoben werden, dass Engels mit größterEntschiedenheit das allgemeine Stimmrecht als Werkzeug der Herr-schaft der Bourgeoisie bezeichnet. Das allgemeine Stimmrecht,

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sagt er unter offensichtlicher Berücksichtigung der langjährigen Er-fahrungen der deutschen Sozialdemokratie, ist

»... der Gradmesser der Reife der Arbeiterklasse. Mehr kannund wird es nie sein im heutigen Staat...«

Die kleinbürgerlichen Demokraten vom Schlage unserer Sozialre-volutionäre und Menschewiki sowie ihre leiblichen Brüder, alle So-zialchauvinisten und Opportunisten Westeuropas, erwarten ebenvom allgemeinen Stimmrecht »mehr«. Sie sind in dem falschen Ge-danken befangen und suggerieren ihn dem Volke, das allgemeineStimmrecht sei »im heutigen Staat« imstande, den Willen derMehrheit der Werktätigen wirklich zum Ausdruck zu bringen undseine Realisierung zu sichern.

Wir können hier diesen falschen Gedanken nur ausführen, nurdarauf hinweisen, dass die vollkommen klare, genaue, konkrete Er-klärung von Engels in der Propaganda und Agitation der »offiziel-len« (d.h. opportunistischen) sozialistischen Parteien auf Schrittund Tritt entstellt wird. Wie völlig falsch dieser Gedanke ist, denEngels hier verwirft, wird in unseren weiteren Darlegungen derAuffassungen von Marx und Engels über den heutigen Staat aus-führlich klargelegt.

Engels fasst seine Auffassungen in seinem populärsten Werk infolgenden Worten zusammen:

»Der Staat ist also nicht von Ewigkeit her. Es hat Gesellschaf-ten gegeben, die ohne ihn fertig wurden, die von Staat undStaatsgewalt keine Ahnung hatten. Auf einer bestimmten Stufeder ökonomischen Entwicklung, die mit Spaltung der Gesell-schaft in Klassen notwendig verbunden war, wurde durch dieseSpaltung der Staat eine Notwendigkeit. Wir nähern uns jetztmit raschen Schritten einer Entwicklungsstufe der Produktion,auf der das Dasein dieser Klassen nicht nur aufgehört hat, eineNotwendigkeit zu sein, sondern ein positives Hindernis der Pro-duktion wird. Sie werden fallen, ebenso unvermeidlich, wie siefrüher entstanden sind. Mit ihnen fällt unvermeidlich derStaat. Die Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier

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und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, ver-setzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehörenwird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und diebronzene Axt.«

Man trifft dieses Zitat in der Propaganda- und Agitationsliteraturder heutigen Sozialdemokratie nicht oft an. Aber selbst dann, wenndieses Zitat vorkommt, gebraucht man es meistenteils so, als mach-te man eine Verbeugung vor einem Heiligenbild, d.h. als offizielleBekundung der Ehrerbietung vor Engels, ohne jeden Versuch, zuerfassen, einen wie weittragenden und tiefgreifenden Aufschwungder Revolution dieses »Versetzen der ganzen Staatsmaschine insMuseum der Altertümer« voraussetzt. Meistenteils fehlt sogar dasVerständnis für das, was Engels als Staatsmaschine bezeichnet.

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3. Das "Absterben" des Staates und die gewaltsame Revolution

Die Worte Engels' über das »Absterben« des Staates sind weitund breit so bekannt, sie werden so oft zitiert, zeigen so plastisch,worin die Quintessenz der landläufigen Verfälschung des Marxis-mus zum Opportunismus besteht, dass es geboten erscheint, einge-hend bei ihnen zu verweilen. Wir zitieren die ganze Betrachtung,der sie entnommen sind:

»Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt dieProduktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damithebt es sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenun-terschiede und Klassengegensätze auf, und damit auch denStaat als Staat. Die bisherige, sich in Klassengegensätzen bewe-gende Gesellschaft hatte den Staat nötig, das heißt eine Organi-sation der jedesmaligen ausbeutenden Klasse zur Aufrechter-haltung ihrer äußeren Produktionsbedingungen, also nament-lich zur gewaltsamen Niederhaltung der ausgebeuteten Klassein den durch die bestehende Produktionsweise gegebnen Bedin-gungen der Unterdrückung (Sklaverei, Leibeigenschaft oderHörigkeit, Lohnarbeit). Der Staat war der offizielle Repräsen-tant der ganzen Gesellschaft, ihre Zusammenfassung in einersichtbaren Körperschaft, aber er war dies nur, insofern er derStaat derjenigen Klasse war, welche selbst für ihre Zeit die gan-ze Gesellschaft vertrat: im Altertum Staat der sklavenhalten-den Staatsbürgern im Mittelalter des Feudaladels, in unsrerZeit der Bourgeoisie. Indem er endlich tatsächlich Repräsen-tant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst überf-lüssig. Sobald es keine Gesellschaftsklasse mehr in der Unter-drückung zu halten gibt, sobald mit der Klassenherrschaft unddem in der bisherigen Anarchie der Produktion begründetenKampf ums Einzeldasein auch die daraus entspringenden Kol-lisionen und Exzesse beseitigt sind, gibt es nichts mehr zu repri-mieren, das eine besondre Repressionsgewalt, einen Staat, nötigmachte. Der erste Akt, worin der Staat wirklich als Repräsen-tant der ganzen Gesellschaft auftritt - die Besitzergreifung derProduktionsmittel im Namen der Gesellschaft, ist zugleich seinletzter selbständiger Akt als Staat. Das Eingreifen einer Staats-

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gewalt in gesellschaftliche Verhältnisse wird auf einem Gebietenach dem andern überflüssig und schläft dann von selbst ein.An die Stelle der Regierung über Personen tritt die Verwaltungvon Sachen und die Leitung von Produktionsprozessen. DerStaat wird nicht abgeschafft, er stirbt ab. Hieran ist die Phrasevom "freien Volksstaat" zu messen, also sowohl nach ihrer zeit-weiligen agitatorischen Berechtigung wie nach ihrer endgülti-gen wissenschaftlichen Unzulänglichkeit: hieran ebenfalls dieForderung der sogenannten Anarchisten, der Staat solle vonheute auf morgen abgeschafft werden.« ("Anti-Dühring",Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft, drittedeutsche Auflage, S. 301-303.)5

Ohne zu fürchten fehlzugehen, darf man sagen, dass von dieserwunderbar gedankenreichen Engelsschen Betrachtung nur so vielwirkliches Gemeingut des sozialistischen Denkens in den heutigensozialistischen Parteien geworden ist, dass der Staat nach Marx»abstirbt«, im Unterschied zur anarchistischen Lehre von der »Ab-schaffung« des Staates. Den Marxismus so zurechtstutzen heißt ihnzu Opportunismus herabmindern, denn bei einer solchen »Ausle-gung« bleibt nur die vage Vorstellung von einer langsamen, gleich-mäßigen, allmählichen Veränderung übrig, als gebe es keine Sprün-ge und Stürme, als gebe es keine Revolution. Das »Absterben« desStaates im landläufigen, allgemein verbreiteten Sinne, im Massen-sinne, wenn man so sagen darf, bedeutet zweifellos eine Vertu-schung, wenn nicht gar eine Verneinung der Revolution.

Indessen bedeutet eine solche »Auslegung« die gröbste, nur fürdie Bourgeoisie vorteilhafte Entstellung des Marxismus, die theore-tisch auf dem Außerachtlassen der wichtigsten Umstände und Er-wägungen beruht, wie sie allein schon in der gleichen, von unsvollständig zitierten »zusammenfassenden« Betrachtung von En-gels dargelegt sind.

Erstens. Ganz zu Anfang dieser Betrachtung sagt Engels, dass dasProletariat, indem es die Staatsgewalt ergreift, »den Staat als Staat

5 Siehe Friedrich Engels, "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft(,Anti-Dühring')", in Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 20, S. 261/262.

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aufhebt«. Darüber nachzudenken, was das zu bedeuten hat, ist»nicht üblich«. Gewöhnlich wird dies entweder ganz ignoriert oderfür eine Art »hegelianische Schwäche« von Engels gehalten. InWirklichkeit drücken diese Worte kurz die Erfahrungen einer dergrößten proletarischen Revolutionen, die Erfahrungen der PariserKommune von 1871 aus, worüber an entsprechender Stelle aus-führlicher gesprochen werden soll. In Wirklichkeit spricht Engelshier von der »Aufhebung« des Staates der Bourgeoisie durch dieproletarische Revolution, während sich die Worte vom Absterbenauf die Überreste des proletarischen Staatswesens nach der sozialis-tischen Revolution beziehen. Der bürgerliche Staat »stirbt« nachEngels nicht »ab«, sondern er wird in der Revolution vom Proleta-riat »aufgehoben«. Nach dieser Revolution stirbt der proletarischeStaat oder Halbstaat ab.

Zweitens. Der Staat ist »eine besondere Repressionsgewalt«. Die-se großartige und überaus tiefe Definition legt Engels hier ganz klarund eindeutig dar. Aus ihr folgt aber, dass die »besondre Repressi-onsgewalt« der Bourgeoisie gegen das Proletariat, einer Handvollreicher Leute gegen die Millionen der Werktätigen, abgelöst wer-den muss durch eine »besondere Repressionsgewalt« des Proletari-ats gegen die Bourgeoisie (die Diktatur des Proletariats). Darineben besteht die »Aufhebung des Staates als Staat«. Darin eben be-steht der »Akt« der Besitzergreifung der Produktionsmittel im Na-men der Gesellschaft. Und es ist ohne weiteres klar, dass eine sol-che Ablösung der einen (bürgerlichen) »besonderen Gewalt« durcheine andere (proletarische) »besondere Gewalt« unter keinen Um-ständen in Form des »Absterbens« erfolgen kann.

Drittens. Vom »Absterben« und noch plastischer und bildhaftervom »Einschlafen« spricht Engels ganz klar und eindeutig in Bezugauf die Epoche nach der »Besitzergreifung der Produktionsmitteldurch den Staat im Namen der ganzen Gesellschaft«, d.h. nach dersozialistischen Revolution. Wir wissen alle, dass die politischeForm des »Staates« in dieser Zeit die vollkommenste Demokratieist. Doch keinem der Opportunisten, die den Marxismus schamlosverzerren, kommt es in den Sinn, dass hier bei Engels somit vom»Einschlafen« und »Absterben« der Demokratie die Rede ist. Auf

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den ersten Blick mag das sehr sonderbar erscheinen. Doch »unver-ständlich« bleibt das nur dem, der nicht bedacht hat, dass die De-mokratie auch ein Staat ist und dass folglich auch die Demokratieverschwinden wird, sobald der Staat verschwindet. Den bürgerli-chen Staat kann nur die Revolution »aufheben«. Der Staat über-haupt, d.h. die vollkommenste Demokratie, kann nur »absterben«.

Viertens. Nachdem Engels seinen berühmten Satz »Der Staatstirbt ab« aufgestellt hat, erläutert er sofort konkret, dass dieserSatz sich sowohl gegen die Opportunisten als auch gegen die Anar-chisten richtet. Dabei steht bei Engels an erster Stelle diejenige Fol-gerung aus dem Satz vom »Absterben des Staates«, die gegen dieOpportunisten gerichtet ist.

Man könnte wetten, dass von 10.000 Menschen, die vom »Ab-sterben« des Staates gelesen oder gehört haben, 9.990 überhauptnicht wissen oder sich nicht entsinnen, dass Engels seine Schluss-folgerungen aus diesem Satz nicht nur gegen die Anarchisten rich-tete. Und von den übrigen zehn Menschen wissen neun sicherlichnicht, was der »freie Volksstaat« ist und warum in dem Angriff aufdiese Losung ein Angriff auf die Opportunisten steckt. So wird Ge-schichte geschrieben! So wird die große revolutionäre Lehre un-merklich dem herrschenden Spießbürgertum angepasst. DieSchlussfolgerung gegen die Anarchisten wurde tausende Male wie-derholt, banalisiert und möglichst versimpelt in die Köpfe einge-hämmert und gewann die Festigkeit eines Vorurteils. Die Schluss-folgerung gegen die Opportunisten aber wurde vertuscht und »ver-gessen«!

Der »freie Volksstaat« war eine Programmforderung und landläu-fige Losung der deutschen Sozialdemokraten der siebziger Jahre.Irgendeinen politischen Inhalt, außer einer kleinbürgerlich schwüls-tigen Umschreibung des Begriffs Demokratie, hat diese Losungnicht. Soweit in ihr legal die demokratische Republik angedeutetwurde, war Engels bereit, aus agitatorischen Gründen »zeitweilig«die »Berechtigung« dieser Losung gelten zu lassen. Diese Losungwar aber opportunistisch, denn sie brachte nicht nur eine Beschöni-gung der bürgerlichen Demokratie, sondern auch ein Verkennen der

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sozialistischen Kritik an jedwedem Staat überhaupt zum Ausdruck.Wir sind für die demokratische Republik als die für das Proletariatunter dem Kapitalismus beste Staatsform, aber wir dürfen nicht ver-gessen, dass auch in der allerdemokratischsten bürgerlichen Repu-blik Lohnsklaverei das Los des Volkes ist. Ferner. Jedweder Staatist »eine besondre Repressionsgewalt« gegen die unterdrückteKlasse. Darum ist ein jeder Staat unfrei und kein Volksstaat. Marxund Engels haben das ihren Parteigenossen in den siebziger Jahrenwiederholt auseinandergesetzt.

Fünftens. In dem gleichen Werk von Engels, in dem die Betrach-tung über das Absterben des Staates enthalten ist - an die sich alleerinnern -, finden sich Ausführungen über die Bedeutung der ge-waltsamen Revolution. Die geschichtliche Bewertung ihrer Rollewird bei Engels zu einer wahren Lobrede auf die gewaltsame Revo-lution. Dessen »erinnert sich niemand«; über die Bedeutung diesesGedankens zu reden, ja auch nur nachzudenken, ist in den heutigensozialistischen Parteien nicht üblich, in der täglichen Propagandaund Agitation unter den Massen spielen diese Gedanken gar keineRolle. Indes sind sie mit dem »Absterben« des Staates untrennbarzu einem harmonischen Ganzen verbunden.

Hier diese Ausführungen von Engels:

»Dass die Gewalt aber noch eine andre Rolle [als die einerVollbringerin des Bösen] in der Geschichte spielt, eine revoluti-onäre Rolle, dass sie, in Marx' Worten, die Geburtshelferin je-der alten Gesellschaft ist, die mit einer neuen schwanger geht,dass sie das Werkzeug ist, womit sich die gesellschaftliche Be-wegung durchsetzt und erstarrte, abgestorbene politische For-men zerbricht - davon kein Wort bei Herrn Dühring. Nur un-ter Seufzen und Stöhnen gibt er die Möglichkeit zu, dass zumSturz der Ausbeutungswirtschaft vielleicht Gewalt nötig seinwerde - leider! denn jede Gewaltanwendung demoralisiere den,der sie anwendet. Und das angesichts des hohen moralischenund geistigen Aufschwungs, der die Folge jeder siegreichen Re-volution war! Und das in Deutschland, wo ein gewaltsamer Zu-sammenstoß, der dem Volk ja aufgenötigt werden kann, we-

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nigstens den Vorteil hätte, die aus der Erniedrigung des Drei-ßigjährigen Kriegs in das nationale Bewusstsein gedrungeneBedienstenhaftigkeit auszutilgen. Und diese matte, saft- undkraftlose Predigerdenkweise macht den Anspruch, sich der re-volutionärsten Partei aufzudrängen, die die Geschichte kennt?«(S. 193, dritte deutsche Auflage, Schluss des IV. Kapitels, ZweiterAbschnitt.)

Wie lässt sich diese Lobrede auf die gewaltsame Revolution, dieEngels beharrlich von 1878 bis 1894, d.h. bis zu seinem Tode, dendeutschen Sozialdemokraten darbot, mit der Theorie vom »Abster-ben« des Staates in einer Lehre vereinen?

Gewöhnlich vereint man beides mit Hilfe des Eklektizismus, ei-nes ideenlosen oder sophistischen Herausgreifens willkürlich (oderden Machthabern zu Gefallen) bald der einen, bald der anderen Be-trachtung, wobei in 99 von 100 Fällen, wenn nicht noch öfter, gera-de das »Absterben« in den Vordergrund geschoben wird. Die Dia-lektik wird durch Eklektizismus ersetzt. Das ist, was den Marxis-mus anbelangt, die allgemein übliche, am weitesten verbreitete Er-scheinung in der offiziellen sozialdemokratischen Literatur unsererTage. Ein solches Ersetzen ist natürlich nichts Neues, es war sogarin der Geschichte der klassischen griechischen Philosophie zu beo-bachten.

Bei der Verfälschung des Marxismus in Opportunismus pflegt dieVerfälschung der Dialektik in Eklektizismus die Massen am leich-testen zu täuschen, sie gewährt eine scheinbare Befriedigung, be-rücksichtigt scheinbar alle Seiten des Prozesses, alle Entwicklungs-tendenzen, alle widerspruchsvollen Einflüsse usw., während sie inWirklichkeit gar keine einheitliche, keine revolutionäre Auffassungdes gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses gibt.

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Wir haben schon oben davon gesprochen und werden in der wei-teren Darstellung ausführlicher zeigen, dass die Lehre von Marxund Engels von der Unvermeidlichkeit der gewaltsamen Revolutionsich auf den bürgerlichenStaat bezieht. Dieser kanndurch den proletarischenStaat (die Diktatur des Prole-tariats) nicht auf dem Wegedes »Absterbens« abgelöstwerden, sondern, als allge-meine Regel, nur durch einegewaltsame Revolution. DieLobrede, die Engels auf diegewaltsame Revolution hältund die den vielfachen Er-klärungen von Marx durch-aus entspricht (erinnern wiruns an den Schluss des"Elends der Philosophie"6

und des "KommunistischenManifests"7 mit der stolzenund offenen Erklärung, dassdie gewaltsame Revolution unausbleiblich ist; erinnern wir uns andie „Kritik des Gothaer Programms vom Jahre 1875“8, fast

6 Siehe Karl Marx, "Das Elend der Philosophie", in Karl Marx/Friedrich Engels,Werke, Bd. 4, S. 63-182.7 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 4, S. 493.8 Siehe Karl Marx, "Kritik des Gothaer Programms", in Karl Marx/Friedrich En-gels, Werke, Bd. 19, S. 11-32.

Das Gothaer Programm - Programm der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutsch-lands, angenommen auf dem Parteitag in Gotha im Jahre 1875, auf dem sich dieEisenacher (geführt von August Bebel und Wilhelm Liebknecht, unter dem geis-tigen Einfluss von Marx und Engels stehend) und die Lassalleaner vereinigten.Die Vereinigung beendete den jahrelangen Bruderkampf in der deutschen Arbei-terbewegung. Das auf dem Kongress in Gotha angenommene Parteiprogrammentsprach jedoch nicht der Bedeutung der Vereinigung. Es enthielt zwar wichtigepolitische und soziale Forderungen, war jedoch insgesamt durchdrungen vom

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dreißig Jahre später, in der Marx den Opportunismus dieses Pro-gramms schonungslos geißelte) - diese Lobrede ist durchaus keine»Schwärmerei«, durchaus keine Deklamation, kein polemischerAusfall. Die Notwendigkeit, die Massen systematisch in diesen, ge-rade in diesen Auffassungen über die gewaltsame Revolution zu er-ziehen, liegt der gesamten Lehre von Marx und Engels zugrunde.Der Verrat an ihrer Lehre durch die heutzutage vorherrschenden so-zialchauvinistischen und kautskyanischen Strömungen kommt be-sonders plastisch darin zum Ausdruck, dass man hier wie dort diesePropaganda, diese Agitation vergessen hat.

Die Ablösung des bürgerlichen Staates durch den proletarischenist ohne gewaltsame Revolution unmöglich. Die Aufhebung desproletarischen Staates, d.h. die Aufhebung jeglichen Staates, istnicht anders möglich als auf dem Wege des »Absterbens«.

Eine ausführliche und konkrete Entwicklung dieser Auffassungenlieferten Marx und Engels, indem sie jede einzelne revolutionäreSituation analysierten. Wir gehen nunmehr zu diesem fraglos wich-tigsten Teil ihrer Lehre über.

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opportunistischen Gedankengut des Lassalleanismus. Karl Marx in seiner "Kritikdes Gothaer Programms" und Friedrich Engels im Brief an August Bebel vom18.-28. März 1875 unterzogen den Entwurf des Gothaer Programms einer ver-nichtenden Kritik und bezeichneten ihn als entschiedenen Rückschritt gegenüberdem Eisenacher Programm von 1869.

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II. Kapitel - Die Erfahrungen der Jahre 1848-1851

1. Der Vorabend der Revolution

Die ersten Werke des reifen Marxismus, "Das Elend der Philo-sophie" und das "Kommunistische Manifest", stammen aus derZeit unmittelbar vor demAusbruch der Revolutionvon 1848. Infolgedessen be-sitzen wir hier neben einerDarlegung der allgemeinenGrundlagen des Marxismusbis zu einem gewissen Gradeein Spiegelbild der damali-gen konkreten revolutionärenSituation, und so wäre eszweckmäßig, zu untersuchen,was die Verfasser dieserWerke über den Staat aus-führten, unmittelbar bevorsie ihre Schlussfolgerungenaus den Erfahrungen der Jah-re 1848-1851 zogen.

»Die arbeitende Klasse«,schreibt Marx im "Elendder Philosophie", »wird im Laufe der Entwicklung an die Stelleder alten bürgerlichen Gesellschaft eine Assoziation setzen,welche die Klassen und ihren Gegensatz ausschließt, und eswird keine eigentliche politische Gewalt mehr geben, weil gera-de die politische Gewalt der offizielle Ausdruck des Klassenge-gensatzes innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft ist.« (S. 182der deutschen Ausgabe von 1885.)

Es ist lehrreich, dieser allgemeinen Darlegung des Gedankensüber das Verschwinden des Staates nach der Aufhebung der Klas-sen die Ausführungen gegenüberzustellen, die in dem einige Mona-te später, nämlich im November 1847, von Marx und Engels ver-fassten "Kommunistischen Manifest" enthalten sind:

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»Indem wir die allgemeinsten Phasen der Entwicklung desProletariats zeichneten, verfolgten wir den mehr oder minderversteckten Bürgerkrieg innerhalb der bestehenden Gesell-schaft bis zu dem Punkt, wo er in eine offene Revolution aus-bricht und durch den gewaltsamen Sturz der Bourgeoisie dasProletariat seine Herrschaft begründet.«

»Wir sahen schon oben,dass der erste Schritt in derArbeiterrevolution die Er-hebung des Proletariats zurherrschenden Klasse, dieErkämpfung der Demokra-tie ist.

Das Proletariat wird seinepolitische Herrschaft dazubenutzen, der Bourgeoisienach und nach alles Kapi-tal zu entreißen, alle Pro-duktionsinstrumente in denHänden des Staats, d.h. desals herrschende Klasse or-ganisierten Proletariats zuzentralisieren und die Mas-se der Produktionskräftemöglichst rasch zu vermehren.«9 (S. 31 und 37, siebente deutscheAusgabe 1906.)10

Hier haben wir die Formulierung einer der bedeutsamsten undwichtigsten Ideen des Marxismus in der Frage des Staates, nämlichder Idee der »Diktatur des Proletariats« (wie Marx und Engels nachder Pariser Kommune sich auszudrücken begannen), ferner einehöchst interessante Definition des Staates, die gleichfalls zu den

9 Manifest der kommunistischen Partei (Marx u. Engels, Werke, Bd.4, S.473, 481.)10 Das Elend der Philosophie (Marx u. Engels, Werke, Bd.4, S.182.)

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»vergessenen Worten« des Marxismus gehört. »Der Staat, dasheißt das als herrschende Klasse organisierte Proletariat.«

Nicht nur, dass diese Definition des Staates niemals in der herr-schenden Propaganda- und Agitationsliteratur der offiziellen sozial-demokratischen Parteien erläutert worden ist. Mehr als das. Sie istgeradezu vergessen worden, da sie mit dem Reformismus völligunvereinbar ist, da sie den landläufigen opportunistischen Vorurtei-len und kleinbürgerlichen Illusionen über eine »friedliche Entwick-lung der Demokratie« ins Gesicht schlägt.

Das Proletariat braucht den Staat - das wiederholen alle Opportu-nisten, Sozialchauvinisten und Kautskyaner, wobei sie beteuern,dies sei die Lehre von Marx, sie »vergessen« aber hinzuzufügen,dass erstens das Proletariat nach Marx nur einen absterbenden Staatbraucht, d.h. einen Staat, der so beschaffen ist, dass er sofort abzu-sterben beginnt und zwangsläufig absterben muss. Und zweitensbrauchen die Werktätigen den »Staat«, »das heißt das als herr-schende Klasse organisierte Proletariat«.

Der Staat ist eine besondere Machtorganisation, eine Organisationder Gewalt zur Unterdrückung einer Klasse. Welche Klasse abermuss vom Proletariat unterdrückt werden? Natürlich nur die Aus-beuterklasse, d.h. die Bourg

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Die Werktätigen brauchen den Staat nur, um den Widerstand derAusbeuter niederzuhalten, aber dieses Niederhalten zu leiten, in dieTat umzusetzen ist allein das Proletariat imstande, als die einzigekonsequent revolutionäre Klasse, als einzige Klasse, die fähig ist,alle Werktätigen und Ausgebeuteten im Kampf gegen die Bour-geoisie, im Kampf um deren völlige Beseitigung zu vereinigen.

Die ausbeutenden Klassen bedürfen der politischen Herrschaft imInteresse der Aufrechterhaltung der Ausbeutung, d.h. im eigennüt-zigen Interesse einer verschwindend kleinen Minderheit gegen dieungeheure Mehrheit des Volkes. Die ausgebeuteten Klassen bedür-fen der politischen Herrschaft im Interesse der völligen Aufhebungjeder Ausbeutung, d.h. im Interesse der ungeheuren Mehrheit desVolkes gegen die verschwindend kleine Minderheit der modernenSklavenhalter, d.h. der Gutsbesitzer und Kapitalisten.

Die kleinbürgerlichen Demokraten, diese Pseudosozialisten, dieden Klassenkampf durch Träumereien von Klassenharmonie ersetz-ten, stellten sich auch die sozialistische Umgestaltung träumerischvor, nicht als Sturz der Herrschaft der ausbeutenden Klasse, son-dern als friedliche Unterordnung der Minderheit unter die sich ihrerAufgaben bewusst gewordene Mehrheit. Diese mit der Anerken-nung eines über den Klassen stehenden Staates unzertrennlich ver-bundene kleinbürgerliche Utopie führte in der Praxis zum Verrat anden Interessen der werktätigen Klassen, wie dies z.B. die Geschich-te der französischen Revolutionen von 1848 und 1871, wie dies dieErfahrungen der Beteiligung von »Sozialisten« an bürgerlichen Re-gierungen in England, Frankreich, Italien und anderen Ländern amAusgang des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gezeigt haben.

Marx bekämpfte sein ganzes Leben lang diesen kleinbürgerlichenSozialismus, der jetzt in Russland durch die Parteien der Sozialre-volutionäre und Menschewiki zu neuem Leben erweckt worden ist.Marx hat die Lehre vom Klassenkampf konsequent bis zu der Lehrevon der politischen Macht, vom Staat, entwickelt.

Die Herrschaft der Bourgeoisie stürzen kann nur das Proletariatals besondere Klasse, deren wirtschaftliche Existenzbedingungen esdarauf vorbereiten, ihm die Möglichkeit und die Kraft geben, die-

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sen Sturz zu vollbringen. Während die Bourgeoisie die Bauern-schaft und die kleinbürgerlichen Schichten zersplittert und zer-stäubt, schließt sie das Proletariat zusammen, einigt und organisiertes. Nur das Proletariat ist - kraft seiner ökonomischen Rolle in derGroßproduktion - fähig, der Führer aller werktätigen und ausgebeu-teten Massen zu sein, die von der Bourgeoisie vielfach nicht weni-ger, sondern noch mehr ausgebeutet, geknechtet und unterdrücktwerden als die Proletarier, aber zu einem selbständigen Kampf umihre Befreiung nicht fähig sind.

Die Lehre vom Klassenkampf, von Marx auf die Frage des Staa-tes und der sozialistischen Revolution angewandt, führt notwendigzur Anerkennung der politischen Herrschaft des Proletariats, seinerDiktatur, d.h. einer mit niemand geteilten und sich unmittelbar aufdie bewaffnete Gewalt der Massen stützenden Macht. Der Sturz derBourgeoisie ist nur zu verwirklichen durch die Erhebung des Prole-tariats zur herrschenden Klasse, die fähig ist, den unvermeidlichen,verzweifelten Widerstand der Bourgeoisie niederzuhalten und fürdie Neuordnung der Wirtschaft alle werktätigen und ausgebeutetenMassen zu organisieren.

Das Proletariat braucht die Staatsmacht, eine zentralisierte Orga-nisation der Macht, eine Organisation der Gewalt sowohl zur Un-terdrückung des Widerstands der Ausbeuter als auch zur Leitungder ungeheuren Masse der Bevölkerung, der Bauernschaft, desKleinbürgertums, der Halbproletarier, um die sozialistische Wirt-schaft »in Gang zu bringen«.

Durch die Erziehung der Arbeiterpartei erzieht der Marxismus dieAvantgarde des Proletariats, die fähig ist, die Macht zu ergreifenund das ganze Volk zum Sozialismus zu führen, die neue Ordnungzu leiten und zu organisieren, Lehrer, Leiter, Führer aller Werktäti-gen und Ausgebeuteten zu sein bei der Gestaltung ihres gesell-schaftlichen Lebens ohne die Bourgeoisie und gegen die Bourgeoi-sie. Der heute herrschende Opportunismus dagegen erzieht in derArbeiterpartei die Vertreter der besser bezahlten Arbeiter, die sichden Massen entfremden und sich unter dem Kapitalismus leidlich"einzurichten" wissen, die ihr Erstgeburtsrecht für ein Linsenge-

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richt verkaufen, d.h. auf die Rolle revolutionärer Führer des Volkesgegen die Bourgeoisie verzichten.

»Der Staat, das heißt das als herrschende Klasse organisierteProletariat« - diese Theorie von Marx istuntrennbar verbunden mit seiner ganzen Leh-re von der revolutionären Rolle des Proletari-ats in der Geschichte. Die Vollendung dieserRolle ist die proletarische Diktatur, die politi-sche Herrschaft des Proletariats.

Wenn aber das Proletariat den Staat alseine besondere Organisation der Gewalt ge-gen die Bourgeoisie braucht, so drängt sichvon selbst die Frage auf, ob es denkbar ist,eine solche Organisation zu schaffen ohnevorherige Abschaffung, ohne Zerstörung derStaatsmaschine, die die Bourgeoisie für sichgeschaffen hat.

Zu dieser Schlussfolgerung führt uns unmittelbar das "Kommu-nistische Manifest", und von ihr spricht Marx, wenn er das Fazitaus den Erfahrungen der Revolution von 1848 bis 1851 zieht.

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2. Die Ergebnisse der Revolution

In der uns interessierenden Frage des Staates zieht Marx das Fazitder Revolution von 1848 bis 1851 in folgenden Ausführungen sei-nes Werkes "Der Achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte"

:»Aber die Revolution istgründlich. Sie ist noch aufder Reise durch das Fegefeu-er begriffen. Sie vollbringtihr Geschäft mit Methode.Bis zum 2. Dezember 1851[dem Tage des StaatsstreichsLouis Bonapartes] hatte siedie eine Hälfte ihrer Vorbe-reitung absolviert, sie absol-viert jetzt die andre. Sie voll-endete erst die parlamentari-sche Gewalt, um sie stürzenzu können. jetzt, wo sie dieserreicht, vollendet sie dieExekutivgewalt, reduziert sieauf ihren reinsten Ausdruck,isoliert sie, stellt sie sich alseinzigen Vorwurf gegenüber,um alle ihre Kräfte der Zerstörung gegen sie zu konzentrieren [vonuns hervorgehoben]. Und wenn sie diese zweite Hälfte ihrer Vorar-beit vollbracht hat, wird Europa von seinem Sitze aufspringen undjubeln: Brav gewühlt, alter Maulwurf!

Diese Exekutivgewalt mit ihrer ungeheueren bürokratischenund militärischen Organisation, mit ihrer weitschichtigen undkünstlichen Staatsmaschinerie, ein Beamtenheer von einer hal-ben Million neben einer Armee von einer anderen halben Milli-on, dieser fürchterliche Parasitenkörper, der sich wie eine Netz-haut um den Leib der französischen Gesellschaft schlingt undihr alle Poren verstopft. entstand in der Zeit der absolutenMonarchie, beim Verfall des Feudalwesens, den er beschleuni-

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gen half.« Die erste französische Revolution entwickelte die Zen-tralisation, »...aber zugleich den Umfang, die Attribute und dieHandlanger der Regierungsgewalt. Napoleon vollendete dieseStaatsmaschinerie. Die legitime Monarchie und die Julimonar-chie fügten nichts hinzu als eine größere Teilung der Arbeit...«

»Die parlamentarische Republik endlich sah sich in ihremKampfe wider die Revolution gezwungen, mit den Repressiv-maßregeln die Mittel und die Zentralisation der Regierungsge-walt zu verstärken. Alle Umwälzungen vervollkommneten dieseMaschine statt sie zu brechen [von uns hervorgehoben]. DieParteien, die abwechselnd um die Herrschaft rangen, betrach-teten die Besitznahme dieses ungeheueren Staatsgebäudes alsdie Hauptbeute des Siegers.« ("Der Achtzehnte Brumaire desLouis Bonaparte", S. 98 und 99, vierte Auflage, Hamburg 1907.)11

In diesen großartigen Ausführungen macht der Marxismus imVergleich zum "Kommunistischen Manifest" einen gewaltigenSchritt vorwärts. Dort wird die Frage des Staates noch äußerst abs-trakt, in ganz allgemeinen Begriffen und Wendungen behandelt.Hier wird die Frage konkret gestellt, und es wird eine äußerst ge-naue, bestimmte, praktisch-greifbare Schlussfolgerung gezogen:Alle früheren Revolutionen haben die Staatsmaschinerie vervoll-kommnet, man muss sie aber zerschlagen, zerbrechen.

Diese Folgerung ist das Hauptsächliche, das Grundlegende in derLehre des Marxismus vom Staat. Und gerade dieses Grundlegendeist von den herrschenden offiziellen sozialdemokratischen Parteiennicht nur total vergessen, sondern auch (wie wir weiter unten sehenwerden) von dem prominentesten Theoretiker der II. Internationale,K. Kautsky, direkt entstellt worden.

Im "Kommunistischen Manifest" sind die allgemeinen Ergebnisseder Geschichte zusammengefasst, die uns veranlassen, im Staat einOrgan der Klassenherrschaft zu sehen, und uns zu dem unbedingten

11 Siehe Karl Marx, „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte", in KarlMarx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, S. 196/197.

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Schluss führen, dass das Proletariat die Bourgeoisie nicht stürzenkann, ohne vorher die politische Macht erobert, ohne die politischeHerrschaft erlangt und den Staat in das »als herrschende Klasseorganisierte Proletariat« verwandelt zu haben, und dass dieserproletarische Staat sofort nach seinem Sieg beginnen wird abzuster-ben, denn in einer Gesellschaft ohne Klassengegensätze ist derStaat unnötig und unmöglich. Hier wird nicht die Frage aufgewor-fen, wie - vom Standpunkt der historischen Entwicklung aus gese-hen - diese Ablösung des bürgerlichen Staates durch den proletari-schen erfolgen soll.

Eben diese Frage stellt und löst Marx im Jahre 1852. Getreu sei-ner Philosophie des dialektischen Materialismus nimmt Marx alsGrundlage die historische Erfahrung der großen Revolutionsjahre1848 bis 1851. Die Lehre von Marx ist wie stets, so auch hier, einevon tiefer philosophischer Weltanschauung und reicher Kenntnisder Geschichte durchdrungene Zusammenfassung der Erfahrung.

Die Frage des Staates wird konkret gestellt: Wie ist der bürgerli-che Staat, diese für die Herrschaft der Bourgeoisie notwendigeStaatsmaschinerie, historisch entstanden? Welcherart sind ihre Ver-änderungen, welches ist ihre Evolution im Verlauf der bürgerlichenRevolutionen und angesichts der selbständigen Aktionen der unter-drückten Klassen? Welches sind die Aufgaben des Proletariats inBezug auf diese Staatsmaschinerie?

Die der bürgerlichen Gesellschaft eigentümliche, zentralisierteStaatsgewalt entstand in der Epoche des Niedergangs des Absolu-tismus. Zwei Institutionen sind für diese Staatsmaschinerie beson-ders kennzeichnend: das Beamtentum und das stehende Heer. Wiediese Institutionen durch tausenderlei Fäden namentlich mit derBourgeoisie verknüpft sind, davon ist in den Werken von Marx undEngels oft die Rede. Die Erfahrungen eines jeden Arbeiters ver-deutlichen diesen Zusammenhang mit der größten Anschaulichkeitund Eindringlichkeit. Die Arbeiterklasse lernt diesen Zusammen-hang am eigenen Leibe kennen, deshalb erfasst sie auch so leichtdie Wissenschaft von der Unvermeidlichkeit dieses Zusammen-hangs und eignet sie sich so gründlich an, eine Wissenschaft, die

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die kleinbürgerlichen Demokraten entweder aus Unwissenheit undLeichtfertigkeit ablehnen oder noch leichtfertiger »im allgemeinen«anerkennen, wobei sie vergessen, die entsprechenden praktischenKonsequenzen zu ziehen.

Beamtentum und stehendes Heer, das sind die "Schmarotzer" amLeib der bürgerlichen Gesellschaft, Schmarotzer, die aus den inne-ren Widersprüchen, die diese Gesellschaft zerklüften, entstandensind, aber eben Parasiten, die die Lebensporen "verstopfen". Derjetzt in der offiziellen Sozialdemokratie herrschende kautskyani-sche Opportunismus hält die Anschauung, die im Staat einen para-sitären Organismus erblickt, für ein besonderes und ausschließli-ches Attribut des Anarchismus. Diese Entstellung des Marxismuspasst natürlich den Kleinbürgern ausgezeichnet, die den Sozialis-mus bis zu der unerhörten Schmach einer Rechtfertigung und Be-schönigung des imperialistischen Krieges herabgewürdigt haben,indem sie den Begriff der "Vaterlandsverteidigung" auf diesenKrieg anwandten, aber dennoch bleibt es unbedingt eine Entstel-lung.

Durch alle bürgerlichen Revolutionen hindurch, die Europa seitdem Verfall des Feudalismus in großer Anzahl erlebt hat, zieht sichdie Entwicklung, Vervollkommnung und Festigung dieses Beam-ten- und Militärapparats. Insbesondere wird gerade das Kleinbür-gertum auf die Seite der Großbourgeoisie hinübergezogen und ihrweitgehend unterworfen vermittels dieses Apparats, der den oberenSchichten der Bauernschaft, der kleinen Handwerker, Händler u. a.verhältnismäßig bequeme, ruhige und ehrenvolle Pöstchen ver-schafft, die deren Inhaber über das Volk erheben. Man betrachte,was in Russland während des halben Jahres nach dem 27. Februar1917 vor sich gegangen ist: Beamtenstellen, die früher vorzugswei-se den Schwarzhundertern zufielen, sind zum Beuteobjekt der Ka-detten, Menschewiki und Sozialrevolutionäre geworden. An irgend-welche ernste Reformen dachte man im Grunde genommen nicht,man war bemüht, sie "bis zur Konstituierenden Versammlung" hin-auszuschieben - die Einberufung der Konstituierenden Versamm-lung aber so sachte bis zum Kriegsende zu verschleppen! Mit derTeilung der Beute, mit der Besetzung der Posten der Minister, der

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Vizeminister, der Generalgouverneure usw. usf. zögerte man dage-gen nicht und wartete man auf keine Konstituierende Versamm-lung! Das Spiel mit den verschiedenen Kombinationen bei der Bil-dung der Regierungen war im Grunde lediglich der Ausdruck die-ser Teilung und Neuverteilung der "Beute", die sowohl oben alsauch unten, im ganzen Lande, in der ganzen zentralen und lokalenVerwaltung vor sich geht. Das Ergebnis, das objektive Ergebnis deshalben Jahres vom 27. Februar bis zum 27. August 1917 steht fest:Die Reformen sind zurückgestellt, die Verteilung der Beamtenpöst-chen hat stattgefunden, und die "Fehler" in der Verteilung wurdendurch einige Neuverteilungen wieder gut gemacht.

Doch je mehr im Beamtenapparat "Neuverteilungen" der Postenunter die verschiedenen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Partei-en (unter die Kadetten, Sozialrevolutionäre und Menschewiki,wenn man das russische Beispiel nimmt) stattfinden, um so klarerwird den unterdrückten Klassen und dem Proletariat an ihrer Spitzeihre unversöhnliche Feindschaft gegenüber der ganzen bürgerlichenGesellschaft. Hieraus ergibt sich für alle bürgerlichen Parteien,selbst für die demokratischsten und darunter für die "revolutionär-demokratischen", die Notwendigkeit, die Repressalien gegen dasrevolutionäre Proletariat zu verschärfen, den Repressionsapparat,d.h. diese selbe Staatsmaschinerie zu verstärken. Dieser Gang derEreignisse zwingt die Revolution, »alle ihre Kräfte der Zerstö-rung zu konzentrieren« gegen die Staatsgewalt, zwingt sie, sichnicht die Verbesserung der Staatsmaschinerie, sondern ihre Zerstö-rung, ihre Vernichtung zur Aufgabe zu machen.

Nicht logische Erwägungen, sondern die tatsächliche Entwick-lung der Ereignisse, die lebendige Erfahrung der Jahre 1848-1851haben dazu geführt, dass diese Aufgabe so gestellt wurde. Wiestreng sich Marx an die der geschichtlichen Erfahrung zugrundeliegenden Tatsachen hält, geht daraus hervor, dass er 1852 nochnicht konkret die Frage stellt, wodurch die zu vernichtende Staats-maschinerie zu ersetzen sei. Die Erfahrung gab damals noch keineUnterlagen für diese Frage, die von der Geschichte später, im Jahre1871, auf die Tagesordnung gesetzt wurde. 1852 konnte man mitder Genauigkeit einer naturgeschichtlichen Beobachtung lediglich

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feststellen, dass die proletarische Revolution an die Aufgabe her-angekommen war, »alle ihre Kräfte der Zerstörung zu konzen-trieren« gegen die Staatsgewalt, an die Aufgabe, die Staatsmaschi-nerie »zu zerbrechen«.

Hier kann die Frage auftauchen, ob eine Verallgemeinerung derErfahrung, der Beobachtungen und Schlussfolgerungen von Marx,ob ihre Übertragung auf umfassendere Gebiete als das der Ge-schichte Frankreichs während der drei Jahre 1848-1851 richtig ist.Zur Untersuchung dieser Frage erinnern wir zunächst an eine Be-merkung von Engels und gehen dann zu den Tatsachen über.

»Frankreich«, schrieb Engels in der Vorrede zur dritten Auflagedes "Achtzehnten Brumaire", »ist das Land, wo die geschichtli-chen Klassenkämpfe mehr als anderswo jedes Mal bis zur Ent-scheidung durchgefochten wurden, wo also auch die wechseln-den politischen Formen, innerhalb deren sie sich bewegen undin denen ihre Resultate sich zusammenfassen, in den schärfstenUmrissen ausgeprägt sind. Mittelpunkt des Feudalismus imMittelalter, Musterland der einheitlichen ständischen Monar-chie seit der Renaissance, hat Frankreich in der großen Revolu-tion den Feudalismus zertrümmert und die reine Herrschaftder Bourgeoisie begründet in einer Klassizität wie kein andereseuropäisches Land. Und auch der Kampf des aufstrebendenProletariats gegen die herrschende Bourgeoisie tritt hier in ei-ner, anderswo unbekannten, akuten Form auf.« (S. 4 der Aufla-ge von 1907.)

Die letzte Bemerkung ist veraltet, da seit 1871 im revolutionärenKampf des französischen Proletariats eine Unterbrechung eingetre-ten ist, obgleich diese Unterbrechung, wie lange sie auch dauernmöge, keineswegs die Möglichkeit ausschließt, dass sich Frank-reich in der kommenden proletarischen Revolution als das klassi-sche Land des Klassenkampfes bis zur Entscheidung erweisenwird.

Werfen wir jedoch einen allgemeinen Blick auf die Geschichteder fortgeschrittenen Länder am Ausgang des 19. und zu Beginndes 20. Jahrhunderts. Wir sehen, dass sich langsamer, vielgestalti-

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ger und auf viel weiterem Schauplatz der gleiche Prozess abspielte:einerseits der Ausbau der "parlamentarischen Macht" sowohl in denrepublikanischen Ländern (Frankreich, Amerika, Schweiz) als auchin den monarchistischen (England, bis zu einem gewissen GradeDeutschland, Italien, die skandinavischen Länder usw.), anderseitsder Kampf um die Macht zwischen den verschiedenen bürgerlichenund kleinbürgerlichen Parteien, die bei unveränderter Grundlageder bürgerlichen Ordnung die "Beute", die Beamtenpöstchen auf-teilten und neu verteilten, und schließlich die Vervollkommnungund Festigung der "Exekutivgewalt", ihres Beamten- und Militär-apparats.

Es unterliegt keinem Zweifel, dass dies gemeinsame Züge derganzen neueren Entwicklung der kapitalistischen Staaten überhauptsind. Frankreich zeigte in den drei Jahren 1848-1851 in rascher,ausgeprägter, konzentrierter Form dieselben Entwicklungsprozesse,die der ganzen kapitalistischen Welt eigen sind.

Insbesondere aber weist der Imperialismus, weist die Epoche desBankkapitals, die Epoche der gigantischen kapitalistischen Mono-pole, die Epoche des Hinüberwachsens des monopolistischen Kapi-talismus in den staatsmonopolistischen Kapitalismus, eine unge-wöhnliche Stärkung der "Staatsmaschinerie" auf, ein unerhörtesAnwachsen ihres Beamten- und Militärapparats in Verbindung mitverstärkten Repressalien gegen das Proletariat sowohl in den mon-archistischen als auch in den freiesten, republikanischen Ländern.

Die Weltgeschichte führt jetzt zweifellos in ungleich größeremAusmaß, als das 1852 der Fall war, zur "Konzentrierung aller Kräf-te" der proletarischen Revolution auf die "Zerstörung" der Staats-maschinerie.

Was das Proletariat an ihre Stelle setzen wird, darüber hat die Pa-riser Kommune höchst lehrreiches Material geliefert.

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3. Marx' Fragestellung im Jahre 185212DV

Im Jahre 1907 veröffentlichte Mehring in der "Neuen Zeit"13

(XXV, 2, 164) Auszüge aus einem Brief von Marx an Weydemeyervom 5. März 1852. in diesem Brief findet sich unter anderem fol-gende bemerkenswerte Betrachtung:

»Was mich nun betrifft, so gebührt mir nicht das Verdienst,weder die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaftnoch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben. BürgerlicheGeschichtschreiber hatten längst vor mir die historische Ent-wicklung dieses Kampfes der Klassen und bürgerliche Ökono-men die ökonomische Anatomie derselben dargestellt. Was ichneu tat, war 1. nachzuweisen, dass die Existenz der Klassenbloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Pro-duktion gebunden ist; 2. dass der Klassenkampf notwendig zurDiktatur des Proletariats führt; 3. dass diese Diktatur selbstnur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einerklassenlosen Gesellschaft bildet.«14

In diesen Worten ist es Marx gelungen, mit erstaunlicher Prä-gnanz erstens den Haupt- und Grundunterschied seiner Lehre vonder Lehre der führenden und tiefsten Denker der Bourgeoisie undzweitens das Wesen seiner Lehre vom Staat zum Ausdruck zu brin-gen.

Das Wesentliche der Lehre von Marx sei der Klassenkampf. Daswird sehr oft gesagt und geschrieben. Doch das ist unrichtig, und

12DV In der zweiten Auflage hinzugefügt 13 "Die Neue Zeit" - theoretische Zeitschrift der Sozialdemokratischen ParteiDeutschlands, die von 1883 bis 1923 in Stuttgart erschien. In der "Neuen Zeit"wurden erstmalig einige Arbeiten von Marx und Engels veröffentlicht. Engelshalf der Redaktion der Zeitschrift ständig und übte oft Kritik daran, dass sie Ab-weichungen vom Marxismus in der Zeitschrift zuließ. An der "Neuen Zeit" ar-beiteten hervorragende Führer der deutschen und internationalen Arbeiterbewe-gung mit. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts eine marxistische Zeitschrift, ging"Die Neue Zeit" mehr und mehr auf zentristische Positionen über. Während desimperialistischen Weltkriegs 1914-1918 bezog sie einen sozialpazifistischenStandpunkt und unterstützte faktisch die Sozialchauvinisten.14 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 28, S. 507/508.

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aus dieser Unrichtigkeit ergibt sich auf Schritt und Tritt eine oppor-tunistische Entstellung des Marxismus, seine Verfälschung in ei-nem Geiste, der ihn für die Bourgeoisie annehmbar macht. Denndie Lehre vom Klassenkampf ist nicht von Marx, sondern vor ihmvon der Bourgeoisie geschaffen worden und ist, allgemein gespro-chen, für die Bourgeoisie annehmbar. Wer nur den Klassenkampfanerkennt, ist noch kein Marxist, er kann noch in den Grenzen bür-gerlichen Denkens und bürgerlicher Politik geblieben sein. DenMarxismus auf die Lehre vom Klassenkampf beschränken heißtden Marxismus stutzen, ihn entstellen, ihn auf das reduzieren, wasfür die Bourgeoisie annehmbar ist. Ein Marxist ist nur, wer die An-erkennung des Klassenkampfes auf die Anerkennung der Diktaturdes Proletariats erstreckt. Hierin besteht der tiefste Unterschied desMarxisten vom durchschnittlichen Klein- (und auch Groß-)-Bour-geois. Das muss der Prüfstein für das wirkliche Verstehen und An-erkennen des Marxismus sein. Und es ist nicht verwunderlich, dass,als die Geschichte Europas praktisch die Arbeiterklasse vor dieseFrage stellte, nicht nur alle Opportunisten und Reformisten, son-dern auch alle "Kautskyaner" (Leute, die zwischen Reformismusund Marxismus pendeln) sich als erbärmliche Philister und klein-bürgerliche Demokraten erwiesen, die die Diktatur des Proletariatsablehnen. Kautskys Broschüre "Die Diktatur des Proletariats", dieim August 1918, d.h. lange nach der ersten Auflage des vorliegen-den Buches, erschien, ist ein Musterstück kleinbürgerlicher Entstel-lung des Marxismus, der niederträchtigen Verleugnung des Marxis-mus in der Tat, bei heuchlerischer Anerkennung des Marxismus inWorten (siehe meine Broschüre "Die proletarische Revolution undder Renegat Kautsky", Petrograd und Moskau 1918).

Der heutige Opportunismus, verkörpert in der Person seinesHauptvertreters, des früheren Marxisten K. Kautsky, fällt voll undganz unter die angeführte Marxsche Charakteristik der bürgerlichenHaltung, denn dieser Opportunismus beschränkt das Gebiet der An-erkennung des Klassenkampfes auf das Gebiet bürgerlicher Ver-hältnisse. (Und innerhalb dieses Gebiets, im Rahmen dieses Ge-biets, wird es kein einziger gebildeter Liberaler ablehnen, den Klas-senkampf "prinzipiell" anzuerkennen!) Der Opportunismus macht

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in der Anerkennung des Klassenkampfes gerade vor der Hauptsa-che halt, vor der Periode des Übergangs vom Kapitalismus zumKommunismus, vor der Periode des Sturzes der Bourgeoisie undihrer völligen Vernichtung. In Wirklichkeit ist diese Periode unver-meidlich eine Periode unerhört erbitterten Klassenkampfes, uner-hört scharfer Formen dieses Kampfes, und folglich muss auch derStaat dieser Periode unvermeidlich auf neue Art demokratisch (fürdie Proletarier und überhaupt für die Besitzlosen) und auf neue Artdiktatorisch (gegen die Bourgeoisie) sein.

Weiter. Das Wesen der Marxschen Lehre vom Staat hat nur er-fasst, wer begriffen hat, dass die Diktatur einer Klasse nicht nurschlechthin für jede Klassengesellschaft notwendig ist, nicht nur fürdas Proletariat, das die Bourgeoisie gestürzt hat, sondern auch fürdie ganze historische Periode, die den Kapitalismus von der "klas-senlosen Gesellschaft", vom Kommunismus, trennt. Die Formender bürgerlichen Staaten sind außerordentlich mannigfaltig, ihr We-sen ist aber ein und dasselbe: Alle diese Staaten sind so oder so.aber in letzter Konsequenz unbedingt eine Diktatur der Bourgeoi-sie. Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus muss na-türlich eine ungeheure Fülle und Mannigfaltigkeit der politischenFormen hervorbringen, aber das Wesentliche wird dabei unbedingtdas eine sein: die Diktatur des Proletariats.

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III. Kapitel - Die Erfahrungen der Pariser Kommune vom Jahre 1871. Die Analyse von Marx

1. Worin bestand der Heroismus des Versuchs der Kommunar-den?

Es ist bekannt, dass Marx einige Monate vor der Kommune, imHerbst 1870, die Pariser Arbeiter warnte und nachwies, dass derVersuch, die Regierung zu stürzen, eine verzweifelte Torheit wäre.Als aber im März 1871 den Arbeitern der Entscheidungskampf auf-gezwungen wurde und sie ihn aufnahmen, als der Aufstand zur Tat-sache geworden war, begrüßte Marx, trotz der schlimmen Vorzei-chen, die proletarische Revolution mit der größten Begeisterung.Marx versteifte sich nicht auf eine pedantische Verurteilung der"unzeitgemäßen" Bewegung, wie das der zu trauriger Berühmtheitgelangte russische Renegat des Marxismus, Plechanow, tat, der imNovember 1905 so schrieb, dass er die Arbeiter und Bauern zumKampf ermunterte, nach dem Dezember 1905 aber wie ein Libera-ler zeterte: »Man hätte nicht zu den Waffen greifen sollen.«

Marx begnügte sich jedoch nicht damit, dem Heroismus der, wieer sich ausdrückte, "himmelstürmenden" Kommunarden Begeiste-rung zu zollen. Er sah in der revolutionären Massenbewegung, ob-wohl sie ihr Ziel nicht erreichte, einen historischen Versuch vonungeheurer Tragweite, einen gewissen Schritt vorwärts in der pro-letarischen Weltrevolution, einen praktischen Schritt, der wichtigerist als Hunderte von Programmen und Auseinandersetzungen. Die-sen Versuch zu analysieren, aus ihm Lehren für die Taktik zu zie-hen, auf Grund dieses Versuchs seine eigene Theorie zu überprüfen- das war die Aufgabe, die sich Marx stellte.

Die einzige "Korrektur", die Marx am "Kommunistischen Mani-fest" vorzunehmen für notwendig erachtete, machte er auf Grundder revolutionären Erfahrungen der Pariser Kommunarden.

Die letzte Vorrede zur neuen deutschen Auflage des "Kommunis-tischen Manifeste", die von seinen beiden Verfassern unterzeichnetist, datiert vom 24. Juni 1872. In dieser Vorrede erklären die Ver-

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fasser, Karl Marx und Friedrich Engels, dass das Programm desKommunistischen Manifests »heute stellenweise veraltet« sei.

»Namentlich«, fahren sie fort, »hat die Kommune den Beweisgeliefert, dass 'die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsma-schine einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eignen Zweckein Bewegung setzen kann'.«15

Die in einfache Anführungszeichen gesetzten Worte dieses Zitatshaben seine Verfasser der Marxschen Schrift "Der Bürgerkrieg inFrankreich" entnommen.

Somit maßen Marx und Engels der einen Haupt- und Grundlehreder Pariser Kommune eine so ungeheure Bedeutung bei, dass siesie als wesentliche Korrektur zum "Kommunistischen Manifest"hinzufügten.

Es ist überaus bezeichnend, dass gerade diese wesentliche Kor-rektur von den Opportunisten entstellt worden ist und dass ihr ei-gentlicher Sinn sicherlich neun von zehn, wenn nicht gar neunund-neunzig von hundert Lesern des "Kommunistischen Manifeste"' un-

15 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 18, S. 96.

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bekannt ist. Ausführlicher sprechen wir von dieser Entstellung wei-ter unten in dem Kapitel, das sich speziell mit den Entstellungenbefaßt. Vorläufig mag der Hinweis genügen, dass die landläufige,vulgäre "Auffassung" des von uns zitierten berühmten Ausspruchsvon Marx darin besteht, dass Marx hier angeblich die Idee der all-mählichen Entwicklung im Gegensatz zur Ergreifung der Machtunterstreiche und dergleichen mehr.

In Wirklichkeit ist es gerade umgekehrt. Der Marxsche Gedankebesteht darin, dass die Arbeiterklasse »die fertige Staatsmaschine"zerschlagen, zerbrechen muss und sich nicht einfach auf ihre Be-sitzergreifung beschränken darf.

Am 12. April 1871, d.h. gerade während der Kommune, schriebMarx an Kugelmann:

»Wenn Du das letzte Kapitel meines "Achtzehnten Bru-maire" nachsiehst, wirst Du finden, dass ich als nächsten Ver-such der französischen Revolution ausspreche, nicht mehr wiebisher die bürokratisch-militärische Maschinerie aus einerHand in die andere zu übertragen, sondern sie zu zerbrechen«(hervorgehoben von Marx), »und dies ist die Vorbedingung je-der wirklichen Volksrevolution auf dem Kontinent. Dies istauch der Versuch unserer heroischen Pariser Parteigenossen.«(S. 709, Neue Zeit, XX, 1, 1901/02.)16 (Die Briefe von Marx anKugelmann sind in russischer Sprache in mindestens zwei Aus-gaben erschienen, eine davon unter meiner Redaktion und mitenem Vorwort von mir.)17DV

In diesen Worten: »die bürokratisch-militärische Maschinerie zuzerbrechen«, ist, kurz ausgedrückt, die Hauptlehre des Marxismusvon den Aufgaben des Proletariats in der Revolution gegenüberdem Staat enthalten. Und gerade diese Lehre ist nicht nur völligvergessen, sondern durch die herrschende, kautskyanische "Ausle-gung" des Marxismus geradezu entstellt worden!

16 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 33, S. 20517DV Siehe Werke, Bd. 12, S. 95-104. Die Red.

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Was den Hinweis von Marx auf den "Achtzehnten Brumaire" an-belangt, so haben wir die betreffende Stelle weiter oben vollständigzitiert.

Es ist von Interesse, zwei Stellen aus der angeführten Betrachtungvon Marx besonders hervorzuheben. Erstens beschränkt er seineSchlussfolgerung auf den Kontinent. Das war 1871 verständlich,als England noch das Muster eines rein kapitalistischen Landeswar, aber eines Landes ohne Militarismus und in hohem Gradeohne Bürokratie. Marx schloss daher England aus, wo eine Revolu-tion und selbst eine Volksrevolution ohne die Vorbedingung derZerstörung der "fertigen Staatsmaschine" damals möglich zu seinschien und möglich war.

Jetzt, im Jahre 1917, in der Epoche des ersten großen imperialisti-schen Krieges, fällt diese Einschränkung von Marx fort. SowohlEngland als auch Amerika, die im Sinne des Nichtvorhandenseinsvon Militarismus und Bürokratismus größten und letzten Vertreterangelsächsischer "Freiheit" in der ganzen Welt, sind vollständig inden allgemeinen europäischen, schmutzigen, blutigen Sumpf derbürokratisch-militärischen Institutionen hinabgesunken, die sich al-les unterordnen, die alles erdrücken. Jetzt bildet sowohl für Eng-land als auch für Amerika das Zerbrechen, das Zerstören der »fer-tigen Staatsmaschine« (die dort in den Jahren 1914-1917 die »euro-päische«, allgemein-imperialistische Vollkommenheit erreicht hat)die »Vorbedingung jeder wirklichen Volksrevolution«.

Zweitens verdient die außerordentlich tiefe Bemerkung von Marxbesondere Beachtung, dass die Zerstörung der bürokratisch-militä-rischen Staatsmaschinerie »die Vorbedingung jeder wirklichenVolksrevolution« ist. Dieser, Begriff der "Volks"revolution mutetim Munde von Marx sonderbar an, und die russischen Plechanow-leute und Menschewiki, diese Nachfolger Struves, die als Marxis-ten gelten möchten, könnten am Ende diesen Ausdruck von Marxals "falschen Zungenschlag" hinstellen. Sie haben den Marxismuszu einem so armselig-liberalen Zerrbild herabgewürdigt, dass fürsie außer der Gegenüberstellung von bürgerlicher und proletari-

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scher Revolution nichts anderes existiert, und selbst diese Gegen-überstellung wird von ihnen unglaublich starr aufgefasst.

Nimmt man als Beispiel die Revolutionen des 20. Jahrhunderts,so wird man natürlich sowohl die portugiesische als auch die türki-sche Revolution als bürgerliche auffassen müssen. Aber weder dieeine noch die andere ist eine "Volks"revolution, denn die Volks-masse, die ungeheure Mehrheit des Volkes, ist weder in der einennoch in der anderen Revolution aktiv, selbständig, mit ihren eige-nen wirtschaftlichen und politischen Forderungen sichtbar hervor-getreten. Dagegen war die russische bürgerliche Revolution von1905 bis 1907, obgleich ihr so "glänzende" Erfolge versagt blieben,wie sie zeitweilig der portugiesischen und der türkischen Revoluti-on beschieden waren, zweifellos eine "wirkliche Volks"revolution,denn die Masse des Volkes, seine Mehrheit, die "untersten" Gesell-schaftsschichten, zermürbt durch Unterjochung und Ausbeutung,erhoben sich selbständig und drückten dem ganzen Verlauf der Re-volution den Stempel ihrer Forderungen auf, ihrer Versuche, auf ei-

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gene Art eine neue Gesellschaft an Stelle der zu zerstörenden altenaufzubauen.

Auf dem europäischen Kontinent bildete 1871 das Proletariat inkeinem Lande die Mehrheit des Volkes. Eine "Volks"revolution,die tatsächlich die Mehrheit des Volkes in die Bewegung einbe-zieht, konnte nur dann eine solche sein, wenn sie sowohl das Prole-tariat als auch die Bauernschaft erfasste. Diese beiden Klassen bil-deten damals eben das "Volk". Beide Klassen sind dadurch vereint,dass die "bürokratisch-militärische Staatsmaschinerie" sie knechtet,bedrückt und ausbeutet. Diese Maschinerie zu zerschlagen, sie zuzerbrechen - das verlangt das wirkliche Interesse des "Volkes", sei-ner Mehrheit, der Arbeiter und der Mehrzahl der Bauern, das ist die"Vorbedingung" für ein freies Bündnis der armen Bauern mit denProletariern, ohne dieses Bündnis aber ist die Demokratie nicht vonDauer und die sozialistische Umgestaltung unmöglich.

Zu einem solchen Bündnis bahnte sich bekanntlich denn auch diePariser Kommune den Weg, die aus einer Anzahl innerer und äuße-rer Gründe ihr Ziel nicht erreichte.

Folglich hat Marx, als er von einer "wirklichen Volksrevolution"sprach, ohne die Eigentümlichkeiten des Kleinbürgertums im Ge-ringsten zu vergessen (er sprach viel und oft davon), das tatsächli-che Kräfteverhältnis der Klassen in den meisten Staaten des euro-päischen Kontinents im Jahre 1871 ganz genau berücksichtigt. an-derseits aber konstatierte er, dass das »Zerschlagen« der Staatsma-schinerie im Interesse sowohl der Arbeiter als auch der Bauern not-wendig ist, sie einigt, sie vor die gemeinsame Aufgabe stellt, den"Schmarotzer" zu beseitigen und ihn durch etwas Neues zu erset-zen.

Und zwar wodurch?

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2. Wodurch ist die zerschlagende Staatsmaschinerie zu ersetzen?

Auf diese Frage gab Marx 1847 im "Kommunistischen Manifest"eine noch völlig abstrakte Antwort, richtiger: eine Antwort, die dieAufgaben, nicht aber die Methoden ihrer Lösung zeigte. Sie ist zuersetzen durch die »Organisation des Proletariats als herrschendeKlasse«, durch die »Erkämpfung der Demokratie« - das war dieAntwort des "Kommunistischen Manifests".

Ohne sich auf Utopien einzulassen, erwartete Marx von den Er-fahrungen der Massenbewegung eine Antwort auf die Frage, wel-che konkreten Formen diese Organisation des Proletariats als herr-schende Klasse annehmen wird, in welcher Weise sich diese Orga-nisation vereinen lassen wird mit der möglichst vollständigen undfolgerichtigen »Erkämpfung der Demokratie«.

Die Erfahrungen der Kommune, so gering sie auch waren, unter-zieht Marx in seinem "Bürgerkrieg in Frankreich" der genauestenAnalyse. Wir führen hier die wichtigsten Stellen aus dieser Schriftan:

„Im 19. Jahrhundert entwickelte sich die aus dem Mittelalterstammende »...zentralisierte Staatsmacht, mit ihren allgegen-wärtigen Organen - stehende Armee, Polizei, Bürokratie, Geist-lichkeit, Richterstand...«. Mit der Entwicklung des Klassenge-gensatzes zwischen Kapital und Arbeit »...erhielt die Staats-macht mehr und mehr den Charakter einer öffentlichen Ge-walt zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, einer Maschineder Klassenherrschaft. Nach jeder Revolution, die einen Fort-schritt des Klassenkampfs bezeichnet, tritt der rein unterdrü-ckende Charakter der Staatsmacht offner und offner hervor.«Die Staatsmacht wird nach der Revolution von 1848/1849»...das nationale Kriegswerkzeug des Kapitals gegen die Ar-beit«. Das zweite Kaiserreich festigte dieses.

»Der gerade Gegensatz des Kaisertums war die Kommune.«»Die Kommune war die bestimmte Form...« »...einer Republik,die nicht nur die monarchische Form der Klassenherrschaft be-seitigen sollte, sondern die Klassenherrschaft selbst.«

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Worin bestand nun diese »bestimmte« Form der proletarischen,sozialistischen Republik? Wie war der Staat beschaffen, den sieaufzubauen begonnen hatte?

»Das erste Dekret der Kommune war ... die Unterdrückungdes stehenden Heeres und seine Ersetzung durch das bewaffne-te Volk.«

Diese Forderung steht heute in den Programmen aller Partei-en, die als sozialistische gelten wollen. Aber was ihre Programmewert sind, erkennt man am besten aus dem Verhalten unserer Sozi-alrevolutionäre und Menschewiki, die gerade nach der Revolutionvom 27. Februar auf die Verwirklichung dieser Forderung in derPraxis verzichtet haben!

»Die Kommune bildete sich aus den durch allgemeinesStimmrecht in den verschiedenen Bezirken von Paris gewähl-ten Stadträten. Sie waren verantwortlich und jederzeit absetz-bar. Ihre Mehrzahl bestand selbstredend aus Arbeitern oderanerkannten Vertretern der Arbeiterklasse ...

Die Polizei, bisher das Werkzeug der Staatsregierung, wurdesofort aller ihrer politischen Eigenschaften entkleidet und indas verantwortliche und jederzeit absetzbare Werkzeug derKommune verwandelt. Ebenso die Beamten aller andern Ver-waltungszweige. Von den Mitgliedern der Kommune an ab-wärts, musste der öffentliche Dienst für Arbeiterlohn besorgtwerden. Die erworbnen Anrechte und die Repräsentationsgel-der der hohen Staatswürdenträger verschwanden mit diesenWürdenträgern selbst ... Das stehende Heer und die Polizei, dieWerkzeuge der materiellen Macht der alten Regierung einmalbeseitigt, ging die Kommune sofort darauf aus, das geistlicheUnterdrückungswerkzeug, die Pfaffenmacht, zu brechen ... Dierichterlichen Beamten verloren jene scheinbare Unabhängig-keit, ... sie sollten ... fernerhin gewählt, verantwortlich und ab-

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setzbar sein.«18

Die zerschlagene Staatsmaschinerie wurde also von der Kommu-ne scheinbar "nur" durch eine vollständigere Demokratie ersetzt:Beseitigung des stehenden Heeres, vollkommene Wählbarkeit undAbsetzbarkeit aller Amtspersonen. In Wirklichkeit jedoch bedeutetdieses "nur", dass im riesigen Ausmaß die einen Institutionen durchInstitutionen prinzipiell anderer Art ersetzt wurden. Hier ist geradeeiner der Fälle des "Umschlagens von Quantität in Qualität" wahr-zunehmen: Die mit dieser denkbar größten Vollstandigkeit und Fol-gerichtigkeit durchgeführte Demokratie verwandelt sich aus derbürgerlichen Demokratie in die proletarische, aus dem Staat (= ei-ner besonderen Gewalt zur Unterdrückung einer bestimmten Klas-se) in etwas, was eigentlich kein Staat mehr ist.

Es ist immer noch notwendig, die Bourgeoisie und ihren Wider-stand niederzuhalten. Für die Kommune war das ganz besondersnotwendig, und eine der Ursachen ihrer Niederlage bestand darin,dass sie das nicht entschlossen genug getan hat. Aber das unterdrü-

18 Siehe Karl Marx, "Der Bürgerkrieg in Frankreich", in Karl Marx/Friedrich En-gels, Werke, Bd. 17, S. 336-339

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ckende Organ ist hier schon die Mehrheit und nicht, wie dies bisherimmer, sei es unter der Sklaverei, der Leibeigenschaft oder derLohnsklaverei der Fall war, die Minderheit der Bevölkerung. Wennaber die Mehrheit des Volkes selbst ihre Bedrücker unterdrückt, soist eine "besondre Repressionsgewalt" schon nicht mehr nötig! Indiesem Sinne beginnt der Staat abzusterben. An Stelle besondererInstitutionen einer bevorzugten Minderheit (privilegiertes Beamten-tum, Offizierskorps des stehenden Heeres) kann das die Mehrheitselbst unmittelbar besorgen, und je größeren Anteil das gesamteVolk an der Ausübung der Funktionen der Staatsmacht hat, um soweniger bedarf es dieser Macht.

Besonders bemerkenswert ist in dieser Beziehung eine von Marxhervorgehobene Maßnahme der Kommune: die Beseitigung der Re-präsentationsgelder jeder Art, aller finanziellen Privilegien der Be-amten, die Reduzierung der Gehälter aller Amtspersonen im Staatauf das Niveau des "Arbeiterlohnes". Hier gerade kommt am klars-ten der Umschwung zum Ausdruck - von der bürgerlichen Demo-kratie zur proletarischen, von der Unterdrückerdemokratie zur De-mokratie der unterdrückten Klassen, vom Staat als "besondrer Ge-walt" zur Niederhaltung einer bestimmten Klasse, zur Niederhal-tung der Unterdrücker durch die allgemeine Gewalt der Mehrheitdes Volkes, der Arbeiter und Bauern. Und gerade in diesem, beson-ders anschaulichen und, was den Staat betrifft, wohl wichtigstenPunkt hat man die Marxschen Lehren am gründlichsten vergessen!In den populären Kommentaren, deren Zahl Legion ist, wird davonnicht gesprochen. Es ist "üblich", darüber zu schweigen, als handel-te es sich um eine überlebte "Naivität", ungefähr so, wie die Chris-ten die Naivitäten" des Urchristentums mit seinem demokratisch-revolutionären Geiste "vergaßen", nachdem das Christentum zurStaatsreligion erhoben worden war.

Die Herabsetzung der Gehälter der höheren Staatsbeamten er-scheint "einfach" als Forderung eines naiven, primitiven Demokra-tismus. Einer der "Begründer" des neuesten Opportunismus, derfrühere Sozialdemokrat Eduard Bernstein, übte sich wiederholt imNachplappern der trivialen bürgerlichen Spötteleien über den "pri-mitiven" Demokratismus. Wie alle Opportunisten, wie auch die jet-

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zigen Kautskyaner, hat er absolut nicht begriffen, erstens, dass derÜbergang vom Kapitalismus zum Sozialismus ohne eine gewisseRückkehr" zu "primitivem" Demokratismus unmöglich ist (wie solldenn sonst der Übergang zur Ausübung der staatlichen Funktionendurch die Mehrheit der Bevölkerung, ja durch die ganze Bevölke-rung ohne Ausnahme erfolgen?), und zweitens, dass "primitiverDemokratismus" auf der Basis des Kapitalismus und der kapitalisti-schen Kultur etwas anderes ist als der primitive Demokratismus derUrzeit oder der vorkapitalistischen Zeit. Die kapitalistische Kulturhat die Großproduktion, hat Fabriken, Eisenbahnen, Post, Telefonu.a. geschaffen, und auf dieser Basis sind die meisten Funktionender alten "Staatsmacht" so vereinfacht worden und können auf soeinfache Operationen der Registrierung, Buchung und Kontrollezurückgeführt werden, dass diese Funktionen alle Leute, die desLesens und Schreibens kundig sind, ausüben können, so dass mansie für gewöhnlichen "Arbeiterlohn" wird leisten und ihnen jedenSchimmer eines Vor-rechts, eines "Vorgesetz-tenrechts" wird nehmenkönnen (und müssen).

Die uneingeschränkteWählbarkeit und die je-derzeitige Absetzbarkeitausnahmslos aller beam-teten Personen, die Redu-zierung ihrer Gehälter aufden gewöhnlichen "Ar-beiterlohn", diese einfa-chen und "selbstverständ-lichen" demokratischenMaßnahmen, bei denensich die Interessen der Ar-beiter völlig mit denender Mehrheit der Bauerndecken, dienen gleichzei-tig als Brücke, die vom

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Kapitalismus zum Sozialismus führt. Diese Maßnahmen betreffendie staatliche, rein politische Umgestaltung der Gesellschaft, abersie bekommen vollen Sinn und Bedeutung selbstverständlich erstim Zusammenhang mit der in Verwirklichung oder Vorbereitungbegriffenen "Expropriation der Expropriateure", d.h. mit dem Über-gang des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmit-teln in gesellschaftliches Eigentum.

»Die Kommune«, schrieb Marx, »machte das Stichwort allerBourgeoisrevolutionen - wohlfeile Regierung - zur Wahrheit,indem sie die beiden größten Ausgabequellen, die Armee unddas Beamtentum, aufhob.«

Aus der Bauernschaft wie auch aus den anderen Schichten desKleinbürgertums gelangt nur eine geringfügige Minderheit "nachoben", "bringt es zu etwas" im bürgerlichen Sinne, d.h. wird entwe-der zu wohlhabenden Leuten, zu Bourgeois, oder zu gut versorgten,privilegierten Beamten. Die gewaltige Mehrheit der Bauernschaftwird in jedem kapitalistischen Land, in dem es überhaupt Bauerngibt (was in den meisten kapitalistischen Ländern der Fall ist), vonder Regierung unterdrückt und sehnt deren Sturz, sehnt eine "wohl-feile" Regierung herbei. Verwirklichen kann das nur das Proletari-at, und indem es das verwirklicht, macht es zugleich einen Schrittzur sozialistischen Umgestaltung des Staates.

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3. Aufhebung des Parlamentarismus

»Die Kommune«, schrieb Marx, »sollte nicht eine parlamenta-rische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehendund gesetzgebend zu gleicher Zeit ...

Statt einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welchesMitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver-und zertreten soll, sollte das allgemeine Stimmrecht dem inKommunen konstituierten Volk dienen, wie das individuelleStimmrecht jedem anderen Arbeitgeber dazu dient, Arbeiter,Aufseher und Buchhalter in seinem Geschäft auszusuchen.«

Diese bemerkenswerte Kritik am Parlamentarismus, die aus demJahre 1871 stammt, gehört jetzt infolge des herrschenden Sozial-chauvinismus und Opportunismus ebenfalls zu den "vergessenenWorten" des Marxismus. Die Minister und Berufsparlamentarier,die Verräter am Proletariat und "Geschäfts"sozialisten unserer Tage

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überließen die Kritik am Parlamentarismus gänzlich den Anarchis-ten und verschrien aus diesem erstaunlich klugen Grunde jede Kri-tik am Parlamentarismus als "Anarchismus"!

Es ist durchaus nicht verwunderlich, dass das Proletariat der"fortgeschrittenen" parlamentarischen Länder, angeekelt durch denAnblick solcher "Sozialisten"' wie der Scheidemann, David, Legi-en, Sembat, Renaudel, Henderson, Vandervelde, Stauning, Bran-ting, Bissolati und Co., seine Sympathien immer öfter dem Anar-chosyndikalismus zuwandte, obwohl dieser der leibliche Bruderdes Opportunismus ist.

Doch für Marx war die revolutionäre Dialektik nie jenes leereModewort, jene Kinderklapper, zu der sie Plechanow, Kautsky undandere gemacht haben. Marx verstand es, mit den Anarchistenrücksichtslos zu brechen, weil diese es nicht vermochten, auch nurden "Saustall" des bürgerlichen Parlamentarismus auszunutzen, be-sonders in Zeiten, da offensichtlich keine revolutionäre Situationvorhanden ist; gleichzeitig verstand er aber auch, eine wahrhaft re-volutionär-proletarische Kritik am Parlamentarismus zu üben.

Einmal in mehreren Jahren zu entscheiden, welches Mitglied derherrschenden Klasse das Volk im Parlament niederhalten und zer-treten soll - das ist das wirkliche Wesen des bürgerlichen Parlamen-tarismus, nicht nur in den parlamentarisch-konstitutionellen Monar-chien, sondern auch in den allerdemokratischsten Republiken.

Wirft man aber die Frage des Staates auf, betrachtet man den Par-lamentarismus als eine der Institutionen des Staates unter dem Ge-sichtspunkt der Aufgaben des Proletariats auf diesem Gebiet, wo istdann der Ausweg aus dem Parlamentarismus? Wie soll man daohne ihn auskommen?

Wieder und immer wieder muss man sagen: Die auf dem Studiumder Kommune begründeten Marxschen Lehren sind so gründlichvergessen worden, dass dem heutigen "Sozialdemokraten" (lies:dem heutigen Verräter am Sozialismus) eine andere Kritik am Par-lamentarismus als eine anarchistische oder reaktionäre einfach un-verständlich ist.

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Der Ausweg aus dem Parlamentarismus ist natürlich nicht in derAufhebung der Vertretungskörperschaften und der Wählbarkeit zusuchen, sondern in der Umwandlung der Vertretungskörperschaftenaus Schwatzbuden in "arbeitende" Körperschaften. »Die Kommu-ne sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitendeKörperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicherZeit.«

»Nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Kör-perschaft« das ist den modernen Parlamentariern und parlamenta-rischen "Schoßhündchen" der Sozialdemokratie direkt ins Stamm-buch geschrieben! Man sehe sich ein beliebiges parlamentarisch re-giertes Land an, von Amerika bis zur Schweiz, von Frankreich bisEngland, Norwegen u.a.: die eigentlichen "Staats"geschäfte werdenhinter den Kulissen abgewickelt und von den Departements, Kanz-leien und Stäben verrichtet. In den Parlamenten wird nur ge-schwatzt, speziell zu dem Zweck, das "niedere Volk" hinters Lichtzu führen. Das ist so wahr, dass sich selbst in der russischen Repu-blik, in der bürgerlich-demokratischen Republik sofort, noch bevorsie Zeit fand, ein richtiges Parlament zu schaffen, alle diese Sündendes Parlamentarismus geltend machten. Solche Helden des modri-gen Spießbürgertums wie die Skobelew und Zereteli, Tschernowund Awksentjew haben es zuwege gebracht, auch die Sowjets nachdem Vorbild des schäbigsten bürgerlichen Parlamentarismus zuversauen, sie in bloße Schwatzbuden zu verwandeln.

In den Sowjets hauen Herren "sozialistischen" Minister die ver-trauensseligen Bäuerlein mit Phrasen und Resolutionen übers Ohr.In der Regierung wird ein ewiger Tanz aufgeführt, einerseits, umder Reihe nach möglichst viele Sozialrevolutionäre und Mensche-wiki "an die Krippe" gut bezahlter und ehrenvoller Posten zu set-zen, und anderseits, um die "Aufmerksamkeit" des Volkes "zu be-schäftigen". In den Kanzleien, in den Stäben wird inzwischen"Staats"arbeit "geleistet"!

"Delo Naroda", das Organ der an der Regierung beteiligten Parteider "Sozialrevolutionäre", erklärte kürzlich in einem redaktionellenLeitartikel mit der unnachahmlichen Offenherzigkeit der Menschen

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aus der "guten Gesellschaft", in der "alle" politische Prostitutiontreiben, dass selbst in den von (mit Verlaub zu sagen!) "Sozialis-ten" geleiteten Ministerien, dass selbst hier der gesamte Beamten-apparat im Grunde der alte bleibt, auf diese alte Weise funktioniertund jedes revolutionäre Beginnen ganz "frei" sabotiert! ja selbstwenn dieses Eingeständnis nicht vorläge, ist denn der tatsächlicheVerlauf der Beteiligung der Sozialrevolutionäre und Menschewikian der Regierung nicht Beweis genug? Bezeichnend ist hier nur,dass die Herren Tschernow, Russanow, Sensinow und sonstigenRedakteure des "Delo Naroda", die sich in ministerieller Gemein-schaft mit den Kadetten befinden, dermaßen jede Scham verlorenhaben, dass sie sich nicht scheuen - als handle es sich um eine Ba-gatelle -, öffentlich zu erzählen, ohne zu erröten, dass "bei ihnen" inden Ministerien alles beim alten ist!! Revolutionär-demokratischePhrasen zur Betörung der einfältigen Bauern und bürokratischeVerschleppung aller Angelegenheiten zur "Zufriedenstellung" derKapitalisten - das ist das Wesen der "ehrlichen" Koalition.

Den korrupten und verfaulten Parlamentarismus der bürgerlichenGesellschaft ersetzt die Kommune durch Körperschaften, in denendie Freiheit des Urteils und der Beratung nicht in Betrug ausartet,denn die Parlamentarier müssen selbst arbeiten, selbst ihre Gesetzeausführen, selbst kontrollieren, was bei der Durchführung heraus-kommt, selbst unmittelbar vor ihren Wählern die Verantwortungtragen.

Die Vertretungskörperschaften bleiben, aber den Parlamentaris-mus als besonderes System, als Trennung der gesetzgebenden vonder vollziehenden Tätigkeit, als Vorzugsstellung für Abgeordnetegibt es hier nicht. Ohne Vertretungskörperschaften können wir unseine Demokratie nicht denken, auch die proletarische Demokratienicht; ohne Parlamentarismus können und müssen wir sie uns den-ken, soll die Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft für uns nichtein leeres Gerede sein, soll das Streben nach dem Sturz der Herr-schaft der Bourgeoisie aufrichtig und ernst gemeint und nicht eine"Wahl"parole sein, um Arbeiterstimmen zu fangen, wie es bei denMenschewiki und Sozialrevolutionären, den Scheidemann und Le-gien, den Sembat und Vandervelde der Fall ist.

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Es ist äußerst lehrreich, dass Marx da, wo er auf die Funktionenjener Beamtenschaft zu sprechen kommt, die auch die Kommuneund die proletarische Demokratie braucht, zum Vergleich die An-gestellten eines "jeden andern Arbeitgebers" heranzieht, d.h. ein ge-wöhnliches kapitalistisches Unternehmen mit "Arbeitern, Aufse-hern und Buchhaltern".

Bei Marx findet man auch nicht die Spur von Utopismus in demSinne, dass er sich die "neue" Gesellschaft erdichtet, zusammen-phantasiert. Nein, er studiert - wie einen naturgeschichtlichen Pro-zess - die Geburt der neuen Gesellschaft aus der alten, studiert dieÜbergangsformen von der alten zur neuen. Er hält sich an die tat-sächlichen Erfahrungen der proletarischen Massenbewegung undist bemüht, aus ihr praktische Lehren zu ziehen. Er "lernt" von derKommune, wie alle großen revolutionären Denker sich nicht ge-scheut haben, aus den Erfahrungen der großen Bewegungen der un-terdrückten Klasse zu lernen, ohne jemals pedantische "Moralpre-digten" an sie zu richten (in der Art von Plechanow: »Man hättenicht zu den Waffen greifen sollen« oder Zereteli: »Eine Klassemuss sich Selbstbeschränkung auferlegen«).

Von einer Vernichtung des Beamtentums mit einem Schlag, über-all, restlos, kann keine Rede sein. Das wäre eine Utopie. Aber miteinem Schlag die alte Beamtenmaschinerie zerbrechen und sofortmit dem Aufbau einer neuen beginnen, die allmählich jegliches Be-amtentum überflüssig macht und aufhebt - das ist keine Utopie, daslehrt die Erfahrung der Kommune, das ist die direkte, nächstliegen-de Aufgabe des revolutionären Proletariats.

Der Kapitalismus vereinfacht die Funktionen der "Staats"verwal-tung, er macht es möglich, das "Vorgesetztenwesen" zu beseitigenund das Ganze auf die Organisation der Proletarier (als herrschendeKlasse) zu reduzieren, die im Namen der gesamten Gesellschaft»Arbeiter, Aufseher und Buchhalter« einstellen wird.

Wir sind keine Utopisten. Wir »träumen« nicht davon, wie manunvermittelt ohne jede Verwaltung, ohne jede Unterordnung aus-kommen könnte; diese anarchistischen Träumereien, die auf einemVerkennen der Aufgaben der Diktatur des Proletariats beruhen,

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sind dem Marxismus wesensfremd, sie dienen in Wirklichkeit nurdazu, die sozialistische Revolution auf die Zeit zu verschieben, dadie Menschen anders geworden sein werden. Nein, wir wollen diesozialistische Revolution mit den Menschen, wie sie gegenwärtigsind, den Menschen, die ohne Unterordnung, ohne Kontrolle, ohne»Aufseher und Buchhalter« nicht auskommen werden.

Aber unterzuordnen hat man sich der bewaffneten Avantgarde al-ler Ausgebeuteten und Werktätigen - dem Proletariat. Die spezifi-sche "Vorgesetztenrolle" der Staatsbeamten kann und muss man so-fort, von heute auf morgen, durch die einfachen Funktionen von"Aufsehern und Buchhaltern" zu ersetzen beginnen, Funktionen,denen der heutige Städter bei seinem Entwicklungsniveau im allge-meinen schon vollauf gewachsen ist und die für einen "Arbeiter-lohn" durchaus ausführbar sind.

Organisieren wir Arbeiter selber die Großproduktion, davon aus-gehend, was der Kapitalismus bereits geschaffen hat, auf unsere Ar-beitererfahrung gestützt, mit Hilfe strengster, eiserner Disziplin, dievon der Staatsgewalt der bewaffneten Arbeiter aufrechterhaltenwird; machen wir die Staatsbeamten zu einfachen Vollstreckern un-serer Aufträge, zu verantwortlichen, absetzbaren, bescheiden be-zahlten "Aufsehern und Buchhaltern" (dazu natürlich Techniker je-der Art, jeden Ranges und Grades) - das ist unsere proletarischeAufgabe, damit kann und muss man bei der Durchführung der pro-letarischen Revolution beginnen. Ein solcher Anfang führt auf derBasis der Großproduktion von selbst zum allmählichen "Abster-ben" jedweden Beamtentums, zur allmählichen Schaffung einerOrdnung - einer Ordnung ohne Anführungszeichen, die mit Lohn-sklaverei nichts zu tun hat -, einer Ordnung, bei der die sich immermehr vereinfachenden Funktionen der Aufsicht und Rechenschafts-legung der Reihe nach von allen ausgeübt, später zur Gewohnheitwerden und schließlich als Sonderfunktionen einer besonderenSchicht von Menschen in Fortfall kommen.

Ein geistreicher deutscher Sozialdemokrat der siebziger Jahre desvorigen Jahrhunderts bezeichnete die Post als Muster sozialistischerWirtschaft. Das ist durchaus richtig. Gegenwärtig ist die Post ein

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Betrieb, der nach dem Typ des staatskapitalistischen Monopols or-ganisiert ist. Der Imperialismus verwandelt nach und nach alleTrusts in Organisationen ähnlicher Art. Über den "einfachen"Werktätigen, die schuften und darben, steht hier die gleiche bürger-liche Bürokratie. Doch der Mechanismus der gesellschaftlichenWirtschaftsführung ist hier bereits fertig vorhanden. Man stürze dieKapitalisten, man breche mit der eisernen Faust der bewaffnetenArbeiter den Widerstand dieser Ausbeuter, man zerschlage die bü-rokratische Maschinerie des modernen Staates - und wir haben ei-nen von dem "Schmarotzer" befreiten technisch hochentwickeltenMechanismus vor uns, den die vereinigten Arbeiter sehr wohlselbst in Gang bringen können, indem sie Techniker, Aufseher,Buchhalter anstellen und ihrer aller Arbeit, wie die Arbeit allerStaatsbeamten überhaupt, mit dem Arbeiterlohn bezahlen. Das isteine konkrete, praktische Aufgabe, die in Bezug auf alle Trusts so-fort ausführbar ist, wobei die Werktätigen von der Ausbeutung be-freit und die Erfahrungen verwertet werden, die bereits die Kom-mune (insbesondere auf dem Gebiet des Staatsaufbaus) praktisch zumachen begann. Unser nächstes Ziel ist, die gesamte Volkswirt-schaft nach dem Vorbild der Post zu organisieren, und zwar so,dass die unter der Kontrolle und Leitung des bewaffneten Proletari-ats stehenden Techniker, Aufseher, Buchhalter sowie alle beamte-ten Personen ein den "Arbeiterlohn" nicht übersteigendes Gehaltbeziehen. Das ist der Staat, das ist die ökonomische Grundlage desStaates, wie wir sie brauchen. Das wird uns die Beseitigung desParlamentarismus und das Beibehalten der Vertretungskörperschaf-ten bringen, das wird die arbeitenden Klassen von der Prostituie-rung dieser Körperschaften durch die Bourgeoisie befreien.

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4. Organisierung der Einheit der Nation

»In einer kurzen Skizze der nationalen Organisation, die dieKommune nicht die Zeit hatte, weiter auszuarbeiten, heißt esausdrücklich, dass die Kommune die politische Form selbst deskleinsten Dorfs sein ... sollte.« Von den Kommunen sollte auchdie "Nationaldelegation" in Paris gewählt werden.

»Die wenigen, aber wichtigen Funktionen, welche dann nochfür eine Zentralregierung übrig blieben, sollten nicht, wie diesabsichtlich gefälscht worden, abgeschafft, sondern an kommu-nale, d.h. streng verantwortliche Beamte übertragen werden.

Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen, sondern im Ge-genteil organisiert werden durch die Kommunalverfassung; siesollte eine Wirklichkeit werden durch die Vernichtung jenerStaatsmacht, welche sich für die Verkörperung dieser Einheitausgab, aber unabhängig und überlegen sein wollte gegenüberder Nation, an deren Körper sie doch nur ein Schmarotzeraus-wuchs war. Während es galt, die bloß unterdrückenden Orga-ne der alten Regierungsmacht abzuschneiden, sollten ihre be-rechtigten Funktionen einer Gewalt, die über der Gesellschaftzu stehen beanspruchte, entrissen und den verantwortlichenDienern der Gesellschaft zurückgegeben werden.«

In welchem Maße die Opportunisten der modernen Sozialdemo-kratie diese Ausführungen von Marx nicht verstanden haben - viel-leicht richiger: nicht verstehen wollten -, beweist am besten das he-rostratisch berühmte Buch des Renegaten Bernstein "Die Voraus-setzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemo-kratie". Gerade in Bezug auf die zitierten Worte von Marx schriebBernstein, das sei ein Programm, »das seinem politischen Gehaltnach in allen wesentlichen Zügen die größte Ähnlichkeit auf-weist mit dem Föderalismus - Proudhons ... Bei allen sonstigenVerschiedenheiten zwischen Marx und dem "Kleinbürger"Proudhon« (Bernstein setzt das Wort Kleinbürger" in Anführungs-zeichen, die seiner Meinung nach Ironie ausdrücken sollen)

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Ist in diesen Punkten der Gedanken-gang bei ihnen so nahe wie nur möglich.«Natürlich, fährt Bernstein fort, wächst dieBedeutung der Munizipalitäten, doch meinter: »Ob freilich eine solche Auflösung dermodernen Staatswesen und die völligeUmwandlung ihrer Organisation, wieMarx und Proudhon sie schildern (dieBildung der Nationalversammlung ausDelegierten der Provinz- bzw. Bezirks-versammlungen, die ihrerseits aus Dele-gierten der Kommunen zusammenzuset-zen wären), das erste Werk der Demo-kratie zu sein hätte, so dass also die bis-herige Form der Nationalvertretungenwegfiele, erscheint mir zweifelhaft.«(Bernstein, "Voraussetzungen", S. 1-34 und 1-36 der deutschenAusgabe von 1899.)

Das ist geradezu ungeheuerlich: Marx' Ansichten über die »Ver-nichtung der Staatsmacht, des Schmarotzerauswuchses« mit demFöderalismus Proudhons in einen Topf zu werfen! Das ist aber keinZufall, denn dem Opportunisten kommt es nicht einmal in denSinn, dass Marx hier gar nicht vom Föderalismus im Gegensatzzum Zentralismus spricht, sondern von der Zerschlagung der alten,bürgerlichen, in allen bürgerlichen Ländern bestehenden Staatsma-schinerie.

Dem Opportunisten kommt nur das in den Sinn, was er in demMilieu kleinbürgerlichen Spießertums und "reformistischer" Stag-nation um sich herum sieht, nämlich nur die "Munizipalitäten"! DerOpportunist hat verlernt, an die Revolution des Proletariats auchnur zu denken.

Das ist zum Lachen. Bemerkenswert ist aber, dass über diesenPunkt mit Bernstein nicht gestritten wurde. Bernstein wurde vonvielen widerlegt, in der russischen Literatur insbesondere vonPlechanow und in der westeuropäischen von Kautsky, aber der eine

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wie der andere hat über diese Entstellung von Marx durch Bern-stein kein Wort verloren.

Der Opportunist hat so sehr verlernt,revolutionär zu denken und sich überdie Revolution Gedanken zu machen,dass er Marx "Föderalismus" zuschreibtund ihn mit Proudhon, dem Begründendes Anarchismus, in einen Topf wirft.Und die Kautsky und Plechanow, dieorthodoxe Marxisten sein möchten, diedie Lehre des revolutionären Marxis-mus verteidigen wollen, schweigendazu! Hier liegt eine der Wurzeln jeneräußersten Vulgarisierung der Ansichtenüber den Unterschied zwischen Marxis-mus und Anarchismus, die sowohl denKautskyanern als auch den Opportunis-ten eigen ist und auf die wir noch zusprechen kommen werden.

In den angeführten Betrachtungen von Marx über die Erfahrun-gen der Kommune findet sich auch nicht die Spur von Föderalis-mus. Marx stimmt mit Proudhon gerade in dem überein, was derOpportunist Bernstein nicht sieht. Marx geht mit Proudhon geradeda auseinander, wo Bernstein ihre Übereinstimmung sieht.

Marx stimmt mit Proudhon darin überein, dass sie beide für das"Zerschlagen" der modernen Staatsmaschine sind. Diese Überein-stimmung des Marxismus mit dem Anarchismus (sowohl mitProudhon als auch mit Bakunin) wollen weder die Opportunistennoch die Kautskyaner sehen, denn sie haben in diesem Punkt demMarxismus den Rücken gekehrt.

Marx geht sowohl mit Proudhon als auch mit Bakunin gerade inder Frage des Föderalismus auseinander (von der Diktatur des Pro-letariats schon gar nicht zu reden). Aus den kleinbürgerlichen An-schauungen des Anarchismus ergibt sich prinzipiell der Föderalis-mus Marx ist Zentralist. Und in seinen hier zitierten Darlegungen

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ist nicht die geringste Abweichung vom Zentralismus enthalten.Nur Leute, die vom kleinbürgerlichen "Aberglauben" an den Staaterfüllt sind, können die Vernichtung der bürgerlichen Staatsmaschi-nerie für eine Vernichtung des Zentralismus halten. Nun, wenn aberdas Proletariat und die arme Bauernschaft die Staatsgewalt in ihreHände nehmen, sich vollkommen frei in Kommunen organisierenund das Wirken aller Kommunen vereinigen, um das Kapital zuschlagen, den Widerstand der Kapitalisten zu brechen und das Pri-vateigentum an den Eisenbahnen, Fabriken, an Grund und Bodenusw. der gesamten Nation, der gesamten Gesellschaft zu übertragen- wird das etwa kein Zentralismus sein? Wird das nicht der konse-quenteste demokratische Zentralismus sein? Und dazu noch prole-tarischer Zentralismus?

Bernstein kann es einfach nicht in den Sinn kommen, dass einfreiwilliger Zentralismus, eine freiwillige Vereinigung der Kommu-nen zur Nation, eine freiwillige Verschmelzung der proletarischenKommunen zum Zweck der Zerstörung der bürgerlichen Herrschaftund der bürgerlichen Staatsmaschine möglich ist. Bernstein, wie je-dem Philister, erscheint der Zentralismus als etwas, das nur vonoben, nur von der Beamtenschaft und dem Militärklüngel aufge-zwungen und aufrechterhalten werden kann.

Marx betonte ausdrücklich, als ob er die Möglichkeit einer Ent-stellung seiner Ansichten vorausgesehen hätte, dass die gegen dieKommune erhobene Anschuldigung, sie hätte die Einheit der Nati-on vernichten, die Zentralregierung abschaffen wollen, eine be-wusste Fälschung ist. Marx gebraucht absichtlich den Ausdruck"Die Einheit der Nation sollte organisiert werden", um den bewuß-ten, demokratischen, proletarischen Zentralismus dem bürgerlichen,militärischen, bürokratischen entgegenzustellen.

Aber ... schlimmer als jeder Taube ist, wer nicht hören will. Unddie Opportunisten der heutigen Sozialdemokratie wollen eben voneiner Vernichtung der Staatsmacht, von einem Abschneiden desSchmarotzerauswuchses nichts hören.

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5. Vernichtung des Schmarotzers Staat

Wir haben bereits die entsprechenden Stellen aus Marx angeführt,wir müssen sie aber noch ergänzen.

»Es ist das gewöhnliche Schicksal neuer geschichtlicherSchöpfungen«, schrieb Marx, »für das Seitenstück älterer undselbst verlebter Formen des gesellschaftlichen Lebens versehnzu werden, denen sie einigermaßen ähnlich sehn. So ist dieseneue Kommune, die die moderne Staatsmacht bricht, angese-hen worden für eine Wiederbelebung der mittelalterlichenKommunen ... einen Bund kleiner Staaten, wie Montesquieuund die Girondins ihn träumten ... für eine übertriebne Formdes alten Kampfes gegen Überzentralisation ...

Die Kommunalverfassung würde im Gegenteil dem gesell-schaftlichen Körper alle die Kräfte zurückgegeben haben, die bis-her der Schmarotzerauswuchs "Staat", der von der Gesellschaftsich nährt und ihre freie Bewegung hemmt, aufgezehrt hat.Durch diese Tat allein würde sie die Wiedergeburt Frankreichsin Gang gesetzt haben. ...

In Wirklichkeit aber hätte die Kommunalverfassung die ländli-chen Produzenten unter die geistige Führung der Bezirkshaupt-städte gebracht und ihnen dort, in den städtischen Arbeitern, dienatürlichen Vertreter ihrer Interessen gesichert. - Das bloße Be-stehen der Kommune führte, als etwas Selbstverständliches, dielokale Selbstregierung mit sich, aber nun nicht mehr als Gegen-gewicht gegen die, jetzt überflüssig gemachte, Staatsmacht.«

»Vernichtung der Staatsmacht«, die ein »Schmarotzeraus-wuchs« war, ihre »Abschneidung«, ihre »Zerstörung«, »die jetztüberflüssig gemachte Staatsmacht« - das sind die Ausdrücke, indenen Marx vom Staat sprach, als er die Erfahrungen der Kommu-ne beurteilte und analysierte.

Dies alles ist vor nahezu einem halben Jahrhundert geschriebenworden, und heute muss man gewissermaßen Ausgrabungen ma-chen, um dem Bewusstsein der breiten Massen den unverfälschtenMarxismus nahe zubringen. Die Schlussfolgerungen aus den Beob-

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achtungen der letzten von Marx erlebten großen Revolution vergaßman gerade dann, als die Zeit der folgenden großen Revolutionendes Proletariats kam.

»Die Mannigfaltig-keit der Deutungen,denen die Kommuneunterlag, und dieMannigfaltigkeit derInteressen, die sich inihr ausgedrückt fan-den, beweisen, dasssie eine durch unddurch ausdehnungs-fähige politischeForm war, währendalle früheren Regie-rungsformen wesent-lich unterdrückendgewesen waren. Ihrwahres Geheimniswar dies: Sie war we-sentlich eine Regie-rung der Arbeiter-klasse, das Resultatdes Kampfs der her-vorbringenden gegendie aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form,unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehenkonnte.

Ohne diese letzte Bedingung war die Kommunalverfassungeine Unmöglichkeit und eine Täuschung.«

Die Utopisten befassten sich mit der "Entdeckung" politischerFormen, unter denen die sozialistische Umgestaltung der Gesell-schaft vor sich gehen sollte. Die Anarchisten wollten von der Fragenach den politischen Formen überhaupt nichts wissen. Die Oppor-

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tunisten der heutigen Sozialdemokratie betrachteten die bürgerli-chen politischen Formen des parlamentarischen demokratischenStaates als die unüberschreitbare Grenze, sie schlugen sich beimAnbeten dieses "Vorbilds" die Stirnen wund und erklärten jedesBestreben, diese Formen zu brechen, als Anarchismus.

Marx hat aus der ganzen Geschichte des Sozialismus und des po-litisdien Kampfes gefolgert, dass der Staat verschwinden muss,dass die Übergangsforrn seines Verschwindens (der Übergang vomStaat zum Nichtstaat) das »als herrschende Klasse, organisierteProletariat« sein wird. Marx unternahm es aber nicht, die politi-schen Formen dieser Zukunft zu entdecken. Er beschränkte sich aufeine genaue Beobachtung der französischen Geschichte, analysiertesie und zog die Schlussfolgerung, die sich aus dem Jahre 1851 er-gab: Die Zertrümmerung der bürgerlichen Staatsmaschinerie wirdauf die Tagesordnung gesetzt.

Und als die revolutionäre Massenbewegung des Proletariats aus-gebrochen war, begann Marx, trotz des Mißerfolgs dieser Bewe-gung, trotz ihrer kurzen Dauer und augenfälligen Sdwäche, zu for-schen, welche Formen sie entdeckt hat.

Die Kommune ist die von der proletarischen Revolution "endlichentdeckte" Form, unter die ökonomische Befreiung der Arbeit sichvollziehen kann.

Die Kommune ist der erste Versuch der proletarischen Revoluti-on, die bürgerliche Staatsmaschine zu zerschlagen, ist die "endlichentdeckte" politische Form, durch die man das Zerschlagene erset-zen kann und muss.

Wir werden in der weiteren Darlegung sehen, dass die russischenRevolutionen von 1905 und 1917 in einer anderen Situation, unteranderen Umständen, das Werk der Kommune fortsetzen und die ge-niale historische Analyse von Marx bestätigen.

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IV. Kapitel - Fortsetzung

Ergänzende Erläuterungen von Engels

Marx hat zur Beurteilung der Erfahrungen der Kommune dasGrundlegende beigetragen. Engels kam wiederholt auf dasselbeThema zurück, wobei er die Analyse und die Schlussfolgerungenvon Marx erläuterte und mitunter mit einer solchen Kraft und An-schaulichkeit andere Seiten der Frage beleuchtete, dass man aufdiese Erläuterungen besonders eingehen muss.

1. "Zur Wohnungsfrage“(S. 22 der deutschen Ausgabe von 1887.)19

Hier wird nicht die Veränderung der Form der Staatsmacht be-handelt, sondern nur der Inhalt ihrer Tätigkeit. Expropriationen undEinquartierungen erfolgen auch auf Verfügung des jetzigen Staates.Formell betrachtet, wird auch der proletarische Staat Einquartierun-gen und Expropriationen von Häusern "verfügen". Es ist aber klar,dass der alte Vollzugsapparat, die mit der Bourgeoisie verbundeneBeamtenschaft, zur Durchführung der Verfügungen des proletari-schen Staates einfach untauglich wäre.

»Übrigens muss konstatiert werden, dass die faktische "Be-sitzergreifung" sämtlicher Arbeitsinstrumente, die Inbesitznah-me der gesamten Industrie von seiten des arbeitenden Volks,das gerade Gegenteil ist von der proudhonistischen "Ablö-sung". Bei der letzteren wird der einzelne Arbeiter Eigentümerder Wohnung, des Bauernhofs, des Arbeitsinstruments; bei derersteren bleibt das "arbeitende Volk" Gesamteigentümer derHäuser, Fabriken und Arbeitsinstrumente, und wird derenNießbrauch, wenigstens während einer Übergangszeit, schwer-lich ohne Entschädigung der Kosten an einzelne oder Gesell-schaften überlassen. Gerade wie die Abschaffung des Grundei-gentums nicht die Abschaffung der Grundrente ist, sondernihre Übertragung, wenn auch in modifizierter Weise, an dieGesellschaft. Die faktische Besitznahme sämtlicher Arbeitsin-

19 Siehe Friedrich Engels, "Zur Wohnungsfrage", in Karl Marx/Friedrich Engels,Werke Bd. 18, S. 226/227

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strumente durch das arbeitende Volk schließt also die Beibe-haltung des Mietverhältnisses keineswegs aus.« (S. 68.)

Die in diesen Darlegungen angeschnittene Frage, nämlich dieFrage nach den ökonomischen Grundlagen des Absterbens desStaates, wollen wir im nächsten Kapitel behandeln. Engels drücktsich äußerst vorsichtig aus, wenn er sagt, dass der proletarischeStaat "Schwerlich" die Wohnungen ohne Entgelt verteilen werde,"wenigstens während einer Übergangszeit". Das überlassen vonWohnungen, die dem ganzen Volk gehören, an einzelne Familiengegen Entgelt setzt auch die Erhebung dieses Mietgeldes, eine ge-wisse Kontrolle und diese oder jene Normierung bei der Verteilungder Wohnungen voraus. Alles das erfordert eine gewisse Staats-form, erfordert aber keineswegs einen besonderen militärischen undbürokratischen Apparat mit beamteten Personen in besonders be-vorzugter Stellung. Der Übergang zu einer Ordnung der Dinge je-doch, bei der es möglich sein wird, die Wohnungen kostenlos zuüberlassen, ist mit dem völligen "Absterben" des Staates verknüpft.

Wo Engels darauf zu sprechen kommt, dass die Blanquisten nachder Kommune, beeinflusst durch deren Erfahrungen, prinzipiell dieStellung des Marxismus bezogen, formuliert er beiläufig diese Stel-lung folgendermaßen:

»...Notwendigkeit der politischen Aktion des Proletariats undseiner Diktatur als Übergang zur Abschaffung der Klassenund, mit ihnen, des Staats...« (S. 55.)

Liebhaber von Wortklaubereien oder bürgerliche "Marxistenfres-ser" mögen wohl einen Widerspruch finden zwischen diesem Be-kenntnis zur "Abschaffung des Staats" und der Ablehnung einerFormel wie der anarchistischen in dem früher zitierten Passus ausdem "Anti-Dühring". Es wäre nicht verwunderlich, wenn die Op-portunisten auch Engels zum "Anarchisten" stempelten - wird esdoch bei den Sozialchauvinisten jetzt immer mehr Sitte, die Inter-nationalisten des Anarchismus zu bezichtigen.

Dass mit der Abschaffung der Klassen auch die Abschaffung desStaates erfolgen wird, das hat der Marxismus stets gelehrt. Die all-

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gemein bekannte Stelle über das "Absterben des Staates" im "Anti-Dühring" macht den Anarchisten nicht einfach zum Vorwurf, dasssie für die Abschaffung des Staates eintreten, sondern dass sie pre-digen, man könne den Staat "von heute auf morgen" abschaffen.

Da die gegenwärtig herrschende "sozialdemokratische" Doktrindas Verhältnis des Marxismus zum Anarchismus in der Frage derAbschaffung des Staates vollkommen entstellt, wird es besondersnützlich sein, an eine Polemik von Marx und Engels gegen die An-archisten zu erinnern.

„Visiting the poor“, Paris 1844

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2. Polemik gegen die Anarchisten

Diese Polemik fällt in das Jahr 1873. Marx und Engels schriebenfür einen italienischen sozialistischen Almanach Artikel gegen dieProudhonisten, die "Autonomisten" oder "Antiautoritären", abererst im Jahre 1913 erschienen diese Artikel in deutscher Üersetzungin der "Neuen Zeit"20

»Wenn der politische Kampf der Arbeiterklasse«, schriebMarx über die Anarchisten und ihre Ablehnung der Politikspottend, »revolutionäre Form annimmt, wenn die Arbeiter anStelle der Diktatur der Bourgeoisie ihre revolutionäre Diktatursetzen, dann begehen sie das schreckliche Verbrechen der Prin-zipienbeleidigung, denn um ihre kläglichen profanen Tagesbe-dürfnisse zu befriedigen, um den Widerstand der Bourgeoisiezu brechen, geben sie dem Staat eine revolutionäre und vor-übergehende Form, statt die Waffen niederzulegen und denStaat abzuschaffen.« ("Neue Zeit", 32. Jahrgang, 1913/14, Bd. I,S. 40.)

Also ausschließlich gegen diese "Abschaffung" des Staates wand-te sich Marx bei seiner Widerlegung der Anarchisten! Durchausnicht dagegen, dass der Staat mit dem Verschwinden der Klassenverschwinden oder mit der Abschaffung der Klassen abgeschafftwerden wird, sondern dagegen, dass die Arbeiter auf die Anwen-dung von Waffen, auf die organisierte Gewalt, das heißt auf denStaat, verzichten sollen, der dem Ziel zu dienen hat: »den Wider-stand der Bourgeoisie zu brechen«.

Marx betont absichtlich - um einer Entstellung des wahren Sinnesseines Kampfes gegen den Anarchismus vorzubeugen - die »revo-

20 W.I. Lenin meint die Artikel von Karl Marx "Der politische Indifferentismus"und von Friedrich Engels "Von der Autorität", die im Dezember 1873 in demitalienischen Sammelband "Almanacco Republicano per l'anno 1874" veröffent-licht wurden. Diese Artikel erschienen in einer von D. B. Rjasanow (D.B. Gol-dendach) angefertigten deutschen Übersetzung in der "Neuen Zeit", 32. Jahr-gang, 1913/1914, Bd. 1, Nr. 2. (Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd.18, S. 299-304 und 305-308.)

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lutionäre und vorübergehende Form« des Staates, den das Proleta-riat braucht. Das Proletariat braucht den Staat nur zeitweilig. In derFrage der Abschaffung des Staates als Ziel gehen wir mit den Anar-chisten keineswegs auseinander. Wir behaupten, dass zur Errei-chung dieses Zieles ein zeitweiliges Ausnutzen der Organe, Mittelund Methoden der Staatsgewalt gegen die Ausbeuter notwendig ist,ebenso wie zur Aufhebung der Klassen die vorübergehendeDiktatur der unterdrückten Klasse notwendig ist. Marx greiftgegen die Anarchisten zur schärfsten und klarsten Fragestellung:Sollen die Arbeiter »die Waffen niederlegen«, wenn sie das Jochder Kapitalisten abwerfen, oder sollen sie diese Waffen gegen dieKapitalisten ausnutzen, um deren Widerstand zu brechen? Aber diesystematische Ausnutzung der Waffen durch eine Klasse gegeneine andere Klasse, was ist das denn anderes als eine "vorüberge-hende Form" des Staates?

Jeder Sozialdemokrat möge sich fragen, ob er in seiner Polemikgegen die Anarchisten die Frage des Staates so gestellt hat, ob dieüberwältigende Mehrheit der offiziellen sozialistischen Parteien derII. Internationale diese Frage so gestellt hat?

Engels entwickelt dieselben Gedanken noch viel ausführlicherund gemeinverständlicher. Zunächst verspottet er die Konfusion inden Köpfen der Proudhonisten, die sich als "Antiautoritäre" be-zeichneten, d.h. jegliche Autorität, jegliche Unterordnung, jeglicheRegierungsgewalt ablehnten. Man nehme eine Fabrik, eine Eisen-bahn, ein Schiff auf hoher See, sagt Engels, ist es denn nicht klar,dass ohne eine gewisse Unterordnung, also ohne eine gewisse Au-torität oder Macht ein Funktionieren keines dieser kompliziertentechnischen Betriebe, die auf der Verwendung von Maschinen unddem planmäßigen Zusammenarbeiten vieler Personen beruhen,möglich wäre?

»Wenn ich diese Argumente den rabiatesten Antiautoritärenentgegenstelle, können sie mir nur die folgende Antwort geben:Ahl Das ist wahr, es handelt sich aber hier nicht um die Autori-tät, die wir den Delegierten verleihen, sondern um einen Auf-

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trag. Diese Leute glauben, dass sie eine Sache ändern können,wenn sie ihren Namen ändern.«

Nachdem Engels so gezeigt hat, dass Autorität und Autonomie re-lative Begriffe sind, dass sich ihr Geltungsbereich mit den verschie-denen Phasen der gesellschaftlichen Entwicklung ändert, dass esein Widersinn ist, sie für etwas Absolutes zu halten, und nachdemer hinzugefügt hat, dass der Geltungsbereich der Maschinen undder Großproduktion sich immer mehr erweitert, geht er von den all-gemeinen Betrachtungen über Autorität zur Frage des Staates über.

»Hätten sich die Autonomisten«, schreibt er, »begnügt, zu sa-gen, dass die soziale Organisation der Zukunft die Autoritätnur in den Grenzen zulassen wird, die durch die Produktions-verhältnisse unvermeidlich gezogen werden, dann hätte mansich mit ihnen verständigen können; sie sind aber blind für alleTatsachen, welche die Autorität notwendig machen, und kämp-fen leidenschaftlich gegen das Wort.

Warum beschränken sich die Antiautoritären nicht darauf,gegen die politische Autorität, gegen den Staat zu schreien?Alle Sozialisten sind darin einverstanden, dass der Staat undmit ihm die politische Autorität infolge der künftigen sozialenRevolution verschwinden werden; das heißt, dass die öffentli-chen Funktionen ihren politischen Charakter verlieren undsich in einfache administrative Funktionen verwandeln werden,die die sozialen Interessen überwachen. Die Antiautoritärenaber fordern, dass der politische Staat mit einem Schlage abge-schafft werde, noch früher, als die sozialen Verhältnisse abge-schafft sind, die ihn erzeugt haben. Sie fordern, dass der ersteAkt der sozialen Revolution die Abschaffung der Autorität seinsoll.

Haben sie einmal eine Revolution gesehen, diese Herren?Eine Revolution ist gewiss die autoritärste Sache, die es gibt,ein Akt, durch den ein Teil der Bevölkerung seinen Willen demanderen Teil durch Flinten, Bajonette und Kanonen, alles dassehr autoritäre Mittel, aufzwingt; und die Partei, die gesiegthat, muss ihre Herrschaft durch den Schrecken, den ihre Waf-

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fen den Reaktionären einflößen, behaupten. Und hätte sich diePariser Kommune nicht der Autorität eines bewaffneten Volkesgegen die Bourgeoisie bedient, hätte sie sich länger als einenTag behauptet? Können wir sie nicht umgekehrt tadeln, dasssie sich zu wenig dieser Autorität bedient habe? Also: entweder- oder: Entweder die Antiautoritären wissen selbst nicht, wassie sagen, und in diesem Falle schaffen sie nur Konfusion, odersie wissen es, und in diesem Falle verraten sie die Sache desProletariats. In beiden Fällen dienen sie nur der Reaktion.« (S.39.)

In dieser Betrachtung sind Fragen berührt, die im Zusammenhangmit dem Verhältnis zwischen Politik und Ökonomie beim Abster-ben des Staates betrachtet werden müssen (diesem Thema ist dasnachfolgende Kapitel gewidmet). Das sind: die Frage der Umwand-lung der öffentlichen Funktionen aus politischen in einfache admi-nistrative und die Frage des "politischen Staates". Dieser letzteAusdruck, der besonders geeignet ist, Missverständnisse hervorzu-rufen, deutet auf den Prozess des Absterbens des Staates hin: Denabsterbenden Staat kann man auf einer gewissen Stufe seines Ab-sterbens als unpolitischen Staat bezeichnen.

Am bemerkenswertesten ist in dieser Engelsschen Betrachtungwiederum die gegen die Anarchisten gebrauchte Fragestellung. DieSozialdemokraten, die Schüler von Engels sein wollen, haben sich -seit 1873 millionenmal mit den Anarchisten herumgestritten, abereben nicht so, wie Marxisten streiten können und sollen. Die anar-chistische Vorstellung von der Abschaffung des Staates ist konfusund unrevolutionär - so stellte Engels die Frage. Die Anarchistenwollen gerade die Revolution in ihrem Entstehen und in ihrer Ent-wicklung, in ihren spezifischen Aufgaben hinsichtlich der Gewalt,der Autorität, der Macht und des Staates nicht sehen.

Die bei den heutigen Sozialdemokraten übliche Kritik am Anar-chismus läuft auf die reinste kleinbürgerliche Plattheit hinaus: »Wirerkennen den Staat an, die Anarchisten nicht!« Natürlich musssolch eine Plattheit auf einigermaßen denkende und revolutionäreArbeiter abstoßend wirken. Engels sagt etwas anderes. Er betont,

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dass alle Sozialisten das Verschwinden des Staates als Folge dersozialistischen Revolution anerkennen. Er stellt dann konkret dieFrage der Revolution, eben jene Frage, die die Sozialdemokratenaus Opportunismus zu umgehen pflegen, deren "Bearbeitung" siesozusagen ausschließlich den Anarchisten überlassen. Und mit die-ser Frage packt Engels den Stier bei den Hörnern: Hätte sich dieKommune nicht mehr der revolutionären Macht des Staates, d.h.des bewaffneten, als herrschende Klasse organisierten Proletariatsbedienen sollen?

Die herrschende offizielle Sozialdemokratie pflegt die Frage nachden konkreten Aufgaben des Proletariats in der Revolution entwe-der einfach mit Philisterspötteleien oder bestenfalls mit der auswei-chenden sophistischen Redewendung abzutun: »Das werden wirdann sehen.« Und die Anarchisten durften mit Recht von dieser So-zialdemokratie behaupten, dass sie ihre Aufgabe preisgebe, die Ar-beiter im revolutionären Geist zu erziehen. Engels nutzt die Erfah-rungen der letzten proletarischen Revolution zur ganz konkretenErforschung dessen aus, was das Proletariat sowohl in Bezug aufdie Banken als auch in Bezug auf den Staat zu tun hat und wie daszu tun ist.

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3. Ein Brief an Bebel

Eine der bemerkenswertesten, wenn nicht die bemerkenswertesteBetrachtung in den Werken von Marx und Engels über den Staat istfolgende Stelle in einem Brief von Engels an Bebel vom 18./28.März 1875. Dieser Brief ist, nebenbei bemerkt, unseres Wissenszum ersten Male von Bebel im Zweiten Teil seiner Memoiren (,Ausmeinem Leben") veröffentlicht worden, der 1911, also 36 Jahrenach Niederschrift und Absendung des Briefes, erschienen ist.

Engels kritisierte in seinem Brief an Bebel denselben Entwurf desGothaer Programms, an dem auch Marx in seinem berühmten Briefan Bracke Kritik übte. Speziell zur Frage des Staates schrieb Engelsfolgendes:

»Der freie Volksstaat ist in den freien Staat verwandelt.Grammatikalisch genommen ist ein freier Staat ein solcher, woder Staat frei gegenüber seinen Bürgern ist, also ein Staat mitdespotischer Regierung. Man sollte das ganze Gerede vomStaat fallenlassen, besonders seit der Kommune, die schon keinStaat im eigentlichen Sinne mehr war. "Der Volksstaat" ist unsvon den Anarchisten bis zum Überdruss in die Zähne geworfenworden, obwohl schon die Schrift Marx' gegen Proudhon undnachher das "Kommunistische Manifest" direkt sagen, dassmit Einführung der sozialistischen Gesellschaftsordnung derStaat sich von selbst auflöst und verschwindet. Da nun derStaat doch nur eine vorübergehende Einrichtung ist, derenman sich im Kampf, in der Revolution bedient, um seine Geg-ner gewaltsam niederzuhalten, so ist es purer Unsinn, von frei-em Volksstaat zu sprechen: solange das Proletariat den Staatnoch gebraucht, gebraucht es ihn nicht im Interesse der Frei-heit, sondern der Niederhaltung seiner Gegner, und sobald vonFreiheit die Rede sein kann, hört der Staat als solcher auf zubestehen. Wir würden daher vorschlagen, überall statt Staat"Gemeinwesen" zu setzen, ein gutes altes deutsches Wort, dasdas französische "Kommune" sehr gut vertreten kann.« (S.321/322 des deutschen Originals.)21

21 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, S. 6/7.

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Man muss im Auge behalten, dass dieser Brief sich auf das Par-teiprogramm bezieht, das Marx in einem nur wenige Wochen spätergeschriebenen Brief (vom 5. Mai 1875) kritisierte, und dass Engelsdamals mit Marx zusammen in London lebte. Wenn also Engels imletzten Satz "wir" sagt, so empfiehlt er zweifellos in seinem und inMarx' Namen dem Führer der deutschen Arbeiterpartei, das Wort"Staat" aus dem Programm zu streichen und es durch das Wort"Gemeinwesen" zu ersetzen.

Welches Geheul über "Anarchismus" würden die Häuptlinge desjetzigen, für die Opportunisten gebrauchsfertig zurechtgemachten"Marxismus" erheben, wenn man ihnen eine solche Korrektur amProgramm vorschlagen wollte!

Mögen sie heulen. Dafür wird sie die Bourgeoisie loben.

Wir aber werden unser Werk weiter tun. Bei der Überprüfung un-seres Parteiprogramms muss der Ratschlag von Engels und Marxunbedingt berücksichtigt werden, um der Wahrheit näher zu kom-men, um den Marxismus wiederherzustellen und ihn von Entstel-lungen zu säubern, um den Kampf der Arbeiterklasse für ihre Be-freiung sicherer zu lenken. Unter den Bolschewiki werden sich ge-wiss keine Gegner des Ratschlags von Engels und Marx finden. DieSchwierigkeit dürfte wohl nur im Terminus liegen. Im Deutschengibt es zwei Wörter: "Gemeinde" und "Gemeinwesen", von denenEngels dasjenige wählte, das nicht die einzelne Gemeinde, sonderndie Gesamtheit, das System der Gemeinden, bedeutet. Im Russi-schen gibt es kein entsprechendes Wort, und man wird sich viel-leicht für das französische Wort "Kommune" entscheiden müssen,obgleich auch das seine Nachteile hat.

»Die Kommune, die schon kein Staat im eigentlichen Sinnemehr war« - das ist eine theoretisch höchst wichtige Behauptungvon Engels. Nach dem oben Dargelegten ist diese Behauptungdurchaus begreiflich. Die Kommune hörte auf, ein Staat zu sein, in-sofern sie nicht die Mehrheit der Bevölkerung, sondern eine Min-derheit (die Ausbeuter) niederzuhalten hatte: die bürgerliche Staats-

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maschine wurde von ihr zerschlagen; an Stelle einer besonderenRepressionsgewalt trat die Bevölkerung selbst auf den Plan. Allesdas sind Abweichungen vom Staat im eigentlichen Sinne. Und hät-te sich die Kommune behauptet, so wären in ihr die Spuren desStaates von selbst "abgestorben", sie hätten seine Institutionen nicht"abzuschaffen' brauchen, diese hätten in dem Maße aufgehört zufunktionieren, wie sie nichts mehr zu tun gehabt hätten.

»Der "Volksstaat" ist uns von den Anarchisten bis zum Über-druss in die Zähne geworfen worden«, sagt Engels und meint inerster Linie Bakunin und dessen Ausfälle gegen die deutschen So-zialdemokraten. Engels erkennt diese Ausfälle insoweit für berech-tigt an, als der "VoIksstaat" ein ebensolcher Unsinn und ein eben-solches Abweichen vom Sozialismus ist wie auch der "freie Volks-staat". Engels ist bemüht, den Kampf der deutschen Sozialdemo-kraten gegen die Anarchisten zu korrigieren, diesem Kampf dieprinzipiell richtige Linie zu geben, ihn von den opportunistischenVorurteilen in Bezug auf den "Staat" zu reinigen. Aber leider! DerBrief von Engels hat 36 Jahre lang in einer Schreibtischschubladegelegen. Wir werden weiter unten sehen, dass auch nach der Veröf-fentlichung dieses Briefes Kautsky im Wesentlichen die gleichenFehler hartnäckig wiederholt, vor denen Engels warnte.

Bebel antwortete Engels mit einem Brief vom 21. September1875, in dem er unter anderem schrieb, dass er mit Engels' Urteilüber die Programmvorlage "vollkommen übereinstimme" und dasser Liebknecht Nachgiebigkeit vorgeworfen habe (Bebel, "Aus mei-nem Leben", zweiter Teil, S. 334). Nimmt man jedoch Bebels Bro-schüre "Unsere Ziele" zur Hand, so findet man in ihr vollkommenfalsche Betrachtungen über den Staat:

»Der Staat soll also aus einem auf Klassenherrschaft beru-henden Staat in einen Volksstaat verwandelt werden.« ("UnsereZiele", deutsche Ausgabe von 1886, S. 14.)

So zu lesen in der neunten (neunten!) Auflage der BebelschenBroschüre! Kein Wunder, dass die so hartnäckig wiederholten op-portunistischen Betrachtungen über den Staat der deutschen Sozial-demokratie in Fleisch und Blut übergingen, besonders da man die

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revolutionären Erläuterungen von Engels vor der Welt geheim hieltund da die ganzen Lebensverhältnisse für lange Zeit von der Revo-lution "entwöhnten".

1893 Zürich

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4. Kritik des Entwurfs des Erfurter Programms

Die Kritik des Entwurfs des Erfurter Programms2219, die Engelsam 29. Juni 1891 an Kautsky sandte und die erst zehn Jahre später,in der "Neuen Zeit" veröffentlicht wurde, darf bei der Analyse dermarxistischen Lehre vom Staat nicht übergangen werden, da siehauptsächlich gerade der Kritik der opportunistischen Anschauun-gen der Sozialdemokratie in den Fragen der Staatsordnung gewid-met ist.

Nebenbei sei bemerkt, dass Engels in Fragen der Ökonomik eben-falls einen außerordentlich wertvollen Fingerzeig gibt, der beweist,wie aufmerksam und überlegt er namentlich die Veränderungen desmodernen Kapitalismus verfolgte und wie er es daher verstand, biszu einem gewissen Grad die Aufgaben unserer, der imperialisti-schen, Epoche vorwegzunehmen. Hier dieser Fingerzeig: Über dasWort "Planlosigkeit", das im Programmentwurf zur Kennzeichnungdes Kapitalismus angewendet wurde, schreibt Engels:

»... wenn wir von den Aktiengesellschaften übergehen zu denTrusts, die ganze Industriezweige beherrschen und monopoli-sieren, so hört da nicht nur die Privatproduktion auf, sondernauch die Planlosigkeit« ("Neue Zeit", XX. Jahrgang, 1901/02, Bd.1, S. 8).

Hier ist das Grundlegende in der theoretischen Einschätzung desneuesten Kapitalismus, d.h. des Imperialismus, gegeben, nämlich,dass sich der Kapitalismus in monopolistischen Kapitalismus ver-wandelt. Das letztere muss besonders hervorgehoben werden, dennzu den meistverbreiteten Irrtümern gehört die bürgerlich-reformisti-sche Behauptung, der monopolistische oder staatsmonopolistischeKapitalismus sei schon kein Kapitalismus mehr, er könne bereits22 Das Erfurter Programm der deutschen Sozialdemokratie wurde auf dem Erfur-ter Parteitag im Oktober 1891 an Stelle des Gothaer Programms von 1875 ange-nommen. Das Erfurter Programm dokumentierte, dass sich der Marxismus in derdeutschen Arbeiterbewegung durchgesetzt hatte. Es enthielt jedoch Epoche desImperialismus das Erfurter Programm für die Verbreitung ihrer opportunisti-schen Ideen zu missbrauchen. Engels kritisierte den Entwurf des Erfurter Pro-gramms in seiner Schrift "Zur Kritik des sozialdemokratisdicn Programment-wurfs 1891". (Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 22, S. 225-240.

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als "Staatssozialismus" bezeichnet werden und ähnliches mehr.Eine vollständige Planmäßigkeit boten die Trusts natürlich nicht,bieten sie bis auf den heutigen Tag nicht und können sie nicht bie-ten. Soweit sie auch Planmäßigkeit bieten, soweit die Kapitalma-gnaten den Umfang der Produktion in nationalem oder gar interna-tionalem Maßstab auch im voraus berechnen, soweit sie die Pro-duktion auch planmäßig regulieren - wir verbleiben trotz allem imKapitalismus, wenn auch in einem neuen Stadium, aber doch un-verkennbar im Kapitalismus. Die "Nähe" eines solchen Kapitalis-mus zum Sozialismus muss für wirkliche Vertreter des Proletariatsein Beweisgrund sein für die Nähe, Leichtigkeit, Durchführbarkeitund Dringlidikeit der sozialistischen Revolution, keineswegs aberein Argument dafür, dass man die Ablehnung dieser Revolutionund die Beschönigung des Kapitalismus, wie dies bei allen Refor-misten zu finden ist, tolerant hinnehmen solle.

Doch kehren wir zur Frage des Staates zurück. Engels gibt hierdreierlei besonders wertvolle Hinweise: erstens in der Frage derRepublik, zweitens über den Zusammenhang zwischen der nationa-len Frage und der Staatsordnung und drittens über die lokaleSelbstverwaltung.

Was die Republik betrifft, so hat Engels sie zum Schwerpunktseiner Kritik am Entwurf des Erfurter Programms gemacht. Undwenn wir bedenken, welche Bedeutung das Erfurter Programm inder ganzen internationalen Sozialdemokratie gewonnen hat, dass esfür die gesamte II. Internationale zum Vorbild geworden ist, sowird man ohne Übertreibung sagen dürfen, dass Engels hier denOpportunismus der gesamten II.Internationale kritisiert.

»Die politischen Forderungen des Entwurfes«, schreibt Engels,»haben einen großen Fehler. Das, was eigentlich gesagt werdensollte, steht nicht drin« (hervorgehoben von Engels).

Und weiter wird auseinandergesetzt, dass die deutsche Reichsver-fassung im Grunde einen Abklatsch der äußerst reaktionären Ver-fassung von 1850 bilde, dass der Reichstag nach einem AusspruchWilhelm Liebknechts nur das »Feigenblatt des Absolutismus« sei,dass auf Grundlage dieser Verfassung, die die Kleinstaaterei und

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den Bund der deutschen Kleinstaaten sanktioniert, eine »Umwand-lung aller Arbeitsmittel in Gemeineigentum« durchführen zuwollen, »augenscheinlich sinnlos« sei.

»Daran zu tasten ist aber gefährlich«, fügt Engels hinzu, dernur zu gut weiß, dass es unmöglich ist, in Deutschland im Pro-gramm die Forderung der Republik legal zu erheben. Aber mit die-ser einleuchtenden Erwägung, mit der sich "alle" zufrieden geben,findet sich Engels nicht ohne weiteres ab. Er fährt fort: »Und den-noch muss so oder so die Sache angegriffen werden. Wie nötigdas ist, beweist gerade jetzt der in einem großen Teile der sozi-aldemokratischen Presse einreißende Opportunismus. AusFurcht vor einer Erneuerung des Sozialistengesetzes, aus derErinnerung an allerlei unter der Herrschaft jenes Gesetzes ge-fallenen voreiligen Äußerungen soll jetzt auf einmal der gegen-wärtige gesetzliche Zustand in Deutschland der Partei genügenkönnen, alle ihre Forderungen auf friedlichem Wege durchzu-führen.«

Dass die deutschen Sozialdemokraten aus Furcht vor einer Wie-dereinführung des Ausnahmegesetzes handelten, diese grundlegen-de Tatsache rückt Engels in den Vordergrund und bezeichnet sieohne Umschweife als Opportunismus; gerade weil in DeutschlandRepublik und Freiheit fehlen, erklärt er die Träume von einem"friedlichen" Weg für völlig sinnlos. Engels ist vorsichtig genug,sich nicht die Hände zu binden. Er gibt zu, dass man sich in Repu-bliken oder sonst in Ländern mit weitgehender Freiheit eine friedli-che Entwicklung zum Sozialismus »vorstellen kann« (nur "vor-stellen"!), aber in Deutschland, wiederholt er,

»... in Deutschland, wo die Regierung fast allmächtig und derReichstag und alle anderen Vertretungskörper ohne wirklicheMacht, in Deutschland so etwas proklamieren und noch dazuohne Not, heißt das Feigenblatt dem Absolutismus abnehmenund sich selbst vor die Blöße binden.«

Die offiziellen Führer der deutschen sozialdemokratischen Partei,die diese Hinweise "zu den Akten" gelegt hatte, erwiesen sich in ih-

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rer überwiegenden Mehrheit denn auch in der Tat als Schirmer desAbsolutismus.

»Eine solche Politik kann nur die eigene Partei auf die Dauerirreführen. Man schickt allgemeine, abstrakte politische Fra-gen in den Vordergrund und verdeckt dadurch die nächstenkonkreten Fragen, die Fragen, die bei den ersten großen Ereig-nissen, bei der ersten politischen Krise sich selbst auf die Ta-gesordnung setzen. Was kann dabei herauskommen, als dassdie Partei plötzlich im entscheidenden Moment ratlos ist, dassüber die entscheidendsten Punkte Unklarheit und Uneinigkeitherrscht, weil diese Punkte nie diskutiert worden sind...

Dies Vergessen der großen Hauptgesichtspunkte über den au-genblicklichen Interessen des Tages, dies Ringen und Trachtennach dem Augenblickserfolg ohne Rücksicht auf die späterenFolgen, dies Preisgeben der Zukunft der Bewegung um der Ge-genwart der Bewegung willen mag "ehrlich" gemeint sein, aberOpportunismus ist und bleibt es, und der "ehrliche" Opportu-nismus ist vielleicht der gefährlichste von allen...

Wenn etwas feststeht, so ist es dies, dass unsere Partei und dieArbeiterklasse nur zur Herrschaft kommen kann unter derForm der demokratischen Republik. Diese ist sogar die spezifi-sche Form für die Diktatur des Proletariats, wie schon die gro-ße französische Revolution gezeigt hat.«

Engels wiederholt hier in besonders plastischer Form jenenGrundgedanken, der sich wie ein roter Faden durch alle Werke vonMarx zieht, nämlich, dass die demokratische Republik der unmit-telbare Zugang zur Diktatur des Proletariats ist. Denn diese Repu-blik, die in keiner Weise die Herrschaft des Kapitals und somit dieUnterdrückung der Massen und den Klassenkampf beseitigt, führtunvermeidlich zu solcher Ausdehnung, Entfaltung, Entblößung undVerschärfung dieses Kampfes, dass, sobald einmal die Möglichkeitentsteht, die Grundinteressen der unterdrückten Massen zu befriedi-gen, diese Möglichkeit unausbleiblich und allein durch die Diktaturdes Proletariats verwirklicht wird, dadurch, dass das Proletariat dieMassen führt. Für die gesamte II. Internationale sind auch das "ver-

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gessene Worte" des Marxismus, und das Vergessen dieser Wortetrat außerordentlich krass in der Geschichte der Partei der Mensche-wiki während des ersten halben Jahres der russischen Revolutionvon 1917 zutage.

Zur Frage der Föderativrepublik im Zusammenhang mit der nati-onalen Zusammensetzung der Bevölkerung schrieb Engels:

»Was soll an die Stelle« (des jetzigen Deutschlands mit seinerreaktionären monarchistischen Verfassung und der ebenso reaktio-nären Kleinstaaterei, die das spezifische "Preußentum" verewigt,statt beides in Deutschland als Ganzem aufgehen zu lassen) »tre-ten? Nach meiner Ansicht kann das Proletariat nur die Formder einen und unteilbaren Republik gebrauchen. Die Födera-tivrepublik ist auf dem Riesengebiet der Vereinigten Staatenjetzt noch im Ganzen eine Notwendigkeit, obgleich sie im Ostenbereits ein Hindernis wird. Sie wäre ein Fortschritt in England,wo vier Nationen auf den beiden Inseln wohnen und trotz einesParlaments schon jetzt dreierlei Gesetzsysteme nebeneinanderbestehen. Sie ist in der kleinen Schweiz schon längst ein Hin-dernis geworden, erträglich nur, weil die Schweiz sich damitbegnügt, ein rein passives Glied des europäischen Staatensys-tems zu sein. Für Deutschland wäre die föderalistische Ver-schweizerung ein enormer Rückschritt. Zwei Punkte unter-scheiden den Bundesstaat vom Einheitsstaat, dass jeder ver-bündete Einzelstaat, jeder Kanton seine eigene Zivil- und Kri-minalgesetzgebung und Gerichtsverfassung hat, und dann, dassneben dem Volkshaus ein Staatenhaus besteht, worin jederKanton, groß oder klein, als solcher stimmt.« In Deutschland istder Bundesstaat der Übergang zum Einheitsstaat, und die 1866 und1870 gemachte »Revolution von oben« darf man nicht wiederrückgängig machen, sondern muss sie durch eine »Bewegung vonunten« ergänzen.

Die Staatsformen sind Engels keineswegs gleichgültig, er ist imGegenteil bemüht, mit außerordentlicher Sorgfalt gerade die Über-gangsformen zu analysieren, um je nach den konkret-historischen

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Eigentümlichkeiten jedes Einzelfalles festzustellen, wovon undwozu die betreffende Form den Übergang bildet.

Die Revolution von oben, Vereinigung Deutschlans

Engels, wie auch Marx, verficht vom Standpunkt des Proletariatsund der proletarischen Revolution aus den demokratischen Zentra-lismus, die eine und unteilbare Republik. Die föderative Republikbetrachtet er entweder als Ausnahmefall und als Hindernis der Ent-wicklung oder als Übergang von der Monarchie zur zentralistischenRepublik, unter bestimmten besonderen Verhältnissen als einen"Fortschritt". Und unter diesen besonderen Verhältnissen rückt dienationale Frage in den Vordergrund.

Bei Engels wie auch bei Marx findet man, trotz ihrer schonungs-losen Kritik an der reaktionären Kleinstaaterei und an der Ver-schleierung dieses ihres reaktionären Charakters durch die nationa-le Frage in bestimmten konkreten Fällen, nirgends die leiseste Spur

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eines Bestrebens, der nationalen Frage aus dem Wege zu gehen, ei-nes Bestrebens, das sich häufig die holländischen und polnischenMarxisten zuschulden kommen lassen, die von dem durchaus be-rechtigten Kampf gegen den spießerhaft-beschränkten Nationalis-mus "ihrer" kleinen Staaten ausgehen.

Selbst in England, wo sowohl die geographischen Bedingungenals auch die Gemeinsamkeit der Sprache und die Geschichte vielerJahrhunderte die nationale Frage in den einzelnen kleinen TeilenEnglands "erledigt" zu haben scheinen, selbst hier trägt Engels derklaren Tatsache Rechnung, dass die nationale Frage noch nichtüberwunden ist, und sieht darum in der föderativen Republik einen"Fortschritt". Selbstverständlich ist hier auch nicht der geringsteVerzicht auf eine Kritik an den Mängeln der föderativen Republik,auf die entschiedenste Propaganda und den Kampf für eine einheit-liche, zentralistisch-demokratische Republik zu finden.

Engels fasst aber den demokratischen Zentralismus keineswegs indem bürokratischen Sinne auf, in dem die bürgerlichen und diekleinbürgerlichen Ideologen, darunter auch die Anarchisten, diesenBegriff gebrauchen. Der Zentralismus schließt für Engels nicht imgeringsten jene weit-sehende lokale Selbstverwaltung aus, die, beifreiwilliger Wahrung der Einheit des Staates durch die "Kommu-nen" und Provinzen, jeden Bürokratismus und jedes "Kommandie-ren" von oben unbedingt beseitigt.#

»Also einheitliche Republik«, schreibt Engels, die programmati-schen Ansichten des Marxismus über den Staat entwickelnd. »Abernicht im Sinne der heutigen französischen, die weiter nichts istals das 1798 begründete Kaiserreich ohne den Kaiser. Von 1792bis 1798 besaß jedes französische Departement, jede Gemeindevollständige Selbstverwaltung nach amerikanischem Muster,und das müssen wir auch haben. Wie die Selbstverwaltung ein-zurichten ist und wie man ohne Bürokratie fertig werden kann,das bewies uns Amerika und die erste französische Republik,und noch heute Australien, Kanada und die anderen englischenKolonien. Und eine solche provinzielle und gemeindlicheSelbstverwaltung ist weit freier als zum Beispiel der Schweizer

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Föderalismus, wo der Kanton zwar sehr unabhängig ist gegen-über dem Bund« (d.h. dem föderativen Gesamtstaat), »aberauch gegenüber dem Bezirk und der Gemeinde. Die Kantonal-regierungen ernennen Bezirksstatthalter und Präfekten, wovonman in den Ländern englischer Zunge nichts weiß und die wiruns ebenso höflichst in Zukunft verbeten haben wollen, wie diepreußischen Landräte und Regierungsräte« (Kommissare,Kreispolizeichefs, Gouverneure, überhaupt alle von oben er-nannten Beamten). Engels empfiehlt dementsprechend, im Pro-gramm den Punkt über die Selbstverwaltung wie folgt zu for-mulieren: »Vollständige Selbstverwaltung in Provinz« (Gouver-nement oder Gebiet), »Kreis und Gemeinde durch nach allge-meinem Stimmrecht gewählte Beamte. Abschaffung aller vonStaats wegen ernannten Lokal- und Provinzialbehörden.«

In der von der Regierung Kerenskis und der anderen "sozialisti-schen" Minister verbotenen "Prawda" (Nr. 68 vom 28. Mai1917)23DV hatte ich bereits Gelegenheit, darauf hinzuweisen, wie indiesem Punkt - freilich bei weitem nicht nur in diesem allein - un-sere angeblich sozialistischen Vertreter einer angeblich revolutionä-ren angeblichen Demokratie sich himmelschreiende Verstöße ge-gen den Demokratismus leisteten. Es ist begreiflich, dass Leute, diesich durch eine "Koalition" mit der imperialistischen Bourgeoisiegebunden haben, für diese Hinweise taub blieben.

Es ist äußerst wichtig hervorzuheben, dass Engels an Hand vonTatsachen, an einem ganz exakten Beispiel, das - besonders unterder kleinbürgerlichen Demokratie - weitverbreitete Vorurteil wider-legt, die föderative Republik bedeute unbedingt mehr Freiheit alsdie zentralistische. Das ist falsch. Das widerlegen die Tatsachen,die Engels über die zentralistische französische Republik von 1792bis 1798 und die föderalistische schweizerische Republik anführt.Die wirklich demokratische zentralistische Republik bot mehr Frei-heit als die föderalistische. Oder anders ausgedrückt: Die größte lo-kale, provinzielle, usw. Freiheit, die die Geschichte kennt, hat diezentralistische und nicht die föderative Republik geboten.

23DV Siehe Werke, Bd. 24, S. 539-542. Die Red.

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Dieser Tatsache, wie überhaupt der ganzen Frage der föderativenund der zentralistischen Republik sowie der lokalen Selbstverwal-tung, wurde und wird in unserer Parteipropaganda und Agitationnicht genügend Beachtung geschenkt.

Die Einheit Deutschlands von oben, die Germania

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5. Die Einleitung vom Jahre 1891 zu Marx' "Der Bürgerkrieg in Frankreich"

In seiner Einleitung zur dritten Auflage des "Bürgerkriegs inFrankreich" - diese Einleitung datiert vom 18. März 1891 und warursprünglich in der "Neuen Zeit" veröffentlicht - gibt Engels nebeninteressanten beiläufigen Bemerkungen zu Fragen, die mit demVerhältnis zum Staat zusammenhängen, eine überaus prägnante Zu-sammenfassung der Lehren der Kommune.24 Diese Zusammenfas-sung, vertieft durch die ganze Erfahrung eines Zeitabschnitts vonzwanzig Jahren, der den Verfasser von der Kommune trennte, undspeziell gegen die in Deutschland verbreitete "abergläubische Ver-ehrung des Staats" gerichtet, kann mit Recht als das letzte Wort desMarxismus zu der Frage, die wir hier untersuchen, bezeichnet wer-den.

»In Frankreich,« bemerkt Engels, »waren die Arbeiter nachjeder Revolution bewaffnet, für die am Staatsruder befindli-chen Bourgeois war daher Entwaffnung der Arbeiter erstes Ge-bot. Daher nach jeder, durch die Arbeiter erkämpften Revolu-tion ein neuer Kampf, der mit der Niederlage der Arbeiter en-digt.«

Diese Bilanz der Erfahrungen der bürgerlichen Revolutionen istebenso kurz wie bedeutungsvoll. Das Wesen der Sache - unter an-derem auch in der Frage des Staates (ob die unterdrückte KlasseWaffen besitzt) - ist hier treffend erfasst. Gerade diesen Kern um-gehen meistenteils sowohl die unter dem Einfluss der bürgerlichenIdeologie stehenden Professoren als auch die kleinbürgerlichen De-mokraten. In der russischen Revolution von 1917 fiel dem "Men-schewik" und "Auch-Marxisten" Zereteli die Ehre zu (eine Cavai-gnacsche Ehre), dieses Geheimnis der bürgerlichen Revolutionenauszuplaudern. In seiner "historischen" Rede vom 11. Juni plauder-te Zereteli aus der Schule, die Bourgeoisie sei entschlossen, die Pe-

24 Gemeint ist die Einleitung von Friedrich Engels zur Schrift von Marx "DerBürgerkrieg in Frankreich". (Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 17.S. 613-625.)

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trograder Arbeiter zu entwaffnen, wobei er natürlich diesen Be-schluss auch als seinen eigenen wie überhaupt als eine "Staats"not-wendigkeit hinstellte!

Die historische Rede Zeretelis vom 11. Juni wird natürlich für je-den Geschichtsschreiber der Revolution von 1917 eine der anschau-lichsten Illustrationen dafür bieten, wie sich der von Herrn Zereteligeführte Block der Sozialrevolutionäre und Menschewiki gegen dasrevolutionäre Proletariat auf die Seite der Bourgeoisie geschlagenhat.

Eine andere beiläufige Bemerkung von Engels, die ebenfalls mitder Frage des Staates zusammenhängt, bezieht sich auf die Religi-on. Es ist bekannt, dass die deutsche Sozialdemokratie in demMaße, wie sie versumpfte und immer opportunistischer wurde, im-mer häufiger zu einer philisterhaften Falschdeutung der berühmtenFormel »Erklärung der Religion zur Privatsache« hinab sank. Näm-lich: Die Formel wurde so gedeutet, als sei auch für die Partei desrevolutionären Proletariats die Frage der Religion Privatsache!! Ge-gen diesen völligen Verrat am revolutionären Programm des Prole-tariats machte Engels Front, der 1891 erst ganz schwache Keimedes Opportunismus in seiner Partei beobachtete und sich daher äu-ßerst vorsichtig ausdrückte:

»Wie in der Kommune fast nur Arbeiter oder anerkannte Ar-beitervertreter saßen, so trugen auch ihre Beschlüsse einen ent-schieden proletarischen Charakter. Entweder dekretierten sieReformen, die die republikanische Bourgeoisie nur aus Feigheitunterlassen hatte, die aber für die freie Aktion der Arbeiter-klasse eine notwendige Grundlage bildeten, wie die Durchfüh-rung des Satzes, dass dem Staat gegenüber die Religion bloßePrivatsache sei; oder sie erließ Beschlüsse direkt im Interesseder Arbeiterklasse und teilweise tief einschneidend in die alteGesellschaftsordnung.«

Engels unterstrich die Worte »dem Staat gegenüber« mit Vorbe-dacht, um haargenau den deutschen Opportunismus zu treffen, derdie Religion der Partei gegenüber zur Privatsache erklärte und aufdiese Weise die Partei des revolutionären Proletariats auf das Ni-

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veau eines banalen "freidenkerischen" Spießertums hinabdrückte,das bereit ist, Konfessionslosigkeit zu dulden, aber auf den Kampfder Partei gegen das volksverdummende Opium Religion verzich-tet.

Der künftige Geschichtsschreiber der deutschen Sozialdemokratiewird beim Aufspüren der Wurzeln ihres schmachvollen Zusam-menbruchs im Jahre 1914 nicht wenig interessantes Material zudieser Frage vorfinden, angefangen von den ausweichenden, demOpportunismus Tür und Tor öffnenden Erklärungen in den ArtikelnKautskys, des ideologischen Führers der Partei, bis zu dem Verhal-ten der Partei zu der "Los-von-der-Kirche-Bewegung" im Jahre1913.

Gehen wir jedoch zu den Lehren über, die Engels zwanzig Jahrenach der Kommune aus ihren Erfahrungen für das kämpfende Pro-letariat zog. Das sind die Lehren, die Engels in den Vordergrundrückte:

»Gerade die unterdrückende Macht der bisherigen zentrali-sierten Regierung, Armee, politische Polizei, Bürokratie, dieNapoleon 1798 geschaffen und die seitdem jede neue Regierungals willkommnes Werkzeug übernommen und gegen ihre Geg-ner ausgenutzt hatte, gerade diese Macht sollte überall fallen,wie sie in Paris bereits gefallen war.

Die Kommune musste gleich von vornherein anerkennen,dass die Arbeiterklasse, einmal zur Herrschaft gekommen,nicht fortwirtschaften könne mit der alten Staatsmaschine;dass diese Arbeiterklasse, um nicht ihrer eignen, erst eben er-oberten Herrschaft wieder verlustig zu gehn, einerseits alle diealte, bisher gegen sie selbst ausgenutzte Unterdrückungsma-schinerie beseitigen, andrerseits aber sich sichern müsse gegenihre eignen Abgeordneten und Beamten, indem sie diese, ohnealle Ausnahme, für jederzeit absetzbar erklärte.«

Engels unterstreicht immer wieder, dass nicht nur in der Monar-chie, sondern auch in der demokratischen Republik der Staat Staatbleibt, d.h. sein grundlegendes Unterscheidungsmerkmal beibehält:

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die beamteten Personen, die "Diener der Gesellschaft", ihre Organein Herren über die Gesellschaft zu verwandeln.

»Gegen diese, in allen bisherigen Staaten unumgängliche Ver-wandlung des Staats und der Staatsorgane aus Dienern der Ge-sellschaft in Herren der Gesellschaft wandte die Kommunezwei unfehlbare Mittel an. Erstens besetzte sie alle Stellen, ver-waltende, richtende, lehrende, durch Wahl nach allgemeinemStimmrecht der Beteiligten, und zwar auf jederzeitigen Wider-ruf durch dieselben Beteiligten. Und zweitens zahlte sie für alleDienste, hohe wie niedrige, nur den Lohn, den andre Arbeiterempfingen. Das höchste Gehalt, das sie überhaupt zahlte, war6.000 Franken25DV. Damit war der Stellenjägerei und dem Stre-bertum ein sichrer Riegel vorgeschoben, auch ohne die gebund-nen Mandate bei Delegierten zu Vertretungskörpern, die nochzum Überfluss hinzugefügt wurden.«

Engels gelangt hier an jene denkwürdige Grenze, wo eine konse-quente Demokratie sich auf der einen Seite in Sozialismus verwan-delt und auf der andern Seite den Sozialismus erfordert. Denn zurAufhebung des Staates ist nötig, dass die Funktionen des Staats-dienstes in solche einfachen Operationen der Kontrolle und Rech-nungsführung verwandelt werden. die für die ungeheure Mehrheitder Bevölkerung und später für die gesamte Bevölkerung ohneAusnahme verständlich und ausführbar sind. Zur völligen Beseiti-gung des Strebertums ist es erforderlich, dass ein "Ehrenamt" imStaatsdienst, auch wenn es nichts einbringt, nicht als Sprungbrettdienen kann, um in hochbezahlte Stellungen bei Banken und Akti-engesellschaften zu gelangen, wie das in allen kapitalistischen Län-dern, auch den freiesten, ständig vorkommt.

Engels begeht aber nicht den Fehler, den z. B. manche Marxistenin der Frage des Selbstbestimmungsrechts der Nationen begehen:

25DV Nominell waren das zirka 2.400 Rubel, nach dem heutigen Kurs [1917] zir-ka 6.000 Rubel. Ganz unverzeihlich handeln die Bolschewiki, die z.B. vorschla-gen, in den städtischen Dumas Gehälter von 9.000 Rubel einzuführen, statt einMaximum von 6.000 Rubel für den ganzen Staat zu beantragen - eine Summe,die durchaus genügen dürfte.

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im Kapitalismus sei die Selbstbestimmung unmöglich und im Sozi-alismus überflüssig. Eine derartige, anscheinend geistreiche, inWirklichkeit aber falsche Argumentation ließe sich über jede belie-bige demokratische Einrichtung wiederholen, auch über die be-scheidenen Beamtengehälter, denn ein vollauf konsequenter Demo-kratismus ist unter dem Kapitalismus unmöglich, im Sozialismuswird aber jede Demokratie absterben.

Das ist eine Sophisterei, die an die alte Scherzfrage erinnert, obein Mensch beginnt kahlköpfig zu werden, wenn er ein Haar ver-liert.

Entwicklung der Demokratie bis zu Ende, Auffinden der Formeneiner solchen Entwicklung, ihre Erprobung in der Praxis usw. - dasalles bildet eine der integrierenden Aufgaben des Kampfes um diesoziale Revolution. Für sich genommen wird kein Demokratismusden Sozialismus bringen. Im Leben aber wird der Demokratismus"nie für sich genommen", sondern er wird mit anderen Erscheinun-gen "zusammengenommen", er wird seinen Einfluss auch auf dieÖkonomik ausüben, ihre Umgestaltung fördern, dem Einfluss derökonomischen Entwicklung unterliegen usw. Das ist die Dialektikder lebendigen Geschichte.

Engels fährt fort:

»Diese Sprengung der bisherigen Staatsmacht und ihre Erset-zung durch eine neue, in Wahrheit demokratische, ist im drit-ten Abschnitt des "Bürgerkriegs" eingehend geschildert. Eswar aber nötig, hier nochmals kurz auf einige Züge derselbeneinzugehen, weil gerade in Deutschland der Aberglaube an denStaat aus der Philosophie sich in das allgemeine Bewusstseinder Bourgeoisie und selbst vieler Arbeiter übertragen hat. Nachder philosophischen Vorstellung ist der Staat die "Verwirkli-chung der Idee" oder das ins Philosophische übersetzte ReichGottes auf Erden, das Gebiet, worauf die ewige Wahrheit undGerechtigkeit sich verwirklicht oder verwirklichen soll. Unddaraus folgt dann eine abergläubische Verehrung des Staatsund alles dessen, was mit dem Staat zusammenhängt, und diesich um so leichter einstellt, als man sich von Kindesbeinen

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daran gewöhnt hat, sich einzubilden, die der ganzen Gesell-schaft gemeinsamen Geschäfte und Interessen könnten nichtanders besorgt werden, als wie sie bisher besorgt worden sind,nämlich durch den Staat und seine wohlbestallten Behörden.Und man glaubt schon einen ganz gewaltig kühnen Schritt ge-tan zu haben, wenn man sich frei gemacht vom Glauben an dieerbliche Monarchie und auf die demokratische Republikschwört. In Wirklichkeit aber ist der Staat nichts als eine Ma-schine zur Unterdrückung einer Klasse durch eine andre, undzwar in der demokratischen Republik nicht minder als in derMonarchie; und im besten Fall ein Übel, das dem im Kampfum die Klassenherrschaft siegreichen Proletariat vererbt wird,und dessen schlimmste Seiten es, ebensowenig wie die Kommu-ne, umhinkönnen wird, sofort möglichst zu beschneiden, bis einin neuen, freien Gesellschaftszuständen herangewachsenes Ge-schlecht imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von sichabzutun.«

Engels ermahnte die Deutschen, bei der Ersetzung der Monarchiedurch eine Republik nicht die Grundlagen des Sozialismus in derFrage des Staates überhaupt zu vergessen. Seine Warnungen lesensich jetzt geradezu wie eine Lektion für die Herren Zereteli undTschernow, die in ihrer "Koalitions"praxis ihren Aberglauben anden Staat und ihre abergläubische Verehrung des Staates offenbarthaben!

Noch zwei Bemerkungen. Erstens: Wenn Engels sagt, dass in ei-ner demokratischen Republik der Staat »nicht minder« als in derMonarchie eine »Maschine zur Unterdrückung einer Klassedurch eine andre« bleibt, so bedeutet das durchaus nicht, dass dieForm der Unterdrückung dem Proletariat gleichgültig sei, wie man-che Anarchisten "lehren". Eine breitere, freiere, offenere Form desKlassenkampfes und der Klassenunterdrückung bedeutet für dasProletariat eine riesige Erleichterung im Kampf um die Aufhebungder Klassen überhaupt.

Zweitens: Die Frage, warum erst ein neues Geschlecht imstandesein wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun, hängt mit

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der Frage der Überwindung der Demokratie zusammen, einer Fra-ge, zu der wir nun übergehen.

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6. Engels über die Überwindung der Demokratie

Engels hatte Gelegenheit, sich darüber zu äußern im Zusammen-hang mit der Frage der wissenschaftlichen Unrichtigkeit der Be-zeichnung "Sozialdemokrat".

Im Vorwort zu einer Ausgabe seiner Aufsätze zu verschiedenenThemen aus den siebziger Jahren hauptsächlich "internationalen"Inhalts ("Internationales aus dem 'Volksstaat'"), datiert vom 3. Ja-nuar 1894, also anderthalb Jahre vor seinem Tod, schrieb Engels, erhabe in allen Aufsätzen das Wort "Kommunist" und nicht "Sozial-demokrat" gebraucht, weil sich damals die Proudhonisten in Frank-reich und die Lassalleaner in Deutschland Sozialdemokraten nann-ten.

»Für Marx und mich«, fährt Engels fort, »war es daher reinunmöglich, zur Bezeichnung unseres speziellen Standpunkts ei-nen Ausdruck von solcher Dehnbarkeit zu wählen. Heute istdas anders, und so mag das Wort« ("Sozialdemokrat") »passie-ren, so unpassend es bleibt für eine Partei, deren ökonomischesProgramm nicht bloß allgemein sozialistisch, sondern direktkommunistisch, und deren politisches letztes Endziel die Über-windung des ganzen Staates, also auch der Demokratie ist. DieNamen wirklicher« (hervorgehoben von Engels) »politischerParteien stimmen aber nie ganz; die Partei entwickelt sich, derName bleibt.«26

Der Dialektiker Engels bleibt am Ende seiner Tage der Dialektiktreu. »Marx und ich«, sagt er, »hatten einen ausgezeichneten,wissenschaftlich exakten Namen für die Partei, aber es fehltedie wirkliche, d.h. die proletarische Massenpartei. jetzt (Endedes 19. Jahrhunderts) existiert eine wirkliche Partei, aber ihrName ist wissenschaftlich unrichtig. Tut nichts, er "mag passie-ren", wenn nur die Partei sich entwickelt, wenn nur die wissen-schaftliche Ungenauigkeit ihres Namens der Partei selbst nichtverborgen bleibt und sie nicht daran hindert, sich in der richti-gen Richtung zu entwickeln!«26 Siehe Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 22, S. 417/418.

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Mancher Spaßvogel könnte am Ende auch uns, die Bolschewiki,nach der Art von Engels trösten wollen: Wir haben eine wirklichePartei, sie entwickelt sich vorzüglich, es mag also auch ein so sinn-loses und monströses Wort wie "Bolschewik" "passieren", dasnichts weiter ausdrückt als den rein zufälligen Umstand, dass wir1903 auf dem Parteitag in Brüssel-London die Mehrheit hatten ...jetzt, da die Verfolgungen unserer Partei im Juli und August durchdie Republikaner und die "revolutionäre" kleinbürgerliche Demo-kratie das Wort "Bolschewik" im ganzen Volk zu einem Ehrenna-men gemacht, jetzt, da diese Verfolgungen außerdem einen so ge-waltigen, historischen Fortschritt unserer Partei in ihrer wirklichenEntwicklung markiert haben - jetzt hätte auch ich vielleicht Beden-ken, wie im April vorzuschlagen, den Namen unserer Partei zu än-dern. Vielleicht würde ich meinen Genossen ein "Kompromiss"vornennen und das Wort Bolschewiki in Klammernbeizubehalten ...

Doch die Frage nach der Benennung der Partei ist unvergleichlichweniger wichtig als die Frage nach dem Verhältnis des revolutionä-ren Proletariats zum Staat.

In den landläufigen Betrachtungen über den Staat wird fortwäh-rend der Fehler begangen, vor dem hier Engels warnt und den wirin der, vorhergegangenen Darlegungen beiläufig gestreift haben.Man vergissst nämlich immer, dass die Aufhebung des Staates auchdie Aufhebung der Demokratie bedeutet, dass das Absterben desStaates ein Absterben der Demokratie ist.

Auf den ersten Blick mag diese Behauptung höchst sonderbar undunverständlich erscheinen; bei manchem dürfte sogar die Befürch-tung aufkommen, dass wir den Anbruch einer Gellschaftsordnungerwarten, in der das Prinzip der Unterordnung der Minderheit unterdie Mehrheit nicht eingehalten werden würde, denn Demokratie seidoch gerade die Anerkennung dieses Prinzips!

Nein. Demokratie ist nicht identisch mit Unterordnung der Min-derheit unter die Mehrheit. Demokratie ist ein die Unterordnung derMinderheit unter die Mehrheit anerkennender Staat, d.h. eine Orga-

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nisation zur systematischen Gewaltanwendung einer Klasse gegendie andere, eines Teils der Bevölkerung gegen den anderen.

Als Endziel setzen wir uns die Abschaffung des Staates, d.h. jederorganisierten und systematischen Gewalt, jeder Gewaltanwendunggegen Menschen überhaupt. Wir erwarten nicht, dass eine Gesell-schaftsordnung anbricht, in der das Prinzip der Unterordnung derMinderheit unter die Mehrheit nicht eingehalten werden würde.Doch in unserem Streben zum Sozialismus sind wir überzeugt, dasser in den Kommunismus hinüberwachsen wird und dass im Zusam-menhang damit jede Notwendigkeit der Gewaltanwendung gegenMenschen überhaupt, der Unterordnung eines Menschen unter denanderen, eines Teils der Bevölkerung unter den anderen verschwin-den wird, denn die Menschen werden sich daran gewöhnen, die ele-mentaren Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens ohne Ge-walt und ohne Unterordnung einzuhalten.

Um dieses Element der Gewohnheit zu betonen, spricht Engelseben von einem neuen Geschlecht, das, "in neuen, freien Gesell-schaftszuständen herangewachsen, imstande sein wird, denganzen Staatsplunder von sich abzutun« - jedes Staatswesen ab-zuschaffen, auch das demokratisch-republikanische.

Um das klarzumachen, bedarf es einer Untersuchung der Fragenach den ökonomischen Grundlagen für das Absterben des Staates.

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V. Kapitel - Die ökonomischen Grundlagen für das Absterben das Staates.

Am ausführlichsten erörtert Marx diese Frage in seiner "Kritikdes Gothaer Programms" (Brief an Bracke vom 5. Mai 1875, veröf-fentlicht erst 1891 in der "Neuen Zeit", Jahrgang IX, 1, in russi-scher Sprache als Broschüre erschienen). Der polemische Teil die-ses bedeutenden Werkes, der aus einer Kritik am Lassalleanertumbesteht, hat seinen positiven Teil, nämlich die Analyse des Zusam-menhangs zwischen der Entwicklung des Kommunismus und demAbsterben des Staates, sozusagen in den Schatten gestellt.

1. Die Fragestellung bei Marx

Bei einem oberflächlichen Vergleich des Briefes von Marx anBracke vom 5. Mai 1875 mit dem oben besprochenen Brief vonEngels an Bebel vom 28. März 1875 könnte es scheinen, als wäreMarx viel mehr "Staatsanhänger" als Engels und als bestünde zwi-schen den Auffassungen der beiden Verfasser über den Staat einganz erheblicher Unterschied.

Engels empfiehlt Bebel, das ganze Gerede vom Staat überhauptfallen zulassen, das Wort "Staat" gänzlich aus dem Programm zuentfernen und es durch das Wort "Gemeinwesen" zu ersetzen; En-gels erklärt sogar, die Kommune sei kein Staat im eigentlichen Sin-ne mehr gewesen. Marx dagegen spricht sogar vom »zukünftigenStaatswesen der kommunistischen Gesellschaft«, d.h., er erkenntscheinbar die Notwendigkeit des Staates selbst im Kommunismusan.

Eine derartige Auffassung wäre jedoch grundfalsch. Eine nähereBetrachtung ergibt, dass sich die Ansichten von Marx und die vonEngels über den Staat und dessen Absterben durchaus decken, dererwähnte Ausdruck von Marx bezieht sich doch gerade auf diesesabsterbende Staatswesen.

Es ist klar, dass von einer Bestimmung des Zeitpunkts des künfti-gen "Absterbens" nicht einmal die Rede sein kann, umso mehr, alses sich offenkundig um einen langwierigen Prozess handelt. Derscheinbare Unterschied zwischen Marx und Engels erklärt sich aus

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der Verschiedenheit der Themen, die sie behandelten, der Aufga-ben, die sie verfolgten. Engels machte es sich zur Aufgabe, Bebelanschaulich, scharf umrissen, in großen Zügen die ganze Unsinnig-keit der landläufigen (und in nicht geringem Maße von Lassalle ge-teilten) Vorurteile in Bezug auf den Staat nachzuweisen. Marxstreift diese Frage nur nebenbei, ihn interessiert ein anderes Thema:die Entwicklung der kommunistischen Gesellschaft.

Die ganze Theorie von Marx ist eine Anwendung der Entwick-lungstheorie - in ihrer konsequentesten, voIlkommensten, durch-dachtesten und inhaltsreichsten Form - auf den modernen Kapitalis-mus. Es ist nur natürlich, dass sich für Marx die Frage nach der An-wendung dieser Theorie auch auf den bevorstehenden Zusammen-bruch des Kapitalismus und die künftige Entwicklung des künfti-gen Kommunismus erhob.

Auf Grund welcher Unterlagen aber kann die Frage nach derkünftigen Entwicklung des künftigen Kommunismus aufgeworfenwerden?

Auf Grund der Tatsache, dass er aus dem Kapitalismus hervor-geht, sich historisch aus dem Kapitalismus entwickelt, das Resultatder Wirkungen einer gesellschaftlichen Kraft ist, die der Kapitalis-mus erzeugt hat. Bei Marx findet sich auch nicht die Spur einesVersuchs, Utopien zu konstruieren, ins Blaue hinein Mutmaßungenanzustellen über das, was man nicht wissen kann. Marx stellt dieFrage des Kommunismus so, wie der Naturforscher die Frage derEntwicklung einer neuen, sagen wir, biologischen Abart stellenwürde, wenn man weiß, dass sie so und so entstanden ist und sichin der und der bestimmten Richtung modifiziert.

Marx räumt vor allem mit der Konfusion auf, die durch das Go-thaer Programm in die Frage nach dem Verhältnis von Staat undGesellschaft hineingetragen wird.27

»Die "heutige Gesellschaft" ist die kapitalistische Gesell-schaft«, schreibt er, »die in allen Kulturländern existiert, mehr

27 Siehe Karl Marx, "Kritik des Gothaer Programms", in Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Bd. 19, S. 28.

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oder weniger frei von mittelaltrigem Beisatz, mehr oder weni-ger durch die besondere geschichtliche Entwicklung jedes Lan-des modifiziert, mehr oder weniger entwickelt. Dagegen der"heutige Staat" wechselt mit der Landesgrenze. Er ist ein ande-rer im preußisch-deutschen Reich als in der Schweiz, ein ande-rer in England als in den Vereinigten Staaten. "Der heutigeStaat" ist also eine Fiktion.

Jedoch haben die verschiednen Staaten der verschiedenenKulturländer trotz ihrer bunten Formverschiedenheit alle dasgemein, dass sie auf dem Boden der modernen bürgerlichenGesellschaft stehen, nur einer mehr oder minder kapitalistischentwickelten. Sie haben daher auch gewisse wesentliche Cha-raktere gemein. In diesem Sinne kann man von "heutigemStaatswesen" sprechen, im Gegensatz zur Zukunft, worin seinejetzige Wurzel, die bürgerliche Gesellschaft, abgestorben ist.

Es fragt sich dann: Welche Umwandlung wird das Staatswe-sen in einer kommunistischen Gesellschaft erleiden? In andernWorten, welche gesellschaftlichen Funktionen bleiben dort üb-rig, die jetzigen Staatsfunktionen analog sind? Diese Frage istnur wissenschaftlich zu beantworten, und man kommt demProblem durch tausendfache Zusammensetzung des WortesVolk mit dem Wort Staat auch nicht um einen Flohsprung nä-her.«28

Nachdem Marx auf diese Weise alles Gerede vom "Volksstaat"lächerlich gemacht hat, gibt er die Problemstellung und warnt ge-wissermaßen davor, bei der wissenschaftlichen Beantwortung derFrage anders als mit feststehenden wissenschaftlichen Angaben zuoperieren.

Das erste, was durch die ganze Entwicklungstheorie, die ganzeWissenschaft überhaupt ganz genau festgestellt wurde, was dieUtopisten vergaßen und die jetzigen Opportunisten, die sich vor dersozialistischen Revolution fürchten, vergessen, ist der Umstand,

28 Siehe Karl Marx, Kritik des Gothaer Programms, in Marx u. Engels, Wer-ke, Bd.19, S.28.

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dass es geschichtlich zweifellos ein besonderes Stadium oder einebesondere Etappe des Übergangs vom Kapitalismus zum Kommu-nismus geben muss.

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2. Der Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismus

»Zwischen der kapitalistischen und der kommunistischen Ge-sellschaft«, fährt Marx fort, »liegt die Periode der revolutionä-ren Umwandlung der einen in die andre. Der entspricht aucheine politische Übergangsperiode, deren Staat nichts andressein kann als die revolutionäre Diktatur des Proletariats.«

Diese Schlussfolgerung beruht bei Marx auf der Analyse der Rol-le, die das Proletariat in der modernen kapitalistischen Gesellschaftspielt, auf den Tatsachen der Entwicklung dieser Gesellschaft undder Unversöhnlichkeit der einander entgegen gesetzten Interessendes Proletariats und der Bourgeoisie.

Früher wurde die Frage so gestellt: Das Proletariat muss, um sei-ne Befreiung zu erlangen, die Bourgeoisie stürzen, die politischeMacht erobern und seine revolutionäre Diktatur errichten.

Jetzt wird die Frage etwas anders gestellt: Der Übergang von derkapitalistischen Gesellschaft, die sich zum Kommunismus hin ent-wickelt, zur kommunistischen Gesellschaft ist unmöglich ohne eine"politische Übergangsperiode", und der Staat dieser Periode kannnur die revolutionäre Diktatur des Proletariats sein.

In welchem Verhältnis steht nun diese Diktatur zur Demokratie?

Wir haben gesehen, dass das "Kommunistische Manifest" einfachzwei Begriffe nebeneinander stellt: »Erhebung des Proletariats zurherrschenden Klasse« und »Erkämpfung der Demokratie«. AufGrund alles oben Gesagten lässt sich genauer bestimmen, wie sichdie Demokratie beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunis-mus verändert.

In der kapitalistischen Gesellschaft, ihre günstigste Entwicklungvorausgesetzt, haben wir in der demokratischen Republik einenmehr oder weniger vollständigen Demokratismus. Dieser Demokra-tismus ist jedoch durch den engen Rahmen der kapitalistischenAusbeutung stets eingeengt und bleibt daher im Grunde genommenstets ein Demokratismus für die Minderheit, nur für die besitzendenKlassen, nur für die Reichen. Die Freiheit der kapitalistischen Ge-

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sellschaft bleibt immer ungefähr die gleiche, die sie in den antikengriechischen Republiken war: Freiheit für die Sklavenhalter. Diemodernen Lohnsklaven bleiben infolge der Bedingungen der kapi-talistischen Ausbeutung so von Not und Elend bedrückt, dass ihnen"nicht nach Demokratie", "nicht nach Politik" der Sinn steht, sodass bei dem gewöhnlichen, friedlichen Gang der Ereignisse dieMehrheit der Bevölkerung von der Teilnahme am öffentlichen undpolitischen Leben ausgeschlossen ist.

Die Richtigkeit dieser Behauptung wird vielleicht am anschau-lichsten durch Deutschland bestätigt, da gerade in diesem Staat dieverfassungsmäßige Legalität sich erstaunlich lange und stabil, na-hezu ein halbes Jahrhundert (1871-1914), behauptet hat, währenddie Sozialdemokratie es verstanden hat, in dieser Zeit viel mehr alsin anderen Ländern die "Legalität auszunutzen" und einen so gro-ßen Teil der Arbeiter in der politischen Partei zu organisieren, wiedas sonst nirgends in der Welt der Fall war.

Wie groß ist nun dieser höchste in der kapitalistischen Gesell-schaft je beobachtete Teil der politisch bewussten und aktivenLohnsklaven? Eine Million Mitglieder der sozialdemokratischenPartei - von fünfzehn Millionen Lohnarbeitern! Drei Millionen ge-werkschaftlich Organisierte von fünfzehn Millionen!

Demokratie für eine verschwindende Minderheit, Demokratie fürdie Reichen - so sieht der Demokratismus der kapitalistischen Ge-sellschaft aus. Sieht man sich den Mechanismus der kapitalisti-schen Demokratie genauer an, so findet man überall, sowohl in den"geringfügigen", angeblich geringfügigen, Einzelheiten des Wahl-rechts (Ansässigkeitsklausel, Ausschließung der Frauen usw.) alsauch in der Technik der Vertretungskörperschaften, in den tatsäch-lichen Behinderungen des Versammlungsrechts (die öffentlichenGebäude sind nicht für "Habenichtse" da!) oder in der rein kapita-listischen Organisation der Tagespresse und so weiter und so fort -überall, wo man hinblickt, Beschränkungen auf Beschränkungendes Demokratismus. Diese Beschränkungen, Ausnahmen, Aus-schließungen und Behinderungen für die Armen erscheinen gering,besonders demjenigen, der selbst nie Not gekannt hat und mit dem

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Leben der unterdrückten Klassen in ihrer Masse nicht in Berührunggekommen ist (und das trifft für neun Zehntel, wenn nicht gar fürneunundneunzig Hundertstel der bürgerlichen Publizisten und Poli-tiker zu) aber zusammengenommen bewirken diese Beschränkun-gen, dass die arme Bevölkerung von der Politik, von der aktivenTeilnahme an der Demokratie ausgeschlossen, verdrängt wird.

Marx hat dieses Wesen der kapita-listischen Demokratie glänzend er-fasst, als er in seiner Analyse derErfahrungen der Kommune sagte:»den Unterdrückten wird in meh-reren Jahren einmal gestattet,darüber zu entscheiden, welcherVertreter der unterdrückendenKlasse sie im Parlament ver- undzertreten soll!«

Doch von dieser kapitalistischenDemokratie - die unvermeidlich engist, die die Armen im stillen beiseiteschiebt und daher durch und durchheuchlerisch und verlogen ist - führt die weitere Entwicklung nichteinfach, geradeswegs und glatt, "zu immer größerer Demokratie",wie die liberalen Professoren und kleinbürgerlichen Opportunistendie Sache darzustellen pflegen. Nein. Die weitere Entwicklung, d.h.die Entwicklung zum Kommunismus, geht über die Diktatur desProletariats und kann auch gar nicht anders gehen, denn außer demProletariat ist niemand imstande, den Widerstand der kapitalisti-schen Ausbeuter zu brechen, und auf anderem Wege ist er nicht zubrechen.

Die Diktatur des Proletariats aber, d.h. die Organisierung derAvantgarde der Unterdrückten zur herrschenden Klasse, um dieUnterdrücker niederzuhalten, kann nicht einfach nur eine Erweite-rung der Demokratie ergeben. Zugleich mit der gewaltigen Erwei-terung des Demokratismus, der zum ersten Mal ein Demokratis-mus für die Armen, für das Volk wird und nicht ein Demokratis-

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mus für die Reichen, bringt die Diktatur des Proletariats eine Reihevon Freiheitsbeschränkungen für die Unterdrücker, die Ausbeuter,die Kapitalisten. Diese müssen wir niederhalten, um die Mensch-heit von der Lohnsklaverei zu befreien, ihr Widerstand muss mitGewalt gebrochen werden, und es ist klar, dass es dort, wo es Un-terdrückung, wo es Gewalt gibt, keine Freiheit, keine Demokratiegibt.

Engels hat das ausgezeichnet in seinem Brief an Bebel zum Aus-druck gebracht, wenn er, wie der Leser sich entsinnen wird, sagt:»Solange das Proletariat den Staat noch gebraucht, gebrauchtes ihn nicht im Interesse der Freiheit, sondern der Niederhal-tung seiner Gegner, und sobald von Freiheit die Rede seinkann, hört der Staat als solcher auf zu bestehen.«

Demokratie für die riesige Mehrheit des Volkes und gewaltsameNiederhaltung der Ausbeuter, der Unterdrücker des Volkes, d.h. ihrAusschluss von der Demokratie - diese Modifizierung erfährt dieDemokratie beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunis-mus.

Erst in der kommunistischen Gesellschaft, wenn der Widerstandder Kapitalisten schon endgültig gebrochen ist, wenn die Kapitalis-ten verschwunden sind, wenn es keine Klassen (d.h. keinen Unter-schied zwischen den Mitgliedern der Gesellschaft in ihrem Verhält-nis zu den gesellschaftlichen Produktionsmitteln) mehr gibt - erstdann »hört der Staat auf zu bestehen, und es kann von Freiheitdie Rede sein«. Erst dann ist eine tatsächlich vollkommene Demo-kratie, tatsächlich ohne jede Ausnahme, möglich und wird verwirk-licht werden. Und erst dann beginnt die Demokratie abzusterben,infolge des einfachen Umstands, dass die von der kapitalistischenSklaverei, von den ungezählten Greueln, Brutalitäten, Widersinnig-keiten und Gemeinheiten der kapitalistischen Ausbeutung befreitenMenschen sich nach und nach gewöhnen werden, die elementaren,von alters her bekannten und seit Jahrtausenden in allen Vorschrif-ten gepredigten Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebenseinzuhalten, sie ohne Gewalt, ohne Zwang, ohne Unterordnung,

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ohne den besonderen Zwangsapparat, der sich Staat nennt, ein-zuhalten.

Der Ausdruck "der Staat stirbt ab" ist sehr treffend gewählt, denner deutet sowohl auf das Allmähliche als auch auf das Elementaredes Prozesses hin. Nur die Gewöhnung kann und wird zweifelloseine solche Wirkung ausüben, denn wir beobachten rings um unsmillionenfach, wie leicht sich Menschen an die Einhaltung der fürsie notwendigen Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebensgewöhnen, wenn die Ausbeutung fehlt, wenn nichts vorhanden ist,was sie empört, sie zu Protest und Auflehnung herausfordert, wasdie Notwendigkeit der Niederhaltung schafft.

Also: In der kapitalistischen Gesellschaft haben wir eine gestutz-te, dürftige, falsche Demokratie, eine Demokratie nur für die Rei-chen, für eine Minderheit. Die Diktatur des Proletariats, die Periodedes Übergangs zum Kommunismus, wird zum ersten Mal Demo-kratie für das Volk, für die Mehrheit bringen, aber zugleich wird sienotwendigerweise eine Minderheit, die Ausbeuter, niederhalten.Einzig und allein der Kommunismus ist imstande, eine wahrhaftvollständige Demokratie zu bieten, und je vollständiger diese seinwird, umso schneller wird sie entbehrlich werden, wird sie vonselbst absterben.

Mit anderen Worten: Im Kapitalismus haben wir den Staat im ei-gentlichen Sinne des Wortes, eine besondere Maschine zur Unter-drückung einer Klasse durch eine andere, und zwar der Mehrheitdurch eine Minderheit. Damit eine solche Sache wie die systemati-sche Unterdrückung der Mehrheit der Ausgebeuteten durch dieMinderheit der Ausbeuter erfolgreich ist, bedarf es natürlich dergrößten Grausamkeit und bestialischer Unterdrückung, sind Meerevon Blut nötig, durch die denn auch die Menschheit im Zustand derSklaverei, der Leibeigenschaft und der Lohnarbeit ihren Weg geht.

Weiter. Beim Übergang vom Kapitalismus zum Kommunismusist die Unterdrückung noch notwendig, aber es ist das bereits eineUnterdrückung der Minderheit der Ausbeuter durch die Mehrheitder Ausgebeuteten. Ein besonderer Apparat, eine besondere Ma-schine zur Unterdrückung, ein "Staat" ist noch notwendig, aber es

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ist das bereits ein Übergangsstaat, kein Staat im eigentlichen Sinnemehr, denn die Niederhaltung der Minderheit der Ausbeuter durchdie Mehrheit der Lohnsklaven von gestern ist eine so verhältnismä-ßig leichte, einfache und natürliche Sache, dass sie viel wenigerBlut kosten wird als die Unterdrückung von Aufständen der Skla-ven, Leibeigenen und Lohnarbeiter, dass sie der Menschheit weitbilliger zu stehen kommen wird. Und sie ist vereinbar mit der Aus-dehnung der Demokratie auf eine so überwältigende Mehrheit derBevölkerung, dass die Notwendigkeit einer besonderen Maschinezur Unterdrückung zu schwinden beginnt. Die Ausbeuter sind na-türlich nicht imstande, das Volk niederzuhalten ohne eine sehrkomplizierte Maschine zur Erfüllung dieser Aufgabe, das Volk abervermag die Ausbeuter mit einer sehr einfachen "Maschine", ja na-hezu ohne "Maschine", ohne einen besonderen Apparat niederzu-halten, durch die einfache Organisation der bewaffneten Massen (inder Art der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, sei vor-greifend bemerkt).

Schließlich macht allein der Kommunismus den Staat völlig über-flüssig, denn es ist niemand niederzuhalten, "niemand" im Sinne ei-ner Klasse, im Sinne des systematischen Kampfes gegen einen be-stimmten Teil der Bevölkerung. Wir sind keine Utopisten und leug-nen durchaus nicht die Möglichkeit und Unvermeidlichkeit vonAusschreitungen einzelner Personen und ebenso wenig die Not-wendigkeit, solche Ausschreitungen zu unterdrücken. Aber erstensbedarf es dazu keiner besonderen Maschine, keines besonderen Un-terdrückungsapparates; das wird das bewaffnete Volk selbst mit dergleichen Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit bewerkstelligen,mit der eine beliebige Gruppe zivilisierter Menschen sogar in derheutigen Gesellschaft Raufende auseinander bringt oder eine Frauvor Gewalt schützt. Zweitens wissen wir, dass die soziale Grundur-sache der Ausschreitungen, die eine Verletzung der Regeln des ge-sellschaftlichen Zusammenlebens bedeuten, in der Ausbeutung derMassen, ihrer Not und ihrem Elend zu suchen ist.

Mit der Beseitigung dieser Hauptursache werden die Ausschrei-tungen unvermeidlich "abzusterben" beginnen. Wir wissen nicht,wie rasch und in welcher Folge das geschehen wird, aber wir wis-

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sen, dass sie absterben werden. Mit dem Absterben der Ausschrei-tungen wird auch der Staat absterben.

Ohne sich auf Utopien einzulassen, hat Marx das näher bestimmt,was sich jetzt über diese Zukunft bestimmen lässt, nämlich den Un-terschied zwischen der niederen und der höheren Phase (Stufe,Etappe) der kommunistischen Gesellschaft.

Geiler fetter Profit

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3. Die erste Phase der kommunistischen Gesellschaft

In der "Kritik des Gothaer Programms" widerlegt Marx einge-hend die Lassallesche Idee, der Arbeiter werde im Sozialismus den"unverkürzten" oder "vollen Arbeitsertrag" erhalten. Marx zeigt,dass von dem gesellschaftlichen Gesamtprodukt ein Reservefondsabzuziehen ist, ein Fonds für die Ausdehnung der Produktion, fer-ner für Ersatz der "verbrauchten" Maschinen u. dgl. m., sodann ausden Konsumtionsmitteln ein Fonds für Verwaltungskosten, fürSchulen, Krankenhäuser, Altersheime usw.

An Stelle der nebelhaften, unklaren, allgemeinen Phrase Lassalles("dem Arbeiter den vollen Arbeitsertrag") gibt Marx eine nüchterneBerechnung, wie die sozialistische Gesellschaft zu wirtschaften ge-zwungen sein wird. Marx analysiert konkret die Lebensbedingun-gen einer solchen Gesellschaft, in der es keinen Kapitalismus gebenwird, und sagt:

»Womit wir es hier zu tun haben« (bei der Erörterung des Pro-gramms der Arbeiterpartei), »ist eine kommunistische Gesell-schaft, nicht wie sie sich auf ihrer eigenen Grundlage entwi-ckelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalisti-schen Gesellschaft hervorgeht; die also in jeder Beziehung,ökonomisch, sittlich, geistig, noch behaftet ist mit den Mutter-malen der alten Gesellschaft, aus deren Schoß sie herkommt.«

Eben diese kommunistische Gesellschaft, die gerade aus demSchoße des Kapitalismus ans Tageslicht tritt, die in jeder Bezie-hung mit den Muttermalen der alten Gesellschaft behaftet ist, be-zeichnet Marx als die "erste" oder niedere Phase der kommunisti-schen Gesellschaft.

Die Produktionsmittel sind schon nicht mehr Privateigentum ein-zelner Personen. Die Produktionsmittel gehören der ganzen Gesell-schaft. Jedes Mitglied der Gesellschaft leistet einen gewissen Teilgesellschaftlich notwendiger Arbeit und erhält von der Gesellschafteinen Schein darüber, dass es ein gewisses Quantum Arbeit gelie-fert hat. Auf diesen Schein erhält es ein entsprechendes QuantumProdukte aus den gesellschaftlichen Vorräten an Konsumtionsmit-

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teln. Nach Abzug des Arbeitsquantums, das für die gemeinschaftli-chen Fonds bestimmt ist, erhält jeder Arbeiter also von der Gesell-schaft so viel zurück, wie er ihr gegeben hat.

Es herrscht gewissermaßen "Gleichheit".

Wenn aber Lassalle von dieser Gesellschaftsordnung (die ge-wöhnlich als Sozialismus bezeichnet wird, während Marx sie alserste Phase des Kommunismus bezeichnet) meint, das wäre eine»gerechte Verteilung«, das wäre »gleiches Recht eines jeden aufden gleichen Arbeitsertrag«, so irrt er, und Marx deckt seinen Irr-tum auf.

»Gleiches Recht«, sagt Marx, haben wir hier allerdings, es istaber noch das "bürgerliche Recht", das, wie alles Recht, Ungleich-heit voraussetzt. Jedes Recht besteht in Anwendung von gleichemMaßstab auf ungleiche Individuen, die in Wirklichkeit verschieden,untereinander ungleich, sind; das "gleiche Recht" ist daher eineVerletzung der Gleichheit und eine Ungerechtigkeit. In der Tat er-hält jeder, der den gleichen Teil gesellschaftlicher Arbeit geleistethat wie die anderen, den gleichen Anteil am gesellschaftlichen Pro-dukt (nach den erwähnten Abzügen).

Indes sind die einzelnen Menschen nicht gleich: Der eine ist stär-ker, der andere schwächer: der eine ist verheiratet, der andere nicht,der eine hat mehr Kinder als der andere usw.

»Bei gleicher Arbeitsleistung«, folgert Marx, »und daher glei-chem Anteil an dem gesellschaftlichen Konsumtionsfonds erhältalso der eine faktisch mehr als der andre, ist der eine reicher als derandre etc. Um alle diese Missstände zu vermeiden, müsste dasRecht, statt gleich, ungleich sein.«

Gerechtigkeit und Gleichheit kann also die erste Phase des Kom-munismus noch nicht bringen: Unterschiede im Reichtum, undzwar ungerechte Unterschiede bleiben bestehen, unmöglich aberwird die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen sein, dennes wird nicht mehr möglich sein, die Produktionsmittel, die Fabri-ken, Maschinen. den Grund und Boden usw., als Privateigentum ansich zu reißen. Marx zerchlägt die kleinbürgerliche, unklare Phrase

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Lassalles von "Gleichheit' und "Gerechtigkeit" schlechthin undzeigt dabei den Entwicklungsgang der kommunistischen Gesell-schaft, die gezwungen ist, zunächst nur die "Ungerechtigkeit" zubeseitigen, dass die Produktionsmittel von einzelnen Personen an-geeignet sind, und vorerst nicht imstande ist, mit einem Schlagauch die weitere Ungerechtigkeit zu beseitigen, die in der Vertei-lung der Konsumtionsmittel "nach der Arbeitsleistung" (und nichtnach den Bedürfnissen) besteht.

Die Vulgärökonomen, darunter bürgerliche Professoren mitsamt"unserm" Tugan, machen den Sozialisten ständig zum Vorwurf,dass sie die Ungleichheit der Menschen vergessen und von einerBeseitigung dieser Ungleichheit "träumen". Ein solcher Vorwurfbeweist, wie wir sehen, nur grenzenlose Ignoranz der Herren bür-gerlichen Ideologen.

Marx zieht nicht nur auf das genaueste die unvermeidliche Un-gleichheit der Menschen in Betracht, er berücksichtigt auch, dassder bloße Übergang der Produktionsmittel in das Gemeineigentumder gesamten Gesellschaft ("Sozialismus" im landläufigen Ge-brauch des Wortes) die Mängel der Verteilung und die Ungleich-heit des "bürgerlichen Rechts" nicht beseitigt, das weiter herrscht,solange die Produkte "nach der Arbeitsleistung" verteilt werden.

»Aber diese Mißstände«, fährt Marx fort, »sind unvermeidbarin der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft, wie sieeben aus der kapitalistischen Gesellschaft nach langen Ge-burtswehen hervorgegangen ist. Das Recht kann nie höher seinals die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kultu-rentwicklung der Gesellschaft.«

Somit wird in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft(die gewöhnlich Sozialismus genannt wird) das bürgerliche Rechtnicht vollständig abgeschafft, sondern nur zum Teil, nur entspre-chend der bereits erreichten ökonomischen Umwälzung, d.h. ledig-lich in Bezug auf die Produktionsmittel. Das "bürgerliche Recht"sieht in ihnen das Privateigentum einzelner Individuen. Der Sozia-lismus macht sie zum Gemeineigentum. Insofern - und nur insofern- fällt das "bürgerliche Recht" fort.

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Es bleibt jedoch in sei-nem anderen Teil beste-hen, es bleibt als Regula-tor (Ordner) bei der Ver-teilung der Produkte undder Arbeit unter die Mit-glieder der Gesellschaft.»Wer nicht arbeitet,soll auch nicht essen",dieses sozialistischePrinzip ist schon ver-wirklicht; »für das glei-che Quantum Arbeit das gleiche Quantum Produkte« - auchdieses sozialistische Prinzip ist schon verwirklicht. Das ist jedochnoch nicht Kommunismus, und das beseitigt noch nicht das "bür-gerliche Recht", das ungleichen Individuen für ungleiche (faktischungleiche) Arbeitsmengen die gleiche Menge Produkte zuweist.

Das ist ein "Missstand", sagt Marx, aber er ist in der ersten Phasedes Kommunismus unvermeidbar, denn will man nicht in Utopienverfallen, so darf man nicht annehmen, dass die Menschen sofortnach dem Sturz des Kapitalismus lernen werden, ohne alle Rechts-normen für die Allgemeinheit zu arbeiten, sind doch die ökonomi-schen Voraussetzungen für eine solche Änderung durch die Ab-schaffung des Kapitalismus nicht sofort gegeben.

Andere Normen aber als die des bürgerlichen Rechts sind nichtvorhanden. insofern bleibt noch die Notwendigkeit des Staates be-stehen, der unter Wahrung des gesellschaftlichen Eigentums an denProduktionsmitteln die Gleichheit der Arbeitsleistung und dieGleichheit bei der Verteilung der Produkte zu schützen hat.

Der Staat stirbt ab, insofern es keine Kapitalisten, keine Klassenmehr gibt und man daher auch keine Klasse mehr unterdrückenkann.

Der Staat ist aber noch nicht ganz abgestorben, denn noch bleibtdie Wahrung des "bürgerlichen Rechts", das die faktische Un-

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gleichheit sanktioniert. Zum vollständigen Absterben des Staatesbedarf es des vollständigen Kommunismus.

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4. Die höhere Phase der kommmunistischen Gesellschaft

Marx fährt fort:

»In einer höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft,nachdem die knechtende Unterordnung der Individuen unterdie Teilung der Arbeit, damit auch der Gegensatz geistiger undkörperlicher Arbeit verschwunden ist; nachdem die Arbeitnicht nur Mittel zum Leben, sondern selbst das erste Lebensbe-dürfnis geworden: nachdem mit der allseitigen Entwicklungder Individuen auch die Produktionskräfte gewachsen sind undalle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums vollerfließen - erst dann kann der enge bürgerliche Rechtshorizontganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fah-nen schreiben: jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach sei-nen Bedürfnissen!«

Erst jetzt können wir die ganze Richtigkeit der Bemerkungen vonEngels einschätzen, in denen er unerbittlich die Verbindung derWörter "Freiheit" und "Staat" als unsinnig verspottete. Solange es

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einen Staat gibt, gibt es keine Freiheit. Wenn es Freiheit gebenwird, wird es keinen Staat geben.

Die ökonomische Grundlage für das vollständige Absterben desStaates ist eine so hohe Entwicklung des Kommunismus, dass derGegensatz von geistiger und körperlicher Arbeit verschwindet,folglich eine der wichtigsten Quellen der heutigen gesellschaftli-chen Ungleichheit beseitigt wird, und zwar eine Quelle, die durchden bloßen Übergang der Produktionsmittel in Gemeineigentum,durch die bloße Expropriation der Kapitalisten keinesfalls mit ei-nem Schlag aus der Welt geschafft werden kann.

Diese Expropriation wird eine enorme Entwicklung der Produk-tivkräfte ermöglichen.

Und wenn wir sehen, wie schon jetzt der Kapitalismus in un-glaublicher Weise diese Entwicklung aufhält, wie vieles auf Grundder heutigen, bereits erreichten Technik vorwärts gebracht werdenkönnte, so sind wir berechtigt, mit voller Überzeugung zu sagen,dass die Expropriation der Kapitalisten unausbleiblich eine gewalti-ge Entwicklung der Produktivkräfte der menschlichen Gesellschaftzur Folge haben wird. Wie rasch aber diese Entwicklung weiterge-hen wird, wie schnell sie zur Aufhebung der Arbeitsteilung, zur Be-seitigung des Gegensatzes von geistiger und körperlicher Arbeit,

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zur Verwandlung der Arbeit in "das erste Lebensbedürfnis" führenwird, das wissen wir nicht und können wir nicht wissen.

Wir sind daher auch nur berechtigt, von dem unvermeidlichenAbsterben des Staates zu sprechen. Dabei betonen wir, dass dieserProzess von langer Dauer ist und vom Entwicklungstempo der hö-heren Phase des Kommunismus abhängt, wobei wir die Frage derFristen oder der konkreten Formen des Absterbens vollkommen of-fenlassen, denn Unterlagen zur Entscheidung dieser Fragen gibt esnicht.

Der Staat wird dann völlig absterben können, wenn die Gesell-schaft den Grundsatz "jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nachseinen Bedürfnissen" verwirklicht haben wird, d.h. wenn die Men-schen sich so an das Befolgen der Grundregeln des gesellschaftli-chen Zusammenlebens gewöhnt haben werden und ihre Arbeit soproduktiv sein wird, dass sie freiwillig nach ihren Fähigkeiten ar-beiten werden. Der "enge bürgerliche Rechtshorizont", der dazuzwingt, mit der Hartherzigkeit eines Shylock bedacht zu sein, nur janicht eine halbe Stunde länger zu arbeiten als der andere und keinegeringere Bezahlung zu erhalten als der andere - dieser enge Hori-zont wird dann überschritten sein. Die Verteilung der Produktewird dann von der Gesellschaft keine Normierung der jedem ein-

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zelnen zukommenden Menge erfordern; jeder wird frei "nach sei-nen Bedürfnissen" nehmen.

Vom bürgerlichen Standpunkt aus ist es leicht, eine solche Ge-sellschaftsstruktur als "reine Utopie" hinzustellen und darüber zuspotten, dass die Sozialisten jedem das Recht zusichern, von derGesellschaft ohne jegliche Kontrolle über die Arbeitsleistung deseinzelnen Bürgers eine beliebige Menge Trüffeln, Autos, Klaviereu. dgl. m. zu erhalten. Die meisten bürgerlichen "Gelehrten" be-schränken sich auch bis auf den heutigen Tag auf dieses Spottenund verraten dadurch nur ihre Ignoranz und ihre eigennützige Ver-teidigung des Kapitalismus.

Ignoranz, denn es ist keinem Sozialisten je eingefallen, "zuzusi-chern", dass die höhere Phase der Entwicklung des Kommunismuseintreten wird; die Voraussicht der großen Sozialisten aber, dass sieeintreten wird, hat nicht die heutige Arbeitsproduktivität und nichtden heutigen Spießer zur Voraussetzung, der es fertig brächte, etwawie die Seminaristen bei Pomjalowski (E), "für nichts und wiedernichts" Magazine gesellschaftlicher Vorräte zu beschädigen undUnmögliches zu verlangen.

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Bis die "höhere" Phase des Kommunismus eingetreten sein wird,fordern die Sozialisten die strengste Kontrolle seitens der Gesell-schaft und seitens des Staates über das Maß der Arbeit und dasMaß der Konsumtion, aber diese Kontrolle muss mit der Expropria-tion der Kapitalisten beginnen, mit der Kontrolle der Arbeiter überdie Kapitalisten, und darf nicht von einem Beamtenstaat durchge-führt werden, sondern von dem Staat der bewaffneten Arbeiter.

Die eigennützige Verteidigung des Kapitalismus durch die bür-gerlichen Ideologen (und ihre Schleppenträger vom Schlage derHerren Zereteli, Tschernow und Co.) besteht gerade darin, dass siedie dringende, aktuelle Frage der heutigen Politik in Diskussionenund Gerede über die ferne Zukunft umfälschen, und zwar die Frageder Expropriation der Kapitalisten, der Umwandlung aller Bürgerin Arbeiter und Angestellte eines großen "Syndikats", nämlich desganzen Staates, und der völligen Unterordnung der gesamten Arbeitdieses ganzen Syndikats unter den wahrhaft demokratischen Staat,den Staat der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten.

Wenn der gelehrte Professor und mit ihm der Spießer und dieHerren Zereteli und Tschemow von hirnverbrannten Utopien, vondemagogischen Versprechungen der Bolschewiki, von der Unmög-lichkeit der Einführung- des Sozialismus reden, dann meinen sie imGrunde genommen das höhere Stadium, die höhere Phase desKommunismus, die "einzuführen" niemand versprochen, ja nichteinmal im Sinn gehabt hat, denn ,einführen' lässt sie sich überhauptnicht.

Hier sind wir bei der Frage des wissenschaftlichen Unterschiedszwischen Sozialismus und Kommunismus angelangt, die Engels inseiner oben erwähnten Betrachtung über die Unrichtigkeit der Be-zeichnung "Sozialdemokraten" berührt. Politisch wird der Unter-schied zwischen der ersten oder niederen und der höheren Phasedes Kommunismus mit der Zeit wahrscheinlich ungeheuer großsein, doch wäre es lächerlich, jetzt, im Kapitalismus, diesen Unter-schied hervorzuheben; ihn in den Vordergrund rücken könntenhöchstens vereinzelte Anarchisten (falls unter den Anarchistennoch Leute übrig geblieben sind, die nichts hinzugelemt haben,

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nachdem sich die Kropotkin, Grave, Cornelissen und andere"Leuchten" des Anarchismus auf "Plechanowsche" Art in Sozial-chauvinisten oder in Schützengraben-Anarchisten verwandelt ha-ben - wie sich Ge, einer der wenigen Anarchisten, die noch Ehreund Gewissen bewahrt haben, ausgedrückt hat).

Doch der wissenschaftliche Unterschied zwischen Sozialismusund Kommunismus ist klar. Was gewöhnlich als Sozialismus be-zeichnet wird, nannte Marx die "erste" oder niedere Phase derkommunistischen Gesellschaft. Insofern die ProduktionsmittelGemeineigentum werden, ist das Wort "Kommunismus" auch hieranwendbar, wenn man nicht vergisst, dass es kein vollkommenerKommunismus ist. Die große Bedeutung der Erörterungen vonMarx besteht darin, dass er auch hier konsequent die materialisti-sche Dialektik, die Entwicklungslehre, anwendet, indem er denKommunismus als etwas betrachtet, das sich aus dem Kapitalismusentwickelt. An Stelle scholastisch ausgeklügelter, "erdachter" Defi-nitionen und fruchtloser Wortklaubereien (was Sozialismus, wasKommunismus sei) gibt Marx eine Analyse dessen, was man alsStufen der ökonomischen Reife des Kommunismus bezeichnenkönnte.

In seiner ersten Phase, auf seiner ersten Stufe kann der Kommu-nismus ökonomisch noch nicht völlig reif, völlig frei von den Tra-ditionen, von den Spuren des Kapitalismus sein. Daraus erklärt sicheine so interessante Erscheinung wie das Fortbestehen des "engenbürgerlichen Rechtshorizonts" während der ersten Phase des Kom-munismus. Das bürgerliche Recht setzt natürlich in Bezug auf dieVerteilung der Konsumtionsmittel unvermeidlich auch den bürger-lichen Staat voraus, denn Recht ist nichts ohne einen Apparat, derimstande wäre, die Einhaltung der Rechtsnormen zu erzwingen.

So ergibt sich, dass im Kommunismus nicht nur, das bürgerlicheRecht eine gewisse Zeit fortbesteht, sondern sogar auch der bürger-liche Staat ohne Bourgeoisie!

Das mag paradox oder einfach als dialektisches Gedankenspielerscheinen, wie das vielfach dem Marxismus von Leuten zum Vor-

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wurf gemacht wird, die sich nicht im geringsten die Mühe genom-men haben, seinen überaus tiefen Gehalt zu ergründen.

In Wirklichkeit zeigt uns doch das Leben auf Schritt und Tritt, so-wohl in der Natur als auch in der Gesellschaft, Überreste des Altenim Neuen. Und Marx hat nicht willkürlich ein Stückchen "bürgerli-chen" Rechts in den Kommunismus hineingebracht, sondern hatdas genommen, was wirtschaftlich und politisch in einer aus demSchoß des Kapitalismus hervorgehenden Gesellschaft unvermeid-lich ist.

Die Demokratie ist im Befreiungskampf der Arbeiterklasse gegendie Kapitalisten von gewaltiger Bedeutung. Die Demokratie ist aberdurchaus keine unüberschreitbare Grenze, sondern lediglich eineder Etappen auf dem Wege vom Feudalismus zum Kapitalismusund vom Kapitalismus zum Kommunismus.

Demokratie bedeutet Gleichheit. Es ist begreiflich, welch großeBedeutung der Kampf des Proletariats um die Gleichheit und dieLosung der Gleichheit haben, wenn man sie richtig, im Sinne derAufhebung der Klassen auffasst. Aber Demokratie bedeutet nur for-male Gleichheit. Und sofort nach der Verwirklichung der Gleich-heit aller Mitglieder der Gesellschaft in Bezug auf den Besitz derProduktionsmittel, d.h. der Gleichheit der Arbeit, der Gleichheitdes Arbeitslohnes, wird sich vor der Menschheit unvermeidlich dieFrage erheben, wie sie von der formalen zur tatsächlichen Gleich-heit, d.h. zur Verwirklichung des Satzes "jeder nach seinen Fähig-keiten, jedem nach seinen Bedürfnissen" weiter schreiten soll. Wel-che Etappen die Menschheit auf dem Wege zu diesem höheren Zieldurchschreiten wird, welche praktischen Maßnahmen sie hierzu er-greifen wird, wissen wir nicht und können wir nicht wissen. Es istaber wichtig, dass wir uns darüber klar werden, wie grenzenlos ver-logen die landläufige bürgerliche Vorstellung ist, der Sozialismussei etwas Totes, Erstarrtes, ein für allemal Gegebenes, während inWirklichkeit erst mit dem Sozialismus die rasche, wirkliche, wahr-hafte Vorwärtsbewegung der Massen auf allen Gebieten des öffent-lichen und persönlichen Lebens, zunächst unter Teilnahme der

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Mehrheit der Bevölkerung und später der gesamten Bevölkerung,einsetzen wird.

Die Demokratie ist eine Staatsform, eine der Spielarten des Staa-tes. Folglich ist sie, wie jeder Staat, eine organisierte, systematischeGewaltanwendung gegenüber Menschen. Das ist die eine Seite. An-derseits bedeutet Demokratie aber die formale Anerkennung derGleichheit zwischen den Bürgern, des gleichen Rechtes aller, dieStaatsverfassung zu bestimmen und den Staat zu verwalten. Daswiederum hat zur Folge, dass die Demokratie auf einer bestimmtenEntwicklungsstufe erstens die dem Kapitalismus gegenüber revolu-tionäre Klasse, das Proletariat, zusammenschließt und ihr die Mög-lichkeit gibt, die bürgerliche, und sei es auch eine bürgerlich-repu-blikanische, Staatsmaschine - stehendes Heer, Polizei, Beamtentum- zu zerbrechen, in Scherben zu schlagen, aus der Welt zu schaffen,sie durch eine demokratischere Staatsmaschine, aber immerhinnoch durch eine Staatsmaschine zu ersetzen, bestehend aus bewaff-neten Arbeitermassen, die dazu übergehen, das gesamte Volk zurBeteiligung an der Miliz heranzuziehen.

Hier "schlägt Quantität in Qualität um": Eine solche Stufe desDemokratismus ist mit der Sprengung des Rahmens der bürgerli-chen Gesellschaft, mit dem Beginn ihrer sozialistischen Umgestal-tung verbunden. Wenn tatsächlich alle an der Verwaltung des Staa-tes teilnehmen, dann kann sich der Kapitalismus nicht länger hal-ten. Die Entwicklung des Kapitalismus schafft ihrerseits die Vor-aussetzungen dafür, dass wirklich "alle" an der Leitung des Staatesteilnehmen können. Zu diesen Voraussetzungen gehört die allge-meine Schulbildung, die in den fortgeschrittensten kapitalistischenLändern bereits eingeführt ist, ferner die "Schulung und Diszipli-nierung" von Millionen Arbeitern durch den umfassenden, kompli-zierten, vergesellschafteten Apparat der Post, der Eisenbahnen, derGroßbetriebe, des Großhandels, des Bankwesens usw. usf.

Unter solchen ökonomischen Voraussetzungen ist es durchausmöglich, unverzüglich, von heute auf morgen, dazu überzugehen,die Kapitalisten und Beamten, nachdem sie gestürzt sind, bei derKontrolle über Produktion und Verteilung, bei der Registrierung

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der Arbeit und der Produkte, durch bewaffnete Arbeiter, durch dasgesamte bewaffnete Volk zu ersetzen. (Man verwechsle nicht dieFrage der Kontrolle und Rechnungsführung mit der Frage des wis-senschaftlich ausgebildeten Personals, der Ingenieure, Agronomenu.a.: Diese Herrschaften arbeiten heute und fügen sich den Kapita-listen, sie werden morgen noch besser arbeiten und sich den be-waffneten Arbeitern fügen.)

Rechnungsführung und Kontrolle - das ist das Wichtigste, waszum "Ingangsetzen", zum richtigen Funktionieren der kommunisti-schen Gesellschaft in ihrer ersten Phase erforderlich ist. Alle Bür-ger verwandeln sich hier in entlohnte Angestellte des Staates, dendie bewaffneten Arbeiter bilden. Alle Bürger werden Angestellteund Arbeiter eines das gesamte Volk umfassenden Staats"syndi-kats". Es handelt sich nur darum, dass sie alle gleichermaßen arbei-ten, das Maß der Arbeit richtig einhalten und gleichermaßen Lohnbekommen. Die Rechnungsführung und Kontrolle darüber ist durchden Kapitalismus bis zum äußersten vereinfacht, in außergewöhn-lich einfache Operationen verwandelt worden, die zu verrichten je-der des Lesens und Schreibens Kundige imstande ist, er braucht nurzu beaufsichtigen und zu notieren, es genügt, dass er die vierGrundrechnungsarten beherrscht und entsprechende Quittungenausstellen kann.29DV

Wenn die Mehrheit des Volkes anfangen wird, selbständig aller-orts eine solche Rechnungsführung, eine solche Kontrolle über dieKapitalisten (die nunmehr Angestellte geworden sind) und über dieHerren Intellektuellen, die kapitalistische Allüren beibehalten ha-ben, auszuüben, dann wird diese Kontrolle eine wirklich universel-le, allgemeine, eine wirkliche Volkskontrolle werden, dann wirdman sich ihr auf keine Weise entziehen können, wird man sich vorihr "nirgends retten" können.

29DV Wenn der Staat im wesentlichen Teil seiner Funktionen auf eine solcheRechnungsführung und Kontrolle durch die Arbeiter selbst reduziert wird, hörter auf, ein „politischer Staat“ zu sein, dann „verwandeln sich die öffentlichenFunktionen aus politischen in einfache administrative Funktionen“ (vgl. oben,Kapitel IV, Abschnitt 2, über Engels’ Polemik gegen die Anarchisten).

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Die gesamte Gesellschaft wird ein Büro und eine Fabrik mit glei-cher Arbeit und gleichem Lohn sein.

Aber diese "Fabrik"disziplin, die das siegreiche Proletariat nachdem Sturz der Kapitalisten, nach Beseitigung der Ausbeuter auf diegesamte Gesellschaft erstrecken wird, ist nichts weniger als unserIdeal oder unser Endziel, sie ist nur eine Stufe, die notwendig istzur radikalen Reinigung der Gesellschaft von den Niederträchtig-keiten und Gemeinheiten der kapitalistischen Ausbeutung, eineStufe, um weiter vorwärtsschreiten zu können.

Von dem Zeitpunkt an, da alle Mitglieder der Gesellschaft oderwenigstens ihre übergroße Mehrheit selbst gelernt haben, den Staatzu regieren, selbst die Staatsregierung in ihre Hände genommen ha-ben, die Kontrolle "in Gang gebracht" haben über die verschwin-dend kleine Minderheit der Kapitalisten, über die Herzchen, die diekapitalistischen Allüren gern bewahren möchten, über die Arbeiter,die durch den Kapitalismus tief demoralisiert worden sind - vondiesem Zeitpunkt an beginnt die Notwendigkeit jeglichen Regie-rens überhaupt zu schwinden. Je vollständiger die Demokratie,umso näher der Zeitpunkt, zu dem sie überflüssig wird. Je demo-kratischer der "Staat", der aus bewaffneten Arbeitern besteht und"schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr" ist, umso rascher be-ginnt jeder Staat abzusterben.

Denn wenn alle gelernt haben werden, selbständig die gesell-schaftliche Produktion zu leiten, und sie in der Tat leiten werden,wenn sie selbständig die Rechnungsführung und die Kontrolle überMüßiggänger, Herrensöhnchen, Gauner und ähnliche "Hüter derTraditionen des Kapitalismus" verwirklichen, dann wird das umge-hen dieser vom ganzen Volk durchgeführten Rechnungsführungund Kontrolle unvermeidlich so ungeheuer schwierig werden, eineso höchst seltene Ausnahme bilden und wahrscheinlich eine so ra-sche und ernsthafte Bestrafung nach sich ziehen (denn die bewaff-neten Arbeiter sind Menschen des praktischen Lebens, keine senti-mentalen Intelligenzler und werden kaum mit sich spaßen lassen),dass die Notwendigkeit zur Einhaltung der unkomplizierten

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Grundregeln für jedes Zusammenleben von Menschen sehr bald zurGewohnheit werden wird.

Dann wird das Tor zum Übergang von der ersten Phase der kom-munistischen Gesellschaft zu ihrer höheren Phase und damit auchzum völligen Absterben des Staates weit geöffnet sein.

Dann gibt es nur noch Verwaltungen

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Vl. Kapitel - Die Vulgarisierung des Marxismusdurch die Opportunisten

Die Frage nach dem Verhältnis des Staates zur sozialen Revoluti-on und der sozialen Revolution zum Staat hat die prominentestenTheoretiker und Publizisten der II. Internationale (1889-1914) sehrwenig beschäftigt, ebensowenig wie die Frage der Revolution über-haupt. Aber das Charakteristischste an dem Prozess des stetigenAnwachsens des Opportunismus, der 1914 zum Zusammenbruchder II. Internationale geführt hat, ist, dass man selbst da, wo man andiese Frage hart herangekommen war, sie zu umgehen suchte odersie nicht bemerkte.

Im Ganzen und Großen und kann man sagen, dass das Auswei-chen vor der Frage des Verhältnisses der proletarischen Revolutionzum Staat, ein Ausweichen, das den Opportunismus begünstigteund nährte, zur Entstellung und völligen Verflachung des Marxis-mus geführt hat.

Um diesen traurigen Prozess wenigstens in aller Kürze zu kenn-zeichnen, wenden wir uns den prominentesten Theoretikern desMarxismus, Plechanow und Kautsky, zu.

1. Plechanows Polemik gegen die Anarchisten

Plechanow hat der Frage des Ver-hältnisses zwischen Anarchismus undSozialismus eine besondere Broschü-re, "Anarchismus und Sozialismus",gewidmet, die 1894 in deutscherSprache erschienen ist.

Plechanow brachte es fertig, diesesThema zu behandeln und dabei dasAktuellste, Dringlichste und politischWesentlichste im Kampf gegen denAnarchismus, nämlich das Verhältnisder Revolution zum Staat wie über-haupt die Frage des Staates, völlig zu umgehen! In seiner Broschü-

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re treten zwei Teile hervor: der eine - ein historisch-literarischer mitwertvollem Material zur Geschichte der Ideen Stirners, Proudhonsu.a., der andere - ein philisterhafter mit platten Betrachtungen dar-über, dass ein Anarchist von einem Banditen nicht zu unterscheidensei.

Eine höchst kuriose Themenverknüpfung, die für die ganze Tätig-keit Plechanows am Vorabend der Revolution und während der Re-volutionsperiode in Russland äußerst charakteristisch ist: Plecha-now entpuppte sich denn auch in den Jahren 1905-1917 halb alsDoktrinär und halb als Philister, der in der Politik im Nachtrab derBourgeoisie einherging.

Wir haben gesehen, wie Marx und Engels in ihrer Polemik gegendie Anarchisten besonders eingehend ihre Ansichten über das Ver-hältnis der Revolution zum Staat klarlegten. Als Engels 1891 dieMarxsche "Kritik des Gothaer Programms" herausgab, schrieb er:»Wir« (d.h. Engels und Marx) »lagen damals, kaum zwei Jahrenach dem Haager Kongress der (ersten) Internationale30, imheftigsten Kampf mit Bakunin und seinen Anarchisten...«

Die Anarchisten versuchten, gerade die Pariser Kommune sozusa-gen "für sich" in Anspruch zu nehmen, als eine Bestätigung ihrerLehre, dabei hatten sie die Lehren der Kommune und die Analysedieser Lehren durch Marx überhaupt nicht begriffen. Zu den kon-kret-politischen Fragen: Soll man die alte Staatsmaschinerie zer-schlagen? - und wodurch ist sie zu ersetzen? - hat der Anarchismus

30 Der Haager Kongress der I. Internationale fand vom 2. bis 7. September 1872in Anwesenheit von Marx und Engels statt. An dem Kongress nahmen 65 Dele-gierte teil. Auf der Tagesordnung standen folgende Punkte: 1. die Befugnisse desGeneralrats; 2. die politische Tätigkeit des Proletariats u. a. Der Kongress verliefunter heftigen Auseinandersetzungen mit den Bakunisten. Es wurde ein Be-schluss über die Erweiterung der Befugnisse des Generalrats angenommen. Zudem Punkt »Die politische Tätigkeit des Proletariats« wird im Beschluss desKongresses gesagt, das Proletariat müsse sich, um den Sieg der sozialen Revolu-tion zu sichern, seine eigene politische Partei schaffen und die große Aufgabemeistern, die politische Macht zu erobern. Auf diesem Kongress wurden Baku-nin und Guillaume wegen Desorganisation und Gründung einer neuen, antiprole-tarischen Partei aus der Internationale ausgeschlossen.

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nichts beigetragen, was auch nur annähernd an die Wahrheit heran-reichte.

Aber über "Anarchismus und Sozialismus" reden und dabei derganzen Frage des Staates ausweichen, die ganze Entwicklung desMarxismus vor und nach der Kommune übersehen, das hieß unver-meidlich zum Opportunismus abgleiten. Denn eben dem Opportu-nismus ist am besten gedient, wenn die beiden von uns soeben be-zeichneten Fragen überhaupt nicht angeschnitten werden. Das al-lein bedeutet schon einen Sieg des Opportunismus.

2. Kautskys Polemik gegen die Opportunisten

Von Kautskys Schriften sind zweifellos bedeutend mehr ins Rus-sische übersetzt als in irgendeine andere Sprache. Nicht zu Unrechtsagen manche deutsche Sozialdemokraten im Scherz, Kautsky wer-de in Russland mehr gelesen als in Deutschland. (Nebenbei be-merkt, enthält dieser Scherz einen viel tieferen historischen Sinn,als seine Urheber vermuten. nämlich: die russischen Arbeiter, die1905 einen wahren Heißhunger nach den besten Werken der bestensozialdemokratischen Literatur der Welt an den Tag legten und dieeine im Vergleich mit anderen Ländern unerhört große Menge vonÜbersetzungen und Ausgaben solcher Werke erhielten, übertrugendamit sozusagen auf den jungen Boden unserer proletarischen Be-wegung in beschleunigter Weise die reiche Erfahrung des fortge-schritteneren Nachbarlandes.)

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Besonders bekannt ist Kautsky bei uns, abgesehen von seiner po-pulären Darstellung des Marxismus,durch seine Polemik gegen die Oppor-tunisten, an ihrer Spitze Bernstein.Kaum bekannt ist aber eine Tatsache,die nicht umgangen werden darf, wennman sich die Aufgabe stellt, zu verfol-gen, wie Kautsky zu einer unglaublichschmachvollen Verwirrung und zurVerteidigung des Sozialchauvinismusin der Zeit der schwersten Krise1914/1915 hinab gesunken ist. Nämlichdie Tatsache, dass Kautsky vor seinemAuftreten gegen die prominentestenVertreter des Opportunismus in Frank-reich (Millerand und Jaures) und Deutschland (Bernstein) sehr starkgeschwankt hat. Die marxistische "Sarja"31, die 1901/1902 in Stutt-gart erschien und revolutionär-proletarische Anschauungen vertrat,sah sich gezwungen, gegen Kautsky zu polemisieren, seine ausHalbheiten bestehende, ausweichende, den Opportunisten gegen-über versöhnliche Resolution auf dem Internationalen Sozialisten-kongress zu Paris 190032 als "kautschukartig" zu bezeichnen. In der

31 „Sarja" (Die Morgenröte) - marxistische wissenschaftlich-politische Zeit-schrift, die von der Redaktion der Zeitung "Iskra" in den Jahren 1901 und 1902legal in Stuttgart herausgegeben wurde. Es erschienen vier Nummern (drei Hef-te). In der "Sarja" wurden folgende Arbeiten Lenins veröffentlicht: "ZufälligeNotizen", "Die Verfolger des Semstwos und die Hannibale des Liberalismus",die ersten vier Kapitel des Werkes "Die Agrarfrage und die Marxkritiker (unterdem Titel "Die Herren 'Kritiker' in der Agrarfrage"), "Innerpolitische Rund-schau" und "Das Agrarprogramm der russischen Sozialdemokratie". 32 Gemeint ist der Fünfte Internationale Sozialistenkongress der II. Internationa-le, der vom 23. bis 27. September 1900 in Paris stattfand. Zu der Hauptfrage"Eroberung der staatlichen Macht und Bündnisse mit bürgerlichen Parteien",nahm der Kongreß mit Stimmenmehrheit eine von Karl Kautsky eingebrachteResolution an. In der Resolution hieß es, dass »der Eintritt eines einzelnen Sozi-alisten in ein bürgerliches Ministerium nicht als der normale Beginn der Erobe-rung der politischen Macht zu betrachten ist, sondern stets nur ein vorüberge-hender und ausnahmsweiser Notbehelf in einer Zwangslage sein kann«.

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deutschen Literatur sind Briefe von Kautsky veröffentlicht worden,die zeigen, dass er vor seinem Feldzug gegen Bernstein nicht weni-ger schwankte.

Von ungleich größerer Bedeutung ist jedoch der Umstand, dasswir selbst in seiner Polemik gegen die Opportunisten, in seiner Fra-gestellung und seiner Art der Behandlung der Frage jetzt, da wir dieGeschichte des neuesten Verrats Kautskys am Marxismus untersu-chen, ein systematisches Hinneigen zum Opportunismus gerade inder Frage des Staates feststellen können.

Nehmen wir Kautskys erstes größeres Werk gegen den Opportu-nismus, sein Buch "Bernstein und das Sozialdemokratische Pro-gramm". Bernstein wird von Kautsky ausführlich widerlegt. Cha-rakteristisch aber ist folgendes.

Bernstein erhebt in seinen herostratisch be-rühmt gewordenen "Voraussetzungen desSozialismus" gegen den Marxismus den Vor-wurf des "Blanquismus" (Ein Vorwurf, denseither die Opportunisten und die liberalenBourgeois in Russland Tausende von Malengegen die Vertreter des revolutionären Mar-xismus, die Bolschewiki, wiederholten). Da-bei geht Bernstein besonders auf den Marx-schen "Bürgerkrieg in Frankreich" ein undversucht - wie wir gesehen haben, höchst er-folglos -, die Marxschen Ansichten über dieLehren der Kommune mit Proudhons An-sichten zu identifizieren. Besondere Beach-tung findet bei Bernstein die Schlussfolge-rung von Marx, die er in der Vorrede von 1872 zum "Kommunisti-schen Manifest" unterstrichen hat und die besagt, dass »die Arbei-

Die Zeitschrift "Sarja" Nr. 1 vom April 1901 veröffentlichte G. W. PlechanowsArtikel "Einige Worte über den letzten Internationalen Sozialistenkongress inParis (Offener Brief an die Genossen, die mir ihre Vollmacht erteilt haben)", indem Kautskys Resolution heftig kritisiert wurde.

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terklasse nicht die fertige Staatsmaschine einfach in Besitz neh-men und sie für ihre eignen Zwecke in Bewegung setzen kann«.

Bernstein hat dieser Ausspruch so sehr "gefallen", dass er ihn inseinem Buch nicht weniger als dreimal wiederholt, um ihn in einemganz entstellten. opportunistischen Sinne auszulegen.

Marx will, wie wir gesehen haben, sagen, dass die Arbeiterklassedie ganze Staatsmaschine zerschlagen, zerbrechen, sprengen muss(der Ausdruck "Sprengung" wird von Engels gebraucht). Bernsteindagegen stellt es so hin, als hätte Marx mit diesen Worten die Ar-beiterklasse vor revolutionärem Übereifer bei der Ergreifung derMacht warnen wollen.

Eine gröbere und abscheulichere Verdrehung des Marxschen Ge-dankens ist kaum vorstellbar.

Was tat nun Kautsky in seiner sehr eingehenden Widerlegung derBernsteiniade?

Er vermied es, die ganze Tiefe der Entstellung des Marxismusdurch den Opportunismus in diesem Punkt zu untersuchen. Er führ-te die oben zitierte Stelle aus der Engelsschen Einleitung zum "Bür-gerkrieg" von Marx an und beschränkte sich darauf, zu sagen, dassnach Marx die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschine ein-fach in Besitz nehmen kann, dass sie aber, allgemein gesprochen,sie in Besitz nehmen könne, weiter nichts. Davon, dass BernsteinMarx das gerade Gegenteil des wirklichen Marxschen Gedankenszuschrieb, dass Marx seit 1852 als Aufgabe der proletarischen Re-volution das "Zerschlagen" der Staatsmaschinerie in den Vorder-grund rückte, findet sich bei Kautsky nicht ein Wort.

So kam es, dass der wesentlichste Unterschied zwischen Marxis-mus und Opportunismus hinsichtlich der Aufgaben der proletari-schen Revolution bei Kautsky verkleistert wurde!

»Die Entscheidung über das Problem der proletarischen Dik-tatur«, schrieb Kautsky "gegen" Bernstein, »können wir wohlganz ruhig der Zukunft überlassen.« (S. 172 der deutschen Aus-gabe.)

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Das ist keine Polemik gegen Bernstein, sondern im Grunde einZugeständnis an ihn, eine Kapitulation vor dem Opportunismus,denn vorerst brauchen die Opportunisten ja nichts weiter, als dassalle grundlegenden Fragen nach den Aufgaben der proletarischenRevolution "ganz ruhig der Zukunft überlassen" werden.

Marx und Engels haben von 1852 bis 1891, vierzig Jahre hin-durch, das Proletariat gelehrt, dass es die Staatsmaschinerie zer-schlagen muss. Kautsky aber bringt es 1899 fertig, angesichts desvölligen Verrats, den die Opportunisten in diesem Punkt am Mar-xismus geübt haben, die Frage, ob man diese Maschine zerschlagenmüsse, zu vertauschen gegen die Frage nach den konkreten Formendieses Zerschlagens, und rettet sich unter die Fittiche der "unbe-streitbaren" (und nutzlosen) philisterhaften Wahrheit, dass man diekonkreten Formen nicht im voraus kennen könne!!

Ein Abgrund klafft zwischen Marx und Kautsky in ihrem Ver-hältnis zu der Aufgabe der proletarischen Partei, die Arbeiterklasseauf die Revolution vorzubereiten.

Nehmen wir ein späteres, reiferes Werk von Kautsky, das in be-trächtlichem Maße ebenfalls einer Widerlegung der Irrtümer desOpportunismus gewidmet ist. Es ist seine Broschüre "Die sozialeRevolution".

Der Verfasser behandelt hier speziell das Thema der "proletari-schen Revolution" und des "proletarischen Regimes". Der Verfas-ser hat sehr viel außerordentlich Wertvolles geboten, aber geradedie Frage des Staates hat er umgangen. In der Broschüre ist überallvon der Eroberung der Staatsgewalt die Rede, weiter nichts, d.h., esist eine solche Formulierung gewählt, die den Opportunisten entge-genkommt, da sie die Eroberung der Macht ohne eine Zerstörungder Staatsmaschinerie zulässt. Gerade das, was Marx 1872 im Pro-gramm des "Kommunistischen Manifests" für "veraltet" erklärt,wird von Kautsky 1902 wieder aufgewärmt.

In der Broschüre ist ein besonderer Abschnitt den »Formen undWaffen der sozialen Revolution« gewidmet. Hier wird wohl vompolitischen Massenstreik gesprochen, ebenso vom Bürgerkrieg und

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von den »Machtmitteln des modernen Großstaates, seiner Bü-rokratie und Armee«. aber kein Sterbenswort davon, was dieKommune die Arbeiter bereits gelehrt hat. Augenscheinlich hat En-gels die Sozialisten, insbesondere die deutschen, nicht ohne Grundvor der "abergläubischen Verehrung" des Staates gewarnt.

Kautsky schildert die Sache folgendermaßen: Das siegreiche Pro-letariat wird »das demokratische Programm zur Wahrheit ma-chen«, und er erläutert die einzelnen Punkte dieses Programms.Darüber aber, was das Jahr 1871 in der Frage der Ersetzung derbürgerlichen Demokratie durch die proletarische Demokratie Neuesgebracht hat, kein Wort. Kautsky begnügt sich mit solchen "solide"klingenden Banalitäten wie:

»Und doch ist es selbstverständlich, dass wir nicht zur Herr-schaft kommen unter den heutigen Verhältnissen. Die Revoluti-on selbst setzt lange und tiefgehende Kämpfe voraus, die be-reits unsere heutige politische und soziale Struktur verändernwerden.«

Freilich ist das "selbstverständlich", ebensogut wie die Wahrheit,dass Pferde Hafer fressen und die Wolga ins Kaspische Meer fließt.Schade nur, dass mit Hilfe der hohlen und schwülstigen Phraseüber "tiefgehende" Kämpfe die für das revolutionäre Proletariat we-sentliche Frage umgangen wird, worin denn die "Tiefe" seiner Re-volution gegenüber dem Staat, gegenüber der Demokratie zum Un-terschied von den früheren, nichtproletarischen Revolutionen zumAusdruck kommt.

Indem Kautsky diese Frage umgeht, macht er in der Tat in diesemwesentlichsten Punkt ein Zugeständnis an den Opportunismus,auch wenn er ihm in Worten einen erbitterten Krieg ansagt und dieBedeutung der "Idee der Revolution" unterstreicht (was mag diese"Idee" wert sein, wenn man sich fürchtet, unter den Arbeitern diekonkreten Lehren der Revolution zu propagieren?) oder sagt: »re-volutionären Idealismus vor allem«, oder erklärt, dass die engli-schen Arbeiter »heute kaum noch etwas anderes als kleine Bour-geois« seien.

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»Die verschiedensten Formen des Betriebes«, schreibt Kautsky,»bürokratischer (??), gewerkschaftlicher, genossenschaftlicher,Alleinbetrieb ... können nebeneinander in einer sozialistischenGesellschaft existieren ... Es gibt z.B. Betriebe, die ohne einebürokratische (??) Organisation nicht auskommen, wie die Ei-senbahnen. Die demokratische Organisation kann sich da sogestalten, dass die Arbeiter Delegierte wählen, die eine Art Par-lament bilden, welches die Arbeitsordnungen feststellt und dieVerwaltung des bürokratischen Apparates überwacht. AndereBetriebe kann man der Verwaltung der Gewerkschaften über-geben, wieder andere können genossenschaftlich betrieben wer-den,« (S. 148 und 115 der russischen Übersetzung, Genfer Ausgabe1903.)

Diese Betrachtung ist falsch. Sie bedeutet einen Rückschritt imVergleich zu dem, was Marx und Engels in den siebziger Jahren amBeispiel der Lehren der Kommune gezeigt haben.

Was die angeblich notwendige "bürokratische" Organisation an-geht, unterscheiden sich die Eisenbahnen absolut durch nichts vonallen Betrieben der maschinellen Großindustrie überhaupt, von ei-ner beliebigen Fabrik, einem großen Geschäft, einem großkapitalis-tischen landwirtschaftlichen Unternehmen. In allen solchen Betrie-ben schreibt die Technik unbedingt die strengste Disziplin vor, diegrößte Genauigkeit bei Ausführung der jedem zugewiesenen Teil-arbeit, da sonst die Stillegung des ganzen Betriebes, eine Schädi-gung des Mechanismus, eine Schädigung des Produkts zu befürch-ten wäre. In allen diesen Unternehmen werden die Arbeiter natür-lich "Delegierte wählen, die eine Art Parlament bilden".

Aber das ist ja eben der ganze Witz, dass diese "Art Parlament"kein Parlament im Sinne der bürgerlich-parlamentarischen Körper-schaften sein wird. Das ist ja der Witz, dass diese "Art Parlament"nicht nur die "Arbeitsordnungen feststellen und die Verwaltung desbürokratischen Apparates überwachen" wird, wie Kautsky sich dasausmalt, dessen Gedanken über den Rahmen des bürgerlichen Par-lamentarismus nicht hinausgehen. In der sozialistischen Gesell-schaft wird natürlich "eine Art Parlament" von Arbeiterdeputierten

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die "Arbeitsordnungen feststellen" und die "Verwaltung des Appa-rates überwachen", aber dieser Apparat wird nicht "bürokratisch"sein. Die Arbeiter werden nach Eroberung der politischen Machtden alten bürokratischen Apparat zerschlagen, ihn bis auf denGrund zerstören, von ihm nicht einen Stein auf dem anderen lassen;sie werden ihn durch einen neuen Apparat ersetzen, gebildet auseben diesen Arbeitern und Angestellten, gegen deren Verwandlungin Bürokraten man sofort die von Marx und Engels eingehend un-tersuchten Maßnahmen treffen wird: 1. nicht nur Wählbarkeit, son-dern auch jederzeitige Absetzbarkeit; 2. eine den Arbeiterlohn nichtübersteigende Bezahlung; 3. sofortiger Übergang dazu, dass alle dieFunktionen der Kontrolle und Aufsicht verrichten, dass alle eineZeitlang zu Bürokraten" werden, so dass daher niemand zum "Bü-rokraten" werden kann.

Die Worte von Marx: »Die Kommune sollte nicht eine parlamen-tarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehendund gesetzgebend zu gleicher Zeit« hat Kautsky überhaupt nichtdurchdacht.

Kautsky hat überhaupt nicht den Unterschied begriffen zwischenbürgerlichem Parlamentarismus, der die Demokratie (nicht für dasVolk) mit dem Bürokratismus (gegen das Volk) verbindet, unddem proletarischen Demokratismus, der sofort Maßnahmen ergrei-fen wird, um den Bürokratismus radikal zu unterbinden, und derimstande sein wird, diese Maßnahmen zu Ende zu führen, bis zurvölligen Vernichtung des Bürokratismus, bis zur Einführung dervollen Demokratie für das Volk.

Kautsky offenbart hier immer noch die gleiche "abergläubischeVerehrung" des Staates, das gleiche "abergläubische Vertrauen"dem Bürokratismus gegenüber.

Gehen wir zum letzten und besten Werk Kautskys gegen die Op-portunisten über, zu seiner Broschüre "Der Weg zur Macht" (die,glaube ich, keine russische erlebte, da sie im Jahre 1909 erschienenist, zur Zeit, als bei uns die schwärzeste Reaktion herrschte). DieseBroschüre ist ein erheblicher Schritt vorwärts, da in ihr nicht voneinem revolutionären Programm im allgemeinen, wie 1899 in der

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Schrift gegen Bernstein, nicht von den Aufgaben der sozialen Re-volution ohne Bezugnahme auf die Zeit ihres Anbruchs, wie 1902in der Broschüre "Die soziale Revolution", die Rede ist, sondernvon den konkreten Bedingungen, die uns zwingen anzuerkennen,dass die "Ära der Revolution" anhebt.

Der Verfasser weist mit Bestimmtheit auf die Verschärfung derKlassengegensätze im allgemeinen und auf den Imperialismus hin,der in dieser Beziehung eine besonders große Rolle spiele. Nachdem "revolutionären Zeitalter 1789-1871" für Westeuropa beginneseit 1905 ein ähnliches Zeitalter für den Osten. Der Weltkrieg rückemit bedrohlicher Geschwindigkeit näher. »Es« (das Proletariat)»kann nicht mehr von einer vorzeitigen Revolution reden.«»Wir sind in eine revolutionäre Periode eingetreten.« Die »re-volutionäre Ära hebt an«.

Diese Erklärungen sind völlig klar. Diese Schrift Kautskys mussals Gradmesser dafür dienen, was die deutsche Sozialdemokratievor dem imperialistischen Krieg zu sein versprach und wie tief sie(mitsamt Kautsky selbst) bei Ausbruch des Krieges gesunken ist.»Die heutige Situation«, schrieb Kautsky in der angeführten Bro-schüre, »bringt aber die Gefahr mit sich, dass wir« (d.h. diedeutsche Sozialdemokratie) »leicht "gemäßigter" aussehen, alswir sind.« Es hat sich aber herausgestellt, dass die deutsche sozial-demokratische Partei unvergleichlich gemäßigter und opportunisti-scher war, als sie zu sein schien!

Um so bezeichnender ist es, dass Kautsky trotz dieser Bestimmt-heit seiner Erklärungen über die bereits angebrochene Ära der Re-volutionen auch in dieser Broschüre, die nach seinen eigenen Wor-ten der Erörterung der Frage gerade der "politischen Revolution"gewidmet ist, wiederum die Frage des Staates völlig umgeht.

Die Summe der Umgehungen dieser Frage, des Verschweigensund Ausweichens ergab unvermeidlich jenes völlige Abschwenkenzum Opportunismus, über das wir nun zu sprechen haben werden.

In der Person Kautskys erklärte die deutsche Sozialdemokratiegleichsam: Ich bleibe bei den revolutionären Anschauungen (1899).

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Ich erkenne insbesondere die Unausbleiblichkeit der sozialen Revo-lution des Proletariats an (1902). Ich erkenne den Anbruch einerneuen Ära der Revolutionen an (1909). Aber dennoch gehe ich hin-ter das zurück, was Marx bereits 1852 gesagt hat, wenn es sich umdie Frage nach den Aufgaben der proletarischen Revolution in Be-zug auf den Staat handelt (1912).

So nämlich wurde die Frage mit aller Eindeutigkeit in der Pole-mik Kautskys gegen Pannekoek gestellt.

3. Kautskys Polemik gegen Pannekoek

Pannekoek trat gegen Kautsky als einVertreter jener "linksradikalen" Strö-mung auf, die Rosa Luxemburg, KarlRadek und andere in ihren Reihen zählteund die bei der Verfechtung der revoluti-onären Taktik einig war in der Überzeu-gung, dass Kautsky die Position desprinzipienlos zwischen Marxismus undOpportunismus hin und her schwanken-den "Zentrums" beziehe. Die Richtigkeitdieser Ansicht wurde durch den Kriegvollauf bestätigt, als die Richtung des"Zentrums" (das zu Unrecht marxistischgenannt wird) oder des "Kautskyaner-tums" sich in ihrer ganzen widerlichenJämmerlichkeit zeigt.

In dem Artikel "Massenaktion und Revolution' ("Neue Zeit",1912, XXX, 2), in dem die Frage des Staates berührt wird, charak-terisierte Pannekoek die Stellung Kautskys als die des "passivenRadikalismus", als "die Theorie des aktionslosen Abwartens"."Kautsky übersieht den Prozess der Revolution" (S. 616). IndemPannekoek die Frage auf diese Weise stellte, kam er auf das uns in-teressierende Thema, die Aufgaben der proletarischen Revolutiongegenüber dem Staat, zu sprechen.

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»Der Kampf des Proletariats«, schrieb er, »ist nicht einfachein Kampf gegen die Bourgeoisie um die Staatsgewalt als Ob-jekt, sondern ein Kampf gegen die Staatsgewalt ... der Inhaltdieser Revolution ist die Vernichtung und Auflösung derMachtmittel des Staates durch die Machtmittel des Proletari-ats. ... Der Kampf hört erst auf, wenn als Endresultat die völli-ge Zerstörung der staatlichen Organisation eingetreten ist. DieOrganisation der Mehrheit hat dann ihre Überlegenheit da-durch erwiesen, dass sie die Organisation der herrschendenMinderheit vernichtet hat.« (S. 548.)

Die Formulierung, in die Pannekoek seine Gedanken kleidete,weist sehr große Mängel auf. Aber der Gedanke ist immerhin klar,und es ist interessant, wie Kautsky ihn wiederlegte.

»Bisher«, schrieb er, »bestand der Gegensatz zwischen Sozial-demokraten und Anarchisten darin, dass jene die Staatsgewalterobern, diese sie zerstören wollten. Pannekoek will beides.« (S.724)

Wenn auch bei Pannekoek die Darstellung nicht klar und nichtkonkret genug ist (von anderen Mängeln seines Artikels, die nichtzu dem in Rede stehenden Thema gehören, ganz abgesehen), sogriff doch Kautsky gerade das von Pannekoek angedeutete prinzi-pielle Wesen der Sache auf, und in dieser grundlegenden prinzipi-ellen Frage hat er die Position des Marxismus gänzlich verlassen,ist er ganz und gar zum Opportunismus übergegangen. Seine Auf-fassung von dem Unterschied zwischen Sozialdemokraten und An-archisten ist grundfalsch, der Marxismus ist bei ihm endgültig ent-stellt und verflacht.

Der Unterschied zwischen Marxisten und Anarchisten bestehtdarin, dass 1. die Marxisten, die sich die völlige Aufhebung desStaates zum Ziel setzen, dieses Ziel für erreichbar halten erst nachder Aufhebung der Klassen durch die sozialistische Revolution, alsResultat der Errichtung des Sozialismus, der zum Absterben desStaates führt; die Anarchisten wollen die völlige Aufhebung desStaates von heute auf morgen, ohne die Bedingungen für dieDurchführbarkeit einer solchen Aufhebung zu begreifen. 2. Die

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Marxisten halten es für notwendig, dass das Proletariat nach Erobe-rung der politischen Macht die alte Staatsmaschinerie völlig zer-stört und sie durch eine neue, eine nach dem Typ der Kommune ge-bildete Organisation der bewaffneten Arbeiter ersetzt; die Anarchis-ten, die auf die Zerstörung der Staatsmaschinerie schwören, stellensich ganz unklar vor, was das Proletariat an ihre Stelle setzen undwie es die revolutionäre Macht gebrauchen wird; die Anarchistenverwerfen sogar die Ausnutzung der Staatsgewalt durch das revolu-tionäre Proletariat, dessen revolutionäre Diktatur. 3. Die Marxistenfordern die Vorbereitung des Proletariats auf die Revolution unterAusnutzung des heutigen Staates; die Anarchisten lehnen das ab.

Kautsky gegenüber vertritt eben Pannekock in dieser Kontroverseden Marxismus, denn gerade Marx hat uns gelehrt, dass das Prole-tariat nicht einfach die Staatsmacht erobern kann in dem Sinne,dass der alte Staatsapparat in neue Hände übergeht, sondern dass esdiesen Apparat zerschlagen, zerbrechen, ihn durch einen neuen er-setzen muss.

Kautsky wechselt vom Marxismus zu den Opportunisten über,denn bei ihm verschwindet gänzlich gerade die für die Opportunis-ten völlig unannehmbare Zerstörung der Staatsmaschine, und esbleibt für sie ein Hintertürchen offen dadurch, dass man die "Erobe-rung" als einfaches Erlangen der Mehrheit auslegt.

Um seine Entstellung des Marxismus zu bemänteln, verfährt Kau-tsky wie ein Schriftgelehrter: er führt "ein Zitat" von Marx selbstins Feld. 1850 schieb Marx über die Notwendigkeit der »entschie-densten Zentralisation der Gewalt in die Hände der Staatsmacht«.Und Kautsky fragt triumphierend: Will denn Pannekoek den "Zen-tralismus" zerstören?

Das ist schon einfach ein Taschenspielertrick ähnlich der Bern-steinschen Identifizierung von Marxismus und Proudhonismus inden Anschauungen über Föderalismus im Gegensatz zum Zentralis-mus.

Das "Zitat" passt bei Kautsky wie die Faust aufs Auge. Zentralis-mus ist sowohl bei der alten als auch bei der neuen Staatsmaschine-

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rie möglich. Wenn die Arbeiter freiwillig ihre bewaffneten Kräftevereinigen werden, so wird das Zentralismus sein, aber er wird aufder "völligen Zerstörung" des zentralistischen Staatsapparats, desstehenden Heeres, der Polizei und der Bürokratie beruhen. Kautskyhandelt geradezu betrügerisch, wenn er die wohlbekannten Darle-gungen von Marx und Engels über die Kommune übergeht und einZitat hervorholt, das mit der Frage nichts zu tun hat.

»Will er« (Pannekock) »vielleicht die staatlichen Funktionender Beamten aufheben?« fährt Kautsky fort. »Aber wir kommenin Partei und Gewerkschaft nicht ohne Beamte aus, geschweigedenn in der Staatsverwaltung. Unser Programm fordert dennauch nicht Abschaffung der staatlichen Beamten, sondern dieErwählung der Behörden durch das Volk ... Nicht darum han-delt es sich bei unserer jetzigen Erörterung, wie sich der Ver-waltungsapparat des "Zukunftsstaates" gestalten wird, son-dern darum, ob unser politischer Kampf die Staatsgewalt auf-löst, ehe wir sie noch erobert haben« (hervorgehoben von Kau-tsky). »Welches Ministerium mit seinen Beamten könnte aufge-hoben werden?« Es werden die Ministerien des Unterrichts,der Justiz, der Finanzen und das Kriegsministerium aufge-zählt. »Nein, keines der heutigen Ministerien wird durch un-sern politischen Kampf gegen die Regierungen beseitigt werden... Ich wiederhole es, um Missverständnissen vorzubeugen: hierist nicht die Rede von der Gestaltung des Zukunftsstaats durchdie siegreiche Sozialdemokratie, sondern von der des Gegen-wartsstaates durch unsere Opposition.« (S. 725)

Dies ist eine offensichtliche Unterstellung. Pannekoek warf dochgerade die Frage der Revolution auf. Das wird sowohl in der Über-schrift seines Artikels als auch in den angeführten Stellen klar ge-sagt. Indem Kautsky auf die Frage der "Opposition" überspringt,fälscht er gerade den revolutionären Standpunkt in einen opportu-nistischen um. Bei ihm läuft es darauf hinaus: Gegenwärtig machenwir Opposition, und nach Eroberung der Macht werden wir weitersehen. Die Revolution verschwindet! Das war gerade das, was dieOpportunisten brauchten.

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Es handelt sich nicht um Opposition und nicht um den politischenKampf im allgemeinen, sondern eben um die Revolution. Die Re-volution besteht darin, dass das Proletariat den "Verwaltungsappa-rat", ja den gesamten Staatsapparat zerstört und ihn durch einenneuen, aus bewaffneten Arbeitern bestehenden Apparat ersetzt.Kautsky offenbart eine "abergläubische Verehrung" der "Ministeri-en", weshalb aber sollten diese nicht ersetzt werden können, sagenwir, durch Kommissionen von Fachleuten bei den Sowjets der Ar-beiter- und Soldatendeputierten, denen die ganze ungeteilte Machtgehört?

Der Kern der Frage besteht durchaus nicht darin, ob "Ministerien"bestehen bleiben, ob es "Kommissionen von Fachleuten" oder ir-gendwelche andere Institutionen geben wird; das ist ganz belang-los. Die entscheidende Frage ist, ob die alte Staatsmaschinerie (diedurch tausend Fäden mit der Bourgeoisie verbunden und durch unddurch von verknöcherten Gewohnheiten und Konservatismusdurchsetzt ist) aufrechterhalten bleibt, oder ob sie zerstört unddurch eine neue ersetzt wird. Die Revolution darf nicht darin beste-hen, dass die neue Klasse mit Hilfe der alten Staatsmaschineriekommandiert und regiert, sondern muss darin bestehen, dass siediese Maschine zerschlägt und mit Hilfe einer neuen Maschinekommandiert und regiert - diesen grundlegenden Gedanken desMarxismus vertuscht Kautsky, oder aber er hat ihn überhaupt nichtbegriffen.

Seine Frage bezüglich der Beamten beweist anschaulich, dass erdie Lehren der Kommune und die Marxsche Lehre nicht begriffenhat. »Wir kommen in Partei und Gewerkschaft nicht ohne Be-amte aus...«

Wir kommen unter dem Kapitalismus, unter der Herrschaft derBourgeoisie nicht ohne Beamte aus. Das Proletariat ist geknechtet,die werktätigen Massen sind durch den Kapitalismus versklavt. Un-ter dem Kapitalismus ist die Demokratie durch die ganzen Verhält-nisse der Lohnsklaverei, der Not und des Elends der Massen einge-engt, eingeschnürt, gestutzt, verstümmelt. Aus diesem Grund, undnur aus diesem, werden die beamteten Personen in unseren politi-

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schen und gewerkschaftlichen Organisationen durch die Verhältnis-se des Kapitalismus demoralisiert (oder, genauer gesagt, besteht dieTendenz, dass sie demoralisiert werden), neigen sie dazu, sich inBürokraten, d.h. in den Massen entfremdete, über den Massen ste-hende, privilegierte Personen zu verwandeln.

Darin besteht das Wesen des Bürokratismus, und solange die Ka-pitalisten nicht expropriiert sind, solange die Bourgeoisie nicht ge-stürzt ist, solange ist eine gewisse "Bürokratisierung" sogar derproletarischen beamteten Personen unvermeidlich.

Bei Kautsky sieht die Sache so aus: Da nun einmal gewählte be-amtete Personen bleiben, so bleiben auch im Sozialismus die Be-amten, bleibt die Bürokratie! Und gerade das ist falsch. Gerade amBeispiel der Kommune hat Marx gezeigt, dass im Sozialismus diebeamteten Personen aufhören, "Bürokraten", "Beamte" zu sein, siehören in dem Maße auf, es zu sein, wie außer der Wählbarkeit auchnoch die jederzeitige Absetzbarkeit eingeführt wird, dazu noch dieReduzierung des Gehalts auf den durchschnittlichen Arbeiterlohnund dazu noch die Ersetzung der parlamentarischen Körperschaftendurch »arbeitende Körperschaften, die vollziehend und gesetzge-bend zu gleicher Zeit« sind.

Im Grunde genommen ist die ganze Argumentation Kautskys ge-gen Pannekoek und insbesondere der großartige Einwand Kautskys,wir kämen auch in Partei und Gewerkschaft nicht ohne Beamte aus,eine Wiederholung der alten "Argumente" Bernsteins gegen denMarxismus überhaupt. In seinem Renegatenbuch "Die Vorausset-zungen des Sozialismus" bekämpft Bernstein die Ideen der "primi-tiven" Demokratie, bekämpft er das, was er als "doktrinären Demo-kratismus" bezeichnet: gebundene Mandate, unbezahlte Beamte,machtlose Zentralvertretung usw. Als Beweis für die Unhaltbarkeitdieses "primitiven" Demokratismus beruft sich Bernstein auf dieErfahrungen der englischen TradeUnions, wie sie das EhepaarWebb interpretiert. Während der siebzig Jahre ihrer Entwicklunghätten die Trade-Unions, die sich angeblich "in voller Freiheit" ent-wickelt haben (S. 137 der deutschen Ausgabe), sich von der Un-brauchbarkeit des "primitiven" Demokratismus überzeugt und ihn

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durch den üblichen Demokratismus ersetzt: Parlamentarismus, ge-paart mit Bürokratismus.

In Wirklichkeit haben sich die Trade-Unions nicht "in voller Frei-heit", sondern in voller kapitalistischer Sklaverei entwickelt, wobeiman natürlich ohne eine Reihe Zugeständnisse an das herrschendeÜbel, an Gewalt, Lüge, ohne Ausschluss der Armen von der "höhe-ren" Verwaltung "nicht auskommen konnte". Im Sozialismus wirdunvermeidlich vieles von der "primitiven" Demokratie wieder auf-leben, denn zum erstenmal in der Geschichte der zivilisierten Ge-sellschaften wird sich die Masse der Bevölkerung zur selbständi-gen Teilnahme nicht nur an Abstimmungen und Wahlen, sondernauch an der laufenden Verwaltungsarbeit erheben. Im Sozialismuswerden alle der Reihe nach regieren und sich schnell daran gewöh-nen, dass keiner regiert.

Marx hat mit seinem genialen kritisch-analytischen Verstand inden praktischen Maßnahmen der Kommune jenen Umschwung er-kannt, den die Opprtunisten fürchten und den sie aus Feigheit nichtanerkennen wollen, weil sie mit der Bourgeoisie nicht unwiderruf-lich brechen möchten, und den die Anarchisten nicht sehen wollen,sei es aus Übereilung, sei es, weil sie die Bedingungen der sozialenMassenumwandlungen überhaupt nicht erkennen. »An die Zerstö-rung der alten Staatsmaschinerie ist gar nicht zu denken, wie sollenwir denn da ohne Ministerien und ohne Beamte auskommen«, ar-gumentiert der durch und durch verspießerte Opportunist, der imGrunde genommen an die Revolution, an die Schöpferkraft der Re-volution nicht nur nicht glaubt, sondern vor ihr tödliche Angstempfindet (wie unsere Menschewiki und Sozialrevolutionäre).

»Es gilt nur, die alte Staatsmaschinerie zu zerstören, man brauchtnicht in die konkreten Lehren der früheren proletarischen Revoluti-onen einzudringen und zu analysieren, wodurch und wie das Zer-störte ersetzt werden soll«, argumentiert der Anarchist (natürlichder beste unter den Anarchisten, und nicht einer, der mit den Her-ren Kropotkin und Co. hinter der Bourgeoisie einhertrottet); undder Anarchist gelangt daher zu einer Taktik der Verzweiflung stattzu einer schonungslos kühnen und gleichzeitig die praktischen

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Bedingungen der Massenbewegung berücksichtigenden revolutio-nären Arbeit an konkreten Aufgaben.

Kühnheit bei der Zerstörung der gesamten alten Staatsmaschine-rie, und gleichzeitig lehrt er uns, die Frage konkret zu stellen: DieKommune vermochte es, in einigen Wochen den Bau einer neuen,proletarischen Staatsmaschine auf die und die Weise in Angriff zunehmen und die erwähnten Maßnahmen zu größerem Demokratis-mus und zur Ausrottung des Bürokratismus durchzuführen. WirwoIlen von den Kommunarden revolutionäre Kühnheit lernen, wirwollen ihre praktischen Maßnahmen als Skizzierung der prakti-schen, dringlichen und sofort durchführbaren Maßnahmen betrach-ten, und wir werden, wenn wir diesen Weg verfolgen, die völligeVernichtung des Bürokratismus erreichen.

Die Möglichkeit einer solchen Vernichtung ist dadurch gesichert,dass der Sozialismus den Arbeitstag verkürzen, die Massen zu ei-nem neuen Leben emporheben und die Mehrheit der Bevölkerungin Verhältnisse versetzen wird, die allen ohne Ausnahme gestattenwerden, Staatsfunktionen" auszuüben. Das aber führt zum völligenAbsterben jedweden Staates überhaupt.

»Seine [des Massenstreiks] Aufgabe«, fährt Kautsky fort, »kannnicht die sein, die Staatsgewalt zu zerstören, sondern nur die, eineRegierung zur Nachgiebigkeit in einer bestimmten Frage zu brin-gen oder eine dem Proletariat feindselige Regierung durch eineihm entgegenkommende zu ersetzen ... Aber nie und nimmer kanndies [d. h. der Sieg des Proletariats über die feindselige Regie-rung] zu einer Zerstörung der Staatsgewalt. sondern stets nur zueiner Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der Staatsge-walt führen ... Und das Ziel unseres politischen Kampfes bleibt da-bei das gleiche, das es bisher gewesen: Eroberung der Staatsge-walt durch Gewinnung der Mehrheit im Parlament und Erhebungdes Parlaments zum Herrn der Regierung.« (S. 726, 727, 732.)

Das ist schon waschechter, trivialster Opportunismus, das ist diePreisgabe der Revolution in der Tat bei einem Bekenntnis zu ihr inWorten. Kautskys Gedanke geht über eine "dem Proletariat entge-genkommende Regierung" nicht hinaus - das ist ein Schritt zurück

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zum Philistertum verglichen mit 1847, als das "KommunistischeManifest" die »Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse«proklamierte.

Kautsky wird nichts übrigbleiben, als die von ihm geliebte »Ein-heit« mit den Scheidemännern, den Plechanow und Vandervelde zuverwirklichen, die alle bereit sind, für eine »dem Proletariat entge-genkommende Regierung« zu kämpfen.

Wir aber werden mit diesen Verrätern am Sozialismus endgültigbrechen und werden für die Zerstörung der ganzen alten Staatsma-schinerie kämpfen, auf dass das bewaffnete Proletariat selbst dieRegierung sei. Das sind zwei grundverschiedene Dinge.

Kautsky wird die angenehme Gesellschaft der Legien, David,Plechanow, Potressow, Zereteli und Tschemow teilen müssen, diealle durchaus bereit sind, für eine »Verschiebung der Machtver-hältnisse innerhalb der Staatsgewalt«, für die »Gewinnung derMehrheit im Parlament und die Erhebung des Parlaments zumHerrn der Regierung« zu kämpfen ein hochedles Ziel, an dem fürdie Opportunisten alles akzeptabel ist, bei dem alles im Rahmen derbürgerlichen parlamentarischen Republik bleibt.

Wir aber werden mit den Opportunisten endgültig brechen; unddas ganze klassenbewußte Proletariat wird mit uns sein im Kampfnicht um eine »Verschiebung der Machtverhältnisse«, sondern umden Sturz der Bourgeoisie. um die Zerstörung des bürgerlichen Par-lamentarismus, um die demokratische Republik vom Typ der Kom-mune oder die Republik der Sowjets der Arbeiter- und Soldatende-putierten, um die revolutionäre Diktatur des Proletariats.

Noch weiter rechts als Kautsky befinden sich im internationalenSozialismus solche Richtungen wie die der "Sozialistischen Mo-natshefte"3326 in Deutschland (Legien, David, Kolb und viele ande-re, einschließlich der Skandinavier Stauning und Branting), die Jau-

33 "Sozialistische Monatshefte" - Zeitschrift, erschien von 1897 bis 1933 in Ber-lin. Wurde zum wichtigsten Organ des deutschen und internationalen Revisionis-mus. In den Jahren des imperialistischen Weltkriegs 1914-1918 vertrat sie einensozialchauvinistischen Standpunkt.

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res-Anhänger und Vandervelde in Frankreich und Belgien, Turati,Treves und andere Vertreter des rechten Flügels der italienischenPartei, die Fabier und die "Unabhängigen" ("Unabhängige Arbeiter-partei", die sich in Wirklichkeit stets in Abhängigkeit von den Li-beralen befand) in England34 und ähnliche. Alle diese Herrschaften,die in der parlamentarischen Arbeit und in der Parteipublizistik eineungeheure, sehr oft eine ausschlaggebende Rolle spielen, lehnen dieDiktatur des Proletariats rundweg ab und vertreten einen unverhüll-ten Opportunismus. Für diese Herrschaften »widerspricht« die»Diktatur« des Proletariats der Demokratie!! Im Grunde genommenunterscheiden sie sich durch nichts ernsthaft von den kleinbürgerli-chen Demokraten.

Ziehen wir diesen Umstand in Betracht, so sind wir zu derSchlussfolgerung berechtigt, dass die II. Internationale in der über-wältigenden Mehrheit ihrer offiziellen Vertreter sich vollkommendem Opportunismus verschrieben hat. Die Erfahrungen der Kom-mune wurden nicht nur vergessen, sondern entstellt. Den Arbeiter-massen wurde nicht nur nicht eingeprägt, dass die Zeit naht, wo siesich erheben und die alte Staatsmaschine zerbrechen müssen, umsie durch eine neue zu metzen und auf diese Weise ihre politischeHerrschaft zur Grundlage der sozialistischen Umgestaltung der

34 Die Unabhängige Arbeiterpartei Englands (Independent Labour Party) wurde1893 gegründet. An der Spitze der Partei standen James Keir Hardie, R. MacDo-nald und andere. Sie erhob Anspruch auf politische Unabhängigkeit von denbürgerlichen Parteien, war jedoch in Wirklichkeit, wie Lenin sich ausdrückte,»"unabhängig" nur vom Sozialismus, aber vom Liberalismus sehr abhängig«.Während des imperialistischen Weltkriegs 1914-1918 trat die Unabhängige Ar-beiterpartei zunächst mit einem Manifest gegen den Krieg hervor (13. August1914), später hingegen, in der Londoner Konferenz der Sozialisten der Entente-länder im Februar 1915, stimmten die Unabhängigen der in dieser Konferenz an-genommenen sozialchauvinistischen Resolution zu. Seitdem standen die sich mitpazifistischen Phrasen tarnenden Führer der Unabhängigen auf den Positionendes Sozialchauvinismus. Nach der Gründung der Kommunistischen Internationa-le im Jahre 1919 beschlossen die Führer der Unabhängigen Arbeiterpartei unterdem Druck der nach links geschwenkten Massen der Parteimitglieder den Aus-tritt aus der II. Internationale. 1921 traten die Unabhängigen der sogenanntenzweieinhalbten Intemationale bei und schlossen sich nach deren Zerfall von neu-em der II. Internationale an.

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Gellschaft zu machen - das Gegenteil wurde den Massen einge-prägt, und die »Eroberung der Macht« wurde so dargestellt, dassdem Opportunismus Tausende Hintertürchen offen blieben.

Es konnte gar nicht anders sein, die Entstellung und das Ver-schweigen der Frage, wie sich die proletarische Revolution zumStaat verhält, mussten eine ungeheure Rolle spielen zu einer Zeit,da die Staaten mit ihrem infolge der imperialistischen Konkurrenzverstärkten militärischen Apparat sich in Kriegsungeheuer verwan-delten, die Millionen von Menschen vernichten, um den Streit zuentscheiden, ob England oder Deutschland, ob dieses oder jenes Fi-nanzkapital die Welt beherrschen soll.

Im Manuskript folgt:

VII. Kapitel - Die Erfahrungen der russischen Revolutionen von 1905 und 1917

Das in dieser Kapitelüberschrift genannte Thema ist so unermess-lich groß, dass man darüber Bände schreiben könnte und müsste. Inder vorliegenden Schrift werde ich mich natürlich auf die Hauptleh-ren beschränken müssen, soweit sie unmittelbar auf die Aufgabendes Proletariats in der Revolution der Staatsmacht gegenüber Be-zug haben.

[Hier bricht das Manuskript ab. Die Red.] Home

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Nachwort zur ersten Auflage

Die vorliegende Schrift wurde im August und September 1917niedergeschrieben. Ich hatte bereits den Plan des nächsten, des sie-benten Kapitels, "Die Erfahrungen der russischen Revolutionen von1905 und 1917", fertig. Aber außer der Überschrift habe ich keineZeile dieses Kapitels schreiben können: Die politische Krise, derVorabend der Oktoberrevolution von 1917, "verhinderte" es. Übereine solche "Verhinderung" kann man sich nur freuen. Allerdingswird der zweite Teil dieser Schrift (der den Erfahrungen der russi-schen Revolutionen von 1905 und 1917" gewidmet sein soll) wohlauf lange Zeit zurückgestellt werden müssen; es ist angenehmerund nützlicher, die "Erfahrungen der Revolution" durchzumachen,als über sie zu schreiben.

Petrograd, den 30. November 1917

Der Verfasser

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