Upen Interview Vaterland

1
SAMSTAG, 31. JULI 2004 SEITE 7 Wirtschaftregional WIRTSCHAFT Wirtschaft «Die wichtigen Dinge des Lebens sind nicht kompliziert» Unternehmensberater Upen Chokshi aus Indien über Intuition, gutes Essen und Zeitsparen Wie kann man mit weniger mehr erreichen? Um diese Frage drehen sich die Semina- re von Upen Chokshi. Der Unternehmensberater aus Indien zeigt, wie europäische und indische Firmen von- einander lernen können. MIT UPEN CHOKSHI SPRACH JANINE KÖPFLI Herr Chokshi, wir sitzen hier an einem reich gedeckten Tisch mit vielen indischen Köstlichkeiten. Reden und essen scheint in Indien zusammenzugehören. Werden während des Essens Geschäftsideen geboren und grosse Geschäfte abgeschlossen? Upen Chokshi: Ja, das läuft tatsäch- lich so. In Indien feiern wir sehr ger- ne. Ich habe mindestens einmal in der Woche Gäste bei mir zu Hause. Wir sit- zen zusammen, essen, reden und la- chen. Es ist wichtig, dass wir in unse- rem Leben das Feiern nicht vergessen. Eines der Dinge, die ich hier in Euro- pa vermisse, ist, dass die Menschen den Erfolg so selten geniessen. Natür- lich muss man für seinen Erfolg hart arbeiten, man muss ihn aber auch ge- niessen. In Indien sitzen die Manager eines Unternehmens oft zusammen, trinken und essen gemeinsam. Während den Gesprächen, die in einer sehr lockeren Atmosphäre ablaufen, werden Ideen generiert und Pläne für die Zukunft geschmiedet. Also muss ein guter Geschäftsmann auch ein guter Koch sein? Es geht hier nicht ums Kochen. Wir müssen einfach lernen, zu feiern und unser Leben zu geniessen. Oft fragen wir uns, warum wir eigentlich auf die- ser Welt sind. Wir haben all das Geld, den Luxus und arbeiten sehr hart. Wo- zu das alles? Wir sollten im Leben mehr tun, als nur zu arbeiten. Die indische Wirtschaftswelt gilt als sehr innovativ und fortschrittlich. Gerade was Leadership angeht, sind indische Unternehmen den europäischen zum Teil um Längen voraus. Wo liegt das Geheimnis? Müssen wir anfangen, mehr zu essen? Ich möchte nicht sagen, dass die Führungsqualität indischer Unterneh- men besser ist als jene der Unterneh- men hier. Solche Vergleiche möchte ich nicht anstellen. Westlich geprägtes Leadership ist einfach anders, männ- Zur Person jak.- Upen Chokshi ist Unterneh- mensberater und Partner der Synergo AG in Vaduz. Er leitet Führungsseminare für Manager in Deutschland, Ungarn, Vorarlberg und Liechtenstein. Seine Erfahrun- gen sammelte der studierte Che- mieingenieur in Indien als Ge- schäftsführer eines Unternehmens. Er bildete sich im Bereich Manage- ment weiter und gründete ein eige- nes Unternehmen mit 50 Mitarbei- tern. Upen Chokshi ist verheiratet und hat einen Sohn. Er lebt jedes Jahr mehrere Monate in Liechten- stein, reist aber immer wieder in seine Heimat Indien, wo seine Fa- milie lebt. wr.- Indien ist nach den 1991 ein- geleiteten Reformen auf dem Weg in eine soziale Marktwirtschaft, wobei der öffentliche Sektor in zentralen Wirtschaftsbereichen noch immer dominiert. Die im Mai 2004 abge- wählte Regierung Vajpayee setzte den Reformkurs (z. B. im Energiebe- reich, Elektrizitätsgesetz) in der Sa- che entschlossen fort, wenn auch das Tempo im Vorfeld der Wahlen ge- drosselt wurde. Die neue Regierung unter Führung von Manmohan Singh hat zunächst Ende Mai ein eher all- gemein gehaltenes Regierungspro- gramm mit dem Ziel veröffentlicht, den «Reformen ein menschliches Antlitz zu geben» und Arbeitsplätze zu schaffen. Investitionen sollen vor- nehmlich in die Landwirtschaft zur Verbesserung der Infrastruktur ge- hen, auch in den sozialen Bereich, in das Bildungs- und Gesundheitswe- sen. Trotz gestiegenem Einfluss der linken Kräfte ist damit zu rechnen, dass die Reformen im Herbst 2004 weiter vorangetrieben werden. Das Haushaltsjahr 2003/04 endete mit einem durchschnittlichen Wirt- schaftswachstum von 8,8 Prozent (2002/2003: 4,4 Prozent). Im 3. Quar- tal wurde ein Wachstum von 10,4 Prozent erreicht. Damit liegt Indien (mit China) im internationalen Ver- gleich überragend an der Spitze. Die Prognosen für das Haushaltsjahr 2004/05 liegen zwischen 7 und 10 Prozent. Bereits im Haushaltsjahr 2003/2004 hat die Industrieprodukti- on überdurchschnittlich zum Wachs- tum beigetragen. Dies wird nach Prog- nosen auch für 2003/2004 erwartet. Ebenfalls überdurchschnittliche Stei- gerungsraten werden für den Dienst- leistungsbereich und, nach einem guten Monsun im Sommer 2003, auch bei der Landwirtschaft erwartet. Die indische Wirtschaftsstruktur ver- zeichnete in den letzten Jahren eine deutliche Verschiebung vom primären hin zum sekundären und tertiären Sektor. Auf die Landwirt- schaft entfallen im Jahr 2002 nur noch 24,8 Prozent, auf die Industrie 26,4 Prozent und auf den Dienstleis- tungsbereich bereits 48,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP), Tendenz für 2004 nahezu unverän- dert. Einer wachsenden Mittelschicht von knapp 30 Mio. Menschen mit an- sehnlicher Kaufkraft steht die grosse Mehrheit der indischen Bevölkerung, insbesondere auf dem Lande, ge- genüber, die am Wirtschaftskreislauf kaum teilnimmt, aber wegen der be- eindruckenden Wachstumszahlen in naher Zukunft berechtigte Hoffnun- gen für sich hegt. Indien an der Spitze licher. Sehr logisch, rational. Es geht vorwärts, ein gewisser Druck ist zu spüren. Wie ein Turbo. Wenn Sie die Kulturen im Osten betrachten, bei- spielsweise in Indien, China, Taiwan oder Japan, ist mehr die feminine Sei- te spürbar; offen, entspannt, eine Art «Take it easy»-Haltung. Der Verstand ist genau so wichtig wie das Gefühl. Daher lehre ich in meinen Seminaren auch «Intuitives Management». Unse- re Umwelt verändert sich sehr schnell. Entscheidungen, die wir heute fällen, sehen in einer Woche ganz anders aus. Wir können nie alles wissen, daher ist das Bauchgefühl – die Intuition – so wichtig. Spontanität, das heisst das Gefühl im Bauch, kann helfen, etwas zu entscheiden, das über das rationa- le, logische Denken hinausgeht.Wich- tig ist, dass man es den Dingen erlaubt, zu passieren. Intuition ist ein weibli- cher Aspekt. Wer die männlichen und weiblichen Aspekte kombiniert, wird erfolgreich sein. Das ist das Geheim- nis. Sitzen in Indien viele Frauen in Führungsgremien? Ja, in Indien findet man überall Frauen. Sie sind nicht nur Mitglied ei- ner Geschäftsleitung, sie führen meist ihr eigenes Unternehmen und küm- mern sich nebenher noch um die Fa- milie und den Haushalt. Es ist un- glaublich, wie sie es schaffen, alles zu managen. Sie lassen sich von ihren Ge- fühlen leiten, und es funktioniert. In Ihren Seminaren versuchen Sie hiesigen Unternehmen die indische Philosophie der Unternehmens- führung näher zu bringen. Welches sind die zentralen Punkte? Ich versuche den Teilnehmern bei- zubringen, den Verstand auszuschal- ten, um in Kontakt mit ihren Bauchge- fühlen zu treten. Wir haben drei Be- reiche in unserem Körper, die verant- wortlich sind für unsere Entscheidun- gen: Hirn, Herz und Bauch – Verstand, Gefühl und Intuition. Meine Arbeit ist es, den Menschen neben dem Verstand die zwei anderen Bereiche zugänglich zu machen, damit sie alle drei Berei- che verknüpfen können. Sie reden von Gefühlen und Intuition; wir sind uns gewöhnt, dass alles schnell und noch schneller gehen muss und dass für solche Dinge meist keine Zeit bleibt. Wie reagieren die Seminar- teilnehmer auf Ihre Vorschläge? Ganz unterschiedlich. Meist frage ich die Manager, sobald wir uns ein bisschen kennen, wie sie den Output, das Resultat, steigern wollen, bei- spielsweise den Gewinn oder die Pro- duktion. Sie sagen, indem sie den Input erhöhen. So denken die meisten Ma- nager. Logisch: Wer mehr verdienen möchte, muss auch mehr arbeiten. Aber im Grunde genommen ist dies ein sehr dummes Denken. Es wäre doch viel sinnvoller, sich zu überlegen, Ich halte nichts von Wochenendse- minaren. Ein Seminar dauert bei mir ein Jahr oder eineinhalb Jahre. Ich treffe die Gruppe in regelmässigen Ab- ständen. Das ermöglicht den Teilneh- mern, das Gelernte im Alltag umzu- setzen und im nächsten Treffen noch einmal zu vertiefen. Sie üben und ver- bessern ihre Selbstdisziplin Schritt für Schritt. Irgendwann beherrschen sie das Gelernte und es wird Teil ihres All- tags. Sie werden es nicht mehr verler- nen. Ähnlich wie Velofahren. Wenn man es einmal kann, verlernt man es nicht mehr. Ihre Art, etwas zu erklären, ist einfach und verständlich. Ich halte nicht viel von komplexen Grafiken und hochwissenschaftlichen Strategien. Ich bleibe auf dem Boden, denn die wichtigen Dinge des Lebens sind nicht kompliziert. Und wie kann ich nun mit weniger Arbeit mehr erreichen? Wir neigen dazu, tausend Dinge gleichzeitig erledigen zu wollen. Wir sind nie hundertprozentig bei der Sa- che, unsere Aufmerksamkeit schweift immer wieder ab, das braucht Energie und reduziert die Effizienz. Wir be- schäftigen uns mit der Vergangenheit oder mit der Zukunft. Wir müssen aber lernen, in der Gegenwart zu leben und zu arbeiten. Das ist der Schlüssel zur Effizienz. Auf diese Weise spart man Zeit. Es gibt aber Probleme, die man nicht einfach ignorieren kann und die nicht einfach verschwinden. Das ist richtig. Probleme sind meist mit Gefühlen verbunden. Wir müssen lernen, unsere Gefühle in den Griff zu bekommen, damit sie uns nicht blockieren. Sie zu unterdrücken wäre falsch. Das ist es, was wir von klein auf lernen. Wir müssen vielmehr versu- chen, beispielsweise den Ärger auf die Seite zu stellen. Er ist dann immer noch da, stört uns aber nicht mehr. Wenn Sie unterrichten, treffen zwei Kulturen aufeinander. Lässt sich der Hauch von indischer Führungs- kultur problemlos in europäischen Firmen einführen? Ja. Es ist ja nicht so, dass ich etwas absolut Neues lehre. Es geht vielmehr darum, dass wir unsere wahre Natur wiederfinden. Unsere wahre Natur ist Freude, Spass und Liebe. Ziel ist es, dass sich die Seminarteilnehmer selbst finden. Seit 1998 sind Sie immer wieder in Liechtenstein tätig. Wo sehen Sie für liechtensteinische Unternehmen Verbesserungspotenzial in Sachen Leadership? Es gibt überall Verbesserungspoten- zial. Oft fehlt der richtige Blickwinkel. Ich versuche den Firmenbossen eine andere Sicht der Dinge zu geben, We- ge aufzuzeigen, wo sie vielleicht keine sehen. Oft fehlt den Managern das Be- wusstsein für verborgene Dinge. Mit einem Wirtschaftswachstum von 8,8 Prozent im letzten Jahr liegt Indien zusammen mit China im internationalen Vergleich an der Spitze. In welchen Branchen ist Indien besonders stark? Die IT-Branche ist nach wie vor sehr stark. Aber auch der Bereich Touris- mus wächst. Alle Branchen wachsen, sogar die Landwirtschaft. Ihr Land kämpft trotz guter Wirtschaftszahlen mit grosser Armut. Etwa ein Drittel der über einer Milliarde Menschen lebt in Indien unterhalb der Armutsgrenze. Kann Indien trotzdem eine Vorbildrolle für Europa einnehmen? Das Niveau der Armut geht zurück. Aber unabhängig davon, kann Indien auf jeden Fall ein Vorbild für Europa sein. In Indien gibt es einen grossen Vorteil. Wir haben eine Familienkul- tur. Die ganze Familie lebt zusammen, und wenn jemand ein Problem hat, beispielsweise seinen Job verliert, kümmert sich die Familie darum. Das- selbe gilt in der Wirtschaftswelt. In Un- ternehmen herrscht eine familiäre At- mosphäre, auch wenn die Geschäfts- leitungsmitglieder nicht miteinander verwandt sind. Das Unternehmen ist wie ein Zuhause. Das ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass wir In- der ein sehr friedliches Volk sind. Sie bringen indisches Lebensgefühl nach Europa. Haben Sie denn auch etwas von den Unternehmern hier gelernt? Sehr viel. Was ich hier bewundere, ist, dass die Firmen sehr strukturiert sind. Alles ist geregelt und perfekt or- ganisiert. Das ist etwas, das wir in In- dien verbessern müssen. Mein Ziel ist es, die hiesige und die indische Kultur zusammenzuführen, dass beide Seiten profitieren können. Es gibt kein Besser und Schlechter. Wir können vonei- nander lernen und auf diese Weise Fortschritte erzielen. wie man mit weniger Arbeit mehr ver- dient. Dies ist mein Weg. Manchmal mache ich einen Spass daraus und sa- ge, dass ich einfach faul bin und daher nach Möglichkeiten suche, weniger zu arbeiten und trotzdem mehr zu errei- chen. Das leuchtet allen Managern ein. Denn wer will nicht weniger Zeit im Büro verbringen? Dies ist meine Leh- re: Wie kann man mit weniger mehr erreichen? Das heisst auch mit weni- ger Mühe. Wenn wir die Natur be- trachten, stellen wir fest, dass wir Menschen die einzigen Kreaturen sind, die von morgens bis abends schuften. Wie schaffen Sie Vertrauen, wenn Skepsis da ist? Ich mag skeptische Menschen. Denn skeptische Menschen hören genauer hin. Sie sind dann auch eher bereit, etwas auszuprobieren. Wenn sie Er- folg haben, dann ist auch ihr Interes- se geweckt. Was ändern die Unternehmen nach einem Seminar mit Ihnen? Upen Chokshi: «Wenn wir die Natur betrachten, stellen wir fest, dass wir Menschen die einzigen Kreaturen sind, die von morgens bis abends schuften.» Foto: Daniel Ospelt Wir müssen lernen, in der Gegenwart zu leben Oft fehlt der richtige Blickwinkel

Transcript of Upen Interview Vaterland

Page 1: Upen Interview Vaterland

SAMSTAG, 31. JULI 2004 SEITE 7Wirtschaftregional WIRTSCHAFT

Wirtschaft

«Die wichtigen Dinge des Lebens sind nicht kompliziert»

Unternehmensberater Upen Chokshi aus Indien über Intuition, gutes Essen und Zeitsparen

Wie kann man mit wenigermehr erreichen? Um diese Frage drehen sich die Semina-re von Upen Chokshi. Der Unternehmensberater aus Indien zeigt, wie europäischeund indische Firmen von-einander lernen können.

● MIT UPEN CHOKSHI SPRACH JANINE KÖPFLI

Herr Chokshi, wir sitzen hier an einem reich gedeckten Tisch mitvielen indischen Köstlichkeiten. Reden und essen scheint in Indienzusammenzugehören. Werdenwährend des Essens Geschäftsideengeboren und grosse Geschäfte abgeschlossen?

Upen Chokshi: Ja, das läuft tatsäch-lich so. In Indien feiern wir sehr ger-ne. Ich habe mindestens einmal in derWoche Gäste bei mir zu Hause. Wir sit-zen zusammen, essen, reden und la-chen. Es ist wichtig, dass wir in unse-rem Leben das Feiern nicht vergessen.Eines der Dinge, die ich hier in Euro-pa vermisse, ist, dass die Menschenden Erfolg so selten geniessen. Natür-lich muss man für seinen Erfolg hartarbeiten, man muss ihn aber auch ge-niessen. In Indien sitzen die Managereines Unternehmens oft zusammen,trinken und essen gemeinsam.Während den Gesprächen, die in einersehr lockeren Atmosphäre ablaufen,werden Ideen generiert und Pläne fürdie Zukunft geschmiedet.

Also muss ein guter Geschäftsmannauch ein guter Koch sein?

Es geht hier nicht ums Kochen. Wirmüssen einfach lernen, zu feiern undunser Leben zu geniessen. Oft fragenwir uns, warum wir eigentlich auf die-ser Welt sind. Wir haben all das Geld,den Luxus und arbeiten sehr hart. Wo-zu das alles? Wir sollten im Lebenmehr tun, als nur zu arbeiten.

Die indische Wirtschaftswelt gilt alssehr innovativ und fortschrittlich.Gerade was Leadership angeht,sind indische Unternehmen den europäischen zum Teil um Längenvoraus. Wo liegt das Geheimnis?Müssen wir anfangen, mehr zu essen?

Ich möchte nicht sagen, dass dieFührungsqualität indischer Unterneh-men besser ist als jene der Unterneh-men hier. Solche Vergleiche möchteich nicht anstellen. Westlich geprägtesLeadership ist einfach anders, männ-

Zur Personjak.- Upen Chokshi ist Unterneh-

mensberater und Partner der Synergo AG in Vaduz. Er leitetFührungsseminare für Manager inDeutschland, Ungarn, Vorarlbergund Liechtenstein. Seine Erfahrun-gen sammelte der studierte Che-mieingenieur in Indien als Ge-schäftsführer eines Unternehmens.Er bildete sich im Bereich Manage-ment weiter und gründete ein eige-nes Unternehmen mit 50 Mitarbei-tern. Upen Chokshi ist verheiratetund hat einen Sohn. Er lebt jedesJahr mehrere Monate in Liechten-stein, reist aber immer wieder inseine Heimat Indien, wo seine Fa-milie lebt.

wr.- Indien ist nach den 1991 ein-geleiteten Reformen auf dem Weg ineine soziale Marktwirtschaft, wobeider öffentliche Sektor in zentralenWirtschaftsbereichen noch immerdominiert. Die im Mai 2004 abge-wählte Regierung Vajpayee setzteden Reformkurs (z. B. im Energiebe-reich, Elektrizitätsgesetz) in der Sa-che entschlossen fort, wenn auch dasTempo im Vorfeld der Wahlen ge-drosselt wurde. Die neue Regierungunter Führung von Manmohan Singhhat zunächst Ende Mai ein eher all-gemein gehaltenes Regierungspro-gramm mit dem Ziel veröffentlicht,den «Reformen ein menschlichesAntlitz zu geben» und Arbeitsplätzezu schaffen. Investitionen sollen vor-nehmlich in die Landwirtschaft zurVerbesserung der Infrastruktur ge-hen, auch in den sozialen Bereich, indas Bildungs- und Gesundheitswe-

sen. Trotz gestiegenem Einfluss derlinken Kräfte ist damit zu rechnen,dass die Reformen im Herbst 2004weiter vorangetrieben werden.

Das Haushaltsjahr 2003/04 endetemit einem durchschnittlichen Wirt-schaftswachstum von 8,8 Prozent(2002/2003: 4,4 Prozent). Im 3. Quar-tal wurde ein Wachstum von 10,4Prozent erreicht. Damit liegt Indien(mit China) im internationalen Ver-gleich überragend an der Spitze. DiePrognosen für das Haushaltsjahr2004/05 liegen zwischen 7 und 10Prozent. Bereits im Haushaltsjahr2003/2004 hat die Industrieprodukti-on überdurchschnittlich zum Wachs-tum beigetragen. Dies wird nach Prog-nosen auch für 2003/2004 erwartet.Ebenfalls überdurchschnittliche Stei-gerungsraten werden für den Dienst-leistungsbereich und, nach einemguten Monsun im Sommer 2003, auch

bei der Landwirtschaft erwartet. Dieindische Wirtschaftsstruktur ver-zeichnete in den letzten Jahren eine deutliche Verschiebung vom primären hin zum sekundären undtertiären Sektor. Auf die Landwirt-schaft entfallen im Jahr 2002 nurnoch 24,8 Prozent, auf die Industrie26,4 Prozent und auf den Dienstleis-tungsbereich bereits 48,8 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP),Tendenz für 2004 nahezu unverän-dert.

Einer wachsenden Mittelschichtvon knapp 30 Mio. Menschen mit an-sehnlicher Kaufkraft steht die grosseMehrheit der indischen Bevölkerung,insbesondere auf dem Lande, ge-genüber, die am Wirtschaftskreislaufkaum teilnimmt, aber wegen der be-eindruckenden Wachstumszahlen innaher Zukunft berechtigte Hoffnun-gen für sich hegt.

Indien an der Spitze

licher. Sehr logisch, rational. Es gehtvorwärts, ein gewisser Druck ist zuspüren. Wie ein Turbo. Wenn Sie dieKulturen im Osten betrachten, bei-spielsweise in Indien, China, Taiwanoder Japan, ist mehr die feminine Sei-te spürbar; offen, entspannt, eine Art«Take it easy»-Haltung. Der Verstandist genau so wichtig wie das Gefühl.Daher lehre ich in meinen Seminarenauch «Intuitives Management». Unse-re Umwelt verändert sich sehr schnell.Entscheidungen, die wir heute fällen,sehen in einer Woche ganz anders aus.Wir können nie alles wissen, daher istdas Bauchgefühl – die Intuition – sowichtig. Spontanität, das heisst dasGefühl im Bauch, kann helfen, etwaszu entscheiden, das über das rationa-le, logische Denken hinausgeht.Wich-tig ist, dass man es den Dingen erlaubt,zu passieren. Intuition ist ein weibli-cher Aspekt. Wer die männlichen undweiblichen Aspekte kombiniert, wirderfolgreich sein. Das ist das Geheim-nis.

Sitzen in Indien viele Frauen inFührungsgremien?

Ja, in Indien findet man überallFrauen. Sie sind nicht nur Mitglied ei-ner Geschäftsleitung, sie führen meistihr eigenes Unternehmen und küm-mern sich nebenher noch um die Fa-milie und den Haushalt. Es ist un-glaublich, wie sie es schaffen, alles zumanagen. Sie lassen sich von ihren Ge-fühlen leiten, und es funktioniert.

In Ihren Seminaren versuchen Siehiesigen Unternehmen die indischePhilosophie der Unternehmens-führung näher zu bringen. Welchessind die zentralen Punkte?

Ich versuche den Teilnehmern bei-zubringen, den Verstand auszuschal-ten, um in Kontakt mit ihren Bauchge-fühlen zu treten. Wir haben drei Be-reiche in unserem Körper, die verant-wortlich sind für unsere Entscheidun-gen: Hirn, Herz und Bauch – Verstand,Gefühl und Intuition. Meine Arbeit istes, den Menschen neben dem Verstanddie zwei anderen Bereiche zugänglichzu machen, damit sie alle drei Berei-che verknüpfen können.

Sie reden von Gefühlen und Intuition; wir sind uns gewöhnt,dass alles schnell und noch schneller gehen muss und dass für solche Dinge meist keine Zeitbleibt. Wie reagieren die Seminar-teilnehmer auf Ihre Vorschläge?

Ganz unterschiedlich. Meist frageich die Manager, sobald wir uns einbisschen kennen, wie sie den Output,das Resultat, steigern wollen, bei-spielsweise den Gewinn oder die Pro-duktion. Sie sagen, indem sie den Inputerhöhen. So denken die meisten Ma-nager. Logisch: Wer mehr verdienenmöchte, muss auch mehr arbeiten.Aber im Grunde genommen ist dies ein sehr dummes Denken. Es wäredoch viel sinnvoller, sich zu überlegen,

Ich halte nichts von Wochenendse-minaren. Ein Seminar dauert bei mirein Jahr oder eineinhalb Jahre. Ichtreffe die Gruppe in regelmässigen Ab-ständen. Das ermöglicht den Teilneh-mern, das Gelernte im Alltag umzu-setzen und im nächsten Treffen nocheinmal zu vertiefen. Sie üben und ver-bessern ihre Selbstdisziplin Schritt fürSchritt. Irgendwann beherrschen siedas Gelernte und es wird Teil ihres All-tags. Sie werden es nicht mehr verler-nen. Ähnlich wie Velofahren. Wennman es einmal kann, verlernt man esnicht mehr.

Ihre Art, etwas zu erklären, ist einfach und verständlich.

Ich halte nicht viel von komplexenGrafiken und hochwissenschaftlichenStrategien. Ich bleibe auf dem Boden,denn die wichtigen Dinge des Lebenssind nicht kompliziert.

Und wie kann ich nun mit wenigerArbeit mehr erreichen?

Wir neigen dazu, tausend Dingegleichzeitig erledigen zu wollen. Wirsind nie hundertprozentig bei der Sa-che, unsere Aufmerksamkeit schweiftimmer wieder ab, das braucht Energieund reduziert die Effizienz. Wir be-schäftigen uns mit der Vergangenheitoder mit der Zukunft. Wir müssen aberlernen, in der Gegenwart zu leben undzu arbeiten. Das ist der Schlüssel zurEffizienz. Auf diese Weise spart manZeit.

Es gibt aber Probleme, die mannicht einfach ignorieren kann unddie nicht einfach verschwinden.

Das ist richtig. Probleme sind meistmit Gefühlen verbunden. Wir müssenlernen, unsere Gefühle in den Griff zubekommen, damit sie uns nichtblockieren. Sie zu unterdrücken wärefalsch. Das ist es, was wir von klein auflernen. Wir müssen vielmehr versu-chen, beispielsweise den Ärger auf dieSeite zu stellen. Er ist dann immernoch da, stört uns aber nicht mehr.

Wenn Sie unterrichten, treffen zweiKulturen aufeinander. Lässt sichder Hauch von indischer Führungs-kultur problemlos in europäischenFirmen einführen?

Ja. Es ist ja nicht so, dass ich etwasabsolut Neues lehre. Es geht vielmehrdarum, dass wir unsere wahre Naturwiederfinden. Unsere wahre Natur istFreude, Spass und Liebe. Ziel ist es,dass sich die Seminarteilnehmerselbst finden.

Seit 1998 sind Sie immer wieder inLiechtenstein tätig. Wo sehen Siefür liechtensteinische UnternehmenVerbesserungspotenzial in SachenLeadership?

Es gibt überall Verbesserungspoten-zial. Oft fehlt der richtige Blickwinkel.Ich versuche den Firmenbossen eineandere Sicht der Dinge zu geben, We-ge aufzuzeigen, wo sie vielleicht keinesehen. Oft fehlt den Managern das Be-wusstsein für verborgene Dinge.

Mit einem Wirtschaftswachstumvon 8,8 Prozent im letzten Jahr liegtIndien zusammen mit China im internationalen Vergleich an derSpitze. In welchen Branchen ist Indien besonders stark?

Die IT-Branche ist nach wie vor sehrstark. Aber auch der Bereich Touris-mus wächst. Alle Branchen wachsen,sogar die Landwirtschaft.

Ihr Land kämpft trotz guter Wirtschaftszahlen mit grosser Armut. Etwa ein Drittel der über einer Milliarde Menschen lebt in Indien unterhalb der Armutsgrenze.Kann Indien trotzdem eine Vorbildrolle für Europa einnehmen?

Das Niveau der Armut geht zurück.Aber unabhängig davon, kann Indienauf jeden Fall ein Vorbild für Europasein. In Indien gibt es einen grossenVorteil. Wir haben eine Familienkul-tur. Die ganze Familie lebt zusammen,und wenn jemand ein Problem hat,beispielsweise seinen Job verliert,kümmert sich die Familie darum. Das-selbe gilt in der Wirtschaftswelt. In Un-ternehmen herrscht eine familiäre At-mosphäre, auch wenn die Geschäfts-leitungsmitglieder nicht miteinanderverwandt sind. Das Unternehmen istwie ein Zuhause. Das ist nicht zuletztdarauf zurückzuführen, dass wir In-der ein sehr friedliches Volk sind.

Sie bringen indisches Lebensgefühlnach Europa. Haben Sie denn auchetwas von den Unternehmern hiergelernt?

Sehr viel. Was ich hier bewundere,ist, dass die Firmen sehr strukturiertsind. Alles ist geregelt und perfekt or-ganisiert. Das ist etwas, das wir in In-dien verbessern müssen. Mein Ziel istes, die hiesige und die indische Kulturzusammenzuführen, dass beide Seitenprofitieren können. Es gibt kein Besserund Schlechter. Wir können vonei-nander lernen und auf diese WeiseFortschritte erzielen.

wie man mit weniger Arbeit mehr ver-dient. Dies ist mein Weg. Manchmalmache ich einen Spass daraus und sa-ge, dass ich einfach faul bin und dahernach Möglichkeiten suche, weniger zuarbeiten und trotzdem mehr zu errei-chen. Das leuchtet allen Managern ein.Denn wer will nicht weniger Zeit imBüro verbringen? Dies ist meine Leh-re: Wie kann man mit weniger mehrerreichen? Das heisst auch mit weni-ger Mühe. Wenn wir die Natur be-trachten, stellen wir fest, dass wirMenschen die einzigen Kreaturensind, die von morgens bis abendsschuften.

Wie schaffen Sie Vertrauen, wennSkepsis da ist?

Ich mag skeptische Menschen. Dennskeptische Menschen hören genauerhin. Sie sind dann auch eher bereit,etwas auszuprobieren. Wenn sie Er-folg haben, dann ist auch ihr Interes-se geweckt.

Was ändern die Unternehmen nacheinem Seminar mit Ihnen?

Upen Chokshi: «Wenn wir die Natur betrachten, stellen wir fest, dass wir Menschen dieeinzigen Kreaturen sind, die von morgens bis abends schuften.» Foto: Daniel Ospelt

Wir müssen lernen,in der Gegenwart

zu leben””

Oft fehlt der richtige

Blickwinkel

””