Unbarmherziges Paradies

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Unbarmherziges Die Antarktis ist ein Kontinent der Extreme. Leben bedeutet hier vor allem eines: Überleben. Die Kapitan Khlebnikov landet auf Snow Hill Island an der Antarktischen Halbinsel. 22

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Die Antarktis ist ein Kontinent der Extreme.Leben bedeutet hier vor allem eines: Überleben.

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UnbarmherzigesDie Antarktis ist ein Kontinent der Extreme.Leben bedeutet hier vor allem eines: Überleben.

Die Kapitan Khlebnikov landet auf Snow HillIsland an der Antarktischen Halbinsel.

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Paradies

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Tagebuch einer AntArktis-Reise

Die Reise geht los! Unser Schiff legt amHafen von Ushuaia, einem verschlafenenStädtchen auf Feuerland, ab. Wir nehmenzuerst Kurs auf die Falkland-Inseln.

Erstes Rendez-vous mit Pinguinen: Hinterden grünen Hügeln der West-Falklands tref-fen wir auf eine muntere Felspinguin-Kolo-nie und auf die ersten Albatrosse!

Auf halbem Weg nach Südgeorgien,mitten im Südatlantik, tauchen unvermitteltdie Shagrocks auf, mächtige Vogelfelsenmit Hunderten von Kormoranen.

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In der Tat: Die Kaiserpinguine sind nicht nurstattlich, nämlich bis 1,3 Meter gross und 50 Kilo-gramm schwer – sondern halten auch eine ganzeMenge aus. Keine andere der 17 Pinguinarten lebtsüdlicher und damit in einer klimatisch so extremenZone. Sie schaffen es nicht nur, sich in einer Tiefkühl-truhe fortzupflanzen, sondern verfügen auch überandere rekordverdächtige Fähigkeiten: sie tauchen500 Meter tief, bleiben 20 Minuten unter Wasserund schaffen Geschwindigkeiten von 36 km/h. Ihrefaszinierende Überlebensstrategie zeigt der Oscar-gekrönte Film «Die Reise der Pinguine» von LucJacquet auf eindrucksvolle Weise.

Neben den rund 300000 Kaiserpinguinen bevöl-kern auch viele der 20 Millionen Adéliepinguine dasantarktische Festland und das Packeis. Auf denklimatisch etwas milderen Halbinseln und Inseln derAntarktis leben weitere Verwandte: die Zügel- undEselspinguine, drei Millionen Königspinguine sowiedie viel kleineren und drolligen Hauben- und Felsen-pinguine. Sie alle nährt das Meer, wo es von Krillund Kleinkrebsen nur so wimmelt. Diese stehenam Anfang der Nahrungskette für Fische, Wale, Kal-mare, Seelöwen, Seehunde, Pinguine und Meeres-vögel. Der Tisch ist üppig gedeckt – und reicht imSommer auch für zusätzliche 100000 Millionen Zug-vögel.

Apropos Leben: Das grösste Landtier der Antarktisist die 1,2 Zentimeter lange Zuckmücke. Ihre minimeGrösse steht in keinem Verhältnis zu ihrem Lebens-willen. Die Larven der Mücken überleben in einerUmgebung, in der Menschen tausend Tode sterbenwürden: sie bleiben wochenlang ohne Sauerstoff,können vollständig austrocknen und ohne Schadenerfrieren.

Tagebuch einer Antarktis-reise

Der andere Star auf Südgeorgien heisst SirErnest Shackleton – ein Besuch am Grabdes Antarktisforschers im kleinen Friedhofvon Grytviken ist ein «Muss» ...

... genauso wie ein Rundgang durch dieverlassene Walfängerstation, die in derersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Zehntau-sende von Walen verarbeitete.

Wo einem die Trauben in den Mund wachsen, ist(Über)Leben keine Kunst. In der Antarktis ist es diehöchste aller Kunstformen: denn kein Kontinent istkälter, trockener, windiger:• Die inländische Jahresdurchschnittstemperatur

liegt bei minus 55 Grad Celsius (an den Küsten imSommer freilich um die 0° Celsius).

• Der Niederschlag ist so gering, dass die Antarktisals grösste Wüste der Welt gilt.

• Die höchste gemessene Windgeschwindigkeitbeträgt 327 km/h.

So unbarmherzig die Antarktis ist, so faszinierend istsie auch – Lebensfeindlichkeit kann tief berühren.Wer jemals dort war, will wieder hin und spricht vomschönsten Ende der Welt.

Der Eierdieb im EisDer Brite Apsley Cherry-Garrard ist 24 Jahre alt, alser sich als Assistent des Zoologen Dr. E. A. Wilsonmit diesem zusammen aufmacht, den Kaiserpingui-nen ein Ei zu entwenden. Die kleine zoologischeExpeditionstruppe kämpft sich 1910 im antarkti-schen Winter bei ständiger Dunkelheit und Eiseskäl-te 200 Kilometer weit zu den Brutplätzen. Und über-lebt.

Nach der Rückkehr schreibt Cherry-Garrard einBuch mit dem Titel: «Die schlimmste Reise der Welt».Darin findet sich freilich auch Wundervolles, wieseine Beschreibung der Pinguine: «Sie sind wirklichwie die Kinder, diese kleinen Leute der Antarktis –oder wie kindische alte Männer, wie man’s nimmt:Immer von sich selbst überzeugt, meistens unpünkt-lich beim Essen, dabei mit schwarzem Frack undweisser Schürze – und trotzdem ziemlich stattlicheBurschen.»

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Südgeorgien – was für ein einzigartigesNaturparadies! Hunderttausende Königspin-guine brüten hier in den Sommermonaten –und wir sind mittendrin!

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Und nochmals Königspinguine und Pelz-robben am Strand von Gold Harbour, mitmächtigen Gletschern, bizarren Berggipfelnund sattgrünen Weiden – traumhaft!

Erster Eisberg in Sicht! Wir nähern unsdem kalten Ende der Welt – welcherFormenreichtum! Und die eisigen Teileschimmern mal weiss, mal blau.

Vor dem windgepeitschten Point Wild aufElephant Island bestaunen wir vom Schlauch-boot aus die Stelle, wo Shackletons Leutemonatelang ausharrten.

Üppiges Leben trotzeisiger Kälte: Währendin der Antarktis Kaiser-und Adéliepinguineleben, sind gewissesubantarktische Inselnvon Königspinguinenbevölkert, wie hier inSüdgeorgien.

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Tagebuch einer Antarktis-reise

Heute erwachen wir von einem prägnantenKnirschen: Unser Schiff beweist seine Eis-klasse und pflügt souverän seinen Wegdurch eine 50 cm dicke Eisschicht.

Souvenir gefällig? Auf der ehemaligen Ver-sorgungsstation Port Lockroy gibt’s T-Shirts,das südlichste Postbüro der Welt und Esels-pinguine – leider nicht zum Mitnehmen!

Eine atemraubende Passage führt durchden Lemaire-Kanal, eine 6 Kilometer langeMeerenge zwischen der Antarktischen Halb-insel und der vorgelagerten Booth Island.

80 ForschungsstationenJährlich reisen etwa 20000 Touristen zum antark-tischen Kontinent. Im Sommer beträgt die Beleg-schaft der 80 internationalen Forschungsstationenrund 4000, im Winter nur noch 1000 Menschen –zumeist Wissenschaftler. Sie sind die «Ureinwoh-ner», wenngleich auch erst seit kurzem. Erst aufdem 6. Internationalen Geographischen Kongressvon 1895 in London wurden die Wissenschaftler derWelt aufgefordert, Expeditionen zum Südpol zuplanen, um diesen zu erforschen.Aus diesen ersten Expeditionen ragen heraus:• 1907–1909: Reise von Ernest Henry Shackleton.

Er nähert sich dem Südpol bis auf 97 Meilen.• 14. Dezember 1911: Roald Amundsen erreicht

den Südpol, einen Monat bevor Robert FalconScott dort anlangt. Scott stirbt auf dem Rückweg.

• 1914–1916: Expedition Endurance, die unter Shack-letons Führung zum Ziel hat, die Antarktis zu Fussvon der Wedell bis zur Ross Sea zu durchqueren.

Gottvertrauen und SelbstüberschätzungDie Männer für die Endurance-Expedition wurden1913 in der «Times» mit folgender Annonce gesucht:«Männer für eine riskante Reise gesucht. GeringeHeuer. Bitterkalt. Lange Monate der absoluten Dun-kelheit. Ständige Gefahr. Sichere Heimkehr zweifel-haft. Ehre und Anerkennung im Falle des Erfolges.»

An Bewerbern mangelte es nicht. Abenteuerlust,die Aussicht auf Ruhm und – wie im Falle des Pinguin-Ei-Diebes Cherry-Garrard – eine verklärte Männerro-mantik, nach der ein wahrer Gentleman auch imAngesicht des Todes Haltung bewahrt, waren dieGründe für die Teilnahme an den Expeditionen insEis. Diese waren aus heutiger Sicht oft dilettantisch

geplant: Ungeeignete Transportmittel, falsche Klei-dung, kaum körperliche Vorbereitung – die Forscherzogen todesmutig und mit einem Optimismus insEis, welcher auf einer Mischung von Gottvertrauenund Selbstüberschätzung beruhte.

Am 5. Dezember 1914 legte die Endurance vomHafen des südgeorgischen Grytviken ab. An Bord be-finden sich neben Shackleton 27 weitere Männer. Siewissen nicht, dass die Antarktis für fast zwei Jahre ihrunfreiwilliger Wohnort sein wird. Denn erst am 30.August 1916, am 635. Tag nach Aufbruch der Expedi-tion, rettet ein chilenisches Schiff, die «Yelcho», dengrössten Teil der Mannschaft auf Elephant Island.

Die Geschichte raubt einem den Atem: Sieerzählt davon, wie das Schiff vom Packeis einge-schlossen wird und neun Monate das enge, kalteZuhause der Männer wird, wie am 1. Mai die Sonneuntergeht und die Mannschaft 80 Tage lang in Dun-kelheit lebt. Wie Fussballspiele auf dem Eis undSchlittenhunderennen die Expeditionsteilnehmer beiLaune halten. Wie schliesslich das Schiff vom aufbre-chenden Eis zermalmt wird. Das war der Start zueiner Odyssee: Am 27. Oktober 1915 ziehen dieMänner zu Fuss los. Sie nehmen drei Rettungsbootemit, scheitern aber auf dem schwierigen Gelände.Also lassen sie sich auf einer Eisscholle nach Nordentreiben. Nach einigen Monaten schmilzt sie, undShackleton rudert mit seiner Mannschaft nach Ele-phant Island in 100 Kilometer Entfernung. Dochauch auf der Insel, die ihren Namen den vielen See-elefanten verdankt, herrscht Hoffnungslosigkeit.Wieder droht ein arktischer Winter, und Shackletonrudert diesmal mit fünf seiner Männer zu einer 1300Kilometer entfernten Walfangstation auf Südgeor-gien. Dass es gelingt, grenzt an ein Wunder: Am

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Um sechs Uhr früh, bei tiefblauem Himmelund strahlender Sonne, überqueren wir denSüdpolarkreis – ein guter Grund für einefröhliche Party an Bord!

Bei Prospect Point landen wir auf dem ant-arktischen Festland an: hinter uns ein fantas-tischer Eisberg-Archipel, vor uns schlittelndeAdéliepinguine und endloses Eis ...

Immer wieder gibt es «Wal-Alarm»: Plötzlichstiebt es neben dem Schiff, eine Fontänespritzt verräterisch in die Höhe und ab undzu auch ein neugieriger Wal-Kopf!

20. Mai 1916 treffen sie auf andere Menschen. Nochdauert es aber Monate, bevor Shackleton seineLeute retten kann – erst der vierte Versuch im August1916 mit einem chilenischen Marineschiff gelingt.

Der als Held gefeierte Shackleton starb schliess-lich nur fünf Jahre später an einem Herzanfall aufeiner weiteren Reise in die Antarktis. Dass er in derUnbarmherzigkeit des Eises stets einen Auswegfand, seine Leute mit unerschütterlichem Optimis-mus motivieren und mit einem grossen Improvisa-tionstalent richtige Entscheide treffen konnte, hatihn freilich unsterblich gemacht.

«Unrettbar verfallen…»Die Antarktis: ein Ort, der von seinen Bewohnernund Eroberern Extremes abverlangt – und seineBesucher bis zum heutigen Tag für immer gefangen-nimmt. Diese Faszination kleidet der englische Kapi-tän Tom Sunter in einem Interview von 1988 in fol-gende Worte: «Jeder, der einmal in der Antarktiswar, ist ihr unrettbar verfallen. Nirgends sonst ver-einigen sich Majestät, Schönheit, Weite, Einsamkeitund schroffe Ablehnung zu solcher Pracht. Das klingtromantisch, beschreibt aber genau die Gefühle, diedie Antarktis in Menschen hervorruft. Wo sonst aufder Welt steigert sich die Natur zu solcher Herrlich-keit?»

Tom Sunter war übrigens Kommandant aufeinem britischen Forschungsschiff, das in der Antark-tis unterwegs war. Es trug, in Anlehnung an Shack-letons Expedition, den Namen HMS Endurance.

Shackletons Männer wassern auf Elephant Island die 7,5 mlange «James Caird», um nach Südgeorgien zu gelangen.Nach 15 entbehrungsreichen Tagen erreichen sie ihr Ziel.

Die Antarktis kann nur zwischenMitte Oktober und März bereistwerden. Oktober und November(Frühsommer) sind die beeindru-ckensten und abenteuerlichsten Rei-semonate. Die See ist dann nochmit Eis bedeckt, die Strände mitSchnee; Kaiserpinguinküken kön-nen nur jetzt beobachtet werden,während die übrigen Pinguinartenzum Nestbau zu den Kolonienzurückkehren. Dezember bis

Januar (Hochsommer) sind diewärmsten Monate, was das Wetterbetrifft. Jetzt schlüpfen die Kükender übrigen Pinguinarten. Februarbis März (Spätsommer) ist diebeste Zeit für Wal-Beobachtungen;das Eis hat sich zurückgezogen underlaubt Anlandungen auch weiterim Süden. Pinguinküken werdenflügge, die Kolonien leeren sich. DiePelzrobben tauchen nun auch ander Antarktischen Halbinsel auf.

Wenn im Winter Sommer ist