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informationen zur deutschdidaktik Zeitschrift für den Deutschunterricht in Wissenschaft und Schule Österreichisches Deutsch und Plurizentrik Herausgegeben von Jutta Ransmayr, Andrea Moser-Pacher und Ilona Elisabeth Fink Heft 3-2014 38. Jahrgang StudienVerlag Innsbruck

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informationen zur deutschdidaktik Zeitschrift für den Deutschunterricht

i n Wissenschaft u n d Schule

Österreichisches Deutsch und Plurizentrik

Herausgegeben von Jutta Ransmayr, Andrea Moser-Pacher

u n d I lona Elisabeth Fink

Heft 3 - 2 0 1 4

3 8 . Jahrgang

StudienVerlag Innsbruck

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Rudolf de Cillia

Innersprachliche Mehrsprachigkeit, Sprachnorm und Sprachunterricht

So wie Indiv iduen u n d Gesellschaften/Staaten pr inzipie l l mehrsprachig sind, sind es auch die Schulen (vgl. de Cillia 2013, 2010), durch fremdsprachliche Mehrspra­chigkeit , lebenswel t l i che Mehrsprach igke i t v o n a u t o c h t h o n e n sprachl ichen Minderhei ten, Gebärdensprach-Minderheiten u n d zugewanderten Minderhei ten, die andere Sprachen als die Mehrheitssprache Deutsch als Erstsprache/Familien­sprache verwenden. W i r d vor a l lem die lebensweltl iche Mehrsprachigkeit der Migrationssprachen häufig i n Didaktik u n d Medien thematisiert, so war das m i t der »innersprachlichen Mehrsprachigkeit« i n den letzten zwei Jahrzehnten weniger der Fall. I n den 1970er-Jahren war sie unter dem Vorzeichen »Dialekt u n d Sprachbarrie­ren« intensiv diskutiert worden - heute ist sie i n der Sprachdidaktik meines Erach­tens zu Unrecht k a u m ein Thema (vgl. Ammon/Kellermeier 1997). M i t innersprach­licher Mehrsprachigkeit ist die Tatsache gemeint, dass kompetente Sprecherinnen einer Sprache über unterschiedliche Varietäten dieser Sprache verfügen - u n d ge­rade i m deutschsprachigen Raum spielt diese innersprachliche Mehrsprachigkeit i m schulischen Kontext eine wichtige Rolle. Einerseits durch die Diglossie'Dialekt

RUDOLF DE C I L L I A ist Professor für Angewandte Linguistik und Sprachlehrforschung am Institut für Sprachwissenschaft der Universität Wien. Forschungs- und Publikationstätigkeit zu den Themen: Fremdsprachendidaktik und Sprachlehrforschung, Sprachenpolitik, sprachliche Minderheiten, Migrationsforschung, Sprache und Politik, kritische Diskursanalyse, linguistische Vorurteils­forschung, österreichisches Deutsch. E-Mail: [email protected]

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- Standardsprache bzw. Triglossie Dialekt - Umgangssprache - Standardsprache 1 , andererseits durch die sprachliche Variation innerhalb der plurizentrischen deut­schen Standardsprache m i t den drei Varietäten des Schweizer, des österreichischen u n d des deutschländischen Standarddeutsch. Diese Plurizentrizität des Deutschen - darauf weisen empirische Befunde h i n - w i r d etwa i n Lehrplänen, Lehrmateria­l ien u n d auch i m Unterricht kaum bis gar nicht berücksichtigt (vgl. den Art ikel v o n Ransmayr/Fink i n diesem Heft u n d auch Legenstein 2008, H e i n r i c h 2010, Redl 2014). Wie die B i ldungs ins t i tu t ionen Kindergarten u n d Schule m i t mehr oder minder wei t v o m bildungssprachlichen Standard des Deutschen entfernten erst­sprachlichen Varietäten der Kinder umgehen, das beeinflusst m i t Sicherheit die Bildungschancen der Schülerinnen. D e n n die deutsche Sprache ist n icht nur die Erstsprache der Mehrhei t der Schülerinnen - ihre zentrale Funkt ion i m Bildungs­system ist die der Bildungssprache. 2 I m Folgenden w i r d zunächst die innersprach­liche Variat ion der deutschen Sprache thematisiert , bevor auf die Frage näher eingegangen w i r d , wie Sprachnormen konzeptualisiert werden können u n d wie m i t Variation u n d N o r m i m Sprach/en/unterricht umgegangen werden kann.

1. Var ia t ion u n d deutsche Sprache

Die deutsche Sprache w i r d üblicherweise als eine an Varianten u n d an Varietäten besonders reiche Sprache beschrieben. So etwa v o n Barbour/Stevenson (1998) i n i h r e m Buch Variation im Deutschen: »Das Deutsche ist wahrscheinl ich die vie-gestaltigste Sprache Europas.« (Barbour/Stevenson 1998, S. 11) Als G r u n d dafür w i r d häufig die völlig andere historische Entwicklung des Deutschen i m dezentra­len deutschsprachigen Raum ins Treffen geführt, i m Vergleich etwa z u m Englischen m i t dem Z e n t r u m London, z u m Französischen m i t der Ile de France, Ital ien m i t der Toskana u n d Florenz als Z e n t r u m oder Spanien m i t Kasti l ien u n d Burgos u n d Portugal m i t der Grafschaft Portugal u n d Oporto (Protze 2001, S. 505). Löffler (2005) stellt fest, die »deutsche Gemeinsprache ist ein Kunstprodukt u n d nicht die Sprache eines politischen u n d kulturel len Mittelpunktes eines Hofes oder einer Hauptstadt« (Löffler 2005, S. 25).

Unter sprachlichen Varietäten können m i t Dittmar/Schmidt-Regener (2001, S. 521) »[...] funktional voneinander geschiedene, konstitutive Subsysteme des Ge­samtsystems einer Sprache« verstanden werden. Sie seien »theoretisch idealisierte

1 Diglossie bezeichnet Zweisprachigkeit innerhalb einer Gesellschaft/Sprachgemeinschaft, bei der es eine klare funktionale Differenzierung zwischen zwei eng verwandten Sprachvarietäten gibt, die unterschiedliches Prestige haben (High bzw. Low Language, vgl. Ferguson 1982/1959). Von Triglossie kann man in Parallelität dazu sprechen, wenn es sich um drei Varietäten handelt.

2 Gemeint ist damit ein formelles sprachliches Register mi t spezifischen syntaktischen, lexikali­schen und diskursiven Merkmalen, in dem man abstrakte, kognitiv anspruchsvolle Informationen unabhängig vom jeweiligen Kontext speichern und übermitteln kann; dasjenige sprachliche Register, i n dem man sich mit den Mitteln der Schulbildung ein grundlegendes Orientierungs­wissen verschaffen kann (vgl. Habermas 1977, Gogolin/Lange 2011).

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Konstrukte, die inventarisieren, welche Realisierungen von Sprache i n Abhängigkeit von der Sprachgebrauchssituation systematisch zu erwarten u n d als solche auf allen Ebenen des Sprachsystems beschreibbar sind (Phonologie, Grammatik, Lexik).«

Dabei kann m a n nach extralinguistischen Variablen zahlreiche unterschiedliche Varietäten unterscheiden: nach geographischen, diatopischen (räumlichen) Krite­r ien Dialekte, nach diastratischen schichtspezifische Soziolekte, nach staatlichen/ regionalen Kriterien plurizentrische oder pluriareale Varietäten, nach funktionalen Kri ter ien Fachsprachen, nach situationeilen Register, nach d e m Geschlecht gen-derspezifische Variation oder nach d e m Alter z u m Beispiel »Jugendsprache«. 3

Eine Abgrenzung der Varietäten voneinander ist schwierig. Die Variation auf der horizontalen Ebene k a n n letzt l ich als ein K o n t i n u u m m i t Kern- u n d Übergangs­zonen modell iert werden, deren Kernzonen von einem gewissen Ausmaß an Stabi­lität u n d Homogenität gekennzeichnet s ind u n d die m a n als Standardvarietät, Umgangssprache(n) u n d Dialekt(e) bezeichnet. Dabei ist die Standardsprache, auch als »Hochsprache«, »Schriftsprache«, »Gemeinsprache« bezeichnet, der eine Extrempunkt eines Kont inuums u n d w i r d das K o n t i n u u m v o n lokalen über regio­nale Dialekte bis h i n zu diesem Standard häufig als »NonStandard« oder wertender als »Substandard« bezeichnet.

I n den letzten Jahren w u r d e n auch alternative, pluriareale Model le regionaler Variat ion der deutschen Sprache i n Deutschland entwickelt , wie etwa v o n Nina Berend (2005, siehe auch Spiekermann 2005). Sie beschreibt den »deutschen Sprechstandard« (so etwas wie das von Durre l l eingeforderte »colloquial German«, »allemand populaire«; D u r r e l l 2003) u n d unterscheidet vier sprechsprachliche regionale Gebrauchsstandards: norddeutscher Sprechstandard, mitteldeutscher Sprechstandard, Südwest-Sprechstandard, Südost-Sprechstandard. Als sprech­sprachliche linguistische Varianten seien beispielhaft angeführt: <eine> - realisiert als »eine - ne - a/e« oder <nicht> realisiert als »nicht - n ich - net« oder die e-Apo-kope i n der 1. Pers. Sg. des Verbs ( f ind ich, sag ich, mach ich etc.), die i n i h r e m Mate­rial zu 98,8 Prozent realisiert w i r d .

I m schulischen Kontext u n d i m Kontext der Vermi t t lung der Bildungssprache geht es vor al lem u m die Vermit t lung der Standardvarietäten, auch w e n n m a n sich dessen bewusst sein muss, dass die Grenzen zwischen den Varietäten fließend sind - wie oben festgestellt.

Unter einer Standardvarietät werde nach Dittmar/Schmidt-Regener (2001) »das Subsystem einer Sprache verstanden, dessen N o r m e n den höchsten Verbindl ich­keitsgrad für alle Angehörigen einer polit isch definierten Kommunikat ionsgemein­schaft besitzen, da sie i n Regelwerken kodifiziert u n d deshalb präskriptiv sind«. Sie werde geschrieben, besitze überregionale Reichweite u n d Gültigkeit, werde vor­zugsweise i n ins t i tu t ione l len Kontexten u n d off iz ie l len Kommunikat ionss i tua­t ionen benutzt u n d erscheine i n der Alltagssprache niemals i n ihrer idealtypisch kodifizierten N o r m (Dittmar/Schmidt-Regener 2001, S. 521 f . ) .

3 Wie komplex eine Modellierung der Varietäten sein kann, zeigt eine Graphik bei Löffler 2005, S. 19.

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U n d weiter : »Standardsprache oder Standardvarietät ist die Bezeichnung für eine kodifizierte Sprache, die ihre Verbindlichkeit als offizielle Nationalsprache ei­nes Staates erhält u n d i n der Regel prestigebesetzt ist.« (Dittmar/Schmidt-Regener 2001, S. 525) Die wertende Bezeichnung »Hochsprache« werde i n diesem Zusam­menhang als Synonym verwendet.

A u f der Ebene der Standardsprache w i r d i n Publ ikat ionen zur Variat ion der deutschen Sprache heute davon ausgegangen (z. B. Clyne 1995, A m m o n 1995, 2005, A m m o n u . a. 2004, Ebner 2008), dass es sich b e i m Deutschen u m eine plur izentr i -sche Sprache handelt. Sowohl die Verknüpfung v o n Staat u n d Sprache bei Dittmar/ Schmidt-Regener (s. o.) als auch die für das Deutsche als besonderes Charakteristi-k u m angeführte Tatsache, dass es ke in historisches Z e n t r u m der Sprachnormie­r u n g u n d Standardisierung gegeben hat, legen es nahe, v o m Deutschen als einer plurizentrischen Sprache zu sprechen. Diese Sicht der Dinge ist w o h l nicht zufällig i n den letzten Jahrzehnten i n den Vordergrund gerückt. Durch die historische Ent­wick lung nach 1945, i n der das Gebiet der deutschsprachigen Bevölkerung auf vier (später drei) große Staaten aufgeteilt wurde , hat sich z u n e h m e n d die Einsicht durchgesetzt, dass es sich hier u m unterschiedliche Varietäten ein u n d derselben Sprache handelt. So formulierte Peter v o n Polenz (1988) »[a]uch i n der Geschichte der deutschen Sprache ist das Zeitalter der perfektionierten m o no m a ne n Standar­disierung heute w o h l zuende« (von Polenz 1988, S. 216). Unter einer p lur izent r i ­schen Sprache versteht m a n eine Sprache, deren Verbreitungsgebiet sich über mehrere Länder erstreckt u n d die über mehrere Zentren der sprachlichen Entwick­lung verfügt, i n welchen dann jeweils eine so genannte nationale Varietät m i t eige­nen N o r m e n u n d einem gewissen Eigenleben existiert (dafür sowie für Informat io­nen z u m Projekt »Österreichisches Deutsch als Unterrichts- u n d Bildungssprache«, auf das i m Folgenden mehrmals Bezug g e n o m m e n w i r d , siehe den Ar t ike l v o n Ransmayr/Fink i n diesem Heft) . Als andere Beispiele für plurizentrische bzw. p l u r i -nationale Sprachen können auch Englisch, Französisch, Spanisch, Chinesisch oder Arabisch etc. genannt werden (vgl. Clyne 1992).

2. Sprachliche Var ia t ion i n Österreich

Überträgt m a n das obige M o d e l l von sprachlicher Variation auf die Sprachsituation i n Österreich, dann w i r d meist zwischen österreichischem Standarddeutsch/Hoch­deutsch, einer großräumigeren Umgangssprache u n d regionalem Dialekt bzw. regionalen Dialekten unterschieden, wobei i n d e m so genannten »Dialekt-Stan-dard-Kontinuum« ein nahüoser Übergang zwischen den Ebenen möglich ist - m i t Ausnahme des alemannischen Bereichs i n Vorarlberg u n d einem Teil Tirols (siehe dazu ausführlicher Ender/Kaiser 2009).

I m Projekt »Österreichisches Deutsch als Unterr ichts- u n d Bildungssprache« (vgl. dazu auch den Beitrag v o n Ransmayr/Fink i m vorliegenden Heft) wurde bei einer großen Fragebogenerhebung (164 Lehrerinnen, 1.264 Schülerinnen) unter anderem gefragt, wie die Probandlnnen die Sprache, die die Mehrheit der Österrei­cherinnen als Muttersprache spricht, nennen würden? Ca. die Hälfte der Lehrerin-

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nen u n d der Schülerinnen gab als Antwort »Deutsch«, ca. 20 Prozent der Lehrerin­nen u n d elf Prozent der Schülerinnen gaben »österreichisches Deutsch« an, ca. sechs Prozent der Lehrer innen u n d zehn Prozent der Schülerinnen »Österrei­chisch«. I n e inem weiteren I tem w u r d e gefragt, was »österreichisches Deutsch« nach Ansicht der Befragten sei, u n d dabei w u r d e n drei Optionen vorgegeben: »das, was m a n i n österreichischen TV- u n d Radionachrichten spricht«, »das, was m a n i n Österreich i m Alltag spricht (Umgangssprache)« u n d »die verschiedenen Dialekte i n Österreich«. A m häufigsten wurde dabei von den Lehrerinnen m i t ca. 70 Prozent die umgangssprachliche Varietät genannt, ca. 48 Prozent nannten die standardnahe Mediensprache, ca. 44 Prozent die Dialekte. Von den Schülerinnen nannten ca. 72 Prozent die umgangssprachliche Varietät, ca. 20 Prozent die standardnahe Medien­sprache u n d ca. 70 Prozent die Dialekte. Befragt nach dem Gebrauch v o n Varietäten i n privaten Gesprächen gaben zwischen vier u n d acht Prozent der Schülerinnen an, jeweils m i t Freundinnen, Eltern, Geschwistern oder Großeltern Standard zu spre­chen, die Umgangssprache gaben 22 bis 33 Prozent (je nach Gesprächspartnerin­nen) der Schülerinnen an, den Dialekt zwischen 42 u n d 47 Prozent - der Rest be­zieht sich auf Kombinat ionen zwischen den Varietäten. Die Lehrer innen geben ihrerseits zwischen vier u n d acht Prozent (je nach Gesprächspartnerinnen) an, i n privaten Situationen den Standard zu verwenden, zwischen 22 u n d 42 Prozent die Umgangssprache u n d zwischen 17 u n d 35 Prozent den Dialekt. Ganz offensichtlich spielen alle drei Varietäten - unterschiedlich gewichtet bei Lehrerinnen u n d Schü­ler innen - eine wichtige Rolle bei der W a h r n e h m u n g der sprachlichen Situation u n d be i m Sprachgebrauch i n Österreich, was ja auch der sprachlichen Realität ent­spricht. U n d die »Umgangssprache« w i r d als Varietät zwischen Standard u n d Dialekt i n Österreich (mit Ausnahme Vorarlbergs) - i m Unterschied zur Schweiz - v o n den Sprecherinnen als wicht ig wahrgenommen (vgl. Ender/Kaiser 2008).

Eine andere Möglichkeit als m i t der Trias »Standard - Umgangssprache - Dia­lekt« die sprachliche Variation i n Österreich zu beschreiben, ist es, sie als komplexe Diglossie zu modell ieren. So schlägt M u h r (2013,1997) für die Analyse der österrei­chischen Sprachsituation ein derartiges M o d e l l vor. Danach weise der Sprach­gebrauch der Österreicherinnen alle Merkmale einer komplexen Diglossie auf, i n der i m All tag u n d i n nähesprachlichen Situationen (ähnlich wie i n der Schweiz) regionale oder großregionale Varietäten des österreichischen Deutsch verwendet werden. I n formellen Situationen würden Varianten des formalen, schriftbasierten Sprechstandards verwendet. Je nach beruflicher oder privater Situation komme es zu einem regelmäßigen Wechsel zwischen diesen Varietäten. D e m zugrunde liege eine komplexe Kompetenz der Sprecherinnen, u n d es sei aufgrund der l inguis t i ­schen Distanz zwischen den Varietäten von e inem bi l ingualen Sprachverhalten auszugehen. M u h r spricht v o n nähesprachlichen u n d distanzsprachlichen Varietä­ten als kommunikat iven u n d nicht als linguistischen Standards.

Letztlich muss m a n feststellen, dass eine exakte Beschreibung der tatsächlichen Sprachvariation i n Österreich fehlt u n d wenige empirische Forschungen einer zeit­gemäßen deskriptiven germanistischen Linguist ik dazu vorliegen. Eine realitäts­nahe Model l ierung u n d genaue empirische Beschreibung des Sprachgebrauchs i n

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Österreich, die die gesamte Variationsbreite des Sprachverhaltens i m Dialekt-Standard-Kontinuum erfasst u n d variationslinguistisch begründet, stellt ein w i c h t i ­ges Desiderat dar.

3. Sprachnormen

I m schulischen Sprach/en/unterricht geht es u m die V e r m i t t l u n g v o n Sprach­n o r m e n , wobei , wie schon oben angeführt, die Standardsprache eine besonders verbindl ich normierte Varietät darstellt.

I n der Linguist ik unterscheidet m a n zunächst zwischen e inem deskriptiven, beschreibenden Normbegr i f f u n d e inem präskriptiven, vorschreibenden N o r m ­begriff: Da ist m i t Sprachnorm das »sprachlich/grammaüsch Korrekte« gemeint, so wie es z u m Beispiel durch grammatische Handbücher u n d Wörterbücher, durch den Kodex, für die deutsche Standardsprache fest- u n d vorgeschrieben oder zu­mindest empfohlen ist u n d durch Bildungseinrichtungen (v. a. Schulen u n d Hoch­schulen), Medien u n d Ähnliches verbreitet u n d z u m Teil überwacht w i r d . Normver­stöße führen zu sozialen Sanktionen, z u m Beispiel zu schlechten Noten i n der Schu­le, Geringschätzung des Gesprächspartners bis h i n z u m Kommunikationsabbruch.

D e m (didaktisch orientierten) präskriptiven Normbegri f f steht die (linguistisch orientierte) deskriptive Sprachnorm, Gebrauchsnorm gegenüber. Sie zielt auf den tatsächlich v o r k o m m e n d e n Sprachgebrauch ab u n d umfasst somit auch Formen eines Standards, die präskriptiv zwar »falsch«, gleichwohl weit verbreitet sind. Wei­ter gefasst mein t die Gebrauchsnorm das allen Mitg l iedern einer Sprachgemein­schaft verfügbare Regelsystem einer Sprache oder v o n sprachlichen Varietäten, auch v o n Nonstandardvarietäten. N o r m e n können sich auf alle sprachlichen Berei­che beziehen, v o n der Morphologie u n d Syntax bis h i n zur Pragmatik, die weniger explizit u n d selten i n einem Kodex festgelegt sind. So verstanden sind sprachliche N o r m e n unterschiedl ich verbindl ich , viele s ind nicht schri f t l ich notiert , u n d sie unterliegen wie alle sozialen N o r m e n sprachlichem u n d gesellschaftlichem Wan­del . Dabei gibt es außer i m Bereich der Rechtschreibung ( i m deutschen Sprach­raum) keine Normierungsverfahren oder -instanzen. Dass Nachschlagewerke wie der Duden auch für Fragen außerhalb der Rechtschreibung als maßgeblich gelten, ist eine Konvention, die aber höchstens i m Bereich v o n Schule u n d Amtsstellen festgeschrieben werden kann . Dass sich die meisten Menschen i n einer Sprach­gemeinschaft dennoch an sprachliche N o r m e n halten, verweist auf den klar sozia­len, großteils verbindlichen Charakter sprachlicher Normen.

Die N o r m e n der Standardvarietäten sind von sehr hoher Verbindlichkeit. Sie sind kodifiziert - es gibt für sie Nachschlagwerke für den »korrekten« Gebrauch, sie ha­ben amtlichen Status, sie werden i n der Schule förmlich gelehrt, sind oft auch gesetz­l ich verankert (z. B. i n der Verfassung, i n Lehrplänen) u n d ihre Einhaltung w i r d kon­trol l iert v o n »Sprachnormautoritäten« ( A m m o n 2005). Für die Durchsetzung oder Aufrechterhaltung dieser N o r m e n sorgen so genannte normsetzende Instanzen ( A m m o n 2005) wie Model lsprecher innen/Model l texte ; Berufssprecherinnen, -schreiberinnen, z u m Beispiel Nachrichtensprechlnnener, Schrif tstel ler innen;

4. Sprachunterr icht

Was bedeuten die obäeeai I daran erinnert , dass der 1

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Sprachkodices (Nachschlagwerke, Wörterbücher, Grammatiken); Sprachexpertin­nen (und sprachwissenschaftliche Fachleute) u n d eben Sprachnormautoritäten, die von Berufs wegen Texte korrigieren (dürfen) (Lehrer innen, Amtsvorständlnnen, Lektorinnen, Redakteurinnen etc.).

Ein weiter gefasster Normbegr i f f ist der der situativen N o r m : M i t der Entwick­lung vo n Soziolinguistik u n d Pragmalinguistik seit den 1960er-Jahren, die sich m i t sprachlicher Variation auch außerhalb des Standards befassen bzw. m i t der Bezie­hung zwischen Sprachsystem u n d Sprachverwenderinnen, w u r d e e in flexibleres Normverständnis model l ier t . Sprache w i r d hier als Sprachhandeln verstanden, kompetente Sprecherinnen einer Sprache verfügen über die so genannte k o m m u ­nikative Kompetenz, sie s ind i n möglichst vielen unterschiedl ichen Situationen sprachlich handlungsfähig. Nach d e m M o t t o : Wer spricht wie/welche »Sprache« m i t w e m u n d w a n n i n welcher Situation/unter welchen sozialen Umständen über welchen Inhalt/welches Thema m i t welchen Absichten u n d Konsequenzen? Dieser Konzeption entspricht ein situativer Normbegriff , der die Beherrschung v o n unter­schiedlichen Registern der Standardsprache, aber auch dialektaler oder umgangs­sprachlicher Varietäten je nach Situation, Thema, Gesprächspartnerin etc. umfasst. I n der Familie spricht m a n anders als bei e inem Vortrag, m i t d e m Mechaniker anders als m i t dem Arzt, u n d der Deutsch-Lehrer/die Deutsch-Lehrerin verwendet eine andere Varietät, w e n n er/sie über das klassische Balladenjahr vorträgt als w e n n er/sie Schülerinnen maßregelt oder diszipliniert. Ein derartig flexibles N o r m ­konzept entspricht w o h l eher d e m tatsächlichen Sprachgebrauch als ein starr an der präskriptiven N o r m orientiertes.

4 . Sprachunterr icht

Was bedeuten die obigen Ausführungen für den Sprachunterricht? Zunächst sei daran erinnert, dass der Deutschunterricht an den Schulen nicht nur Deutsch als Muttersprache-Unterricht ist, sondern Unterr icht i n der Bildungssprache, der der Entwicklung allgemeiner Sprachkompetenzen dient, u n d außerdem Deutsch als Zweitsprache-, Deutsch als Drittsprache-Unterricht . I m Schuljahr 2012/13 betrug etwa der Prozentsatz v o n Schülerinnen m i t anderen Erstsprachen als Deutsch i n den österreichischen Volksschulen 25,6 Prozent, i n den AHS 16,2 Prozent (BMBF 2014). Dabei w i r d die Bildungssprache Deutsch natürlich nicht nur i m Deutsch­unterr icht vermittel t , sondern i n allen Fächern, d e n n jeder Unterr icht , auch der Physik-, Mathematik- oder Musikunterr icht , ist Sprachenunterricht (vgl. de Cill ia 2013 u n d das Konzept des Curr icu lum Mehrsprachigkeit, Reich/Krumm 2013).

Welche Varietät soll n u n unterr ichtet werden? »Unterrichtssprache ist H o c h ­deutsch!« ist e in häufig v o n Repräsentantinnen der Schulaufsicht formul ier ter Anspruch. Gemeint ist damit, dass die Standardsprache i n der Schule die alleinige oder zumindest vorherrschende Varietät sein soll . Die sprachliche Realität ist wesentlich komplexer (s. o.), auch an den Schulen, wie schon eine Erhebung v o n Eva Maria Rastner aus 1997 zu Österreich zeigte. Sie hat eine Umfrage zur Verwen­dung der u n d z u m Umgang m i t den Varietäten Hochsprache - Umgangssprache -

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Dialekt unter Deutsch-Lehrerinnen i n acht Bundesländern (n = 24, Vorarlberg wur­de nicht erfasst) gemacht. Diese zeigt deutl ich regionale Unterschiede: Werden i m Nordosten Österreichs (Wien, Niederösterreich, nördliches Burgenland) einer »ge­pflegten« Umgangssprache bzw. dem Standard höchstes Prestige zugesprochen, so ist es nach ihren Daten i m Süden u n d Westen (Steiermark, Kärnten, Oberösterreich, Salzburg, Tirol) so, dass der gepflegten Umgangssprache i n offiziellen Gesprächs­situationen der Vorzug gegeben w i r d , i n informel len jedoch der Dialekt als selbst-bewusster Ausdruck regionaler Zugehörigkeit eingesetzt w i r d . Die Befragten diag­nostizieren auch, dass nur ein geringer Prozentsatz der Kinder die Standardsprache i n den Unterricht als Herkunftssprache mitbr ingt , dass dialektsprechende Jugend­liche häufiger Schwierigkeiten be im Erlernen des Standards haben. Was die Bewer­tung der Varietäten durch die Gesellschaft betrifft, sei die Aussage eines Lehrers aus Kärnten zitiert : »Dialekt ist wie ein Arbeitsgewand, mieft, ist beschmutzt, abgenützt, hat Farbkleckse; Umgangssprache ist legere, bequeme Alltagskleidung v o n Leuten, die aus dem Ärgsten herausen [sie!] sind, Standardsprache: korrekte, betont saube­re Kleidung« (Lehrer aus Kärnten; Rastner 1997, S. 82).

A u c h erste Ergebnisse des Projekts »Österreichisches Deutsch als Unterrichts­u n d Bildungssprache« weisen daraufh in , dass alle drei Varietäten - Standard - U m ­gangssprache - Dialekt - i n den österreichischen Schulen wicht ig sind u n d i n unter­schiedlichen Situationen Verwendung f inden: So geben 37,6 Prozent der Schülerin­nen an, m i t Lehrerinnen vorwiegend i m Standard zu sprechen, 33,3 Prozent geben die Umgangssprache an u n d n e u n Prozent Dialekt - v o n den Lehrer innen geben 41,5 Prozent an, vorwiegend den Standard i n Gesprächen m i t den Schülerinnen zu verwenden, 20,7 Prozent geben die Umgangssprache an, 1,2 Prozent den Dialekt. Der Rest bezieht sich jeweils auf Kombinat ionen v o n Varietäten.

Rastners Schlussfolgerung aus der Erhebung v o n 1997 k a n n nur zugest immt werden, dass i n e inem »aufklärerischen Sprachunterricht« auch umgangssprach­liche u n d dialektale Varietäten ihren Platz haben sollten u n d dass es u m ein funk­t iona l richtiges Einsetzen v o n Sprachvarietäten entsprechend der K o m m u n i k a ­tionssituation geht.

»Die A u f h e b u n g der D i c h o t o m i e >richtiges/falsches< bzw. >gutes/schlechtes< Deutsch zugunsten einer >situationsangemessenen/situationsunangemessenen< Sprachverwendung ist e in wicht iger Beitrag zur K u l t i v i e r u n g eines toleranten Umgangs m i t Sprache, den Schule u n d Gesellschaft v o n heute dringend brauchen.« (Rastner 1997, S. 93) Welche N o r m , welche Varietät i n welcher Situation, i n welcher Textsorte i n Bezug auf welches Thema, welchen Inhal t adäquat ist, das müssen Lehrerinnen als zentrale normsetzende Instanzen letztl ich i m m e r wieder i n ihrer Unterrichts- u n d Korrekturpraxis entscheiden.

Ziele eines derartigen Sprachenunterrichts sollten die Sensibilisierung für die unterschiedl ichen Formen innersprachl icher Mehrsprachigkeit u n d für unter­schiedliche situative N o r m e n sein, die Realisierung flexibler, situativer N o r m e n u n d die Entwicklung v o n Normtoleranz bzw. der Akzeptanz unterschiedlicher Normen.

Das bedeutet auch, e in sprachkritisches Bewusstsein für die Sprachsituation i n Österreich zu vermitteln, e in Bewusstsein v o n der Gleichwertigkeit der nationalen

Varietäten der deutschen Spc r.-sierreichischen Varietät. D~ss bewusste Umgang m i t d e m Schulen nicht unbedingt p r u z a = m i v Ammon 1995, Ransmay: j E < i auch die ersten Ergeh r_üa nchts- u n d Bildungssprach-e-5c_dienpläne noch Lehrbü: sprachlicher Variation u n d NOB

Schon eine I n t e n i e w e r h e h r _ einer derartigen E i n s c L s m Ifcderschlag« (Werner W i jetät Klagenfurt); »Die S p r ^ r a ±<e sich damit zufrieden z.:: z ---.zr.dlich seien nur d i e :

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4 Mit dem Curriculum M dagoglnnenbildung ein Unterrichts leisten kan:

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Varietäten der deutschen Sprache u n d einen selbstbewussten Umgang m i t der österreichischen Varietät. Dass dieser flexible Umgang m i t Varietäten, der selbst-bewusste Umgang m i t d e m österreichischen Deutsch i n den österreichischen Schulen nicht unbedingt praktiziert w i r d , daraufweisen Befunde aus der Forschung h i n ( A m m o n 1995, Ransmayr 2006, Legenstein 2008, H e i n r i c h 2010, Redl 2014), u n d auch die ersten Ergebnisse des Projekts »Österreichisches Deutsch als Unter­richts- u n d Bildungssprache« weisen i n die Richtung, dass weder Lehrpläne noch Studienpläne noch Lehrbücher sich an einem derart differenzierten Umgang m i t sprachlicher Variation u n d N o r m orientieren.

Schon eine Interviewerhebung bei elf Expert innen für Deutsch-Didaktik führte zu einer derartigen Einschätzung: »Varietätenfragen f inden i m Unterr icht k a u m Niederschlag« (Werner Wintersteiner, Professor für Deutschdidaktik an der Univer-stität Klagenfurt); »Die Sprachauffassung i n Lehrplänen [ist eine] relativ nebulose, die sich damit zufrieden gibt, dass so etwas wie >richtiges< Deutsch existiert.« U n d letztendlich seien nur die individuel len Normvorstel lungen des Lehrers ausschlag­gebend. Nirgends sei festgelegt, wo das »richtige« Deutsch zu f inden sei (Norbert Griesmayr, bis 2006 Lektor an der Universität Wien für Fachdidaktik Deutsch).

Laut den Erhebungen i m erwähnten Projekt liegt den Lehrplänen ein m o n o -zentrisches Normkonzept zugrunde. Es w i r d dort häufig auf »Sprach- u n d Schreib­normen«, »Sprach- u n d Schreibrichtigkeit«, »bestimmte Sprachnormen« referiert, ohne dass diese definiert werden oder dass ein Bezug zu einem Kodex hergestellt w i r d . Plurizentrische Variation w i r d gar nicht thematisiert u n d der Umgang mit/die Thematisierung von sprachlicher Variation ist unsystematisch. I n den exemplarisch analysierten Lehrbüchern (je dre i der meis tverwendeten Lehrbuchser ien aus Volksschule, Sekundarstufe I u n d I I ) ist österreichisches Deutsch meist ke in The­ma, plurizentr ische Konzepte werden d a r i n n icht thematisiert , die Texte b i lden zwar länderspezifische Standardvariation ab, aber spezifische u n d unspezifische Austriazismen/Deutschlandismen/Helvetismen bleiben für Schülerinnen u n k o m -mentiert . Die Lehrerbegleithefte enthalten keinerlei Materialhinweise oder theore­tische Hintergrundinformat ionen z u m österreichischen Deutsch oder zu standard­sprachlicher Variation innerhalb des Deutschen.

Soll e in auf Varietätenkompetenz u n d Normsens ib i l i s ierung ausgerichteter (Sprach)Unterricht umgesetzt werden, dann müssen sowohl zukünftige Lehrpläne u n d Studienpläne an Pädagogischen Hochschulen u n d Universitäten als auch Lehrbücher sich daran orientieren. U n d dabei muss Mehrsprachigkeit, auch inner­sprachliche Mehrsprachigkeit , Thema aller Unterrichtsfächer sein, d e n n jeder U n t e r r i c h t ist - wie oben schon festgestellt - auch Sprach/en/unterricht, u n d sprachliche Bi ldung spielt eine Schlüsselrolle für ein chancengerechtes u n d faires Bildungssystem. 4

4 Mit dem Curriculum Mehrsprachigkeit (Reich/Krumm 2013) liegt für die Schulen und für die Pä-dagoglnnenbildung ein Konzept vor, das eine wertvolle Hilfe für die Umsetzung eines derartigen Unterrichts leisten kann.

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