Q36 // Kleistfabrik // Anthologie
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Transcript of Q36 // Kleistfabrik // Anthologie
KleistfabriK
Quartheft 36 // Bibliothek Belletristik
ISBN: 978-3-940249-84-5 © 2012 Verlagshaus J. Frank | Berlin Chodowieckistraße 2 / 10405 Berlin www.belletristik-berlin.de
Alle Rechte vorbehalten.
Konzeption, Gestaltung, Illustration und Satz // Dominik Ziller Schrift // Novel / Bree 6—80 Buchdruck und -bindung // SDL Buchdruck, Berlin / Printed in Germany, 2012 Papier // 100 g/m2 Lessebo Design Smooth / 1,3 Vol. / natural
Weitere Titel in der Edition Belletristik:Q35 // Druckkammern. Gedichte. Max Czollek.Q34 // Schönheitsfarm. Gedichte. Birgit Kreipe.Q33 // Horae. Gedichte. Swantje Lichtenstein.Q32 // Golems Totems. Gedichte. Jinn Pogy.
Weitere Titel in der Bibliothek Belletristik:Q22 // Torp. texte. Ron WinklerQ21 // Bodenpersonal. texte. Björn Kuhligk.Q20 // Firnis. roman. Stefan Heuer. Q19 // Trawler. texte. Dominic Angeloch.
Alle Titel, die im Verlagshaus J. Frank | Berlin erscheinen, werden im Literaturarchiv Marbach, im Lyrik Kabinett München und in der Deutschen Nationalbibliothek archiviert.
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk, einschließlich aller seiner Teile sowie der Illustrationen, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages, des Autors und des Künstlers unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Lesungen, Vertonungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Literatur der Gegenwart im Dialog mit Heinrich von Kleist
Beiträge zum Stahl-Literaturpreis Eisenhüttenstadt zum 200. Todesjahr von Heinrich von Kleist
Einmal Eins
Die Schreie der Silbermöwen über dem See. Mit einem Mal verwandelt die Wolke, die sich eben vor die Sonne geschoben hat, das Grün ihrer Augen in Grau. Er merkt, wie ihre Unruhe gewachsen ist, seit sie auch den letzten Rest des zu schwachen und kaum mehr lauwarmen Kaffees aus der Kanne auf dem Tisch ausgetrunken hat: Sie hat sich aufgerichtet, schnell hebt und senkt sich ihr Brustkorb; die Tasse, an die sie sich zuvor
8 | neunKleistfabrik
[1]Er erhebt sich. Verwundert schaut sie ihn an, bis er erklärt, dass er sich doch
anders entschieden habe. Und die Abschiedsbriefe?, fragt sie, während er ihr
aus der Grube hilft. Es sei dies eine Möglichkeit, endlich vollkommen zu ver-
schwinden, nur eben lebendig und nicht durch die Selbsttötung, entgegnet er.
Man müsse all das als ein Spiel begreifen, das sie bis zum letzten Moment ja
auch zu Ende spielten, nur dass es für sie beide weiterhin ein Spiel bleiben
werde, für all die anderen aber Ernst. Sie verstehe nicht, sagt sie, aber lässt sich
dann doch widerstandslos von ihm in den Wald führen. Sie hausen in einer
Höhle, sammeln Beeren, schießen mit den drei Pistolen, die sie mit sich führen
und die eigentlich für sie selbst vorgesehen waren, Wild. Nachdem ihre Un-
terleibsschmerzen in den ersten Tagen in der Natur abgenommen haben, was
er auf die heilsame Wirkung des Landlebens zurückführt, werden sie nach
etwa zwei Wochen wieder stärker. Er erinnert sich an seine Schweizer Zeit,
an Kräuter, die betäuben und die er auch hier im Wald findet. Er pflegt sie. Als
sich das Pulver dem Ende neigt, stellt er Fallen. Den milden Winter deutet er
als Zeichen dafür, dass es die richtige Entscheidung war, hierher zu kommen.
Oft erzählt er ihr Geschichten, Stoffe für Erzählungen, die ihm in den vergan-
genen Monaten im Kopf herumgingen. Sie stirbt in seinen Armen. Es gelingt
ihm nicht, sie im hart gefrorenen Boden zu begraben. Er bedeckt sie mit
Zweigen. Eine Woche später liegt sie noch immer da, unverwest, mit ihren
klammerte, wobei ihm nicht entging, dass sie dabei zitterte, vielleicht auch nur vor Kälte, hat sie losgelassen. Wie häufig seit Anfang September, seit der Beschluss feststand, ist da wieder diese Stimme in seinem Kopf, die ihm sagt, nein, ihm zuflüstert, was er als nächstes tun könnte, wie es auch kommen könnte, wenn er nicht das täte, für das er sich entschieden hat.1, 2 Er hat diese Momente, in denen er in Sekundenschnelle vor Augen hat, wie sein Leben möglicherweise auch verlaufen könnte, Momente des „Was wäre wenn“ genannt. Es ist dann stets beinahe
Thomas von Steinaecker Einmal Eins
vollen Lippen. Als der Hunger zu groß wird, treibt es ihn in die nächste Ort-
schaft, an deren Rand er wartet, bis es dunkel wird. Dann stiehlt er Gänse und
Hühner und schafft sie in seine Höhle. So geht es vielleicht bis Ende Januar.
Er hat sein Zeitgefühl verloren. Manchmal spielt er mit dem Gedanken, nun,
da er zum Dieb geworden ist, sich eine Gefolgschaft zuzulegen und größere,
gewagtere Raubzüge zu unternehmen, so wie sein Kohlhaas. Von der Kälte
holt er sich Fieber. Er hört Menschen, der durch den Wald ziehen und die ihn
suchen, er kann es sich denken. Als er eines Abends mit einem Schwein auf
den Schultern aus einem Stall tritt, steht da der Bauer vor ihm, und er läuft,
über das Schneefeld, in das er einsinkt, lässt das Schwein los, Schüsse hallen,
Rufe, „Dieb!“, „Haltet ihn!“. Sie sind es, die er hört, als er sich an den Rücken
greift, während er das warme Blut in seinem Mund spürt. „Wir haben ihn! Wir
haben ihn!“ Noch nicht, Freunde, denkt er noch, die Sterne über sich, niemals,
und er verliert das Bewusstsein.
[2]Er erhebt sich. Verwundert schaut sie ihn an, bis er erklärt, dass er sich doch
anders entschieden habe. Und die Abschiedsbriefe?, fragt sie, während er ihr
aus der Grube hilft. Es sei dies eine Möglichkeit, endlich vollkommen zu ver-
schwinden, nur eben lebendig und nicht durch die Selbsttötung, entgegnet er.
Man müsse all das als ein Spiel begreifen, das sie bis zum letzten Moment ja
auch zu Ende spielten, nur dass es für sie beide weiterhin ein Spiel bleiben
10 | elfKleistfabrik
werde, für all die anderen aber Ernst. Sie verstehe nicht, sagt sie, aber lässt sich
dann doch widerstandslos von ihm in die nächste Ortschaft führen. Von dem
letzten Geld, das sie besitzen, logieren sie im „Gasthof zur goldenen Kutsche“
unter dem Namen Wieland. Zusammen mit dem Wirt unterhalten sie sich
über das Paar, er Schriftsteller, sie Landrentmeistergattin, das Abschieds-
briefe an alle Verwandte und Freunde geschickt hat, deren Leichen aber immer
noch nicht gefunden wurden. Ihr gegenüber behauptet Heinrich, er handele
nach einem Plan, den er schon lange gefasst habe, doch er weiß nicht, wie
lange er noch die einzige Frau neben seiner Schwester, der er vollkommen
vertraut hat in seinem Leben, anlügen kann.
Eines Abends – zwei Tage später hätten sie keinen Groschen mehr – treffen
sie beim Abendbrot auf einen auffallend gekleideten Herrn, den ein junger
Mohr begleitet. Der Herr im grün-gelb gestreiften Frack und mit den roten
Galoschen stellt sich als Doktor Isenrath vor. Er sei auf der Durchreise zu
seinem Freund, Professor Widmer, an der medizinischen Fakultät zu Basel,
wo man neueste Erkenntnisse über Erkrankungen bei schwangeren Frauen
diskutieren wolle, wie man das Kind retten könne bei dem Tode geweihten
Müttern, wie früh man das Kind aus einer sterbenden Mutter holen dürfe und
dergleichen mehr. Man ist sich sympathisch. Auf Doktor Isenraths Nachfrage,
was die beiden in diesen Gasthof führe, vertraut Henriette ihm ihren aus-
wie damals, als er ein Kind war und er sich nachts ausmalte, was aus ihm einmal wird, wenn er endlich groß ist; wer er dann ist. Ein berühmter Stabskapitän mit Frau und Kind wie sein Vater zum Beispiel. Alles würde auf sein Kommando hören. Nur kamen früher, vor nun über 34 Jahren, diese Momente wie gerufen; die Bilder entstanden vor ihm und verschwanden wieder, weil er es wollte. Aber wann die Stimme, die ihn seit September heimsucht, zu sprechen beginnt und was sie dann sagt, kann er zum einen nicht beeinflussen; zum anderen hasst und fürchtet er sie zugleich, weil
Thomas von Steinaecker Einmal Eins
sichtslosen Zustand an. Heinrich kann erkennen, dass Doktor Isenrath von
Anfang an von ihrem Wesen gefangen ist, weswegen er sich wohl jetzt auch
genau ihre Besuche bei anderen Ärzten und deren Befunde erzählen lässt.
Gegen Mitternacht unterbreitet ihnen dann Doktor Isenrath zu Heinrichs
Erstaunen einen Vorschlag: Er würde Henriette, deren Zustand, wenn er recht
verstanden habe, ja leider aussichtslos scheine, gerne zusammen mit seinem
Freund in Basel untersuchen. Es sei wahrscheinlich, dass sie bisher nur von
unfähigen Kollegen, wie es sie ja leider zu oft gebe, behandelt worden sei, dass
aber Spezialisten wie er und Professor Widmer wenn schon nicht Heilung, so
doch eine beträchtliche Verlängerung der Lebenszeit bewirken könnten. Ihr
Gatte dürfe sie selbstverständlich begleiten. Auf dessen Ausruf hin, dass dies
leider nicht möglich sei, man habe zu wenig Geld bei sich, um so eine weite
Reise von heute auf morgen anzutreten; außerdem wisse er nicht, ob er über-
haupt eine derartige Behandlung bezahlen könne, wedelt Doktor Isenrath
nur mit den Händen; das Paar solle sich als eingeladen betrachten, solange
Frau Wieland dem Professor und ihm ihren Körper zur untersuchenden Ver-
fügung stellte.
Auf der Fahrt nach Basel konzipiert Heinrich in Kutschen und Nachtquartie-
ren ein neues Lustspiel über eine Begegnung zwischen Voltaire und dem Alten
Fritz, in dem der König zusammen mit dem Philosophen eine Reise inkognito
die Dinge, die sie ihm hastig und doch ausführlich erzählt, manch-mal zu verführerisch klingen, zu schön. Nur mit großer Mühe gelingt es ihm dann, sie zum Schweigen zu bringen beziehungs-weise, sofern diese Stimme ihm selbst zugerechnet werden kann, und wem sonst auch sollte sie gehören?, sich selbst zum Schweigen zu bringen, so wie jetzt, da er dem bitteren Kaffeegeschmack in seinem Mund nachspürt. Mit einer schnellen Bewegung, während der er Henriette weiter in die Augen blickt, greift er nach der Pistole vor sich und schießt
12 | dreizehnKleistfabrik
durch sein Reich unternimmt, um sich vom moralischen Zustand seines Volkes
ein Bild zu machen. Heinrich plant, das Stück noch von Basel aus unter dem
Namen Graf Lorenzo an Friedrich Wilhelm zu schicken. Auch nach Ankunft
in der Eidgenossenschaft zeigt sich Doktor Isenrath, der das Paar in einem
Zimmer in Professor Widmers Haus unterbringt, weiterhin spendabel.
Heinrich ist zu sehr mit der Niederschrift seines Stücks und den damit ver-
bundenen Hoffnungen beschäftigt – er hatte es nicht mehr für möglich ge-
halten, so für eine Geschichte Feuer zu fangen –, als dass es ihn übermäßig
interessieren könnte, was in jenen Stunden geschieht, die Henriette mit
Professor Widmer und Doktor Isenrath verbringt. Auch als Letzterer ihm
mitteilt, dass der Professor und er eine Operation für unabdingbar halten,
willigt er darin ein, ohne länger darüber nachzudenken oder Rücksprache mit
Henriette zu halten, die laut dem Doktor zu schwach ist, um ihn zu empfangen.
Wenn er nicht an seine Arbeit denkt, während der er oft angesichts der Ver-
wechslungen und Späße, die ihm einfallen, lauthals und herzhaft lachen muss,
geht er am Rhein spazieren und gesteht sich, dass Henriette ihn seit des plötz-
lichen Entschlusses, sich doch nicht umzubringen, immer gleichgültiger wird.
Nach der Antwort aus Preußen auf sein Stück will Heinrich seiner Schwester
schreiben und erklären, was geschah, auch wenn ihm noch keine rechte Be-
gründung für sein Handeln einfallen will. Eine Zeitlang steht er an Henriettes
ihr ins Herz, sie schreit nicht, seufzt lediglich leise auf und lächelt dabei, er schießt noch einmal, sie kippt auf dem Stuhl nach hinten. Mit dem Daumen am Hahn steht er auf. Als er über sie tritt, röchelt sie noch in kleinen, weißen Atemwolken. Sie nickt ihm zu und zum dritten Mal feuert er auf ihre blutige Brust. Erst nachdem er sein Ohr lange, lange an ihren geöffneten Mund gehalten und er nur das Rascheln der verdorrten Blätter im Wind vernommen hat, verschränkt er ihr die Hände und setzt sich wieder auf seinen Platz.3, 4
Thomas von Steinaecker Einmal Eins
Bett, die nach der Operation immer noch zu schwach ist, um ihre grünen
Augen zu öffnen, nach denen Heinrich sich zu seiner eigenen Überraschung
plötzlich sehnt. In einem großen Einweckglas zeigt ihm Doktor Isenrath das
Geschwür, das man ihr aus dem Unterleib geschnitten hat. Beim Anblick des
blutigen schwarzen Kloßes ist es Heinrich so, als sei nun all das Böse, das ihn
und Henriette in den vergangenen Jahren heimsuchte, für immer gefangen
und verbannt.
Zwei Tage später – Henriette geht es besser, sie lächelt stumm, Doktor
Isenrath spricht von einer Sensation, die weltweites Aufsehen erregen wird
– trifft ein Bote aus Preußen ein. Das Schreiben, aus dem hervorgeht, dass
der amüsierte König die Komödie aufzuführen lassen gedenke, begleitet ein
goldener Ring, den Heinrich unverzüglich zu Geld macht, um die drängends-
ten der in Basel gemachten Schulden abzubezahlen. Ermutigt von der positi-
ven Nachricht, wagt er, den König um eine Vorauszahlung zu bitten.
Tage später hält Heinrich eine stattliche Summe in Händen, und er fühlt
sich wie in einem schönen, alten Märchen, in dem am Ende doch noch alles
gut endet. Stück um Stück entsteht daraufhin im Basler Exil, jedes sendet
Heinrich umgehend nach Berlin, wo das Publikum nach der Befreiung von
Napoleon Schlange steht, um die neuesten Werke des rätselhaften Graf
Lorenzo zu sehen, um den sich mittlerweile Legenden ranken. Zusammen
Die Stimme, die da plötzlich und laut erneut in ihm erklungen ist, vertreibt er, indem er die Pistole sorgfältig nachlädt. Kein Korn darf daneben fallen. Manchmal hat er sich als Knabe die Waffe des Vaters zwischen die Lippen geschoben, deren Lauf damals kaum in die Mundhöhle passte. Ein Spiel. Jetzt bleibt seine Zunge am kalten Metall kleben. Ohne dass er es will, beginnt die Stimme in seinem Kopf zu zählen. Sie kommt nur bis „Eins“. Mit dem befrie-digenden Gedanken, sich selbst überlistet zu haben, drückt er ab. Die Silbermöwen, die alle zugleich erschreckt aufschreien.
14 | fünfzehnKleistfabrik
mit Henriette wohnt er in einem bescheidenen Häuschen am Stadtrand
von Basel. Seine Schwester ist die einzige, die von seiner Maskerade weiß.
In seinen Stücken versteckt er kleine Botschaften an sie, mal baut er
Erinnerungen an ihre gemeinsame Kindheit ein, mal spricht er durch eine
Figur zu ihr. Sie verpasst keine Aufführung. Nur besuchen darf sie ihn
nicht. Heinrich hat Angst, dass sein Glück ebenso schnell wieder vorüber
sein könnte, wie es ihm zuteil wurde. Er kauft sich eine Klarinette. Bald
spielt er so gut darauf wie früher, als er eine Zeitlang davon träumte, Musiker
zu werden. Abends hört ihm Henriette gerne am Kamin zu. Ein einziges
Mal haben sie noch über jene Stunden am Kleinen Wannsee gesprochen,
in denen beinahe alles vorüber gewesen wäre. Es ist ein unguter Moment.
In Erinnerung an den Tisch, den Kaffee, die Schreie der Silbermöwen und
das Rascheln der letzten verdorrten Blätter an den Ästen starrt Henriette
ins Leere. Heinrich würgt es. Dann holt er Holzscheite, um nachzuheizen.
Nie wieder haben sie seitdem jenen 21. November erwähnt. So werden
sie alt.
[3] Er steht noch einmal auf. Der Tag heute mit den Schwaden in der Mitte
des Sees, die nicht weichen wollen, der Nachmittagssonne, die, wenn sie
durch die Wolken bricht, sofort die klirrende Kälte vertreibt, warm auf die
Haut scheint und die letzten Herbstfarben im Laub am Boden zum Leuchten
bringt, all das ist zu schön. Er würde gern noch einen Kaffee trinken, kann
sich jetzt jedoch nicht mehr allzu weit entfernen. Im „Neuen Krug“ wird man
die Schüsse gehört haben. Er steigt aus der Grube und tritt ans Ufer, bläst
in die Hände, nimmt einen Stein und lässt ihn über das graue Wasser
springen, einmal, zweimal, dreimal, dann ist er im Dunst verschwunden,
nur das leise Patschen ist noch zu hören. Mit dem Finger fasst er sich in
den Mund, tastet die Höhle ab, bis zum Gaumen, sodass er würgt. Mehrmals
beißt er zu. Es ist ein stechender Schmerz. Dann setzt er sich wieder an
den Tisch, lädt nach, steckt sich den Lauf zwischen die Zähne und drückt ab.
Thomas von Steinaecker Einmal Eins
[4]Sorgfältig lädt er nach, steckt sich den Lauf zwischen die Zähne und
drückt ab. Das Schreien der Silbermöwen. Sofort wird ihm schwarz vor
Augen. Als er wieder zu sich kommt, liegt er in einem Bett. Neben ihm sitzt
eine Frau, die sofort zu rufen beginnt, als sie sieht, dass er die Augen aufge-
schlagen hat. Seine herbeieilende Schwester erklärt ihm, dass der Gastwirt
des „Neuen Krugs“, sobald man die Schüsse gehört habe, zusammen mit einem
Tagelöhner und dessen Frau zum Wannsee gerannt sei, Frau Vogel tot, ihn
aber lediglich bewusstlos vorgefunden und daraufhin zurückgeschafft habe.
Das sei vor zwei Tagen gewesen. Der Arzt habe gesagt, dass er wieder gesund
werden würde. Stumm hört Heinrich zu. Er ist zu schwach zu sprechen und
möchte vor Scham versinken, als seine Schwester ihm erst schluchzend um
den Hals fällt und dann mit den Fäusten schwach auf ihn einschlägt, wie er
nur so eine Dummheit tun und eine solche Schande über die Familie bringen
habe können. Der Wirt muss sie wegführen. Zwei Polizeibeamte verhören
ihn und teilen ihm mit, dass er wegen Mordes an Frau Henriette Vogel ange-
klagt und, sobald er transportfähig sei, in eine Zelle überstellt werde. Nach
knapp einer Woche wird Heinrich verlegt. Er ist zwar wieder bei Kräften, doch
seltsamerweise bleiben seine Beine gelähmt. Der Arzt vermutet, dass noch
Pulver in einem Teil seines Kopfes stecke, was ihm das Gehen unmöglich
mache. Vor Gericht werden die Abschiedsbriefe, die Henriette schrieb, als
Beweismittel für einen von Heinrich lediglich ausgeführten Tötungswunsch
herangezogen, er wird freigesprochen. Mittellos und immer hungrig humpelt
er mit Krücken die Lindenallee auf und nieder, schaut lange auf die Baugruben
und Gerüste, hinter denen prachtvolle neue Gebäude entstehen. Er bettelt.
Die Leute nennen ihn „Krüppel“. Seine Schwester hat sich von ihm losgesagt.
Hin und wieder lassen ihm seine alten Freunde ein Almosen zukommen. Bei
dem Gesindel im Armenhaus will er nicht schlafen. So holt er sich im Winter
nach seinem Selbstmordversuch auf den Straßen von Berlin die Lungen-
entzündung, an der ein paar Tage später in einem Schneesturm, zusammen-
gesunken vor einem Hauseingang, stirbt
kleistkubus, klandestin
1 die cliquen der impulsfahnder tasten im dunkelunter dem hartschnee, dem harschlack auf quellen, auf texten, selbst die insekten, kleinere staatsschwärme vortäuschend,fliehen die ludernden katzen am ufer der oder,schwänze eingezogen wie segel
2frankfurt bestäuben, wo sanfte kamele der kameralistikdie lüfte durchschaukeln mit umgekehrter beweislast? das denken organisiert sich in größeren, pflanzen anbauenden bläsergruppenmit biegsamen klarinettisten, in abschwellkammern,in heimwehfarbener hefe
3du verlangst ausgleichende raumerwärmungbirnenalleen sind dem buschwerkverzeichnis entkommenund landschaft bleibt ein erschöpftes konstruktim plusspeicher der machbarkeit, deine erziehungwar nur ein wasserlösliches experiment,das leicht überstimmt werden kann
Kleistfabrik 18 | neunzehn
4ist ein frauenverstand eine pulversubstanz,die flüssigkeit braucht? etwas gänzlich trockenesfür sich allein? lückenfüllendes blau, das ausmehltvom rand der pupille in abgelegene gegendenvoller wurzelgeflecht, in männliche fruchtkörperschalen,in beckenendlagen?
5mit den perioden gesetzlicher dämpfungerhöht sich die eigenfrequenz nationaler antennen,kein staat ist zu machen mit ausgeübtentalenten, längst sind die quitten geschnittenzu veritablem kompott in hermanns equipment,der kalkriese grient…
6du bleibst im kubus, die sechs quadratischen flächennicht zu entfalten, verlötete nähte,an denen kein reif taut, über der würfelnetzhautzirpen die anfangsverdachte auf fortgesetzte desaster, zeigen sich kleine spuren von tötungsabsichtim chronischen echogramm
Kathrin Schmidt kleistkubus, klandestin
Ich war noch jung und nicht sehr zahlreich
1Die Griechen, was für ein Unsinn, welchemit Übermut strapazierten Umwege aufdie Griechen, an die ich denken musste ja, denken, ein Wahnsinn, sie kamenmir wie ein Trupp schöner, andersartiger Gestaltenaus dem Herzkranz entgegenmarschiert
ich hätte bei dir übernachten sollen, meine Seelees ist erlaubt, solch großen Worte, je saiszu benutzen, ich bin keine Schulterklappekein Kriegerdenkmal, keine größere Ordnungich habe deinen Körper mit den Augenfotografiert und schreibe nun, als wär es Rohstoff
ich muss zurück zur Seele, meiner Deponie, und nach ihr greifen, es ist ja nicht, als hätte ich dich nicht im Traum gesehen, als du mädchenhaftin diesem See, mit deinen, natürlich deinennach mir greifenden Schulterblätterndie Wasseroberfläche schleifen gingst
Björn Kuhligk Ich war noch jung und nicht sehr zahlreich
2Ein einziges schmales Hüsteln meinerseitsund die Milchstraße hatte eine Ausbuchtung die Luft, die mich umgebende, verneinenddem Waldrand mit dem Finger drohend, dass mir auf Erden, welch wunderbare Kraft von diesem schönen Finger ausging, nicht zu helfen war, nein, durch meine Schlafarchitekturwollte ich nie spazieren gehen, auf Erden und wie geht man durch Architektur, womöglich zögernd, als könnte einen die Landschaft, in die das alles eingebettet, wie ich dachte, kleinmachen wie das Insekt, das im Bernstein an der Kettedie ich neulich, ach lassen wir das, jeden Abend Fieber, lassen wir das gut sein, liebe Randlage ich zielte aufs Geschwür, ich habe das gelernt und schoss ihr in das Herz, in Staub mit allen Feinden, und mir dann in den Mund
Kleistfabrik 24 | fünfundzwanzig
3Jettchen und ich und was der Himmel weißdas ist genug, das ist Beweis, wir sind aus Apfelkernen geschnitzte Mäuschen undfügen, mit Verlaub, zusammen, was nicht fügbar ist, bitte schickt unsere Dinge von hier die Welt ist eine wunderliche Einrichtung nach da, an die von uns angegeben Adressenund habt Nachsicht, das Porto zahlt der bis dato nicht von uns gestillte Himmel in größter Schönheit formgewollt zurück
Björn Kuhligk Ich war noch jung und nicht sehr zahlreich
Die Publikation dieses Bandes wurde durch die Förderung
der Stahlstiftung Eisenhüttenstadt ermöglicht.