Putsch in Thailand · Daniel Bensaïd, führendes Mitglied der Ligue communiste Révolution-naire...

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Nr. 422/423 Januar/Februar 2007 € 4,– G9861 INTERNATIONALE PRESSEKORRESPONDENZ Frankreich Wohin geht die Linke? Belgien Linkes Wählerbündnis plant neue linke Partei Hisbollah „Die wilde Anomalie“ der islamischen Bewegung Venezuela Die Revolution muss vertieft werden! Brasilien Ein tiefer politischer Bruch Bolivien Das Labyrinth der bolivianischen Revolution, Indonesien: Breite Linke Partei entsteht Putsch in Thailand

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Page 1: Putsch in Thailand · Daniel Bensaïd, führendes Mitglied der Ligue communiste Révolution-naire (LcR), der französischen Sek-tion der IV. Internationale und Pro-fessor für Philosophie,

Nr. 422/423 Januar/Februar 2007 € 4,–

G9861

I N T E R N A T I O N A L E P R E S S E K O R R E S P O N D E N Z

Frankreich Wohin geht die Linke? Belgien Linkes Wählerbündnis plant neue linke Partei Hisbollah „Die wilde Anomalie“ der islamischen Bewegung Venezuela Die Revolution muss vertieft werden! Brasilien Ein tiefer politischer Bruch Bolivien Das Labyrinth der bolivianischen Revolution,

Indonesien: Breite Linke Partei entstehtPutsch in Thailand

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IMPRESSUM

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FrankreichWohin geht die Linke? „Keine Einheit zu den Bedingungen

des politischen Ausverkaufs!“ Interview mit Daniel Bensaïd ...........................................3

BelgienLinkes Wählerbündnis plant neue linke Partei, David Dessers .............................................6

Thailand Staatsstreich in Thailand – eine Endlosspirale? Danielle Sabai und Jean Sanuk .................7Putsch in Thailand – ein Rückschritt für Thailand und Südost-Asien,

Danielle Sabai und Jean Sanuk .......................................................................................13

IndonesienBreite Linke Partei entsteht .................................................................................................18

Hisbollah„Die wilde Anomalie“ der islamischen Bewegung, Nicolas Qualander ............................24Die Hisbollah nach dem gewonnenen Krieg, Chris Harman ..............................................33Die Hisbollah aus der Sicht der KP-Libanon, Interview mit Marie Nassif-Debs ...............38

VenezuelaDie Revolution muss vertieft werden! Stimmt für Chávez!

Erklärung der IV. Internationale .....................................................................................40

BrasilienBrasilienwahlen: Ein tiefer politischer Bruch, José Corrêa Leite und João Machado .......42

BolivienDas Labyrinth der bolivianischen Revolution, Pablo Stefanoni .........................................48

G8-GipfelErklärung von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern................................................52Gemeinsame Abschlusserklärung der G8-Aktionskonferenz „Rostock II“

vom 10. bis 12. November 2006......................................................................................52

Liebe Leserinnen und Leser,

zum wiederholten Mal bringen wir in dieser Nummer einiges zum Nahen Osten, in diesem Fall drei Beiträge zur Hizbollah. Die internationale De-batte, die sich seit dem letzten Sommer dazu entwickelt hat, schien uns so wichtig, dass wir einige der kritischeren Beiträge hier dokumentieren wol-len.

Den Schwerpunkt in diesem Heft bildet aber Südostasien (Thailand und Indonesien), eine Region, aus der Berichterstattungen und Analysen nicht so häufig in die linken Medien des deutschsprachigen Raumes dringen.

An dieser Stelle sei noch einmal auf die günstigen Rabatte der Inprekorr für Mehrfachbezieher hingewiesen. Wer die Zeitschrift also in seinem Um-feld verkaufen kann, wende sich bitte an den Inprekorrvertrieb, um Nähe-res zu erfahren.

Wir wünschen Euch allen ein rotes und erfolgreichen 2007.

Die Redaktion

Thies Gleiss Sonderkonto; Kto.Nr. 478 106-507Postbank Köln (BLZ 370 100 50)

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Frage: Wie nimmt sich für die sozialen Bewegungen die kommende Periode aus, nach den massenhaften anti-neo-liberalen Mobilisierungen, vor allem der großartigen Bewegung gegen den „Contrat première embauche“ (CPE – Ersteinstellungsvertrag) und der Kam-pagne für das „Non“ bei dem EU-Re-ferendum?�

Antwort: Wenn wir zeitlich ein we-nig zurück gehen, so lässt sich sagen,

1 Siehe http://besancenot2007.org/

dass es nach einem Wiederaufleben der sozialen Bewegungen mit der Wen-de und den Streiks von 1995 im Jahr 2002 ein Trauma auf Wahlebene gege-ben hat, da Le Pen ja in die zweite Run-de der Präsidentschaftswahlen gekom-men ist. Dann hat es 2003 ein Trauma auf sozialer Ebene gegeben mit der be-deutsamen Niederlage bei der Renten- und der Bildungsreform, und das trotz der massiven Mobilisierungen. In ge-wisser Hinsicht gibt es eine Verbindung zwischen der Niederlage 2003 und dem

Sieg des „Nein“ bei dem Referendum zur europäischen Verfassung. Für die Seite des linken „Nein“ bildete dies ei-ne Art von Revanche für die Niederla-ge 2003. Dieses linke „Nein“, das sich für ein anderes Europa stark gemacht hat, hatte die Oberhand über das frem-denfeindliche, antitürkische oder rassis-tische „Nein“.

Aber wenn der Sieg des linken „Nein“ auch wichtig gewesen ist, um ein bestimmtes Kräfteverhältnis abzu-stecken, so hat es doch nicht gereicht, die sozialen Niederlagen ungeschehen zu machen. Zwar sind die sozialen Be-wegungen im Zusammenhang mit den Betriebsverlagerungen und den Entlas-sungen weitergegangen, doch sind die meisten davon defensiv gewesen und er-folglos geblieben. Selbst die Bewegung gegen das CPE, eine ganz enorme Mo-bilisierung mit elementaren, aber bemer-kenswerten Forderungen als Achse, die die Prekarität in Frage stellen, scheint zurückgefallen zu sein. Auch wenn man Überraschungen nicht ausschlie-ßen kann, so deutet doch nichts darauf hin, dass es nach der Sommerpause ei-ne Fortsetzung oder eine neue Runde dieser Bewegung geben wird. Wir wer-den auf alle Fälle etwas Zeit benötigen, um das zu beurteilen. In ein paar Jahren wird man sagen, dass die Gleichzeitig-keit dieser Bewegungen gegen die Pre-karität und die Privatisierung des Bil-dungswesens in Griechenland, Frank-reich und Chile das Vorzeichen von et-was gewesen ist; es ist aber noch zu früh, um das genauer auszumachen.

Ein weiteres Problem ist, dass wir jetzt in einen Gang der Ereignisse mit einer Wahl nach der anderen kommen, zwei Jahre lang erst der Präsident-schaftswahlkampf [im März und Mai] 2007, dann die Parlamentswahl und da-nach die Kommunalwahlen 2008, was für die Entwicklung der Kämpfe nie be-sonders günstig ist. Und das gilt um so mehr, als die abhängig Beschäftigten, die Niederlagen in der sozialen Sphäre

Wohin geht die Linke?„Keine Einheit zu den Bedingungen des politischen Ausverkaufs!“

Daniel Bensaïd, führendes Mitglied der Ligue communiste Révolution-naire (LcR), der französischen Sek-tion der IV. Internationale und Pro-fessor für Philosophie, hielt sich im Oktober 2006 in der Schweiz auf und sprach auf verschiedenen Veranstaltungen. Marc Gigase, Mit-glied der Redaktion der Schweizer Monatszeitung La brèche, nutzte die Gelegenheit, um ein Interview

mit Daniel Bensaïd aufzunehmen. Er geht darin auf die soziale und po-litische Lage in Frankreich in der Zeit vor der eigentlichen Phase des bevorstehenden Wahlkampfs ein, auch auf die Debatten, die sich um eine eventuelle Einheitskandidatur der anti-neoliberalen Linken dre-hen. Das Interview erschien im november 2006 in nr. 27 der neuen Fol-ge von La brèche, die im folgenden Monat in lignes rouges umbenannt wurde und von der revolutionär-marxistischen Organisation „Gauche anticapitaliste“ herausgegeben wird (entstanden aus einem Teil des „Mouvement pour le socialisme“).Die Hoffnungen auf eine gemeinsame Kandidatur der anti-neoliberalen Linken in Frankreich sind inzwischen vor allem durch das Festhalten der Französischen Kommunistischen Partei an ihrem Vorschlag, ih-re Vorsitzende Marie-Georges Buffet solle die Kandidatin werden, ge-gen null gesunken. Dies war und ist für (fast) alle anderen Kräfte in den „collectifs pour des candidatures unitaires“ (Komitees für eine Ein-heitskandidatur), die aus den Komitees für das „nein“ zu dem EU-Ver-fassungsvertrag hervorgegangen sind, unannehmbar. Inhaltlich kri-tisierte die LcR vor allem die unzureichende Abgrenzung der Mehr-heit in den Komitees gegen eine mögliche Beteiligung an einer Regie-rungskoalition mit der PS. Die Leitung der LcR (die „Direction natio-nale“) hat am �6. Dezember mit einer Mehrheit von 62 % das Scheitern der Verhandlungen um eine Einheitskandidatur festgestellt und die Fortsetzung der Besancenot-Kampagne beschlossen.� Die Redaktio

Interview mit Daniel Bensaïd

Daniel Bensaïd

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erlitten haben, ihre Hoffnungen auf eine über Wahlen zu erreichende Politik des kleineren Übels richten (auch wenn di-ese Hoffnungen nicht sehr hochfliegend sind). Das trägt derzeit zum Erfolg von Ségolène Royal bei (man wird sehen, wie das weitergeht), die zwar durchaus

keine großen Versprechen verkörpert, doch für manche eine denkbare Abwehr gegen Sarkozy. Also eine Stimmabgabe für das kleinere Übel, wie wir das in Ita-lien gegen Berlusconi gesehen haben.

Es gibt ja in Frankreich eine Debatte dar-über, dass eine Einheitskandidatur, die das linke „Nein“ vom Referendum bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen zum Ausdruck bringt, wünschenswert sei. Unterstützt die LCR diese Option und, wenn ja, unter welchen Bedingungen?

Zunächst möchte ich einmal dar-an erinnern, dass das linke „Nein“ ei-ne exemplarische Kampagne gewesen ist. Zuerst einmal deswegen, weil nie-mand (und vor allem nicht die Medi-en und die Generalstäbe der großen Par-teien) vorhersehen konnte, dass wir die-se Schlacht gewinnen würden. Zum an-deren weil sie unter Schwierigkeiten an-gefangen hat und weil wir nicht nur in kleinen Versammlungen und kleinen Ortschaften Überzeugungsarbeit leisten, sondern auch auf eine Politisierung hin-arbeiten mussten. Tausende Menschen sind mit dem dreihundert Seiten umfas-senden Text der Verfassung, den sie mit Anmerkungen versehen hatten, zu Tref-fen gekommen!

Es ist zu hoffen, dass davon etwas bleiben wird. Allerdings bin ich der Meinung, dass es die Illusion gibt, das „Nein“ sei nicht nur eine notwendige,

sondern auch eine hinreichende Bedin-gung für eine Neugründung auf der Lin-ken. Auch wenn diese Schlacht sehr wichtig gewesen ist, so gibt es doch kei-ne politische Grundlage, die für eine ein-heitliche Sammlung ausreichend wä-re. In den Kämpfen gibt es diese Ein-

heit natürlich sehr wohl, wie sich das vor kurzem wieder bei dem Kampf ge-gen die Vertreibungen in Cachan gezeigt hat2. Es liegt auf der Hand, dass dagegen das „Nein“ keine ausreichende Grundla-ge für einen Wahlkampf, also eine pro-grammatische Frage, d. h. ein politisches Projekt ist. Anzeichen dafür, dass es nicht reicht, haben wir in den weiteren Mona-ten des Jahres 2005 nach dem Referen-dum sehr rasch gesehen; drei Monate da-nach fand der Parteitag der PS [der So-zialistischen Partei] statt, auf dem es ei-nen Konsens gab und sich die gesamte Partei, einschließlich Fabius3 hinter die

2 Seit etwa drei Jahren war ein heruntergekom-menes leerstehendes Gebäude auf einem Uni-versitätsgelände in Cachan (Ortschaft südlich von Paris, Département Val-de-Marne) von ca. 1000 schwarzafrikanischen MigrantInnen be-setzt worden, darunter viele Frauen und ca. 200 Kinder; etwa die Hälfte von ihnen haben keine ausreichenden Aufenthaltspapiere. Am 17. August, mitten im Sommer 2006, wurde ein gerichtlicher Beschluss, den der Eigentü-mer, das staatliche Studentenwerk, im April 2004 erwirkt hatte, auf Anordnung des Prä-fekten des Département vollstreckt: kollektive Vertreibung. Das Vorgehen der staatlichen Be-hörden, wie es von dem Innenminister Nicolas Sarkozy gewollt war, recht genau zehn Jahre nach dem Eindringen der Polizei in die Kirche Saint-Bernard, einer der Höhepunkte der be-ginnenden Bewegung der „sans-papiers“ und der Solidarität mit ihnen, sowie der Widerstand derer „von Cachan“ lösten trotz der Urlaubspe-riode eine große Welle der Solidarität aus.

3 Laurent Fabius, ab 1981 Haushaltsminister, ab 1983 Minister für Industrie und Forschung, 1984 bis 1986 Premierminister unter Präsident

Mehrheit gestellt hatte, die für das „Ja“ zu Felde gezogen war. Man könnte auch die Krise von Attac [Frankreich] nennen, bei der es abgesehen von den Kriterien des persönlichen Verhaltens zugleich um eine Krise des politischen Projekts und der Perspektiven geht.

Auf der Nationalen Konferenz im Juni 2006 hat die Mehrheit der LCR-Mitglieder sich dafür entschieden, ih-re Kampagne zu starten und Olivier Be-sancenot kandidieren zu lassen. Mei-ner Ansicht nach ist er der beste Kan-didat aus der Reihe derjenigen, die das „Nein“ repräsentieren, und zwar sowohl unter dem Gesichtspunkt des Inhalts sei-ner Ausführungen als auch wegen sei-nes aktivistischen sozialen Profils. Di-ese Kandidatur wird sich bemühen, ein Echo der Bestrebungen und der Forde-rungen aus der Welt der Arbeit und der Jugend zu bilden. Es wird eine Kandida-tur, die sich an all diejenigen richtet, die einen unnachgiebigen Kampf gegen die Rechte und die extreme Rechte führen wollen, einen Kampf, der zu der Suche nach einer wirklich antikapitalistischen und vom Sozialliberalismus unabhän-gigen Alternative beiträgt.

Die LCR erklärt dennoch, dass sie nach wie vor eine gemeinsame Kandi-datur befürwortet, die in der Kontinui-tät und in der Logik des „Nein“ steht. Olivier ist bereit dazu, seine Kandida-tur zugunsten eines gemeinsamen Kan-didaten oder einer Kandidatin zurückzu-ziehen – unter der Bedingung, dass es ausreichende politische Garantien gibt und dass nicht nachher alles für umsonst war. Denn unter der Hypothese eines Siegs der Linken (der übrigens nicht si-cher ist) stellt sich das Problem der par-lamentarischen und Regierungskoaliti-on. Es kommt nicht in Frage, für einen Kandidaten oder eine Kandidatin Wahl-kampf zu machen, der bzw. die am Tag danach Sport- oder Landwirtschaftsmi-nister von Strauss-Kahn4 wird.

François Mitterrand, 2000 bis 2002 Wirtschafts- und Finanzminister im Kabinett von Lionel Jo-spin, hatte sich für ein Nein zu dem Verfas-sungsvertrag ausgesprochen. In seine Amtszeit fällt das Steuersenkungsprogramm vom August 2000, mit einem Entlastungsvolumen von 120 Millionen Francs die „größte Steuererleichte-rung seit 50 Jahren“ (L. Fabius).

4 Dominique Strauss-Kahn, einer der „éléphants“ (also der Schwergewichte) der Sozialistischen Partei, galt vor der Urabstimmung unter den Parteimitgliedern als einer der Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur; von 1997 bis 1999 war er Wirtschafts- und Finanzminister in der dritten Regierung der „cohabitation“ (Ko-operation von Staatsoberhaupt und Regierungs-

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massenhafte anti-neoliberale Mobilisierungen, vor allem der großartigen Bewegung gegen den CPE – Ersteinstellungsvertrag

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Nun sind in dieser Hinsicht die Vor-zeichen nicht dazu angetan, Sorgen zu zerstreuen. Bei den Gemeindewahlen, die vor kurzem [im Oktober 2006] in Bordeaux stattgefunden haben, hat die kommunistische Partei (PCF) ein Bünd-nis mit der PS vorgezogen, während wir vorgeschlagen hatten, eine Liste aufzu-stellen, die von den Kräften des linken „Nein“ getragen wird. Die recht tief ge-spaltene PCF braucht eine eigene Kan-didatur, um ihre Einheit zu bewahren, und vor allem, um ihr parlamentarisches Überleben mit der PS auszuhandeln. Ich glaube daher, dass es – angesichts des Laufs der Dinge – eine Besancenot-Kandidatur geben wird.

Für euch ist die Ablehnung jedweder parlamentarischer und Regierungsal-lianz eine nicht verhandelbare Bedin-gung?

Es wird mit Sicherheit Genossen und Genossinnen geben, mit denen wir die Kampagne für das „Non“ geführt ha-ben, oder innerhalb der globalisierungs-kritischen Bewegung, die enttäuscht sein werden. Das Streben nach Einheit der „Nein“-Kampagne ist legitim und verständlich, da gibt es keinen Zweifel. Es wäre aber noch schlimmer, zu Illusi-onen noch weitere hinzuzufügen und für eine dritte Auflage der pluralen Linken zu bürgen, daraus geht die Front Natio-nal ja systematisch gestärkt hervor. Ei-ne Einheit zu den Bedingungen des po-litischen Ausverkaufs kommt für uns nicht in Frage.

Es stimmt, dass unter den Mitglie-dern der Ligue unterschiedliche Opti-onen zu den möglichen Szenarien (Ein-heitskandidatur oder Kandidatur der LCR) vertreten werden, aber es gibt doch eine grundlegende Übereinstim-mung in der Einschätzung, dass es die Möglichkeit einer Koalition mit der PS nicht gibt, auf keiner Ebene – mit der PS, die sich hinter der Mehrheit zusam-mengefunden hat und die sich in die Kontinuität der sozialliberalen Politiken stellt. Ich meine übrigens: Die Auffas-sung, dass eine Neuauflage der pluralen Linken nicht akzeptabel ist, und dass die politische Linie, für diese Regierungs-politik Mitverantwortung zu überneh-men, nicht in Betracht gezogen werden sollte – dass dies Überzeugungen sind, die weit über die Reihen der LCR hin-aus geteilt werden.

chef aus unterschiedlichen politischen Lagern) unter Präsident Jacques Chirac und Premiermi-nister Lionel Jospin.

Auch der internationale Kontext lie-fert hier eher Alarmsignale. Auf dem Sozialforum in Florenz habe ich 2002 gehört, welche Bilanz Bertinotti von der Regierungsbeteiligung der franzö-sischen kommunistischen Partei gezo-gen hat, und drei Jahre danach stimmt seine eigene Partei für die Entsendung der Truppen nach Afghanistan und für den Haushalt der italienischen Regie-rung. Das beweist, dass wir es auf der Linken mit ausgesprochen instabilen Verhältnissen zu tun haben. Weil die so-zialen Kämpfe nicht mit den erwarteten Siegen enden, werden die Hoffnungen, die Einschnitte wenigstens abzufedern, auf die Wahlebene übertragen. Doch sind die Kräfteverhältnisse auf diesem Feld noch ungünstiger als in der sozi-alen Sphäre, und so tut sich die Logik des Realismus noch weiter auf.

Bertinotti hat das auf recht grob-schlächtige und skandalöse Art zum Ausdruck gebracht, indem er gesagt hat: Da die Antikriegsbewegung nicht stark genug gewesen ist, um den Krieg zu verhindern, muss man heutzutage in der Regierung Prodi von innen heraus Scha-densbegrenzung betreiben. Aber wie kann man einerseits den Sieg des linken „Non“ bei dem europäischen Referen-dum in Frankreich begrüßen und ander-seits Prodi unterstützen, der zu einer ab-gespeckten Version des Verfassungsver-trags anstiften wird?

Ich denke, allgemeiner betrachtet, dass es eine Phase erneuter Mobilisie-rung der sozialen Bewegung gibt, auch

wenn man die Frage der historischen Pe-rioden nicht zu hastig entscheiden soll; die soziale Bewegung hat einen gewis-sen Stand erreicht, erzielt aber zurzeit keine bedeutsamen Siege mehr. Von da-her wird eine erneute Verknüpfung des Sozialen mit dem Politischen wieder ganz wichtig, und ein politisches Pro-jekt, das nicht klar umrissen ist und von soliden Überzeugungen getragen wird, dürfte durch Aufs und Abs bei Wahlen hin und her geworfen werden.

Für welche Sofortmaßnahmen tritt die LCR unter diesen Rahmenbedingungen in diesem Wahlkampf ein? Welche So-fortmaßnahmen stellen eurer Auffassung nach Richtpunkte für den Weg zu einem Bruch mit dem Kapitalismus dar?

Entscheidend ist die Regierungsfra-ge. Denn wenn man die Liste der Forde-rungen anschaut, dann sind sowohl die PCF als auch der linke Flügel der Grü-nen in der Opposition, „da fehlt es an nichts“. Zu den Forderungen, die vor-geschlagen werden, damit man auf dem Weg einer konsequenten anti-neolibe-ralen, d. h. antikapitalistischen Politik vorankommt, gehören selbstverständ-lich die umgehende Anhebung der Ge-hälter und der sozialen Mindestsätze, das Veto gegen börsenbedingte Entlas-sungen und Betriebsverlagerungen, die Annullierung der durchgeführten Priva-tisierungen oder auch ein neuer Anlauf für eine Politik von öffentlichen Diens-ten, koordiniert auf europäischer Ebe-ne. Die Europafrage ist umso wichtiger,

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Auf der Nationalen Konferenz im Juni 2006 hat die Mehrheit der LCR-Mitglieder sich dafür entschieden, ihre Kampagne zu starten und Olivier Besancenot kandidieren zu lassen.

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Am Samstag dem 28. Oktober ent-schieden 650 Menschen aus verschie-denen politischen und sozialen Bewe-gungen in Flandern, Brüssel und Wal-lonien gemeinsam bei den Bundes-wahlen im Mai 2007 in Belgien anzu-treten. Diese neue linke Bewegung ist der politische Ausdruck des Arbeits-kampfes gegen die neoliberalen An-griffe der Regierung auf die Renten und die soziale Absicherung im vergan-genen Jahr. Die Bewegung hat die Un-terstützung von drei ehemaligen Füh-rungspersönlichkeiten der sozialdemo-kratischen und der sozialistischen Ge-werkschaftsbewegung. Einer von ihnen ist George Debunne, ehemaliger Präsi-dent der ETUC.

DEMONSTRATION AM 28. OKTOBER 2005

Am 28. Oktober 2005 demonstrier-ten mehr als 100 000 Gewerkschafter in den Straßen von Brüssel gegen ei-nen „Der Generationspakt“ genannten

Linkes Wählerbündnis plant neue linke ParteiDavid Dessers

Plan der Regierung. Verordnet durch die Strategie von Lissabon startete die belgische Regierung, eine Koalition aus Sozialdemokraten und Liberalen, einen Angriff auf die Rentenkassen und andere soziale Errungenschaften der ArbeiterInnenklasse. Diese soziale Bewegung endete auf Grund der Tat-sache mit einer Niederlage, dass nicht eine der im belgischen Parlament ver-tretenen Parteien bereit war, die Bewe-gung auf politischer Ebene zu verteidi-gen. Im Sommer 2005 organisierten die ehemaligen sozialdemokratischen Mit-glieder des Parlaments Jef Sleeckx und Lode Van Outrive zusammen mit dem ehemaligen Präsidenten der ETUC, George Debunne eine Kampagne ge-gen die EU- Verfassung und eine Peti-tion für ein Referendum der Bevölke-rung Belgiens.

Als sich die Bewegung gegen den „Generationspakt“ im Herbst 2005 er-hob, stellten sich die drei ehemaligen Führer der sozialistischen Bewegung Belgiens auf die Seite der Gewerk-

schaften gegen die sozialdemokra-tischen Parteien SP.A (Flandern) und PS (Wallonien). Am 15. Oktober 2005 ver-sammelte sich Jef Sleeckx mit 150 Ge-werkschaftern vor den Toren des Par-teitages der SP.A. Sie trugen Transpa-rente mit dem Slogan: „Wir drehen der SP.A. den Rücken zu“, was im wahrs-ten Sinne des Wortes ein Wendepunkt war. Von diesem Moment an luden Ge-werkschafter und politische Organisa-tionen Jef Sleeckx zu ihren Treffen im ganzen Land ein damit er seine Position erläutern konnte. Mehr und mehr wurde Jef Sleeckx klar, was er wollte: die Bil-dung einer neuen linken Partei in Bel-gien, um die Arbeiterbewegung zu ver-teidigen und neoliberale Praktiken zu stoppen. Er schuf das „Komitee für ei-ne andere Politik“ (Comité voor een An-dere Politiek, CAP), ein flämischer Aus-schuss zur Vorbereitung einer linken po-litischen Alternative auf nationaler Ebe-ne für die Bundeswahlen 2007.

Gleichzeitig entwickelte sich in Wallonien eine ähnliche Bewegung,

als Frankreich 2008 in der Europäischen Union den Vorsitz haben wird, wir wer-den einen Vorschlag für ein anderes Eu-ropa verfechten müssen.

Um aber Spaltungen innerhalb der PS und zwischen PCF und PS zu vermei-den, relativieren diese Parteien die Tren-nungslinie, die das „Nein“ dargestellt hat. Das gleiche Problem stellt sich in Bezug auf die „sans-papiers“ [die „ohne (offizielle) Papiere“]. Solange die Sozial-demokratie und die PCF in der Oppositi-on sind, führen sie einen humanistischen Diskurs und beeilen sich, zur Turnhalle von Cachan zu kommen. Wir sollten uns aber an die Gesetze von Chevènement er-innern, die sich gegen die MigrantInnen richten und die in der Zeit der pluralen Linken verabschiedet worden sind.

Das überschneidet sich mit der Fra-ge, inwiefern wir uns an einer Regierung des Bruchs beteiligen oder sie unterstüt-zen könnten (obwohl sich das Problem nicht stellt). Dafür wäre es nötig, dass

ein Set von vier oder fünf Maßnahmen umgesetzt würde, die eindeutig in Rich-tung eines Kurswechsels in der Politik auf den Gebieten öffentliche Dienste, Entlassungen, Europafrage, Entsendung von Truppen ins Ausland und Einwan-derungspolitik gingen. Nun deutet aber nichts auf einen derartigen Kurswechsel hin. Im Gegenteil, es besteht aller An-lass, von dem Szenario einer Wiederho-lung auszugehen.

Und davon profitiert die radikale Linke?Klar ist, dass eines der Probleme dar-

in besteht, der extremen Rechten das „Sich-Kümmern“ um die sozialen Nö-te streitig zu machen. So gesehen fängt die Kandidatur von Arlette Laguiller und Lutte Ouvrière (LO), die komplemen-tär zu der von Olivier Besancenot sein kann, die soziale Revolte auf, welche von einem Teil der Wählerschaft zum Aus-druck gebracht wird. LO erreicht in der Tat Bevölkerungsteile, die von den Ver-

heerungen, die der Neoliberalismus an-richtet, schwer getroffen und gebeutelt worden sind. Ich habe das selber vor Ort mitbekommen, bei Unilever in Lille, ein Betrieb für Waschpulver, bei dem die Be-schäftigten die Schließung und Entlas-sungen mitmachen mussten, wobei die-ser Laden schwarze Zahlen geschrieben hat. Zwei Aufkäufer, erst ein britischer Investor, der sechs Monate da war, dann ein spanischer, der noch mal ein halbes Jahr da war, haben die Beihilfen des Re-gionalrats eingesackt und waren dann mit diesem Geld auf und davon. In dieser Ge-gend ist die Front National stark veran-kert, und man merkt, dass es um Haares-breite darum geht, auf welche Seite die abhängig Beschäftigten schwenken. Der Kampf mit der extremen Rechten spielt sich auch dort im sozialen Bereich ab.

Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Fried-rich Dorn.

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genannt „ Une Autre Gauche“ (Eine andere Linke). Diese Bewegung war das Resultat eines Aufrufs in einer Zei-tung, in dem eine Gruppe linksgerich-teter Menschen die Notwendigkeit ei-ner neuen politischen Kraft links der PS und der Grünen vorbrachten.

Die PS war und ist immer noch im Griff einer langen Serie von Kor-ruptionsskandalen und war als Regie-rungspartei, genau wie die SP.A., mit-verantwortlich für die neoliberale Po-litik und die Angriffe auf die Arbeiter-bewegung. Im Frühling 2006 wurden die beiden Initiativen gegründet und begannen mehr und mehr zusammen-zuarbeiten. Die CAP in Flandern hat-te die Unterstützung der SAP-POS, der belgischen Sektion der IV. Internatio-nale, der LSP, der Sektion der CWI und

Teilen der CP, „Une Autre Gauche“ in Brüssel und Wallonien wurden unter-stützt von der SAP- POS und anderen politischen Gruppen. Im Juni 2006 ent-schieden sich die CAP und „Une Autre Gauche“ dafür, gemeinsam eine Konfe-renz zu organisieren, um diejenigen zu-sammenzubringen, die eine politische Alternative für die Bundeswahlen 2007 aufbauen wollten.

JEF SLEECKx AuF DEM TREF-FEN DER POS/SAP

Das ist die Konferenz vom Samstag, dem 28. Oktober, die mit der Beteili-gung von 650 AktivistInnen der anti-kapitalistischen Linken, den Gewerk-schaften und der sozialen Bewegung ein großer Erfolg wurde. Am Nachmit-

tag bereiteten die Teilnehmer in zwölf verschiedenen Arbeitsgruppen (Arbeit, öffentlicher Dienst, Schutz der Gewerk-schafterInnen, Umwelt, internationale Solidarität, Frauenfragen usw.) ein zu-künftiges Programm für die Bewegung vor. Am Abend stimmte die Konferenz mit großer Mehrheit für die Teilnahme an den Bundeswahlen im Mai 2007.

Die Konferenz wurde zu einem der wichtigsten Ereignisse für die antineo-liberale und antikapitalistische Linke in Belgien seit vielen Jahren.

David Dessers ist Mitglied der Socialistische Arbeiderspartij/Parti ouvrier socialiste, bel-gische Sektion der IV Internationale. Aus: IV Online Magazin: IV383- November 2006

Übersetzung: Spawn

Der Putsch in Thailand am 19. Sep-tember 2006 beendet eine sechsjährige und somit bisher längste Ära parlamen-tarischer Demokratie im Lande. Er ist der bislang letzte in einer langen Reihe von insgesamt 18 Staatsstreichen unter der seit 1946 währenden Regentschaft von König Bhumipol. Dabei sind noch nicht einmal die von den Royalisten angezettelten Putsche zur Wiederher-stellung der absoluten Monarchie in den 30er Jahren mitgezählt.

KAPITALISTISCHE ENTWICK-LuNG OHNE DEMOKRATISCHE REVOLuTION

Wie lassen sich dieser traurige Rekord und die gegenwärtigen Ereignisse er-klären? Ein Blick in die zeitgenössische Geschichte Thailands zeigt, dass zwi-schen Monarchie, Armee und Staats-apparat ein ununterbrochener Kampf um die Macht geführt wird. Hinter den Kulissen agiert das Handels- und spä-ter Industriekapital und sucht sich je-weils die geeignetsten Vertreter aus. Mit dem Regierungsantritt von Thaksin

hatte sich die Bourgeoisie zum ersten Mal entschlossen, die Amtsgeschäf-te selbst zu führen, wie nachfolgender Artikel zeigt. Der jüngste Staatsstreich

dokumentiert in gewisser Hinsicht die Rückkehr zur „Normalität“ im poli-tischen System Thailands und räumt mit der Illusion auf, dass wirtschaft-

Staatsstreich in Thailand – eine Endlosspirale?Danielle Sabai und Jean Sanuk

Gestürzter Premierminister Thaksin Shinawatra

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liche Entwicklung und das Ende des Kalten Krieges zwangsläufig das En-de der Diktaturen bedeuten. Dies hat jedoch nichts mit Schicksal oder kul-tureller Besonderheit zu tun: Die Thai-länder streben nach Demokratie wie die anderen Völker auch. Davon zeu-gen die Massenmobilisierungen der 70er und 90er Jahre. Aber die Volksbe-wegung konnte der brutalen Repressi-on nicht standhalten und war wieder-holt gezwungen, sich neu aufzubauen.

Der Ursprung für diese quasi struk-turellen autoritären Züge des poli-tischen Lebens in Thailand liegt in der Entwicklung des wirtschaftlichen und politischen Systems. Der wichtigste, prägende Faktor war die verspätete in-dustrielle Revolution, die wie in den meisten Ländern Südost-Asiens erst in den Jahren 1955–1970 ihren Anfang nahm und in den 80er und 90er Jahren Auftrieb erhielt. Infolgedessen blieb die Arbeiterklasse lange weit hinter der Bauernschaft zurück und war als poli-tischer Faktor bei der Herausbildung eines politischen Systems nahezu be-deutungslos. Erstmals 2006 machen die thailändischen Bauern weniger als 50% der erwerbstätigen Bevölkerung aus. In den riesigen Industriezonen im Großraum von Bangkok und weiter im Südosten in Richtung Kambodscha er-lebt man, wie die industrielle Revolu-tion voranschreitet und eine millionen-fache Arbeiterklasse entsteht – auf geo-graphisch engstem Raum, mit geringem gewerkschaftlichem Organisationsgrad und v. a. politisch heimatlos. Die ar-men Bauern besonders im Nordosten Thailands unterstützten seit jeher so-zialdemokratisch oder kommunistisch gefärbte politische Kräfte, ohne dabei aber wirklich Einfluss auf die Politik in Bangkok nehmen zu können. Die städ-tische Arbeiterklasse entwickelte sich erst in den Jahren 1960 –1970 zu einer relevanten sozialen Größe und unter-lag dabei so starken Repressionen, dass sie heute im klassischen Wortsinn qua-si inexistent ist – sehr zur Freude des thailändischen und ausländischen Ka-pitals.

Der zweite prägende Faktor be-ruht auf der geschichtlichen Besonder-heit Thailands im Vergleich zu seinen Nachbarn. Anders als die anderen asi-atischen Länder war Thailand niemals eine direkte Kolonie der Westmächte oder Japans, auch wenn es deren Ein-fluss unterlag. Dies erklärt u.a. das lan-

ge Überleben der absoluten Monar-chie bis ins Jahr 1932. In den ande-ren asiatischen Ländern war die Mon-archie von den Kolonialmächten unter-drückt oder an den Rand gedrängt wor-den. Die nationalen Befreiungskriege in Vietnam, Laos, Kambodscha und China, und – vor einem anderen Hin-tergrund – der Krieg in Korea oder die Landung Tschiang Kai Scheks auf Tai-wan haben die Geschichte dieser Län-der grundlegend umgewälzt. Nicht so in Thailand, das niemals Kolonie war oder von den Alliierten wegen Kolla-boration mit Japan im Krieg „bestraft“ worden wäre. Insofern gab es keine bürgerlich demokratische Revolution oder bedeutsamen Konflikte, die einen Bruch in der Geschichte erzeugt hät-ten, sondern eine geschichtliche Konti-nuität ab der Gründung der konstitutio-nellen Monarchie 1932.

VON DER ABSOLuTEN MONAR-CHIE ZuR DIKTATuR

Am 24. Juni 1932 beendete eine drei-stündige Palastrevolution die absolu-te Monarchie in Thailand. Die „Revo-lution von 1932“, wie sie großspurig genannt wird, war das Werk einer et-wa 100 Personen starken Gruppierung, der „Volkspartei“, die sich zu gleichen Teilen aus Offizieren unter dem Befehl von Phibun und Zivilisten unter der Führung von Pridi zusammensetzte. Ih-re Ausbildung in Europa ließ sie nach höherer Verantwortung in Armee und Staatsapparat streben. Aber diesem Begehr stand der zumeist ungebildete Adel, der das Machtmonopol bean-spruchte, entgegen – wie sie durchaus wussten. Weit davon entfernt, Repu-blikaner zu sein, versuchten sie daher den König zu überzeugen, dass er die Macht doch besser teilen solle und im Rahmen einer konstitutionellen Mon-archie auch wesentliche Vollmachten behalten würde. Die erste Regierung wurde somit von einem Vertreter des Königs geführt, der im Mai 1933 gegen Pridi putschte, als dieser eine „freiwil-lige Verstaatlichung von Ländereien“ plante, wonach der Adel seinen Land-besitz an den Staat verkaufen solle. Pri-di wurde ins Exil gezwungen, die Offi-ziere der Volkspartei in entlegene Ge-genden versetzt und ein antikommunis-tisches Gesetz gegen „jedweden Ver-such, das Privateigentum antasten zu wollen“, verabschiedet. Der Sieg der

Royalisten war von kurzer Dauer, da die jungen Offiziere der „Volkspartei“ im Juni 1933 einen erfolgreichen Ge-genputsch durchführten, der Pridi wie-der zur Regierung verhalf. Im Oktober 1933 organisierten die Royalisten ei-nen erneuten Staatsstreich, indem sie Truppen aus der Provinz in Marsch auf die Hauptstadt setzten. Die von Phibun kommandierten und vom Business fi-nanzierten Truppen aus Bangkok ob-siegten, aber die Regierung verzichte-te auf harte Repressionsmaßnahmen gegenüber den Royalisten und lud sie vielmehr zu Verhandlungen über ei-nen politischen Kompromiss ein. Der Grund für diese politische Instabilität lag darin, dass die Bevölkerung von je-der Regierungsteilhabe ausgeschlos-sen war und diese der Armee mit ih-ren wechselnden Fraktionen vorbehal-ten blieb. Die Verfassung von 1932 hat keine wirklich demokratischen Ver-hältnisse herbeigeführt, die es der Be-völkerung erlaubt hätten, ihre Vertreter frei zu wählen und nötigenfalls zu un-terstützen. Ein Parlament wurde wohl geschaffen, aber bloß die Hälfte der Sitze per Wahl besetzt und die andere vom König und der aus der „Volkspar-tei“ zusammengesetzten Regierung er-nannt. Die Bildung politischer Parteien wurde 1933 erlaubt, ebenso erhielten die Arbeiter das Recht auf Gründung von Gewerkschaften. Aber bereits beim ersten Streik in den Reismühlen wurden die Gewerkschaftsführer ver-haftet und die Gewerkschaften verbo-ten. Ebenso wurden politische Parteien verboten, als die Royalisten versuchten ihre eigene Partei zu gründen, eine ei-ne Mehrheit in der Abgeordnetenver-sammlung zu erzielen. Die politischen Freiheiten wurden aufgehoben und die Presse nach einigen Monaten mundtot gemacht.

In den Folgejahren wechselten sich drei Clans an der Regierung ab: die Royalisten, die die absolute Monar-chie wieder herstellen und gegen die vermeintlichen Kommunisten vorge-hen wollten, und die beiden Regie-rungsfraktionen der „Volkspartei“, die Zivilisten und die Militärs. Im Wech-sel wurde geputscht und gegenge-putscht, ohne dass das Volk sich jemals zugunsten der ein oder anderen Frak-tion erhob. Die ersten Verlierer waren die Royalisten: nach dem gescheiterten Staatsstreich von 1933 setzten sich der König und das Gros des Adels nach

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Europa ab. 1935 dankte der Kö-nig ab. Wenn sie wirklich gewollt hätte, wäre es damals ein leichtes für die „Volkspartei“ gewesen, die parasitäre und abgewirtschaftete Monarchie für immer abzuservie-ren. Aber die „Revolutionäre“ von 1932 wollten von einer Republik nichts wissen, die eine Demokra-tisierung und eine wachsende Be-teiligung des Volkes an der Poli-tik hätte herbeiführen können. Die „freiwillige Verstaatlichung“ der Ländereien des Adels wurde fal-len gelassen, obwohl sogar Stim-men laut wurden, die Besitzungen des Königs zu verkaufen, um somit die von der Krise von 1929 ange-schlagene Wirtschaft wieder ankur-beln zu können. Die Regierung zog es jedoch vor, die Monarchie zu be-wahren und bestimmte irgendeinen obskuren und damals 10 Jahre alten Neffen des Königs als Nachfolger. Allerdings blieb Thailand 16 Jahre lang – bis 1951 – ohne amtierenden und residierenden König.

Die zweiten Verlierer waren die Zivilisten unter der Führung Pridis. Da das Überleben der Regierung davon abhing, dass die Militärfrak-tion der „Volkspartei“ die von den Royalisten befehligten Provinztrup-pen mit Hilfe der Zentraltruppen in Schach halten konnten, wuchs der Ein-fluss der Armee, nachdem die royalisti-sche Gefahr einmal beseitigt war. Die Truppenstärke wurde verdoppelt und das Militärbudget stieg von 1932 bis 1937 auf 26% der Staatsausgaben. Der Führer der Militärfraktion Phibun ver-einte 1938 neben seinem Posten als Ar-meechef auf sich das Amt des Premier-ministers sowie des Verteidigungs- und Außenministers. Das Parlament wur-de zur Raison gerufen und der Mili-tärhaushalt auf ein Drittel erhöht. Phi-bun schloss ein Bündnis mit der japa-nischen Regierung und gründete eine Jugendbewegung nach dem Vorbild der Hitlerjugend. Theorien von der Überle-genheit der „Thai-Rasse“ machten die Runde, ebenso rassistische Kampag-nen gegen die starke chinesische Min-derheit in Bangkok und die anderen ethnischen Minoritäten.

Die Armee trieb auch die Indus-trialisierung voran, indem das Vertei-digungsministerium staatliche Textil- und Erdölunternehmen gründete. 1941 erweiterte ein „nationaler Industria-

lisierungsplan“ die Zuständigkeit des Verteidigungsministeriums um einen ganzen Komplex von Aktivitäten im Industrie-, Landwirtschaft- und Trans-portsektor. Dahinter stand die Ab-sicht, die bestehenden Unternehmen in diesen Sektoren, deren Eigner zu-meist Chinesen waren, zu kontrollieren oder gar zu enteignen, „um eine thai-ländische Wirtschaft für die Thailänder zu schaffen“, weswegen ihnen serien-weise Arbeitsplätze exklusiv vorbehal-ten waren. 1939 wurde eine Nationali-tätenverordnung verabschiedet, die die ethnischen Minderheiten verpflichtete, Thailänder zu „werden“, d.h. die Spra-che zu erlernen, ihren Namen zu än-dern und ihre Kinder auf thailändische Schulen zu schicken. Viele chinesische Unternehmer wurden auf diese Art zu „Thailändern“ und leiteten die neuen staatlichen Unternehmen. Somit schuf der Nationalismus eine Klammer zwi-schen Industrie- und Handelskapital sowie dem zivilen und militärischen Staatsapparat.

Als Palastrevolution wurde die Er-richtung der institutionellen Monarchie

zum konstitutiven Merkmal Thailands. Jenseits aller Wendungen infolge der zahlreichen Putsche und Gegenputsche in den Folgejahren überdauerten all die-se genannten strukturellen Merkmale und bestimmen auch das heutige poli-tische Leben in Thailand.Pridi und die Exilroyalisten, die auf Sei-ten der Alliierten gekämpft hatten, ver-drängten Phibun 1944 wieder von der Regierung. Nach dem 2. Weltkrieg wur-de auf Pridis Betreiben auch wieder das Königshaus in das politische und wirt-schaftliche Geschehen integriert. Nach-dem er für die Royalisten und die Mi-litärs seine Schuldigkeit erbracht hatte, wurde Pridi wieder gestürzt und ins Exil gezwungen. Im Kampf um die Macht standen sich nunmehr die Royalisten mit der von ihnen gegründeten „Demo-kratischen Partei“ und die Armee gegen-über. 1951 akzeptierten die Generäle die Rückkehr des Königs unter der Bedin-gung beschnittener Kompetenzen. Als er sich weigerte, organisierten sie einen erneuten Staatsstreich und zwangen ihm diese Machtteilung durch eine Verfas-sungsänderung, die die Ernennung der

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Mehrheit der Parlamentsabgeordneten und die Oberhand der Militärs über die Regierung regelt, auf. Dies hinderte den König freilich nicht, bei den Nominie-rungen mitzumischen.

Der Sieg der KP Chinas 1949 und die Unabhängigkeitskriege in den Nach-barländern erwiesen sich für die Bour-geoisie, das Militär und die Royalisten als wahrer Glücksfall, da die USA Thai-land zu einer Bastion des antikommu-nistischen Kampfes machten. 1969 wa-ren 45 000 US-Soldaten in Thailand sta-tioniert. Drei Viertel der über Nordviet-nam und Laos zwischen 1965 und 1968 abgeworfenen Bomben stammten aus Thailand. 11 000 thailändische Solda-ten kämpften in Südvietnam und Tau-sende waren als Söldner in den Krieg gegen Laos involviert. Nach 1953 über-stieg die Militärhilfe der USA das Ver-teidigungsbudget in Thailand um das Zweieinhalbfache, was den davon pro-fitierenden Militärs die Möglichkeit zu einem erfolgreichen Staatsstreich ver-schaffte. Es entstanden neue Industrie-

und Dienstleistungszweige zur Beliefe-rung der US-Armee, was das Vermögen der thailändischen Bourgeoisie, aber auch der Generäle mehrt. Wie in den 30er Jahren gründen die Militärs Unter-nehmen, um direkt vom Wirtschaftsbo-om zu profitieren, oder sie verschaffen sich zahlreiche Sitze in den Aufsichtsrä-ten, um sich indirekt zu bereichern.

Die Monarchie wurde im Einverneh-men zwischen den USA und den Gene-rälen wieder hergestellt, um die natio-nale Einheit und die politische Stabili-tät zu stärken. 1957 – sechs Jahre nach der Rückkehr des neuen Königs Bhumi-pol – veranlasste der damalige Diktator Sarit eine Krönungszeremonie, um dem König eine hinreichende moralische und politische Legitimität zu verschaf-fen. Im Unterschied zu den Königen Anfang des Jahrhunderts, die Moderni-tät verkörpern wollten, indem sie „west-liche Werte“ kopierten und sich nur sel-ten in der Öffentlichkeit präsentierten, wurden jetzt die mittelalterlichen Ritu-ale in zeitgenössischer Form wiederbe-lebt und König Bhumipol tourte durch

die Provinzen, um „großzügig“ wohl-tätige Werke und Entwicklungshilfe für die Landwirtschaft zu tätigen. Dadurch erlangte er eine gewisse Popularität, da soziale Sicherung damals im Land noch ein Fremdwort war, und es ließ ihn als Retter der armen Bauern erscheinen, die die Verlierer der Industrialisierung wa-ren.

Ein Royalist wurde zum Bildungsminis-ter ernannt, und neue Schulbücher soll-ten den König als Vater der Nation und die ThailänderInnen als seine Kinder darstellen. Die USA trugen ihr Scherf-lein bei, indem sie in großem Umfang Porträts des Königs herstellen ließen, die dann im ganzen Land verbreitet wurden. General Sarit konnte sich somit die zunehmende Popularität des Königs zunutze machen, um dem Staatsstreich gegen Phibun, den er 1957 organisier-te, Legitimität zu verschaffen. Am Tag vorher sowie am Tag des Putschs sel-ber stattete er dem König einen Besuch ab. Sarit verpflichtete sich, ein Gesetz von Phibun abzuschaffen, durch das die Konzentration von Ländereien begrenzt und die Interessen der königlichen Fa-milie an Grundbesitz direkt angetastet worden waren. Im Gegenzug ernann-te der König ihm zum „Verteidiger der Hauptstadt“ und sandte ihm dann ei-ne Botschaft, die Ermutigung und Un-terstützung zum Ausdruck brachte. Aus diesem Anlass wurde ein Ritual einge-führt, dessen Ziel darin besteht, die Pro-teste der Bevölkerung gegen die Dikta-turen mundtot zu machen. Wenn der Kö-nig Unterstützung gewährt, haben seine Untertanen einfach nur noch zu gehor-chen. Von da an wurden praktisch alle Putsche mit der Billigung des Königs organisiert. Das ermöglichte ihm ne-benbei einen Einfluss auf die Auswahl der Diktatoren. So konnte die Monar-chie auch der Vorstellung Glaubwürdig-keit verschaffen, die politische Instabi-lität gehe nicht auf die Putsche zurück (sie stellen die politische Ordnung wie-der her), sondern auf die parlamenta-rische Demokratie (für die thailändische Gesellschaft ein Fremdkörper, dessen Import ein Fehler gewesen sei). Diese Vorstellung wird auch jetzt wieder von wohlwollenden BeobachterInnen aufge-griffen; Demokratie sei kein universeller Wert, sondern ein Element der westli-chen Kultur, behaupten sie. Da Thailand und die asiatischen Länder allgemein ei-ne andersartige Kultur haben, ist es nor-

Die Thailänder stre-ben nach Demokra-tie wie die anderen Völker auch. Davon zeugen die Massen-mobilisierungen der 70er und 90er Jahre. Aber die Volksbe-wegung konnte der brutalen Repression nicht standhalten und war wiederholt gezwungen, sich neu aufzubauen

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mal, dass demokratische Freiheiten und die parlamentarische Demokratie einge-schränkt und, wenn nötig, durch Mili-tärputsche außer Kraft gesetzt werden. So würden die Fehler eines Systems korrigiert, das zu den „asiatischen Wer-ten“ wie der Suche nach einem Kon-sens, mit dem die nationale Einheit be-wahrt werden kann, nicht passt. Diese „kulturalistischen“ Erklärungen dienen den Diktaturen als Alibi, und sie lassen es sich nicht nehmen, sich ihrer zur zu bedienen, um sich zu rechtfertigen. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Die jun-gen ThailänderInnen werden von frü-hester Kindheit an in der Schule und in den Familien einer systematischen In-doktrinierung unterzogen, die sie zum Respekt vor „König, Religion und Na-tion“ anhalten soll, wie König Chula-longkorn bereits zu Beginn des 20. Jahr-hunderts sagte. Laizismus und Republik sind als Konzept unbekannt und gefähr-lich, weil illegal. Diese Gehirnwäsche, die sich heutzutage auf die modernen Kommunikationsmittel und auf einen Kult um die königliche Familie stützt, macht kritisches Denken und die Aus-übung von demokratischen Freiheiten unmöglich. Wie soll man den Gedanken von Gleichheit fassen und einfordern, wenn man zahlreiche drückende Hier-archien in Ehren halten muss und wenn man ein/e UntertanIn des Königs ist und nicht StaatsbürgerIn?

Es ist um so bemerkenswerter, dass die Mobilisierung der Bevölkerung ge-gen die Armut und für Demokratie trotz dieser mit der Restauration der Monar-chie verbundenen zusätzlichen Hinder-nisse in den Jahren 1960 bis 1970 im-mer häufiger stattgefunden hat.

INDuSTRIELLE REVOLuTION uND WIEDERBELEBuNG DER KäMPFE

Die Kämpfe der Bevölkerung sind ei-ne zeitlich versetzte Folge der sozialen Erschütterung, die die Ende der 1950er Jahre einsetzende industrielle Revoluti-on nach sich gezogen hat. Neue gesell-schaftliche Schichten entstanden oder nahmen zu. Die nationale Industriebour-geoisie konnte zulegen und dehnte sich über den ursprünglichen Bereich der traditionellen chinesischen Bourgeoisie und den staatlichen industriellen Sektor aus. Die thailändische Regierung prak-tizierte eine (seinerzeit klassische) pro-tektionistische Politik, was die Schaf-

fung von nationalen Industriebetrieben möglich machte und in der Folge aus-ländischen, vor allem japanischen Un-ternehmen einen Anreiz bot, sich in Thailand niederzulassen. Die Industri-alisierung konzentrierte sich vor allem um Bangkok herum, später auch im Südosten, entlang dem Golf von Thai-land, wo die Transportwege über das Meer den Export erleichtern.

Infolgedessen wächst die Bevöl-kerung Bangkoks im Zeitraum 1947 bis 1970 von 780 000 auf 2,5 Millio-nen Menschen (eine Verdreifachung in-nerhalb von 23 Jahren). Zwischen 1960 und 1970 nehmen die Arbeiterklasse und die „Mittelklasse“ mit Beschäfti-gungsverhältnissen vor allem im Dienst-leistungsbereich um 49 % zu – bei ei-ner Ausweitung der berufstätigen Be-völkerung um 22 %. Für den Zeitraum 1970 bis 1980 liegen diese Zahlen bei 85 % bzw. 38 %. Die Zahl der Studie-renden stieg von 18 000 im Jahr 1961 auf 100 000 in 1972 an. Diese rasch zu-nehmende neue Bevölkerung von Arbei-terInnen, Studierenden und Stadtbewoh-nern beteiligte sich an Demonstrationen und Streiks. Die offiziellen Statistiken, in denen die Wirklichkeit unterschätzt wird, verzeichnen für 1972, mitten in der Militärdiktatur, 34 Streiks mit einer durchschnittlichen Dauer von 2,6 Tagen und einer Beteiligung von 7 603 Arbei-terInnen. 1973 gab es eine Erhebung mit der Forderung nach Demokratie und es wurden 501 Streiks verzeichnet, an de-nen sich 178 000 ArbeiterInnen beteilig-ten. Die durchschnittliche Dauer war je-doch niedriger, nämlich 1,7 Tage. 70 % dieser Streiks fanden nach dem 14. Okto-ber 1973 statt, kurz nach einer Demons-tration, zu der auf Initiative der Studen-tInnen 500 000 Menschen in Bangkok zusammenkamen, um die Rückkehr zur Verfassung und einem gewählten Parla-ment zu fordern. Der König empfing ei-ne Delegation. Am Morgen des 14. Ok-tobers aber schoss das Militär in die Menge der Demonstrierenden, die sich noch nicht aufgelöst hatte; es gab 77 To-te und 857 Verwundete. Die Streiks wa-ren eindeutig politische Proteststreiks. Trotz dieser wütenden Repression wur-den die Streiks in den Jahren 1974 bis 1976 fortgesetzt. Die Beteiligung von abhängig Beschäftigten und die Streik-dauer lagen höher. Es waren Jahre inten-siver politischer Debatte und der Radi-kalisierung, in denen die thailändischen StudentInnen Ideen entdeckten und im-

portierten, die im Westen von der Stu-dentenbewegung von 1968 entwickelt worden waren, in denen sie revolutio-näre Vorstellungen entdeckten und in de-nen sie außerdem ihr eigenes Denken ausgehend von einer Synthese der Ge-rechtigkeitsideale, wie der Buddhismus sie enthält, und dem Marxismus wei-terentwickelten. Es fanden täglich De-monstrationen statt, mit denen der Druck auf die Regierung aufrecht erhalten wur-de. Vor allem aber gelang es den thailän-dischen StudentInnen, eine Verbindung zu den ArbeiterInnen und dann auch der Bauernschaft herzustellen. 1974 kamen sie den 6000 streikenden Textilarbeite-rInnen zu Hilfe. Deren Streik konnte der Regierung eine Anhebung des Mindest-lohns und eine bessere Sozialgesetzge-bung, verbunden mit einer gesetzlichen Anerkennung der Gewerkschaften, ab-trotzen. Bäuerinnen und Bauern, die vor allem aus dem Norden des Landes ka-men, demonstrierten in Bangkok, um ei-ne Anhebung des Preises für Reis zu er-reichen. Auch in dieser Frage trat die Regierung den Rückzug an. Die Bäue-rInnen sahen sich ermutigt und gründe-ten den Bauernverband von Thailand, in dem sich innerhalb von kurzer Zeit 1,5 Millionen BäuerInnen aus 41 Provinzen organisiert hatten.

Diesen aufsteigenden Zyklus der Volkskämpfe fand der reaktionärste Flü-gel der Armee, der Bourgeoisie und der Monarchie nicht tolerierbar. Vor dem Hintergrund des Siegs der nationalen Befreiungskriege in Vietnam und in den Nachbarländern Kambodscha und La-os, in denen die Monarchie abgeschafft wurde, wollen die herrschenden Eliten die Einigung der Volksbewegungen und ihr Zusammengehen mit der kommunis-tischen Guerilla nicht hinnehmen.

Die 1930 von Ho Chi Minh gegrün-dete Kommunistische Partei Thailands (KPT) blieb viele Jahre lang eine Ba-sis für die chinesischen und vietname-sischen KommunistInnen, die von Thai-land aus in Richtung der Länder ope-rierten, aus denen sie stammten. In den Reihen der KPT waren damals wenige Thais, und die Repression schränkte ih-ren Einfluss auf die thailändische Poli-tik ein. Während des Zweiten Weltkriegs kam die KPT aus ihrer Randexistenz heraus, indem sie ein sehr aktiver Be-standteil des Widerstands gegen die ja-panische Armee wurde. Sie hielt 1942 einen weiteren Gründungskongress ab, mit dem Ziel, sich in der thailändischen

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Gesellschaft zu verankern. Sie erreichte am Ende des Kriegs die Abschaffung der antikommunistischen Gesetze, trat aus der Untergrundexistenz heraus, betei-ligte sich an Wahlen und nahm die Ar-beit in der Gewerkschaft auf. Sie koordi-nierte 1945 und 1947 zwei großflächige Streiks in den Reismühlen und organi-sierte 1946 und 1947 am 1. Mai Mas-sendemonstrationen. Von diesem Zeit-punkt an gewann der maoistische Flü-gel die Mehrheit. Die KPT begann eine Wende hin aufs Land zu diskutieren, um dort eine Guerillaarmee zu organisieren, mit der dann die Städte erobert werden sollten. Dieser Kurs wurde 1961 in die Praxis umgesetzt. In der Hügelregion im Norden, wo die Minderheiten der Mong, Yao und Lua leben, im Nordosten, der ärmsten landwirtschaftlichen Region von Thailand, und im Süden mit seiner malaiischen Mehrheit wurden Guerilla-kerne organisiert; im Süden wurden Ver-bindungen zur Kommunistischen Partei Malayas hergestellt. Eine Einschätzung der Armee aus dem Jahr 1969 besagte, dass die Guerilla über 8000 Kämpfer verfügt, 412 Dörfer kontrolliert und in weiteren 6000, in denen nahezu 4 Mil-lionen Menschen leben, Einfluss aus-übt. Die Repression der Armee war bru-tal. Da sie nicht dazu in der Lage war, ei-nen Sieg über die Guerilla zu erzielen, bombardierte die Armee die Wälder mit Napalm, massakrierte die Dorfbevölke-rung und vor allem die ethnischen Min-derheiten wahllos, und sie rodete Tau-sende von Hektar Wald, um der Gueril-la den natürlichen Schutz zu entziehen. Die Guerilla konnte zwar örtlich Erfolge erzielen, sie war jedoch nicht dazu in der Lage, in den Dörfern einen realen Ein-fluss auszuüben. Die Entwicklung der Arbeiter- und der Studentenkämpfe in Bangkok und anderen Großstädten bot ihr eine Gelegenheit, die Isolierung zu

durchbrechen. Dies wollte die Armee verhindern.

Ende 1974 begannen Armee, Bour-geoisie und Monarchie faschistische Milizen zu organisieren, wie die „Bewe-gung der Dorf-Scouts“ und eine Bewe-gung der „Wächter“, die durch die Dör-fer zogen und fragten: „Liebt ihr Thai-land? Hasst ihr die Kommunisten?“ Di-ese beiden Bewegungen, die von der Grenzpolizei und den Armee-Einheiten, die im Kampf gegen die Guerilla stan-den, geschaffen worden waren, gingen dann in die städtischen Gegenden. Sie organisierten Lager, in die fast 2 Milli-onen Menschen kamen, darunter leiten-des Personal von Unternehmen, Regie-rungsbeamte und deren Familien.

Diese faschistischen Milizen star-teten eine Terrorkampagne, griffen die Demonstrationen an, ermordeten sys-tematisch Bauern- und Arbeiterführe-rInnen, den Generalsekretär der sozi-alistischen Partei, linke Abgeordnete, verübten Bombenattentate auf die Büros der linken Parteien. Jeden Tag wurden von den Radiosendern, die von der Ar-mee kontrolliert wurden, Mordaufrufe verbreitet. „Einen Kommunisten zu tö-ten, ist keine Sünde, sondern eine Pflicht aller Thais“. Der Slogan einer Partei der Diktatur bei dem Wahlkampf 1976 lau-tete: „Die Rechte tötet die Linke“. Am 19. September kehrte der Diktator, der die Verantwortung für die Schlächte-rei von 1973 hatte, aus dem Exil zu-rück, er wurde Mönch in einem Klos-ter, das in unmittelbarer Nähe zum kö-niglichen Palast lag. Dort erhielt er Be-such vom König und von der Königin. Zwei Tage darauf wurden Arbeiter, die gegen seine Anwesenheit im Land pro-testierten, gelyncht. Diese mörderische Kampagne erreichte mit dem Massaker vom 6. Oktober 1976 in der Universität Thammasat ihren Höhepunkt. Die „Be-

wegung der Dorf-Scouts“, die Wäch-ter und Einheiten der Grenzpolizei grif-fen den Campus mit Raketen, panzer-brechenden Geschossen und Maschi-nenpistolen an. Offiziell wurden 43 Stu-dentInnen ermordet, ganz zu schweigen von den Verwundeten, den Vergewalti-gungen und den lebendig Verbrannten. Es gab 8000 Verhaftungen. In dieser Nacht rechtfertigte der König einen neu-en Staatsstreich. Der Bauernbewegung wurde der Garaus gemacht, und etwa 3000 StudentInnen und ArbeiterInnen schlossen sich ebenso sehr aus Überzeu-gung wie um des Überlebens willen der kommunistischen Guerilla an.

Aufgrund dieser Verstärkungen er-reichte die Guerilla 1979 die Zahl von 10 000 KämpferInnen. Die Zahl der mi-litärischem Zusammenstöße stieg von 1977 bis 1979 auf eintausend an. Di-ese Entwicklung verdeckte jedoch ei-ne tiefe Orientierungskrise. Die neu da-zu Gekommenen, die ihre Erfahrungen aus städtischen Kämpfen mitbrach-ten, zweifelten die Erfolgsaussichten der maoistischen Strategie der Erobe-rung der Macht, die auf dem Einkrei-sen der Städte durch die Dörfer beruhte, für Thailand ernsthaft an. Als der Hor-ror der beispiellosen Massaker der „Ro-ten Khmer“, die ja nicht weit weg wa-ren und mit denen die KPT gelegentlich zusammengearbeitet hatte, schrittwei-se aufgedeckt wurde, wirkte sich das auf eine beträchtliche Zahl von Mitgliedern erschütternd aus. Und zwar um so mehr, als überlebende KambodschanerInnen hereinströmten und die Flüchtlingsla-ger der Khmer (in Wirklichkeit von den Roten Khmer kontrollierte Gefangenen-lager) in Guerillagebieten der KPT la-gen. Der Konflikt zwischen den „Ro-ten Khmer“ und den vietnamesischen Truppen sowie der Angriff Chinas hat-ten tief desorientierende und demorali-sierende Auswirkungen. Die KPT spal-tete sich in eine prochinesische und ei-ne provietnamesische Fraktion. China war mehr an der Wiederherstellung der politischen und kommerziellen Bezie-hungen zur thailändischen Regierung in-teressiert und stellte ihre Unterstützung für die KPT ein. Unter diesen Umstän-den gaben die meisten StudentInnen und KPT-Mitglieder auf und akzeptierten die Bedingungen für die Amnestie, wie Ge-neral Prem Tinsulanonda sie vorgeschla-gen hatte; er war 1981 vom Armeechef zum Ministerpräsidenten aufgestiegen. 1982 und 1983 ergaben sich die meisten

Flüchtlingslager der Khmer (in Wirklichkeit von den Roten Khmer kontrollierte Gefangenenlager) lagen in Guerillagebieten der KPT

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KPT-Einheiten, die letzten noch aktiven wurden 1987 verhaftet, als sie einen Par-teitag abhalten wollten.

Ende der 1980er Jahre erreichten die machthabenden Eliten ihre Ziele. Die Volksbewegung wurde enthauptet. Es gab keine koordinierte Gewerkschafts-organisation mehr, auch keine auf nati-onaler Ebene handlungsfähige Bauern-bewegung. Auf politischer Ebene gab es keine Linkspartei mehr, weder eine re-formistische noch eine revolutionäre. Die Arbeiterbewegung musste neu auf-gebaut werden. Und dennoch war es kein totaler Sieg. Im Lauf der 1980er Jahre gab es neue soziale Bewegungen:

Kämpfe von DorfbewohnerInnen für die Erhaltung von Wäldern, Kämpfe der Bauernschaft gegen den Bau von Staudämmen, Kämpfe von Fabrikar-beiterInnen für Lohnerhöhungen. Diese Kämpfe blieben jedoch auf den eigenen Bereich bezogen und zersplittert. Vor allem aber war das Streben nach Demo-kratie weiterhin lebendig. 1992 fanden in Bangkok Demonstrationen für die Wiederherstellung statt. An den ersten Demonstrationen nahmen Leute aus der Mittelschicht teil, nach den ersten Fäl-len von gewaltsamem Vorgehen seitens der Staatsmacht waren sie aber nicht mehr zu erblicken. StudentInnen und

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Lohnabhängige demonstrierten wei-ter und setzten sich der Repression aus. Wieder schoss die Armee in den Stra-ßen von Bangkok, und der König war geschickt genug, um als derjenige in Er-scheinung zu treten, der der Gewalt ein Ende setzt. Armee und Monarchie taten sich zusammen, um die Ordnung herr-schen zu lassen. 2006 wiederholte sich die gleiche Situation.

Danielle Sabaï und Jean Sanuk sind Korrespon-dentInnen von Inprecor in Südostasien.

Aus dem Französischen übersetzt von Michael Weis und Friedrich Dorn.

In den Abendstunden des 19. November putschten die thailändischen Militärs unter der Führung von General Sonthi Boonyaratklin, wobei sie sich die Ab-wesenheit von Premierminister Thak-sin Shinawatra zunutze machten, der bei der UN-Vollversammlung zugegen war. Zu ihrer Rechtfertigung erklärte die jet-zige Junta, dass sie die Demokratie und Stabilität im Lande, die durch Thaksin bedroht gewesen seien, retten wollte. Und tatsächlich wird die Amtszeit von Thaksin als eine Ära des Nepotismus und allgemeiner Korruption in die An-nalen eingehen. Zudem wurde ihm vor-geworfen, nationale Zwietracht gesät zu haben und – last but not least – Seiner Königlichen Hoheit Bhumipol nicht den nötigen Respekt gezollt zu haben.

SäBELKLIRREN uND DEMO-KRATIE PASSEN NICHT ZuSAM-MEN

Es regten sich nur wenige Stimmen im Lande gegen den Putsch, was da-von abgesehen der politischen Klasse Thailands auch gar nicht zum Problem gereichen würde. Sie schielt vielmehr auf die Resonanz der übrigen Welt, die recht verhalten ausfiel. Hört man auf

Putsch in Thailand – ein Rückschritt für Thailand und Südost-AsienDanielle Sabai und Jean Sanuk

Anand Panayarachun, Premierminister nach dem Militärputsch von 1991, dann „hat ein Staatsstreich in Thailand eine andere Qualität als ein Militärputsch in Afrika oder Lateinamerika …“1 In der Tat fiel auch kein einziger Schuss da-bei. Und nach Angaben der Lokalpres-se stehen 83,9% der Bevölkerung hin-ter den Aufständischen. In einem Land, das wenig zu Auseinandersetzungen neigt, glauben viele, dass der Putsch das Land aus einer allgemein für aus-weglos erachteten politischen Krise führen wird. Jedenfalls halten sich die AnhängerInnen Thaksins im Moment bedeckt und seine wichtigste Wähler-basis, die armen Bauern, verfügt nicht über die notwendigen Machthebel, um ihre Unzufriedenheit geltend zu ma-chen.

Viele glauben auch, dass ein de-mokratischer Übergang unter der Ägi-de (Kuratel) des Militärs allemal besser ist als die endlosen Demonstrationen seit fast einem Jahr2. Die Putschisten haben obendrein hinlänglich betont, die Macht nicht länger als 2 Wochen in ihren Händen halten zu wollen, um in dieser Zeit eine integre und über je-

1 Newsweek vom 25.9.06

2 Vgl. Inprekorr 416/417 vom Juli/August 2006

den Verdacht erhabene Person als vor-läufigen Premier auswählen zu können. Mit den exakt gleichen Worten hatten die Militärs ihren Putsch 1991, als sie eine gewählte Regierung nach dreijäh-riger Amtszeit absetzten, gerechtfer-tigt. Ihr Versprechen war damals, das politische System zu „säubern“ und denjenigen Politikern an den Kragen zu gehen, die sich „in exzessiver Ma-nier“ bereichert hatten. Die damals ver-abschiedete neue Verfassung machte es möglich, einen Premierminister außer-halb der Parlamentsreihen zu wählen, will heißen: z B. einen Militär.

Der neue Premierminister, Suray-ud Chulanont, der im Sold von der ge-genwärtigen Junta stand, stammt dem-nach auch aus den Reihen der Armee, aus der er sich erst vor drei Jahren ver-abschiedet hat. Als veritabler Höfling hat er unter Prem Tinsulanonda, dem engsten Berater des Königs, gedient und war direkt dem Chef der Militär-junta, Sonthi, unterstellt. Seine Sporen verdiente er sich, als er das bewaffne-te Korps befehligte, das die Teilnehmer der Demonstrationen von 1992 unter Beschuss nahm, auch wenn er immer beteuert hat, nicht den Schießbefehl er-teilt zu haben.

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Die Putschisten haben also im Na-men der Demokratie und der Korrup-tionsbekämpfung eine Regierung ge-stürzt, die immerhin zweimal demo-kratisch gewählt worden war. Zu ihren ersten Maßnahmen zählte die Verhän-gung des Kriegsrechts und die Aufhe-bung der Verfassung, deren Artikel 65 besagt, dass es Pflicht der BürgerInnen sei, sich jedwedem Umsturzversuch einer demokratisch gewählten Regie-rung zu widersetzen. Die Pressefreiheit wurde aufgehoben und den Medien die Verantwortung für jedwede Kritik am Putsch – auch in Form von Leserbrie-fen und Hörermeinungen – angelastet. Versammlungen von mehr als fünf Per-sonen sind verboten und die gewerk-schaftlichen und politischen Organisa-tionen gehalten, ihr Engagement einzu-stellen, da die Junta sich mit den Forde-rungen der Bauern und ArbeiterInnen „direkt auseinandersetzen“ würde.

Zweifellos liegt die Besonderheit darin, dass der Staatsstreich bereits an-derntags die Billigung des Königs er-fahren hat, was alle Skrupel und Zwei-fel ersticken lässt, da der König als die Verkörperung des Willens der thailän-dischen Bevölkerung gilt oder – anders gesagt – sich die Bevölkerung dem Willen des Königs beugt.

DIE BRüCHIGE DEMOKRATIE IN SüDOST-ASIEN

Der Putsch in Thailand ist nicht nur für die ThailänderInnen sondern für die ge-samte Region ein herber Schlag. Dass Generäle an der Macht sind, ist leider keine exklusiv thailändische Speziali-tät. Das Besondere daran ist freilich die Art, dorthin zu gelangen und sich dort zu halten.

Indonesien wird seit den letzten Wahlen von einem Ex-General regiert. Gloria Arroyo, die Präsidentin der Phil-ippinen stützt sich nach zwei überstan-denen Putschversuchen auf die Armee und das Notstandsrecht. Pakistan wird von dem Putschisten Pervez Muschar-raf regiert, dem von den USA mittler-weile die demokratischen Weihen er-teilt wurden, weil es ein wenig pein-lich wäre, dass ein Diktator am Kampf „gegen den Terrorismus“ beteiligt ist. Birma wird seit Jahrzehnten von blut-rünstigen Militärs regiert, denen es nicht genügt, das Land auszuplün-dern, und die obendrein in aller Ru-he und ohne Scham Teile der Bevölke-rung massakrieren und die Überleben-den versklaven. Auch wenn die histo-rischen und politischen Hintergründe anders sind, stößt man auch in Laos,

Kambodscha, Vietnam und China auf die Allgegenwart der Militärs an den Schalthebeln der Macht und der Ge-schäftemacherei.

Insofern gereicht den amtierenden Diktatoren der Putsch in Thailand zur Beruhigung und allen Aspiranten zur Ermutigung.

DIE ARMEE ZEIGT SICH DIS-KRET, ABER ALLGEGENWäRTIG

Der Putsch wirft Thailand in eine über-wunden geglaubte dunkle Vergangen-heit zurück. Das Land, das seit 1991 von Militärputschen verschont geblie-ben ist, fungierte in den internationa-len Medien als Vorzeigedemokratie auf diesem Kontinent. Die blutige Repres-sion von 1992 nach dem letzten Staats-streich war Auftakt zu einer neuen Ära des Übergangs zur Demokratie, deren besonderes Merkmal die Erarbeitung einer neuen Verfassung war. Diese hat-te als grundlegende Ziele, die Spirale von Staatsstreichen und autoritären Re-gimes zu beenden und der Korruption als Grundübel der thailändischen Poli-tik Einhalt zu gebieten.

Die blutige Repression von 1992 hatte auch zu einem Nachdenken über Funktion und Stellenwert der Militärs in der Gesellschaft geführt. Unter an-derem war dadurch das Oberkomman-do der Armee dazu veranlasst, wenigs-tens dem Anschein nach eine „Entpoli-tisierung“ der Militärs und eine Nicht-einmischung in die politischen Aus-einandersetzungen zu akzeptieren und sie an der Regierung lediglich mit dem Posten des Verteidigungsministers zu beteiligen. Sonthi höchstselbst hatte noch wenige Wochen vor dem Putsch beteuert, dass die Armee nicht befugt sei, sich in die gegenwärtige politische Krise einzumischen …

Die Wirklichkeit sah freilich an-ders aus. Die Armee zog sich nur so-weit freiwillig zurück, wie die Zivilre-gierung im Gegenzug ihre Privilegien unangetastet ließ. Thaksin aber hat seit Beginn seiner Amtszeit an diesem Status quo gerüttelt und versucht, den Staatsapparat zu seinem Vorteil umzu-gestalten. Als ausgewiesener Kenner der politischen Landschaft Thailands war ihm bewusst, dass sein Verbleiben an der Macht in hohem Maß davon ab-hing, wie er die Armee unter Kontrol-le behielt. Denn außer ihren engen Ver-bindungen zum Königshof verfügt sie

General Sonthi Boonyaratklin

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auch auf dem Finanz- und Industrie-sektor über Macht. Insofern lag seine Methode, die Armee zu kontrollieren und dabei die offene Konfrontation zu vermeiden, darin, die Seilschaften, die Prem Tinsulanonda – Ex-General, Ex-Premier und anschließend engster Be-rater des Königs – aufgebaut hat, syste-matisch zu demontieren und sie durch seine eigene Corona zu ersetzen. Al-so platzierte er 2002 und 2003 mehr als 35 Freunde und Verwandte, die zu-meist dem „Jahrgang 10“ – so wie er – entstammten, in Schlüsselpositi-onen der Armee. Im Unterschied zum „Jahrgang 5“, der den Staatsstreich von 1991 durchgeführt hat, verbindet die-se Generation keine gemeinsame Ide-ologie. Ihr einigendes Band besteht ge-nau genommen nur aus Vetternwirt-schaft und Selbstbereicherung. Oben-drein sind die meisten der von Thak-sin nominierten Kommandeure bar je-der Erfahrung auf diesem Sektor und verfügen auch nicht über die notwen-dige Autorität. Folglich tun sich in der Armee tiefe Gräben zwischen Anhän-gern und Gegnern Thaksins auf. Dieser sichert sich die Loyalität der obersten Heeresleitung, indem er sie systema-tisch mit seinen Gefolgsleuten besetzt. Er selbst ist von diesem System derart angetan, dass er versichert: „Die Füh-rung der Streitkräfte ist sehr diszipli-niert und steht voll und ganz hinter der Regierung, besonders was meine Per-son angeht.“3

Seine brutale Repressionspolitik im Süden des Landes war gleichfalls sehr dazu angetan, der Armee wieder die Le-gitimation zu verschaffen, sich in den politischen Alltag einzumischen. Die drei islamischen Provinzen mit malay-sischer Bevölkerungsmehrheit werden seit mittlerweile 3 Jahren täglich von Morden und Massakern heimgesucht.

Derlei Gewalttaten gehören dort zum Alltag, seit die Provinzen nach dem 2. Weltkrieg gegen ihren Willen Thailand zugeschlagen wurden. Die ThailänderInnen malaysischer Abstam-mung fordern als Opfer von Diskrimi-nierungen einen weit reichenden Auto-nomiestatus. Der Wiederausbruch der Gewalt seit Januar 2004 hat zahlreiche Opfer – bis heute über 1700 – gefor-dert. Die Regierung reagierte darauf, indem sie den Ausnahmezustand ver-hängte und die Armee mit Sondervoll-machten ausstattete bis hin zu einem

3 New Straits Times vom 10.7.03

gottlob abgelehnten Gesetzesentwurf, der eine Kopfprämie für jeden getöte-ten – auch nur mutmaßlichen – Terro-risten vorsah. Durch diese Politik wur-de die ohnehin exorbitante Macht von Armee und Polizei im ganzen Land noch untermauert.

Die Gewalt im Süden des Landes zeitigte daneben einen für Thaksin höchst unerwarteten Effekt. Auf Drän-gen der Opposition und des Königs nämlich und als Beweis seines gu-ten Willens nominierte Thaksin letz-tes Jahr zur Lösung der Krise statt ei-nen seiner Spezis einen muslimischen Oberbefehlshaber an die Armeespitze – ein Novum in der Geschichte der thai-ländischen Armee, wo zuvor nur Bud-dhisten in verantwortliche Ränge ge-kommen waren. Dieser Mann – Sonthi Boonyaratklin – sollte später von sich reden machen.

DER uNAuFHALTSAME AuF-STIEG VON THAKSIN

Bevor er in die Politik ging, war Thak-sin zunächst und zuvorderst Geschäfts-mann, dessen Vermögen im Wesent-lichen auf Lizenzen und Konzessionen gründete, die er von den Militärs und den jeweiligen Regierungen in den 90er Jahren erhielt. Die instabile politische und wirtschaftliche Lage brachten ihn zu der Überzeugung, dass ein Premier-minister vonnöten sei, der die Sorgen der Unternehmer versteht, und er seine eigene Partei gründen müsse, wenn er die Regierung kontrollieren wolle. Die Wirtschaftkrise von 1997 wirkte dabei als Katalysator. Wie in allen Krisen ge-hen viele Firmen kaputt und andere, die überleben, gestärkt daraus hervor. Letz-tere gehörten vorwiegend zum Dienst-leistungssektor, der der internationalen Konkurrenz weniger ausgesetzt ist, da er die Protektion des Staates genießt, der die Lizenzen nur an einheimische Unternehmen vergibt. In der von Thak-sin gegründeten neuen Partei Thai Rak Thai versammeln sich diese großen Fa-milien, die aus den Erfahrungen mit der Krise die Schlussfolgerung gezo-gen haben, dass Politik und Wirtschaft enger verzahnt sein müssen.

Zwischen 1998 und der erfolg-reichen Wahl 2001 zog Thaksin sein Projekt hoch und erarbeitete eine po-litische Plattform, indem er die unter-schiedlichsten und mitunter sozial wi-dersprüchlichen Forderungen über-

nahm sowohl aus den Reihen der Klein- und Mittelbetriebe und der Bauern wie auch aus der Industriearbeiterklasse und deren Nöte und Probleme. Zwei-fellos war dies das erste Mal in Thai-land, dass sich eine Partei zu den Wah-len stellte, die Vorschläge der Wähle-rInnen aufgreift.

Durch die Krise von 1997 und den darauf folgenden Bankrott waren zahl-lose thailändische Klein- und Mittelbe-triebe in Konkurs oder Insolvenz ge-raten. Der IWF, der die Aufsicht über das Krisenmanagement der Regierung innehatte, sah in diesen Massenkon-kursen nichts Anstößiges, würden sie doch vielmehr zu einer „Verjüngung“ der Wirtschaft beitragen, indem die-se Unternehmen durch ausländisches Kapital zu Dumpingpreisen aufgekauft werden können. In den drei Folgejahren auf die Krise floss mehr ausländisches Kapital nach Thailand – hauptsächlich um thailändische Unternehmen aufzu-kaufen – als in den elf Jahren zuvor, in denen die Wirtschaft florierte. Insofern wurde allgemein die Auffassung ver-treten, dass die Politik des damaligen Premierministers Chuan Leekpai von den Demokraten ein Einknicken vor den Diktaten des IWF sei und er nicht in der Lage oder willens sei, das hei-mische Kapital zu schützen.

Thaksin war so klug, sich als Ret-ter der Klein- und Mittelbetriebe dar-zustellen. Er kleidete sich in nationa-listische Rhetorik, wobei er sich die Unpopularität der vom IWF aufer-legten wirtschaftlichen Reformen zu-nutze machte. In seinem Konzept zum Krisenmanagement schlug er vor, dass die kleinen und mittleren Unterneh-men durch eine Verschmelzung traditi-oneller Qualifikationen und hochtech-nologischer Entwicklung Aufschwung erfahren sollten.

Allein die Unterstützung durch die Industrie ist noch nicht ausreichend. Thailand ist noch immer tiefstes Agrar-land, in dem die Bauern aktuell fast 50% der erwerbstätigen Bevölkerung ausmachen. Und bereits lange vor der Krise war die Landwirtschaft von ei-ner schweren Krise betroffen. Obwohl Thailand zu einem der wichtigsten Reisexporteure geworden ist, lebten Anfang der 90er Jahre noch fast 40% der Bauern unterhalb der relativen Ar-mutsschwelle. Die Anliegen der Bau-ern rangieren immer weit hinter denen der städtischen Mittelschichten und der

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Bourgeoisie, die in Bangkok konzen-triert sind.

Thaksin schrieb sich sogleich ein-zelne Forderungen der in den 90er Jah-ren entstandenen Landwirtschaftsver-bände auf die Fahnen und hielt auch seine Versprechen im Jahr seines Re-gierungsantritts weitgehend ein, näm-lich die nahezu kostenlose Gesund-heitsversorgung (gegen eine Summe von umgerechnet 64 Cents ist die ge-samte medizinische Versorgung zu-gänglich), einen Zuschuss von jeweils 21 275 Euro für die dörfliche Infra-struktur und einen mehrjährigen Zah-lungsaufschub für die verschuldeten Bauern.

Diese Politik zugunsten der Armen folgt dem klassischen Muster des Po-pulismus: die Armut der Bauern lin-dern, um eine soziale Basis und poli-tische Stabilität zu erhalten, die zum Gedeihen der eigenen Geschäfte un-erlässlich sind. Auch zögerte er nicht, ehemalige kommunistische Kader aus den 70er Jahren in sein „Oktobristen“-Team zu integrieren. Sein Ziel konn-te er damit erreichen und sich die un-vergängliche Unterstützung der Bau-ern und Armen besonders im Norden und Nordosten des Landes sichern. Somit erzielte er 2005 wieder einen komfortablen Wahlsieg, wobei er 377 von 500 Parlamentssitzen erhielt. Sei-ne TRT erhielt als erste Partei seit 73 Jahren die absolute Mehrheit, und er selbst wurde zum ersten Politiker, der in der Geschichte Thailands zwei auf-einanderfolgende Wahlen gewann.

Mit seinen politischen Maßnahmen zugunsten der Klein- und Mittelbe-triebe hatte er weniger Erfolg. Im Jahr seiner Wahl legte er ein Programm für Mikrokredite durch eine eigens für di-ese Betriebe gegründete Bank auf und startete das Projekt „Ein Distrikt, ein Produkt“, das alternative Kreditquel-len für kleine Gemeinschaftsunterneh-men anbot. Aber all diese Maßnahmen erwiesen sich als unzureichend ange-sichts der restriktiven Kreditvergaben durch die herkömmlichen Banken seit Ausbruch der Krise.

Davon abgesehen stand Thaksin – auch wenn er sich als Beschützer der Klein- und Mittelbetriebe gegen das Auslandskapital gerierte – der Globa-lisierung keineswegs feindlich gegen-über, bloß wollte er sie zu seinem Vor-teil nutzen. So initiierte er bspw. ein bilaterales Freihandelsabkommen mit

China und strebte eines mit den USA an.

PREMIERMINISTER ODER uNTERNEHMER?

In den beiden Amtsperioden entwickel-ten sich Thaksins Geschäfte prächtig. Die fünf Regierungsjahre wurden von ihm weidlich dazu genutzt, sich selbst und seinen Spezies Reichtümer zu-zuschanzen. Eine Universitätsstudie belegte, dass die Börsennotierungen ihm nahe stehender Unternehmen um mehr als die Hälfte zugelegt hatten, da darauf spekuliert wurde, dass sie sich sämtliche öffentlichen Aufträge ergat-tern würden.

Es passt zu dieser Gemengelage aus Vetternwirtschaft, Korruption und endlosen Skandalen, dass sich Thak-sin Anfang 2006 entschieden hat, sein Industrieimperium „Shin Corp“ an die vom singapurschen Staat kontrollierte Telekommunikationsholding Temasek zu verkaufen. Für die Familie Thaksins wurde dieser Verkauf zu einem Bom-bengeschäft. Bei einem geschätzten Wert von 1,55 Milliarden Euro gehö-ren zu Shin Corp u.a. mehrere Fern-sehketten, das größte Mobilfunkun-ternehmen Thailands und der Satel-litenbetreiber „iTV“. Durch die Ab-wicklung über eine Briefkastenfirma in einem Steuerparadies und die Über-schreibung der Gesellschaftswerte auf seine Kinder konnte Thaksin den thai-ländischen Fiskus umgehen und zahl-te nicht einen Cent Steuer.

Seine Gegenspieler ließen sich die-se Gelegenheit natürlich nicht entge-hen und monierten den Ausverkauf der thailändischen Interessen durch derlei Geschäfte. Ab Beginn des Jahres 2006 fanden Massendemonstrationen gegen Thaksin und seine Politik mit Zehn-tausenden von TeilnehmerInnen aus der Intelligenz, den städtischen Mit-telschichten und AnhängerInnen der demokratischen Partei statt. Selbst der König gab seine Zurückhaltung auf und wandte sich öffentlich gegen den Verursacher dieser Unruhen. Vergeb-lich, denn die Wahlen vom April ver-schafften der TRT eine komfortable Mehrheit von 16 Millionen Stimmen gegen 10 Millionen Enthaltungen. Thailand stürzte dadurch in eine bei-spiellose Krise: Das Parlament konn-te nicht einberufen werden, da ein Teil der Sitze unbesetzt war. Gegen alle

Konventionen wandte sich der König in einer Fernsehansprache an die Na-tion und forderte die Annullierung des Wahlergebnisses sowie die Durchfüh-rung von Neuwahlen. Diese wurden auf Anfang November verschoben, nachdem zunächst der 15. Oktober anberaumt war. Also fand der Staats-streich in einem Moment statt, wo die ThailänderInnen selbst die Krise durch Wahlen hätten in den Griff krie-gen können. Dies konnte jedoch nicht hingenommen werden, hätte dies doch unabhängig vom Wahlausgang bedeu-tet, dass die Bevölkerung offenkundig in der Lage ist, die Krise ohne Ein-greifen der Armee und des Königs zu lösen.

Die Beobachter der thailändischen Politik sahen mehrheitlich in Thaksin den Sieger der kommenden Wahlen. Damit wäre er erneut auf legitimem Weg an die Regierung gelangt. Sei-ne enorme Popularität unter den ar-men Bauern und sein jüngstes Vorha-ben, exportgestützte Industriewerke auf dem Land zu errichten, hätten ihn in unmittelbare Konkurrenz zum Kö-nigshaus gebracht, das als oberster Garant der ländlichen Entwicklung sowie der etablierten Ordnung und Tradition gilt.

Und eine Wahlniederlage Thaksins wäre auch nicht besser gewesen, hät-te sie doch als Resultat der monatelan-gen friedlichen und demokratischen Demonstrationen und damit als Sieg der Mobilisierungen von unten gegol-ten. Für den Monarchen und die Mi-litärs, die derlei demokratische „Aus-wüchse“ mit stetem Misstrauen beäu-gen, wäre dies unerträglich gewesen.

EINE uNSICHERE POLITISCHE LAGE

Auch wenn der Staatsstreich dem in den 90ern begonnenen Demokratisie-rungsprozess ein abruptes Ende be-reitet hat, bleibt die Lage gespannt. Die Erfahrungen der Vergangenheit lassen die Generäle an der Macht vorsichtig verfahren. Die ersten Maßnahmen der neuen Regierung im Solde der Junta sind sehr bezeichnend in dieser Hin-sicht. Um Thaksin noch zu übertrump-fen, ist die Gesundheitsversorgung auf Beschluss der Regierung hin völlig kostenlos. Die erste Inlandsreise des Premierministers galt dem Nordosten des Landes, wo Thaksins Popularität

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am größten war. Er hat sich dort mit ehemaligen kommunistischen Kämp-fern getroffen, über die er verbrei-ten lässt, dass er die bestehenden so-zialen Maßnahmen beibehalten wol-le. Insofern ist ihm durchaus bewusst, dass die ArbeiterInnen und Bauern ganz konkrete Erwartungen haben und dass ein Abrücken von diesen sozialen Maßnahmen Mobilisierungen nach sich ziehen könnte, die die Putschis-ten um jeden Preis vermeiden wollen. Im Gegensatz zur landläufigen Auf-fassung gibt es in Thailand sehr wohl soziale Auseinandersetzungen, da der Antagonismus [unauflöslicher Wider-spruch, d. Red.] zwischen Kapital und Arbeit weiter besteht. Die Errungen-schaften der 90er Jahre sind in ers-ter Linie dem Widerstand der Arbei-terInnen nach dem Staatsstreich von 1991 zuzuschreiben. Seit den 80er Jahren hat sich die Zahl der Kämp-fe um Löhne und Arbeitsbedingungen vervielfacht. Es gab Kampagnen ge-gen die Privatisierungen und für die Einhaltung der Arbeitsrechtsbestim-mungen sowie deren Verbesserung.

Aber diese sozialen Auseinander-setzungen haben nicht bewirkt, dass

die Gewerkschaften stärker geworden oder linke Parteien entstanden wä-ren, die den ArbeiterInnen ein unab-hängiges Auftreten bei den Wahlen er-möglichen würden. Die Herrschenden haben im Gegenteil als Reaktion auf diese Kämpfe die Teilnahme der Ar-beiterInnen am parlamentarischen Ge-schäft noch weiter eingeschränkt, in-dem sie in die Verfassung von 1997 ei-ne Klausel aufnahmen, wonach Kan-didaturen für Parlament und Senat an die höhere Schulbildung gekoppelt sind.

Wenn die ArbeiterInnen und Stu-dierenden es wie in den 70er Jahren schaffen, sich zusammenzuschließen und diese Hindernisse zu überwin-den, dann werden sie sich dem Staats-streich widersetzen und die Ausgren-zung der ArbeiterInnen aus dem poli-tischen Alltag beenden können. Ihnen gehört das Recht, ein richtiges Pro-gramm für die soziale Umwälzung zu erarbeiten und für dessen Umsetzung zu kämpfen. Davon hängt eine wahr-haftige Demokratisierung in Thailand ab.

Übersetzung: MiWe

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Vor acht Jahren blickte die ganze Lin-ke weltweit nach Indonesien und war begeistert von der großen, scheinbar revolutionären Erhebung, die das re-pressive und korrupte Suharto-Regime stürzte.� Doch heute scheint der mate-rielle Nutzen der Demokratisierung für die meisten Menschen gering, das al-te System der Korruption besteht wei-ter, es gibt ein Anwachsen des religi-ösen Konservativismus und die Linke wirkt recht isoliert. Was ist also falsch gelaufen?

Dominggus: Was mit der demokra-tischen Bewegung nach 1998 passierte, war, dass sie strukturell und konzeptio-nell damals nicht in der Lage war, den Kampf des Volkes zu führen. So konn-ten die traditionellen Eliten die Unru-hen und den Aufstand ausnutzen, um ihre traditionelle Politik wieder zu ver-ankern. Das ist das Erste. Sie ergriffen gezielt die Führung mit dem Plan, das Bewusstsein des Volkes wieder in ih-rem Rahmen formaler Demokratie zu kanalisieren und die Situation mit frei-en Wahlen, freier Presse und so weiter zu stabilisieren. Dies zeigte sich deut-lich bei den Wahlen von 1999, an de-nen 48 Parteien teilnahmen.

Zwar hat sich mit dieser neuen De-mokratie die Dynamik der Volkskämp-fe enorm entwickelt. Aber sie sind sehr

1 Siehe Inprekorr Nr. 320 und 321/322 (Juni und Juli/August 1998).

InDOnESIEn

Breite Linke Partei entstehtEnde november fand der Gründungskongress einer neuen breiten, linken Partei in Indonesien statt. Die nationale Befreiungspartei der Einheit (PAPERnAS) ist eine Initiative der wichtigsten revolutionären Organisation des Landes, der Demokratischen Volkspartei/PRD). Während der Vorbereitungen sprachen wir mit einigen Gründungs-mitgliedern der neuen Partei über die Situation der Linken in ihrem Land und die Aufgabe, die verschiedenen Kämpfe gegen neolibera-lismus und religiösen Fundamentalismus zusammenzuführen.

Unsere GesprächspartnerInnen• Dominggus Oktavianus, Generalsekretär der FNPBI (Nationalfront der in-

donesischen Arbeiterkämpfe) und Vorsitzender von PAPERNAS• Vivi Widyawati, Nationale Koordinatorin des Nationalen Netzwerks für die

Befreiung der Frau (Perempuan Mahardhika)• Zely Ariane, Sekretärin für internationale Verbindungen der PRD (Demo-

kratische Volkspartei)• Katarina Pujiastuti, Sekretärin für internationale Verbindungen des KP-PA-

PERNAS (Vorbereitungskomitee für die Nationale Befreiungspartei der Einheit).

zersplittert, geografisch um örtliche Fragen und organisatorisch in ver-schiedene Zusammenschlüsse. Das be-deutet, dass diese Volksorganisationen und die demokratische Bewegung nicht wirklich führen und das Bewusstsein des Volkes entwickeln können. Weil sie so zersplittert sind, können sie kei-ne wirkliche Alternative vorschlagen oder den Erwartungen des Volkes ge-recht werden.

Zely: Sie sind so dynamisch, weil nach 1998 Bereichsorganisati-onen überall wie Pilze aus dem Boden schossen. Aber sie haben keine Ver-bindungen auf nationaler Ebene. So ist es sehr dynamisch, aber eben auch schrecklich zersplittert. Es gibt kein nationales Thema, um sie zusammen zu bringen, und keine nationale Kraft, um sie zu führen.

Erzählt uns bitte mehr darüber, was das für zersplitterte Kämpfe sind. Für was für Dinge mobilisieren sich die Men-schen; in ihren Orten oder wo sonst?

Dominggus: Ihr müsst daran den-ken, dass unter Suhartos Regime der „Neuen Ordnung“ Massenorganisati-onen nur für einzelne Bereiche erlaubt waren: Für Bauern gab es die HK-TI, für Arbeiter die SPSI und so wei-ter. So führte in der „Reformasi“ nach 1998 die allgemeine Unzufriedenheit mit den bisherigen Organisationen die

Menschen zur Bildung neuer Organisa-tionen, besonders im Arbeiterbereich. Dort war es besonders deutlich, dass die SPSI, die traditionelle „gelbe“ Ge-werkschaftsorganisation, sie getäuscht und betrogen hatte. Deshalb wurden viele neue Arbeiterorganisationen ge-gründet. . Im Jahre 2000 waren unge-fähr 12 000 unabhängige Arbeiterorga-nisationen entstanden.

Waren das betriebliche Gewerk-schaften?

Zely: Es gab viele verschiedene For-men – Organisationen an den Arbeits-plätzen, in den Städten und für ganze Regionen – sie verteilten sich einfach überall, alle unabhängig und zu lokalen oder betrieblichen Fragen …

Was waren das für Ziele, für die diese betrieblichen und lokalen Organisati-onen sich organisierten und kämpften?

Dominggus: Vielfach wirtschaft-liche Fragen wie Löhne und Entlas-sungen, Themen wie Outsourcing und soziale Sicherheit. Seit 1998 gibt es unter Arbeiterinnen und Arbeitern die Tendenz, sich um örtliche und betrieb-liche Fragen zu organisieren. Aber zu bestimmten Anlässen, etwa wenn die Regierung einmal im Jahr über den na-tionalen Mindestlohn spricht, gelingt es ihnen sich zu vereinen. Dasselbe gilt für die Reform des Arbeitsgesetzes, so-wohl das aktuelle wie auch das vori-ge. Tatsächlich hat es seit 1998 sogar drei Reformen des Arbeitsgesetzes ge-geben. Also nur um solche Fragen hat es eine gewisse Einheit gegeben. Aber wenn es um größere politische Fragen auf nationaler Ebene geht, spalten sie sich für gewöhnlich wieder auf.

Vermutlich sind stabile Beschäftigungs-verhältnisse die Ausnahme in Indone-sien. Welcher Art sind dann die Verbin-dungen mit örtlichen, Wohnviertel-ba-sierten Organisationen, Themen und Kampagnen?

Dominggus: Tatsächlich gibt es sehr lose Verbindungen zwischen Ar-beiterinnen und Arbeitern sowie den Bewohnerinnen und Bewohnern von Stadtvierteln. Deren Bewegungen blei-

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ben meist getrennt. Natürlich wissen sie beispielsweise in Fällen wie Entlas-sungen, dass das eine auch eine Aus-wirkung auf das andere hat, dass es al-so beispielsweise die Arbeitslosigkeit erhöhen wird. Aber es gibt keine ge-meinsame Kraft, um sie zusammen-zuführen und mehr zu fordern. Dies zum Teil, weil sie nach 1998 größten-teils von der internationalen Sozialde-mokratie gebildet und geschult worden waren, beispielsweise von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung oder dem mit der amerikanischen AFL-CIO verbundenen American Centre for In-ternational Labour Solidarity (ACILS). Von denen haben sie gelernt, sektoral zu bleiben und nur die Themen ihrer eigenen Bereiche aufzugreifen. Das ist der erste Grund.

Gibt es auch Verbindungen zu Parteien wie der PDI-P (Indonesische Demo-kratische Partei / Kampf, die Partei der früheren Präsidentin Megawati Sukar-noputri)?

Zely: Nein, da gibt es keine Verbin-dung.

Dominggus: Einige Gewerkschafts-organisationen wie die SPN haben sich den großen Parteien wie der PDI-P oder der Golkar (frühere Regierungspartei unter Suharto) oder der PKS (Gerech-tigkeits- und Wohlstandspartei, eine konservativ-islamistische Partei) ange-schlossen. Aber die breite Mitgliedschaft weiß davon wenig oder gar nichts.

Aber wenn ihr von sektoralen Orga-nisationen sprecht, die überall auf-blühen, für welche Ziele kämpfen bei-spielsweise all diese örtlichen Orga-nisationen? Geht es um Zugang zu öf-fentlichen Dienstleistungen?

Zely: Eigentlich haben wir keine Tradition von Organisationen einzelner Bevölkerungsgruppen oder Stadtteile. Wir haben die Bewegung der städ-tischen Armen, wir haben die Frauen-bewegung und die Studentenbewe-gung. Aber wir hatten nie Bewegungen in den Wohnvierteln, die die Befes-tigung ihrer Straßen oder Zugang zu Trinkwasser und medizinischer Versor-gung usw. fordern.

Aber auf dem Vorbereitungstreffen für die neue Partei PAPERNAS in Jakarta kamen die meisten aus der Bewegung der städtischen Armen. Für was kämp-fen die?

Zely: Tatsächlich begannen wir schon 1998 die städtischen Armen zu organisieren, weil wir verstanden, dass sie eine Verbindung zwischen verschie-denen Sektoren sein könnten. Beispiels-weise arbeiten in Kapuk, einem indus-triell geprägten Stadtteil von Jakarta, Arbeiter und städtische Arme zusam-men. Sie leben im selben Gebiet und

haben dieselben Grundprobleme, vor allem die medizinische Versorgung. So organisierten wir die städtischen Ar-men um Fragen wie einen kostenlosen Gesundheitsdienst.

Drei Monate vor dem PAPERNAS-Vorbereitungstreffen hatten wir be-gonnen, mit den städtischen Armen ei-ne Kampagne für Gesundheitsversor-gung, Bildung und Löhne zu organi-sieren – dies ist eine Möglichkeit, Ar-beiterinnen und Arbeiter mit den städ-tischen Armen in ganz Jakarta zusam-men zu bringen. Und wir wollen diese Strategie auch anderswo anwenden.

Sowohl vor als auch nach 1998 wa-ren wir die Kraft, die immer nach Wegen gesucht hat, diese Situation der Frag-mentierung zu überwinden. PAPER-NAS ist der jüngste derartige Versuch, aber auch vorher hatten wir eine Reihe von Einheitsfrontinitiativen, um zu ver-suchen, ein gemeinsames Thema zu fin-den, das dieses Problem lösen kann.

Ich will gleich auf die Frage der PA-PERNAS zurückkommen. Aber eins, was Leute, die von außen auf Indone-sien schauen, – vielleicht irrtümlich – zu erkennen glauben, ist eine bedeu-

tende Stärkung der religiösen Rech-ten seit �998, einschließlich konserva-tiv-islamistischer Kräfte. Dies kann ei-ne durch die Medienberichterstattung verursachte Täuschung sein oder hat das einen wahren Kern und wenn, was genau passiert da?

Dominggus: Strukturell existier-te die islamische Bewegung schon un-

ter Suharto. Es gibt verschiedene Ar-ten islamischer Bewegungen. Die ei-nen haben keine reale ideologische Ba-sis; sie sind einfach Instrumente in den Händen des alten Golkar-Parteiappa-rats oder der Geheimdienste. Die an-deren – und davon gibt es nur wenige – sind viel deutlicher ideologisch. Abu Bakar Ba’asyir und seine Anhänger ge-hören zu dieser Kategorie, die zu Su-hartos Zeiten unterdrückt wurde. Wenn man sich also die so genannten „gemä-ßigten“ oder nicht-ideologischen isla-mischen Kräfte wie die PKS ansieht, die heute die größte derartige Kraft im Parlament ist, so haben wir deutliche Anzeichen, dass einige ihrer wichtigs-ten Führer wie Suripto vom indone-sischen Geheimdienst trainiert und ge-führt wurden und werden. Das sind die gemäßigten Kräfte, und die sind etwas anderes als Ba’asyir.

Diese Bewegung bekam ihre Chan-ce als Ergebnis der Krise nach 1998. Weil das eine Situation war, in der libe-rale Politik mit einer wirtschaftlichen Situation zusammentraf, die von De-Industrialisierung – also Zerstörung der ohnehin schon schwachen industriellen Basis Indonesiens – und allen extremen

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sozialen Konsequenzen des Neolibera-lismus geprägt ist. So gab es beispiels-weise durch die steigende Arbeitslo-sigkeit unter Frauen offenkundig mehr Prostitution, ein zunehmendes Drogen-problem, Kriminalität usw. Sie griffen das als moralische Frage auf, machten das zu ihrer Sache, indem sie sagten:

Wir müssen zurück zur Religion und uns dieser Art moralischen Verfalls wi-dersetzen. So wurden die extremen so-zialen Auswirkungen der Krise zu ih-rer Triebkraft.

Gleichzeitig waren die alternativen Bewegungen oder Kräfte nicht aus-reichend auf die Situation vorberei-tet, um den Menschen zu erklären, was geschieht und was unsere Lösung wä-re – eine wissenschaftliche oder poli-tische Lösung, nicht die moralische. Wir haben nicht die Durchschlagskraft und die Strukturen, um diese Situation auszunutzen. Zum gegenwärtigen Zeit-punkt muss man sagen, dass sie dies-mal gewonnen haben, dass sie es wa-ren, denen es gelang, die Situation aus-zunutzen.

Welche Auswirkungen hatte die Stär-kung des konservativen Islams auf die ärmeren indonesischen Frauen?

Vivi: Zunächst einmal müssen wir festhalten, dass die großen konserva-tiven oder gemäßigten islamischen Kräfte wie die NU (Nahdlatul Ula-

ma) und die Muhammadiyah selber Frauen organisieren, allerdings haupt-sächlich Mittelklassenfrauen. Sie wur-den um religiöse Themen organisiert, nicht um wirtschaftliche Fragen. Das bedeutet, dass es eine Kluft gibt zwi-schen der konservativen religiösen Be-wegung und der Bewegung der Armen.

Denn Frauen mögen die religiösen Ar-gumente akzeptieren, aber sie ma-chen sich nicht viel daraus. Das hat al-les nichts zu tun mit den drängenderen wirtschaftlichen Fragen.

Aber hat dieser Trend Auswirkungen auf ihr tägliches Leben? Fühlen Frau-en sich mehr eingezwängt, weniger frei?

Vivi: Wollen wir es so sagen: Arme Frauen haben in ihrem täglichen Leben nichts zu schaffen mit der Politik des konservativen Islams. Aber in manchen Gegenden wie Tangerang außerhalb von Jakarta oder Aceh und anderen, die spezielle örtliche Scharia-Gesetze ha-ben, fühlen sich die Frauen allmählich in ihren Aktivitäten beschränkt. Wie du weißt, sind die meisten Frauen Arbei-terinnen, entweder im formalen Sek-tor oder in der informellen Wirtschaft. Da kommen sie oft erst spät nach Hau-se, und diese Gesetze machen ihnen da Schwierigkeiten. Daher gibt es in eini-gen dieser Regionen Widerspruch von Seiten der Frauen, und die örtliche Re-

gierung von Tangerang musste die Ein-führung des Gesetzes verschieben. Aber in der Praxis haben diese Frauen keine Wahl, wann sie abends nach Hau-se kommen, egal ob die Scharia-Ge-setze das „verbieten“. Wenn das durch-gesetzt werden soll und Frauen verhaf-tet werden, dann beginnen sie dagegen zu kämpfen.

Welche Form nimmt dieser Widerstand gegen die Scharia-Gesetze an?

Vivi: In Tangerang gab es Demons-trationen. Die meisten Frauen in Tan-gerang sind Arbeiterinnen, und da-her sind sie tendenziell politischer und mutiger. Dort war die Opposition ge-gen die Scharia-Gesetze am stärksten. Sie haben auch juristische Schritte an den Gerichten unternommen und Lob-byarbeit gegenüber den Parlamentsab-geordneten gemacht. Doch wir mei-nen, dass die Durchsetzung konserva-tiver Politik paradoxerweise zeigt, dass die islamistischen Kräfte politisch ge-schlagen sind. Denn sie müssen zum Gesetz greifen, um ihre Moralpolitik durchzusetzen. Diese Themen, wie das Scharia-Gesetz, werden von der PKS und einigen anderen gemäßigten Kräf-ten ins Parlament getragen, weil ihnen der Einfluss auf die Massen entgleitet. Das Beten alleine wirkt nicht mehr.

Das ist interessant; denn wenn du Recht hast, bedeutet das, dass es für die Mehrheit des indonesischen Volkes keine Stärkung des konservativen Is-lam gibt?

Vivi: Ja, das stimmt.Dominggus: Traditionell gibt es

zwei Arten von Islam in Indonesien. Der eine ist der „Islam santri“, der stär-ker religiös und enger mit den Koran-schulen oder „pesantren“ verbunden ist, der andere ist der „Islam abangan“, der eher eine Mischung aus Islam und javanesischen Traditionen des Animis-mus, Hinduismus usw. ist. Der letzte-re ist größer und weiter verbreitet. Im nationalen Bewusstsein nach der indo-nesischen Unabhängigkeit gab es auch ein starkes nationales Identitätsgefühl für das Indonesien nicht einfach nur is-lamisch war, sondern dass es eine Viel-falt von Kulturen mit starker säkularer [weltlicher – d.Red.] Basis gab, so dass Indonesien kein islamischer Staat wer-den konnte. Und dieses Bewusstsein ist immer noch stark.

Demokratiebewegung 1998

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Ihr sagt also, dass der Nationalismus mit seiner starken säkularen Basis ei-ner der Gründe dafür ist, dass der isla-mische Fundamentalismus – derzeit – in Indonesien nicht funktioniert?

Dominggus: Ja, bei den letzten na-tionalen Wahlen (2004) haben die ein-zigen fundamentalistischen Parteien, die kandidierten, die PKS und die PBB (Partai Bulan Bintang) zusammen nur etwa 10% bekommen. Die Nationalis-ten wie Golkar, PDI-P und PKB oder Nationale Erweckungspartei (die letz-tere könnte man als religiös-nationa-listische Partei bezeichnen, weil sie den Gedanken von Gus Dur oder Ab-durrahman Wahid, dem früheren Präsi-denten, folgt) und auch die Partai De-mokratik bekamen hingegen viel mehr, zusammen fast 60%. Daraus kann man sehen, dass die Ideen des fundamenta-listischen Islams in Indonesien immer noch nicht so stark sind. Gewiss haben sie Fortschritte gemacht, und sie kön-nen viele Menschen auf den Straßen mobilisieren. Aber gleichzeitig kann man auch sehen, dass der Nationalis-mus immer noch eine säkulare Basis hat und dass die meisten Menschen im-mer noch daran glauben.

Sprechen wir konkret über das Anti-Pornographie-Gesetz. Erklärt uns bit-te, wie es zu diesem Vorschlag kam und welche Konsequenzen es für Frauen haben würde.

Vivi: Das Pornographie-Gesetz ist immer noch im Entwurfsstadium. Ur-sprünglich wurde es von der PDI-P-Re-gierung unter Megawati Sukarnoput-ri eingebracht. Es ist sonderbar, aber es war tatsächlich Megawatis Minis-terium für religiöse Angelegenheiten, das erstmals mit dieser Idee heraus-kam. Aber es wurde nichts daraus. Na-türlich bringen, wie Dominggus sagte, die konservativen islamischen Parteien wie PKS und PBB, wo immer sich eine Gelegenheit bietet, ihre Forderung ein, dass Indonesien ein islamischer Staat werden soll.

So war es die PKS, die während der SBY-Regierung (von Präsident Susi-lo Bambang Yudhoyono) das Anti-Por-nographie-Gesetz erneut aufgriff. Dafür hatte sie zwei Gründe. Das erste von ih-nen benutzte Argument war die ganze Liberalisierung des sozialen Lebens, so etwas wie der offenherzigere Kleidungs-stil vieler indonesischer Frauen, den sie aus moralischen Gründen ablehnen.

Aber zum zweiten hatte die Ini-tiative, wie sie uns gegenüber in Ge-sprächen ausdrücklich zugegeben ha-ben, die Funktion, Unterstützung für ihren Wahlkampf 2009 zu sammeln. Denn ihnen ist klar, dass sie wegen der Unterstützung der gegenwärtigen SBY-Regierung bis hin zur Absegnung

der Brennstoffpreiserhöhung im letz-ten Jahr und anderer Elemente der libe-ralen SBY-Wirtschaftspolitik Vertrauen verloren haben. Daher hoffen sie, dass ihnen diese Initiative einen Teil der Un-terstützung aus dem Volk zurück brin-gen könnte, die sie verloren haben.

Welche Auswirkungen hätte dieses Ge-setz auf die Frauen?

Vivi: Bevor ich dazu komme, möchte ich festhalten, dass außer der PKS die meisten der im Parlament ver-tretenen Parteien derzeit dieses Gesetz unterstützen, einschließlich der PDI-P. Es richtet sich hauptsächlich gegen Frauen, denn es gibt einige Artikel im Entwurf, die Frauen tatsächlich krimi-nalisieren.

Vor allem gibt es einen Para-graphen, der es Frauen untersagen will, die „sinnlichen Teile ihrer Körper“ zu enthüllen, womit Beine, Brüste oder Bäuche gemeint sind. Es scheint al-so, wie manche meinen, dass sich die Regierung mehr um die Kontrolle der Körper als um die Kontrolle der Wirt-schaft kümmert!

Die zweite große Auswirkung wird die auf Frauen sein, die nachts arbei-ten, wozu nicht nur Prostituierte gehö-ren, sondern auch Frauen, die in Bars, Clubs oder sonst wo arbeiten. Und es richtet sich sehr persönlich gegen Frau-en als solche – so zum Beispiel in der Model-Branche, wo den einzelnen

weiblichen Models Verfolgung droht, aber nicht den Betrieben, die sie in die-se Lage bringen.

Zely: Das ist also vor allem ein The-ma der Mittelklasse.

Warum das? Betrifft das nicht die Kör-per der Frauen der Arbeiterklasse ge-nauso?

Vivi: Der Punkt ist, dass es haupt-sächlich Mittelklassefrauen sind, die auf solche Fragen reagieren, weil sie sich der Rechte von Frauen, über ihren Körper selbst zu bestimmen, bewusster sind, während sich arme Frauen darum nie viel geschert haben.

Aber in der Praxis wird die Regie-rung große Probleme bekommen, wenn sie versucht, dieses Gesetz durchzuset-zen. Denn in der Praxis leben viele ar-me Frauen in sehr offenen Situationen. Beispielsweise sind ihre Schlafräume nicht völlig abgeschlossen, sie duschen auf dem Hof oder baden im Fluss, viel-leicht nackt, und das ist kein Problem, keine Belästigung, kein Missbrauch. Es wird also einfach unmöglich sein, dieses Gesetz durchzusetzen. Man

Bis 1998: Suharto unterschrieb alles, was IWF-Chef Camdessus verlangte

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müsste Frauen in großer Zahl verhaf-ten! Die Regierung versteht auch, dass, wenn das Leben der Frauen in den ar-men Quartieren nach diesen Begriffen „unmoralisch“ ist, dann aus wirtschaft-lichen Gründen.

Wirklich spüren werden das Ge-setz also Frauen die nachts arbeiten, in Clubs und so weiter. Und Mittel-klassefrauen sind darauf vorbereitet, dagegen zu mobilisieren. Allerdings hat der Widerstand gegen das Gesetz auf dieser Grundlage – dem demo-kratischen Recht, über unsere Körper selbst zu bestimmen – in letzter Zeit abgenommen. Der Widerstand basiert jetzt mehr auf Argumenten der kultu-rellen Vielfalt, wie das Argument, dass wir so viele ethnische und kulturelle Gruppen in Indonesien haben, wie die Papuas, von denen sich einige über-haupt nicht mit Kleidern bedecken, und so weiter.

Du meinst, es gibt eine Art ideolo-gischen Rückzug der Opposition ge-gen das Antipornographiegesetz?

Vivi: Es ist eine Frage der Tak-tik geworden. Grundsätzlich wird die Frauenbewegung alles tun, um die Verabschiedung des Gesetzes zu blo-ckieren oder wenigstens zu verzögern. Und das Argument der Vielfalt stößt auf breitere Zustimmung. Weil sie den Kampf mit den islamischen Kräften nicht direkt aufnehmen können. Und die Frage der Selbstbestimmung über die Körper ist ein sensibles Thema.

Du meinst, es ist einfacher die Stam-mesriten der Papua zu verteidigen?

Zely: Das stimmt. Tatsächlich gibt es zwei Fronten in diesem Kampf. An der ersten geht es immer noch um die Frage der Selbstbestimmung über un-sere Körper, an der zweiten ist das The-ma die kulturelle Vielfalt. Und auf der Basis dieses zweiten Arguments ist es möglich, Unterstützung beispielsweise in Bali zu gewinnen, das mehrheitlich hinduistisch ist, und in Manado, Nord-Sulawesi, wo der Islam eine Minder-heit gegenüber dem Christentum ist, und in Papua und anderen säkularen oder überwiegend christlichen Pro-vinzen. So wird es für die sehr schwer werden, dieses Gesetz durchzusetzen.

Was ist die Strategie von Perempuan Mahardhika, um damit umzugehen?

Vivi: Natürlich lehnen wir dieses Anti-Pornographie-Gesetz ab. Aber in der Praxis ist das nicht unsere erste Pri-orität. Unsere Strategie ist, beide beste-henden Fronten gegen das Gesetz, die wir beschrieben haben, zu stärken. Die breite Kampagne geht jetzt um die Fra-ge der kulturellen Vielfalt, aber darin werfen wir immer auch die wirkliche Frage auf, die der Selbstbestimmung. Und unsere Kampagne dreht sich dar-um, welche Auswirkungen das Anti-Pornographie-Gesetz auf arme Frauen haben wird, beispielsweise auf Frau-en, die nachts arbeiten. Wir haben zum Beispiel gerade eine Demonstration ar-mer Frauen zu Gesundheitsfragen orga-

nisiert. Und darin haben wir die Frage des Anti-Pornographie-Gesetzes aufge-worfen, und die Situation nachts arbei-tender Frauen schlägt tatsächlich eine Brücke zwischen beiden Themen.

Grundsätzlich wird das Gesetz Frauen aller Sektoren treffen, vor allem arme Frauen. Aber wie wir sagten, ist es sehr schwierig, eine Bewegung ar-mer Frauen gegen dieses Gesetz auf-zubauen. So ist es zur Verantwortung der Mittelklassefrauen geworden, ihr Verständnis der Frage zu verbreiten und das Bewusstsein der Menschen zu schärfen.

Arme Frauen lehnen dieses Gesetz spontan ab, insofern als zu den wirt-schaftlichen Schwierigkeiten, die sie ohnehin schon haben, weitere hinzu-kommen. Aber sie haben sich um mehr Grundbedürfnisse zu kümmern, als dass sie sich so einfach zur Frage des Anti-Pornographie-Gesetzes organisie-ren würden. Es ist wirklich etwas ver-wirrend, und es ist sehr, sehr schwierig, eine breite Bewegung von Frauen dazu aufzubauen, weil die armen Frauen das Gesetz zwar ablehnen, sich aber ande-rerseits auch nicht genug daran stören, um dagegen aktiv zu werden. Sie wer-den bestimmt sauer sein, wenn es be-schlossen wird. Und sie werden be-stimmt nicht diese Schleier oder sonst was tragen. Daher sehen sie es nicht als Thema.

Dominggus: Wenn ihr in die ein-fachen Wohnviertel geht, seht ihr, dass das Leben der Frauen wirklich ziemlich „liberal“ ist. Sie tragen Shorts und T-Shirts und rauchen… Sie werden dieses Gesetz einfach nicht akzeptieren. Das ist eine Art Tradition in Indonesien. Sie beschließen ein Gesetz, aber es ist ein-fach nur ein Gesetz – niemand erwartet, dass es wirklich umgesetzt wird.

Ich höre, was ihr sagt, aber auf der von der PKS organisierten Demonstrati-on zugunsten des Anti-Pornographie-Gesetzes waren vielleicht eine Milli-on Menschen. Und die meisten von ih-nen kamen sicher aus der Arbeiterklas-se oder waren Arme, und viele davon Frauen, einige vielleicht Landfrauen?

Zely: Nein, nicht wirklich.Dominggus: Nein, wirklich nicht.

Die meisten waren Mittelklassefrauen, Studentinnen, Angestellte, Frauen von …

Zely: Die sind nicht arm. Vielleicht Hausfrauen aus der Mittelklasse … die

Präsident Susilo Bambang Yudhoyono („SBY“)

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kommen nicht einmal aus den Dörfern. Die PKS und die islamische Bewegung haben ihre Basis hauptsächlich in der städtischen Mittelklasse.

Lasst mich etwas weitergehen. Stimmt es, dass die Gründungsplattform der PAPERNAS, der neuen Partei, die ihr bilden wollt, das Anti-Pornogra-phie-Gesetz nicht erwähnt? Meint ihr, dass das zu schwierig ist, dass es zu-viel Uneinigkeit in den verschiedenen Teilen des Volkes dazu gibt? Oder weil ihr denkt, dass das niemanden interes-siert? Oder warum?

Dominggus: Das macht uns tat-sächlich auch zunehmend Sorge. Wir versuchen den Menschen zu erklären, was ihre wirklichen Probleme sind, all die Fragen, die mit neoliberaler Politik zusammenhängen: Privatisierung, Aus-landsschulden, De-Industrialisierung usw. Wir versuchen das zu betonen, um den Menschen zu zeigen, dass die Pro-bleme, denen wir ausgesetzt sind, nicht moralische oder religiöse Fragen, son-dern wirtschaftliche und politische Fra-gen sind.

Das sind die elementaren Dinge, die das Leben der Menschen betref-fen. Aber wir sehen auch, dass die is-lamische Bewegung Ergebnis des Feh-lens einer Alternative in dieser Situ-ation ist. Und sie können so schnell wachsen, weil es für die meisten Men-schen keine sichtbare Alternative gibt, die irgendeine Lösung für ihre grund-legenden Probleme anbietet. Deshalb mobilisieren diese Kräfte auf der Ba-sis, dass der Islam die Alternative, die Lösung sei. Und wir müssen den Men-schen einfach erklären, dass die Alter-native in der anti-neoliberalen Bewe-gung und dem Kampf für eine Regie-rung, die uns von neoliberaler Globa-lisierung befreit, liegt. Aber wir haben keine spezielle Kampagne zur Frage des Fundamentalismus. Das ist ein sen-sibles Thema. Denn ihr müsst euch er-innern, dass es seit den Massakern von 1965 völlig stigmatisiert ist, antireligi-öse Gefühle mit Kommunismus zu ver-binden.

Was ist denn nun die Hauptplattform der neuen breiten Partei, PAPERNAS, an deren Gründung ihr beteiligt seid?

Katarina: Unser Hauptprogramm ist das, was wir die drei Banner der Einheit nennen: Nichtanerkennung der Auslandsschulden, Nationalisierung

der Öl-, Energie- und Bergbaubetriebe, was eine Grundfrage der nationalen Souveränität ist, und ein Programm der nationalen Industrialisierung, von dem wir uns die Schaffung von Arbeitsplät-zen erwarten.

Was sind die verschiedenen Kräfte, die an der Bildung von PAPERNAS betei-ligt sind?

Katarina: Auf nationaler Ebene sind es drei Gewerkschaften, die FNP-BI, in der ich organisiert bin, die SPB (Arbeitersolidaritätsgewerkschaft) und die Automobilarbeitergewerkschaft aus dem Fahrzeugbau. Dann gibt es ei-ne fortschrittliche Partei, die PRD, wie auch nationale Studentenorganisati-onen wie die Buddhistische Studenten-organisation und den LNMD (Natio-naler Studentenbund für Demokratie) sowie die Organisation der städtischen Armen (SRMK).

Aber es gibt nicht nur nationale Gründungsorganisationen. Wir haben eine Anzahl lokaler Organisationen, Bauernverbände, örtliche Gewerk-schaftsgruppen und Studentenorganisa-tionen, die unabhängig von nationalen Verbänden sind. Daher versuchen wir, auch örtliche PAPERNAS-Gründungs-konferenzen überall im Lande zu orga-nisieren, um so viele örtliche Organisa-tionen wie möglich in der einen Bewe-gung zusammenzuführen.

Und warum gerade jetzt?Katarina: Das Hauptziel ist, die

Bewegung zu vereinigen um sie zu stärken. Die Menschen haben dem Ne-oliberalismus auf alle möglichen Ar-ten Widerstand geleistet, aber sehr zer-splittert. Wir haben es nie geschafft, uns als stärkere Kraft zu vereinen, um zu zeigen, dass es wirklich eine Alter-native gibt.

Wie fügt sich das alles in die allge-meine Situation der antineoliberalen Bewegung in Asien ein? Ich erinne-re mich, dass jemand mal vor einigen Jahren sagte, die „Global Justice“-Be-wegung habe die politische Situation für die Linke in Europa und auf andere Weise in Nord- und Lateinamerika ge-ändert. Aber sie werde niemals die in-ternationale Situation wirklich verän-dern, solange sie nicht tiefe Wurzeln in Asien geschlagen habe…

Zely: Die Situation ist anders als in Lateinamerika. Dort gibt eine län-

gere Geschichte des Widerstands ge-gen den Neoliberalismus. Weite Teile Lateinamerikas waren das erste La-boratorium für das neoliberale Pro-gramm, als Washingtoner Konsens-plan bekannt geworden. Für uns ist es eine relativ neue Erfahrung. Tatsäch-lich ist es eine enorm wertvolle Gele-genheit für die Bewegung in Indone-sien und im übrigen Asien, da die Men-schen bewusster werden für die Aus-wirkungen des Neoliberalismus. Sie verstehen, dass Privatisierung eine Be-drohung ihrer Löhne und Arbeitsplät-ze ist, dass Liberalisierung des Han-dels eine Bedrohung für die Bauern ist, und gleichzeitig sehen wir, dass Kam-pagnen außerhalb Asiens Alternativen entlang des „Eine andere Welt ist mög-lich“ entwickeln, und dass es auch Ent-wicklungen in Lateinamerika gibt.

Das gibt uns den Rückenwind, um über Alternativen zu sprechen. Aber die Situation ist noch nicht sehr reif, denn wir haben erst sechs oder sieben Jahre lang Kampagnen auf diese Fra-gen des Neoliberalismus konzentriert. Deshalb müssen wir die richtige Stra-tegie erst noch finden. Die Initiative für PAPERNAS ist unser Versuch, die rich-tige Strategie zu finden, um den Neoli-beralismus anzugreifen und eine wirk-liche Alternative zu entwickeln.

Aber immer noch ist die Situation in Asien sehr verschieden von der anders-wo, vor allem in Lateinamerika. Denn ich denke, zu einem gewissen Grad hat es [bei uns] eine Niederlage der demo-kratischen Bewegungen nach der Zeit der Diktatur gegeben. Die meisten Par-teien oder wichtigsten Organisationen, die die politischen Kampagnen unter der Diktatur führten, haben große Ver-luste an Mitgliedern erlitten.

Daher gibt es einen großen Bruch zwischen der Ära der Diktatur und der demokratischen Periode. Das gilt für Indonesien und ebenfalls für die Phi-lippinen. Somit stehen wir vor der Auf-gabe des Wiederaufbaus einer Linken, um dem neoliberalen Programm zu be-gegnen. Das ist die subjektive Situation … bitter für Asien!

Aus: International Viewpoint, Nr. 382, Oktober 2006, http://internationalviewpoint.org/spip.php?article1151

Übers.: Björn Mertens

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„Der Islam ist genauso wenig wie an-dere Ideologien unfähig, sich an neue Realitäten anzupassen oder an sie an-gepasst zu werden. Die muslimischen Völker können sich, mit oder ohne Is-lam, in Richtung Fortschritt oder Rück-

1 „Le déclin d’Israël“ (Interview, geführt von Chris Den Hond u. Nicholas Qualander), in: Rouge, Nr. 2172, 14. September 2006, S. 16. – Nahla Chahal ist internationale Koordinato-rin der „Campagnes civiles pour la protéction du peuple palestinien“ (CCIPPP) und lebt als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Paris. In den 1970iger Jahren war sie Leitungsmitglied der Organisation d’action communiste du Liban (OACL).

2 Anspielung auf Monsieur Jourdains Ausspruch „faire de la prose sans le savoir“ in Molières Stück „Le bourgeois gentilhomme“ (1670, dt.: Der Bürger als Edelmann).

3 Gilbert Achcar, „Le Hezbollah“ (Auszug aus Interview mit Jim Cohen und Dimit-ri Nicolaïdis für Mouvements, Paris, Nr. 47), in Inprecor Nr. 520, September/Oktober 2006, S. 9, sowie „Onze thèses sur la résur-gence de l’intégrisme islamique“, S. 16–19. Im Internet: http://www.inprecor.org. Beide konnten wir in der deutschen Inprekorr leider nicht veröffentlichen. Die 1981 verfas-sten elf Thesen über den islamischen Funda-mentalismus sind auf englisch nachzulesen in einem Band mit gesammelten Analysen von Gilbert Achcar: Eastern Cauldron. Islam, Af-ghanistan, Palestine and Irak, aus dem Franzö-sischen übersetzt von Peter Drucker, London: Pluto Press, 2004.

schritt entwickeln, ihre Regierungen können totalitär oder liberal sein, ihre Massen offen gegenüber vielen Geis-tesströmungen oder fanatische Anhän-ger eines Konformismus gegenüber al-ten oder neuen Dogmen. Das hängt von vielen Faktoren ab, unter denen das kulturelle Erbe der muslimischen Welt, das wesentlich reichhaltiger ist, als man gemeinhin denkt, nur ein Ele-ment und bei weitem nicht das wich-tigste ist. Noch ist nichts entschieden und nichts verloren.“4

EINE TRENDWENDE

Die Ereignisse von Juli und August 2006, die den israelischen Plan, den li-banesischen Widerstand in die Schran-ken zu weisen, scheitern ließen, kom-men einem politischen Erdbeben gleich. Es wird einige Zeit dauern, bis ermessen werden kann, wie sehr der historisch-politische Bezugsrahmen durch diesen 33-Tage-Krieg erschüt-tert wurde. Israel steckt heute in einer militärischen, moralischen und symbo-

4 Maxime Rodinson, L’islam, doctrine de pro-grès ou de réaction? In: Marxisme et monde musliman, Paris 1972, S. 129.

lischen Krise, da die israelische Armee erstmals eine empfindliche Niederla-ge erlitten hat, war diese doch eines der politischen Fundamente der israe-lischen Macht, die bis anhin einen zen-tralen Stellenwert in der Gesellschaft einnahm.

Das militärische Scheitern ver-band sich in gewissem Maß mit einer politischen Niederlage Israels, dem es nicht gelungen war, den politisch-mi-litärischen Apparat der Hisbollah (der Partei Gottes) zu zerschlagen, aber auch der Vereinigten Staaten, denen es nicht gelungen war, gegenüber der „in-ternationalen Gemeinschaft“ [Anfüh-rungszeichen d. Red.] und der libane-sischen Regierung die Stationierung von NATO-Truppen mit einem Man-dat zur Entwaffnung der schiitischen Volksmiliz durchzusetzen. Auch wenn die Resolution 1701 für den libane-sischen Widerstand zahlreiche Fallstri-cke enthält, ist sie für die Westmächte einschließlich Frankreichs allenfalls ei-ne Mindestgrundlage.

Seit Sommer 2004 steht der Li-banon im Brennpunkt der kolonialen Umschichtungen des Westens. Reso-lution 1559, die den Rückzug Syri-

Dadurch, dass Hisbollah („Partei Gottes“) es im Sommer 2006 geschafft hat, der israelischen Aggressi-on gegenüber stand zu halten, nachdem sie zuvor schon im Jahr 2000 die israelischen Truppen dazu ge-zwungen hatte, aus dem Süd-Libanon abzuziehen, hat sie die Aufmerksamkeit aller antiimperialistischen Kräfte auf sich gezogen. Der Erfolg hat dieser Bewegung auch Sympathien eingebracht, die zum Teil bis zur Idealisierung reichen, als Reaktion auf die Einstufungen als „terroristische“ und „islamo-faschisti-sche“ Kraft durch die Bush-Administration, womit sie mit Al-Qaida in ein und denselben Sack gepackt wird. So geht nahla chahal, eine Soziologin libanesischer Herkunft, soweit, dass sie in einem Interview mit Rouge� sagt: „Hisbollah ist sich noch nicht genügend dessen bewusst, dass sie eine Bewegung der Theologie der Befreiung ist“ – als könne Theologie gemacht werden wie Prosa produziert werden kann, ohne dass man etwas weiß2.

In der vorigen Ausgabe von Inprecor nr. 520 (September/Oktober) haben wir Gilbert Achcars Analy-se von Hisbollah und des islamischen Fundamentalismus veröffentlicht.� In dieser Ausgabe bringen wir weitere Beiträge: einen von nicholas Qualander, Mitglied der Ligue communiste révolutionnaire (LcR), der französischen Sektion der IV. Internationale, der an einer Dissertation über Entwicklungen des poli-tischen Islam im nahen Osten arbeitet; einen von chris Harman, einem führenden Mitglied der Interna-tional Socialist Tendency (IST) und der britischen Socialist Workers Party (SWP); ein Interview mit Ma-rie nassif-Debs, die dem Politischen Büro der Libanesischen Kommunistischen Partei angehört und sich gerne bereit erklärt hat, unsere Fragen zu beantworten, als sie sich im September in Paris aufhielt.

Jan Malewski [übersetzt von Friedrich Dorn]

„Die wilde Anomalie“ der islamischen Bewegungnicolas Qualander

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ens aus dem Libanon und die Entwaff-nung aller libanesischen Milizen for-dert und gemeinsam von Frankreich und den Vereinigten Staaten ausgear-beitet wurde, hat die libanesische „po-litische Klasse“ [Anf.Z. d. Red.] ziem-lich gespalten und neue Risse in den Konfessionsgemeinschaften aufgetan. Die Kräfte des 14. März, die im We-sentlichen aus den christlichen Forces libanaises von Samir Dschadscha, der drusischen Sozialistischen Fortschritts-partei von Walid Dschumblat, der sun-nitischen Zukunftsströmung von Saad Hariri, aber auch der Bewegung der demokratischen Linken, einer Abspal-tung der Kommunistischen Partei Liba-nons (KPL) bestehen, haben sich in den letzten zwei Jahren als die wichtigsten Stützen der politischen Offensive des Westens im Libanon erwiesen. Sie for-derten nicht nur den Rückzug der sy-rischen Truppen, sondern sprachen sich auch für die Entwaffnung des libane-sischen Widerstands im Süden aus und entsprachen damit indirekt den israeli-schen Forderungen. Die Koalition des 8. März unter Führung der Hisbollah, die ihre wichtigste soziale Basis un-ter den SchiitInnen hat, aber auch von prosyrischen Kräften unterstützt wird, die sich auf einen Teil der sunnitischen und christlichen Gemeinschaften stüt-zen, beantwortete diese Offensive, in-dem sie auf den arabischen Charakter des Libanons und die Notwendigkeit pochte, eine politische Linie beizube-halten, die im Gegensatz zu den ame-rikanisch-israelischen Interessen in der Region steht. Das bedeutete gleichzei-tig, die strategische Partnerschaft der Hisbollah mit dem Iran und Syrien auf-recht zu erhalten. Während zwei Jahren versuchte die KPL, eine ausgewogene antiimperialistische Haltung zu entwi-ckeln, die den islamischen Widerstand im Südlibanon klar unterstützte, für die Aufrechterhaltung der Bewaffnung desselben einstand, aber dennoch den totalen Rückzug der syrischen Truppen forderte und mit ihrer Kritik am dik-tatorischen Charakter des Baath-Regi-mes nicht hinter dem Berg hielt.

Auf der Grundlage dieser Polarisie-rung des politischen Lagers im Libanon hofften Amerikaner, Franzosen und Is-raelis, die Schiitenorganisation schwä-chen zu können, die seit 2000 und dem einseitigen Rückzug der israeli-schen Truppen aus dem Südlibanon im Empfinden der arabischen Menschen

das neuralgische Zentrum eines kon-sequenten antikolonialen Widerstands bildet. Die geplante Zerschlagung des libanesischen Widerstands wäre nicht nur ein Vorspiel auf einen sicher zu er-wartenden allgemeinen Angriff auf den Iran und Syrien gewesen, sondern ent-sprach auch dem Bestreben, auf lange Zeit jegliche Aussicht auf eine wirk-liche Opposition gegen die amerika-nischen Pläne eines „Greater Middle East“ und die expansionistischen Ge-lüste Israels zunichte zu machen.

Doch das hieß die Fähigkeit der His-bollah zu unterschätzen, die Verbindung zwischen dem Aufbau eines starken mi-litärischen Widerstands und dem Aufbau breiter politischer Bündnisse zu gewähr-leisten und die Logik der politischen und konfessionellen Polarisierung in zwei Lager zu überwinden. Die Herstellung des nationalen Konsenses ist ein Leit-motiv der Hisbollah. Im 33-Tage-Krieg verband sich der politisch-militärische Widerstand der Hisbollah mit einer brei-ten politischen Front zur Unterstützung des Widerstands und einem gesellschaft-lichen Widerstand, der über die Gruppe der SchiitInnen hinausreichte. Seit Feb-ruar 2006 verfolgt die Hisbollah eine Logik der politischen Partnerschaft mit der Freien Patriotischen Strömung von General Aun, einer ursprünglich vehe-ment antisyrischen christlichen Organi-sation, die heute mit der Hisbollah ver-bündet ist, um ein Gegengewicht zum Hariri-Block zu bilden. Zu diesem steht sie heute in Konkurrenz, und sie spricht sich unterdessen auch gegen die poli-tische Zusammenarbeit mit dem Westen aus. Die Unterstützung eines Teils der christlichen Bevölkerungsgruppe wäh-rend des Konflikts hat sich als entschei-dend erwiesen, da das strategische Ziel war, jede Polarisierung entlang der Kon-fessionsgrenzen zu vermeiden, die die Kraft des Widerstands im Süden beein-trächtigt hätte. Zudem entstand im Juli 2006 rasch eine nationale Widerstands-front, zu der die Hisbollah, die KPL (die in einem Appell vom 29. Juli dazu aufrief, „die Waffen wieder aufzuneh-men“), die Partei von Nadschih Wakim (eine linke, mehrheitlich griechisch-or-thodoxe arabisch-nationalistische Or-ganisation), die Dritte Kraft des ehema-ligen Ministerpräsidenten Selim Hoss und andere kleinere arabisch-nationa-listische oder linke Kräfte gehörten. Es entstand also eine politische Front, die über die prosyrischen Parteien hinaus-

reichte. Die Aun-Strömung fuhr in ihrer Politik der Solidarität mit der Hisbol-lah fort, während im Süden und in Baal-bek im Osten eine militärische Koordi-nation zwischen dem islamischen Wi-derstand und bewaffneten Gruppen, die aus der Kommunistischen Partei und der Amal hervorgegangen waren, eingerich-tet wurde. Schließlich entstand auch ein breites multikonfessionelles Netzwerk aus Nichtregierungsorganisationen mit einer im Allgemeinen ausgesprochen jungen Basis, die beispielsweise in einer Struktur namens Samidun zusammen-geschlossen war und sich auf die soziale Solidaritätsarbeit mit den libanesischen Flüchtlingen auf der politischen Linie der Unterstützung des Widerstands kon-zentrierte.

Es gab also ein Zusammenwirken zwischen dem Hisbollah-eigenen Volks-widerstand, der aus einem politischen, einem militärischen (Islamischer Wi-derstand) und einem sozialen Zweig (dem Netzwerk der Stiftungen für Mär-tyrer, Verletzte und Flüchtlinge) be-steht, und andererseits einem breiten politischen und gesellschaftlichen Wi-derstand über die Spaltungen zwischen Konfessionsgemeinschaften hinweg, der insbesondere Sunniten und Chris-ten umfasste. Diese Zusammenarbeit trug zum Scheitern des amerikanisch-israelischen Plans bei, der im Libanon keine ausreichende politische Unter-stützung finden konnte, um den Wider-stand zu brechen. Hier kann von einem Bruch mit dem Rahmen der Jahre 1970 und 1980 gesprochen werden, als Isra-el sich auf einen Teil der maronitischen Christen stützen konnte, um im Liba-non zu intervenieren.

Der Trend hat sich also gekehrt, und die lange Abfolge von arabischen Niederlagen, die „die Hirne und Her-zen beugt“5, konnte anscheinend un-terbrochen werden. Die Ereignisse von Juli/August 2006 haben im Übrigen die Widersprüche und Besonderheiten der Hisbollah offengelegt, die sich un-terdessen von der gesamten restlichen Szene des islamischen Fundamentalis-mus unterscheidet. Ihre Fähigkeit, lang-fristig breite Bündnisse mit nichtreligi-ösen politischen Strukturen einzuge-hen und gewisse, der libanesischen Na-tion eigene konfessionelle Spaltungen zu überwinden, zwangen sie zu bedeu-

5 Rachad abu Shawar, Alle Faktoren des Sieges (auf Arabisch), Al Quds al Arabi, 9. August 2006

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tenden strategischen Anpassungen. So betont der libanesische Historiker und Ökonom Georges Corm: „Der patrio-tische, nationalistische Diskurs dieses libanesischen Widerstands dürfte lang-fristig die verschiedenen Formen isla-misch-fundamentalistischer Rhetorik verändern, um sie aus ihrer Verrückt-heit zu befreien und in die verschie-denen nationalen, lokalen und panara-bischen Realitäten einzubetten.“6

EINE FACETTENREICHE GESCHICHTE

Die Hisbollah stand von Anfang an auf einem Scheideweg. Ihre lange Entste-hungsphase zwischen 1982 und der Veröffentlichung des Aufrufs der Be-nachteiligten 1985 ist eine Folge von drei für den Nahen Osten entschei-denden Ereignissen, die bis heute nach-wirken:

Erstens die israelische Invasion im Libanon 1982 und die Besatzung des Südlibanons seit 1979, zweitens die Auswirkungen der iranischen Revolu-tion von 1979 auf die politische Land-schaft der arabischen Welt, und drit-tens die politische Selbstbehauptung der schiitischen Gruppe im Lauf der 1960er und 1970er Jahre mit der Be-wegung der Benachteiligten von Imam Musa Sadr im Libanon und mit der is-lamistischen Schiitenpartei Ad-Dawa von Muhamad Baqir As-Sadr im Irak. Nach der historischen Niederlage des arabischen Nationalismus von Nasser und den Baathisten, die symbolisch in der arabischen Niederlage gegen Israel 1967 und der Unterwerfung des ägyp-tischen Präsidenten Anwar as-Sadat unter die Amerikaner und Israelis zum Ausdruck kam, wurde die Iranische Revolution 1979 mit ihrer Mischung aus antiimperialistischer Drittweltrhe-torik und Verstaatlichung eines funda-mentalistisch ausgelegten Islam zum Symbol für die arabische Welt und ließ zahlreiche junge linke oder nationalis-tische AktivistInnen ins Lager des isla-mischen Fundamentalismus überlau-fen. So bekannten sich beispielsweise zahlreiche maoistische Kader, insbe-sondere des linken Flügels der palästi-nensischen Fatah, der Katiba at-Tulla-biya und der Studentenbrigaden nach und nach zum Islam und zum Teil zur

6 Georges Corm, Interview in Tel Quel online vom 24. September 2006. Die Fragen stellte Yussef Ait Akdim.

Hisbollah. Dieselben Studentenbriga-den litten übrigens auch unter der Kon-fessionalisierung des libanesischen Bürgerkriegs, der die Linke ebenfalls erfasste. Sie weigerten sich beispiels-weise, 1978 an Massakern und Plün-derungen im christlichen Dorf Damur teilzunehmen, die teilweise von der So-zialistischen Fortschrittspartei durch-geführt wurden. „Diese dem Maoismus nahestehende marxistische Strömung zeichnete sich durch ihre Kampfhand-lungen gegen die israelische Armee im Südlibanon seit 1976, vor allem aber während der ersten israelischen Invasi-on 1978 aus. Die Strömung zeichnete sich auch durch eine gewisse intellek-tuelle Lebendigkeit, durch einen De-battenreichtum und Hinterfragungen aus. Die Suche nach einer dem zivili-satorischen Kontext der arabisch-mus-limischen Welt angepassten revolutio-nären Theorie führte diese Aktivisten schrittweise zur Wiederentdeckung des Islam.“7

Neben dem maoistischen, linken Rand beteiligten sich zahlreiche an-dere Strömungen an der Entstehung der Hisbollah: die libanesischen Mit-glieder der irakischen Exil-Islamisten-partei Ad-Dawa, die für die Errichtung eines islamischen Staates durch Macht-ergreifung waren, Gruppen wie die Li-banesische Union muslimischer Stu-denten und die Sammlung der Ulamâ der Bekaa-Ebene, die Anhänger von Imam Muhammad Hussein Fadlallah, einem ausgesprochen beliebten schi-itischen Geistlichen, der in den süd-lichen Vororten Beiruts predigt und dessen Thesen eine Mischung aus is-lamischer Wiederentdeckung und ei-ner Art von sozialem Drittweltden-ken sind. Fadlallah postulierte als ei-ner der ersten 1988 die praktische Un-möglichkeit, im Libanon einen isla-mischen Staat einzurichten, und ver-breitete damals das Konzept des „hu-manistischen Staates“ (dawalat al-in-san), das auf der Entkonfessionalisie-rung des libanesischen politischen Sys-tems beruht. Die Gründung der His-bollah ist schließlich auch organisch mit der Spaltung der Amal-Bewegung verbunden. Amal, deren Anfangsbuch-staben für Brigaden des libanesischen Widerstands stehen, ist der bewaffne-te Arm der Bewegung der Benachteili-

7 Walid Charara und Frédéric Domont, Le Hez-bollah, un mouvement islamo-nationaliste, Pa-ris 2004, S. 93.

gten des 1978 verschwundenen Imams Mussa Sadr. 1974 verstand sich diese Bewegung ursprünglich als eine Partei der Selbstbehauptung der SchiitInnen als politische Gemeinschaft. Sie sind tatsächlich eine der ärmsten Konfessi-onsgruppen im Libanon, sind politisch unterrepräsentiert und leben hauptsäch-lich im Südlibanon, aber auch im Os-ten rund um die Stadt Baalbek und in den südlichen Vororten Beiruts. In der Amal gibt es keine klare ideologische Ausrichtung; sie schließt unterschieds-los SchiitInnen von der konservativs-ten Rechten bis zur extremen Linken ein. Jedenfalls verließen 1982 nahe-zu 500 Mitglieder rund um Hussein al-Mussawi die Amal und gründeten die Islamische Amal, die zum wichtigsten Rückgrat der Hisbollah wurde. Sie leh-nen sowohl die säkulare Einstellung des neuen Amal-Führers Nabih Ber-ri als auch dessen Abrücken vom pa-lästinensischen und libanesischen Wi-derstand seit 1982 ab. Die neue Orga-nisation profitierte damals vom mili-tärischen Training und der politischen Zusammenarbeit der iranischen Isla-mischen Revolutionswächter, die sich hauptsächlich in der Bekaa-Ebene auf-hielten.

Das erklärt den ausgesprochen hy-briden Charakter der Hisbollah, die auf den beiden Grundlagen, dem schi-itischen islamischen Fundamentalis-mus und der nationalen Frage, beruht. Sie hat politische Kader übernommen, die nicht alle aus einem islamischen Kontext kommen, sich aber infolge des Scheiterns der Linken und des Natio-nalismus und auf der Grundlage einer Wiederaneignung des kulturellen schii-tischen Erbes, das sie im Kampf gegen die Besatzung für ausgezeichnet mobi-lisierbar hielten, einer politischen Inter-pretation des Islam zuwandten. Die Ver-kündung des Aufrufs der Benachteilig-ten in der Bir al-Abd-Moschee im Sü-den Beiruts am 16. Februar 1985 zeugt von diesem doppelten Charakter der Hisbollah als Partei, die für den Wider-stand der von Israel besetzten Gebiete kämpft und sich gleichzeitig politisch und ideologisch zu Khomeini und dem Iran bekennt, die dem Text zugestimmt hatten. Der Aufruf spricht sich für ei-nen islamischen Staat nach iranischem Vorbild aus, verzichtet aber darauf, die-sen „gewaltsam durchsetzen“ zu wol-len. Er ruft dazu auf, „den Libanon vor jeder Abhängigkeit gegenüber dem Os-

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ten oder dem Westen zu bewahren“ und „den zionistischen Besatzer zu besie-gen“ und „ein auf der freien Wahl der Bevölkerung beruhendes politisches System“ zu errichten.

In der Folge griff die neu gegrün-dete Bewegung die KPL-AktivistIn-nen, die sich in der Nationalen Front des libanesischen Widerstands enga-giertren, an und ist verantwortlich für den Tod zweier ihrer brillantesten In-tellektuellen, Hussein Mroue und Mah-di Amil, vermutlich. Gleichzeitig kriti-sierte sie Syrien und dessen Hauptver-bündeten Amal, als diese 1985 den La-gerkrieg gegen die PLO vom Zaun bra-chen. Sie ergriff ausdrücklich Partei für die Rechte der PalästinenserInnen im Libanon, auch um den Preis, Damas-kus damit zu verärgern.

Erst nach und nach gewann der Na-tionalismus in der Hisbollah die Ober-hand über den islamisch-fundamenta-listischen Aspekt. Eines der deutlichs-ten Zeichen dafür ist die Beteiligung am politischen System des Libanons in der Folge des Friedensabkommens von Taif 1990. Als einzige politische Partei, der es erlaubt war, ihre Waffen zu behalten, übernahm sie de facto die politische und militärische Führung des Widerstands im besetzten Süden. Daher erachte-te sie es zu diesem Zeitpunkt als nötig, mit dem Rest des politischen Spektrums im Libanon zusammenzuarbeiten, da der Aufbau eines nationalen Konsenses zum Schutz des Widerstands eine uner-lässliche Voraussetzung für ihre Exis-tenz als politisch-militärische Organi-sation war. Im Lauf der 90er Jahre lei-tete ihr neuer Generalsekretär Hassan Nasrallah einen offeneren Kurs ein und gab offiziell den Plan eines islamischen Staates im Libanon auf. Es besteht also ein enger Zusammenhang zwischen der schrittweisen Öffnung der Hisbollah ge-genüber anderen politischen und gesell-schaftlichen Kräften und ihrem Streben nach Anerkennung als wichtigste Partei des Widerstands.

In dieser Zeit nahm die Hisbollah wieder Beziehungen zu den linken und nationalistischen Organisationen auf und rief am 18. August 1997 im Ho-tel Bristol in Beirut zu einer Konferenz in Unterstützung des Widerstands auf, an der 27 linke und nationalistische Organisationen teilnahmen. Im mili-tärischen Bereich erlaubte die Grün-dung der Libanesischen Widerstands-brigade gegen die Besatzung ab 1996

jungen AktivistInnen anderer Konfes-sionen oder anderer politischer Rich-tungen, sich neben dem Islamischen Widerstand, dem bewaffneten Arm der Hisbollah, an Widerstandsakti-onen zu beteiligen. Unter den nahezu 2000 Mitgliedern sind 38 Prozent Sun-niten, 25 Prozent Schiiten, 17 Prozent Christen und 20 Prozent Drusen, wäh-rend sich die Hisbollah weiterhin voll-ständig aus Schiiten zusammensetzt. Schließlich beteiligte sich die Hisbol-lah 1994 an der Gründung der Natio-nalistischen Islamischen Konferenz, ei-ner panarabischen Struktur, zu der isla-misch-fundamentalistische, nationalis-tische und linke Organisationen gehö-ren und die zum Ziel hat, taktische und programmatische Übereinstimmungen zwischen den verschiedenen Gruppen zu suchen, die früher in Konflikt mit-einander standen. Diese Konferenz tritt noch immer alle vier Jahre zusammen. Als der israelische Regierungschef Ehud Barak im Mai 2000 beschloss, seine Truppen einseitig aus dem Süd-libanon abzuziehen, erntete die Hisbol-lah die politische Dividende. Denn ein Großteil der LibanesInnen war damals davon überzeugt, dass sich die Israelis ohne den Widerstand der Hisbollah nie zurückgezogen hätten.

Nicht zuletzt baute die Hisbollah nach dem Vorbild anderer islamisch-fundamentalistischer Bewegungen nach und nach eine Hegemonie über die libanesische Bevölkerung auf und wurde so zu einem sozialen wie poli-tischen Akteur. Ihre Arbeit konzentriert sich auf vier Bereiche: das Politische, das Militärische, das Soziale und das Kulturelle. Ihre politische Führung ist komplex organisiert und setzt sich aus drei Organen zusammen: einem Polit-büro, einem Exekutivkomitee und ei-ner Beratenden Versammlung (mad-schlis asch-schoura), zu der mehrere lokale Kommandos dazukommen. Der Islamische Widerstand, ihr bewaffneter Arm, umfasst geschätzte 3 000 bis 15 000 Milizionäre, zu denen noch der eigene Geheimdienst kommt. Er funk-tioniert als Guerilla, doch die Opera-tionen im Juli/August 2006 haben ge-zeigt, dass er auch als Kern einer re-gulären Armee fungieren kann und in der Lage ist, einen langen Bodenkampf durchzuhalten.8

8 Dazu kommt noch ein Arsenal an Raketen, die gemäß dem Generalsekretär der Hisbollah auf 20 000 geschätzt werden, sowie alle Lang- und Kurzstreckenraketen, die vom Iran geliefert wurden und üblicherweise nicht zum „klassi-schen“ Arsenal einer Guerillabewegung gehö-ren.

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Der Volkswiderstand stützt sich so-wohl auf einen Medienapparat – den TV-Sender al-Manar und den Radiosender an-Nur – als auch auf einen Komplex an sozialen und karitativen Einrichtungen, die die Mängel des libanesischen Staa-tes ausgleichen und von der Hisbollah selbst de facto als „öffentlicher Dienst“ bezeichnet werden. Zu diesen Institutio-nen gehören der Dschihad al-Binaa, der sich dem Wiederaufbau zerstörter Dör-fer und Stadtteile widmet und zudem die südlichen Vororte Beiruts mit Wasser versorgt, die Islamische Gesundheitsor-ganisation, die mehrere Gesundheits-zentren betreibt, die Institution asch-Schahid, die sich um Familien küm-mert, deren Angehörige im Kampf oder durch Bomben umgekommen sind, etc. Diese politische, soziale und kulturelle Hegemonie der Hisbollah in der libane-sischen Gesellschaft ist paradoxerweise eine Hegemonie ohne Herrschaft, inso-fern sie nicht mehr Teil einer Strategie der Machtübernahme oder der Zerschla-gung gegnerischer politischer Kräfte ist. Die Entwicklung des Volkswiderstands ist im Übrigen untrennbar mit der finan-ziellen Hilfe des Irans an die Hisbollah verbunden, deren Höhe unbekannt ist, die aber auf Dutzende Milliarden Dollar jährlich geschätzt wird. Die Schiitenor-ganisation verfügt allerdings auch über ihre eigenen autonomen Finanzquel-len, die im Wesentlichen aus den Spen-denkampagnen unter libanesischen und ausländischen Geldgebern, insbeson-dere aus den Golfstaaten und der liba-nesischen Diaspora in Afrika, aus jähr-lichen Almosensammlungen (zakat) so-wie aus Einkommen herrührt, die durch Investitionen in Immobilienprojekte ge-neriert werden.

WIDERSPRüCHE uND üBER-EINSTIMMuNGEN

Laut Ali Fayyed, Mitglied des Politbü-ros der Hisbollah und verantwortlich für das Beratungszentrum für Studi-um und Forschung, die Denkfabrik der libanesischen Bewegung, verkörpert die Hisbollah „eine nationale, panara-bische und islamische Dimension. Die vierte Dimension ist die schiitische. Diese Dimension betrifft nur die Leh-re und Ideologie. Diese Dimensionen kommen auf unterschiedlicher Ebene zum Tragen. Die nationale Dimension der Hisbollah kommt in ihren Bezie-hungen zu den anderen libanesischen

Kräften zum Tragen, die arabische in den Beziehungen zu Syrien und ande-ren arabischen politischen Kräften, die islamische in den Beziehungen zum Iran. Übereinstimmungen mit anderen Kräften bestehen hauptsächlich in der Palästinafrage und im Kampf gegen den amerikanischen Imperialismus.“9

Allerdings wirft die Offenheit der politischen Identität, die die Hisbollah für sich beansprucht, Fragen auf. Denn sie bringt gewisse, für islamisch-natio-nalistische Organisationen kennzeich-nende Widersprüche hervor:

• Die Hisbollah hat die Aufgabe des nationalen Befreiungskampfs zu ihrem wichtigsten Leitmotiv erhoben. Noch heute ist sie durch ihr beharrliches, le-gitimes Pochen auf die Frage der von Israel besetzten Gebiete, d.h. die She-baa-Farmen und die Hügel von Kafr Shouba, und ihre Verteidigung der Rechte der PalästinenserInnen eine der wichtigsten Organisationen im Nahen Osten, deren politische Praxis völlig auf nationale, antikoloniale Ziele aus-gerichtet ist. Nichts desto trotz ist die Hisbollah eine konfessionelle Schi-iten-Organisation. Sie muss also mit der Tatsache zurechtkommen, dass ih-re gesellschaftliche Basis und ihre Ak-tivistInnen ausschließlich SchiitInnen sind und Nicht-SchiitInnen der His-bollah nicht beitreten können. Zwar gibt es sympathisierende Kreise, die der Hisbollah nahe stehen, wie bei-spielsweise die Libanesischen Wider-standsbrigaden gegen die Besatzung. In ihrer Parlamentsgruppe gibt es auch christliche und sunnitische Abgeord-nete. Doch das ist ein begrenztes Phä-nomen. In der Vorstellung der Bevöl-kerung und im politischen Denken ist die Hisbollah symbolisch zur wichtigs-ten arabischen Widerstandsorganisati-on aufgestiegen, deren Beliebtheit bei weitem die konfessionellen und poli-tischen Spaltungen, die die arabische Welt auszeichnen, überwindet, obwohl ihre Struktur und Zusammensetzung rein schiitisch ist.

• Die Hisbollah setzt sich offiziell für die Abschaffung des konfessionellen, kommunitären libanesischen Systems ein, seit sie sich erstmals an Parlaments-wahlen beteiligt hat. Schon in ihrem

9 Ali Fayyed, Gespräch mit dem Autor, Bera-tungszentrum für Studium und Forschung, Ha-ret Hareik, Beirut, 10. Februar 2006.

Wahlprogramm 1992 legte sich als dop-pelte Priorität „die Befreiung des Liba-nons von der zionistischen Besatzung und die Abschaffung des politischen Konfessionalismus“ fest. Im selben Wahlprogramm wurde auch die Einfüh-rung „eines einzigen Wahlkreises im Li-banon“ und die „Abschaffung der Pos-tenbesetzung auf der Grundlage von Sekten oder Konfessionen“ gefordert. Dieses System ist es auch, das teilwei-se den Klientelismus und die Korruption fördert, da sich das gesamte politische und gesellschaftliche Leben des Liba-nons auf einen Verteilmechanismus von Posten, Verantwortlichkeiten und po-litischen Mandaten stützt, der auf kon-fessionellen Quoten beruht. Doch auch hier besteht das Paradox, dass die His-bollah, die die Abschaffung des libane-sischen Konfessionssystems zu einem Eckpunkt ihres politischen Programms gemacht hat, einer der Hauptnutznie-ßer desselben ist. Daher hat sie sich auch nicht frontal gegen das kommuni-täre politische System gestellt und ins-besondere bei den letzten Parlaments-wahlen vom Frühjahr 2005 ohne Zö-gern zur (Wieder)Wahl der nach kon-fessionellem Proporz gewählten Man-datsträger aufgerufen. Das ist auch ei-ner der Hauptvorwürfe, den ihr die KPL macht, die sich in vielen anderen Punk-ten der Hisbollah angenähert hat. Laut Khaled Hadadé, Generalsekretär der Partei, ist das Verhältnis zur Hisbollah widersprüchlich, denn „die Hisbollah hat zwei Gesichter“: ein positives, näm-lich das ihres Widerstands, und ein an-deres, nämlich das ihrer religiösen und konfessionellen Zugehörigkeit zum Is-lam. Würde die Hisbollah heute ge-schlagen, wäre es der Widerstand der Hisbollah, der geschlagen würde. Die konfessionelle Dimension bliebe unan-getastet, und sie wäre ein Anziehungs-pol für den konfessionellen Wiederauf-bau des Libanons. Mag sein, dass wir in der Vergangenheit besorgt waren; heu-te sind wir es weniger, denn die Tatsa-che, dass die Hisbollah Widerstand leis-tet und sich halten kann, wird dazu füh-ren, dass sie sich in innenpolitischen Fragen rasch weiter öffnen wird. Es ist noch nicht gelungen, mit der Hisbol-lah eine gemeinsame Vision der libane-sischen Gesellschaft zu entwickeln. Bei den letzten Wahlen sind sie ein Bünd-nis mit der Partei von Walid Dchumblat, der Partei von Hariri und der heutigen Mehrheit sowie den Forces Libanaises

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eingegangen. Die einzige Partei, die im Süden gegen sie angetreten ist, waren die Kommunisten. Aber ich glaube und hoffe, das die aktuelle Lage bei der His-bollah eine Entwicklung auch hinsicht-lich ihrer Sicht von der inneren Orga-nisation der libanesischen Gesellschaft und einer Reform der Institutionen brin-gen wird.“10

• In sozioökonomischen Fragen schwankt die Hisbollah zwischen verschiedenen Tendenzen. Einerseits ist sie 2005 der Regierung Siniora beigetreten, die die neoliberale Politik der Regierung des ermordeten libanesischen Minister-präsidenten Rafik Hariri fortsetzt und den Libanon unermüdlich den Ermah-nungen von IWF und Weltbank aus-setzt. Andererseits hat sie am 10. Mai 2006 an der Seite der Freien Patrio-tischen Strömung von General Michel Aun und der KPL für die Demonstra-tion zur Verteidigung des öffentlichen Dienstes mobilisiert und zum Erfolg dieser Proteste beigetragen, an denen sich erstmals Hunderttausende betei-ligt haben. Die Hisbollah stützt sich auf eine arme gesellschaftliche Basis und verteidigt offiziell einen starken keyne-sianischen Sozialstaat sowie eine Po-litik der Umverteilung des nationalen Reichtums. Laut Ali Fayyad „sollte der Staat eine Rolle im Schutz der ein-fachen Bevölkerung spielen. Das isla-mische Wirtschaftsdenken lehnt die Marktwirtschaft ohne Verpflichtung ab. Es ist auch nicht für eine Staatswirt-schaft, wie wir sie in den Ostblocklän-dern gesehen haben. Man könnte sa-gen, der Wohlfahrtsstaat kommt dem Geist des islamischen Modells nahe; es ist die Vorstellung von einem star-ken Sozialstaat und einem regulierten Markt. Von den drei Phasen des Ka-pitalismus, dem Liberalismus, dem Wohlfahrtsstaat und dem ungezügel-ten Neoliberalismus, steht der Wohl-fahrtsstaat unserem Denken am nächs-ten. […] Wir wollen einen Staat, der Partei ergreift für die Armen, gegen die Multis, gegen die internationalen Wirt-schaftsinstitutionen, gegen die Logik der grenzenlosen produktivistischen, kapitalistischen Akkumulation.“11 Ge-mäß Fayyad versteht sich die Hisbollah als Teil einer gewissen Art von Antine-

10 Khaled Hadadé, Gespräch mit dem Autor und der internationalen Libanon-Solidaritätsdele-gation, Beirut, 10. Februar 2006.

11 Ali Fayyed, Gespräch mit dem Autor.

oliberalismus. Im Übrigen ist sie die einzige islamische Bewegung, die seit 2003 an Weltsozialforen teilgenommen hat und dessen Texte in den Leitungs-organen übersetzen und weiterverbrei-ten ließ. Ihr Forschungszentrum hat zu-dem die Texte der südamerikanischen Befreiungstheologie ins Arabische übersetzen lassen. Dennoch arbeitet sie ohne zu zögern mit politischen Kräf-ten zusammen, die ihr in allen Punk-ten widersprechen, sei es in der Frage

der Besatzung oder in der Frage poli-tischer und sozialer Reformen des liba-nesischen Staates. Die Schwester von Rafik Hariri, Bahia, wurde auf His-bollah-Listen gewählt, obwohl sie po-litisch wie wirtschaftlich nicht mit der Hisbollah einverstanden und eine ty-pische Vertreterin der libanesischen Bourgeoisie ist. Daher stellt sich die Frage, ob die Hisbollah über die klas-sische Praxis islamischer Bewegungen, die die soziale Frage nur unter dem Ge-sichtspunkt der Wohlfahrt betrachten, hinauswachsen wird und eine soziale Praxis entwickeln kann, die sich auf je-ne Schichten orientiert, die sie zu ver-treten behauptet, also die Ärmsten, die auch ihre gesellschaftliche Basis bil-den. Politisch müsste die Hisbollah da-für mit einigen ihrer bisherigen Ver-bündeten brechen und ihre politischen Bündnisse deutlicher definieren.

Im Übrigen vergisst man zu häu-fig, dass sich während der beiden Jahre 2004 und 2005, die auf die Ermordung des ehemaligen Regierungschefs Rafik Hariri folgten, die Auseinandersetzung

zwischen den antisyrischen, prowestli-chen Kräften des 14. März und der His-bollah und ihren Verbündeten mit einer sozialen Spaltung überlagert hat, die weiter fortbesteht: „Zu den Anhängern der Familie Hariri gehört heute die ul-traliberale Strömung der libanesischen Gesellschaft, das heißt Geschäftsleu-te aller Konfessionsgruppen, die aus Prinzip gegen einen starken Umver-teilungsstaat sind. Unter den Anhän-gern einer Präsenz Syriens fordern die

Schiitenparteien Hisbollah und Amal, die laizistische syrientreue Baath-Par-tei, jedoch einen starken Umvertei-lungsstaat.“12 Die Bruchlinie, die sich nach dem Tod von Rafik Hariri aufge-tan hat, kreist folglich nicht nur um die nationale Frage, die Waffen des Wider-stands und die Rolle Syriens. Sie geht viel tiefer und überschneidet sich mit der sozialen Frage.

• Einer der letzten Widersprüche ist na-türlich die Frage der ausländischen Un-terstützung der Hisbollah. Taktisch ist die Hisbollah mit Syrien verbunden, das in der Schiiten-Partei ein sicheres Mit-tel sieht, Druck auf Israel und die west-lichen Regierungen auszuüben, insbe-sondere was die Frage des besetzten Golans betrifft. Im Übrigen ist die nati-onalistische Schiitenorganisation wei-terhin politisch und ideologisch dem Iran verbunden. Doch auch hier liegen

12 Charles Abdallah, Un printemps, oui, mais pour qui? In: Où va le Liban? Zeitschrift Con-fluences Méditerranées Nr. 56, Winter 2005/06, Paris, S. 32.

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Demonstration der Hisbollah in Beirut

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die Dinge komplizierter. Die Hisbollah unterhält Beziehungen zu allen Teilen des iranischen Regimes von den Re-formern rund um Khatami bis zu den strengsten Konservativen. Vor allem aber können die Hisbollahstadtteile und -dörfer mit dem Iran überhaupt nicht verglichen werden. Die Hisbol-lah zwingt die Stadtteile nicht mehr zu einem islamischen Modell, und in den südlichen Vororten Beiruts sieht man problemlos verschleierte neben unver-schleierten Frauen. Ebenso ist es in den von der Hisbollah kontrollierten Ge-bieten üblich, Unterschiede deutlich sichtbar zu machen: Die KPL ebenso wie die Amal sind auch im Südlibanon als anerkannte politische Kräfte vertre-ten. „Hisbollah-Land“ ist auf jeden Fall keine Parzelle iranischen Territoriums im Libanon. Die Sozial- und Wohl-fahrtseinrichtungen stehen der gesam-ten libanesischen Bevölkerung offen. Die Hisbollah ist keine Partei der anti-demokratischen gesellschaftlichen Re-pression; das hängt mit ihrem Pragma-tismus zusammen, dem zufolge sie ei-nen nationalen Konsens um sich auf-baut, um die Waffen des Widerstands zu schützen. Ihre politische und mili-tärische Zusammenarbeit im Süden mit der KPL im Rahmen der Widerstands-front im Juli/August 2006 legte eben-falls Zeugnis davon ab.

Während die AnhängerInnen der Partei Gottes offiziell die schiitische religiöse Führung13 (mardschaja) des konservativen iranischen Religions-führers Khamenei anerkennen, ste-hen sie doch den offeneren Positionen von Imam Fadlallah nahe, der eine Rei-he von iranischen Thesen ablehnt, ins-besondere was die stellvertretende Herrschaft des Klerus (wilayat al-fa-quih) betrifft, das heißt der Anspruch von Khomeini willkürlich eingesetz-ten Obersten Rechtsgelehrten, der ira-nischen Führung die politische Füh-rungsrolle für die gesamte schiitische Welt zu sichern. Es gibt also eine sich vertiefende Kluft zwischen der Praxis der Hisbollah und ihrem Profil im In-neren auf der einen und ihrer Unter-

13 Bei den SchiitInnen gibt es verschiedene Mard-schajas. Die bekannteste ist jene von Ayatollah Sistani im Irak. Die Hisbollah orientiert sich offiziell an der iranischen Mardschaja von Aya-tollah Khamenei, auch wenn ihre AnhängerIn-nen dem libanesischen Imam Fadlallah, einem der theoretischen Vordenker der Hisbollah, na-hestehen.

ordnung unter den Iran auf der ande-ren Seite. „Die Hisbollah folgt offizi-ell Khamenei, der für die Partei das Vorbild (mardscha) ist, und unterhält seit den 80er Jahren, der Zeit, in der dieses Land dazu beigetragen hat, die Miliz, aus der die Hisbollah hervorge-gangen ist, zu bewaffnen und zu trai-nieren, herzliche Beziehungen mit dem Iran. Sie berät sich regelmäßig mit der iranischen Führung […]. Der Iran hat dem Islamischen Widerstand übri-gens weiter militärisch geholfen und namentlich die Raketengeschosse für sein Arsenal geliefert. Diese Bezie-hungen bedeuten aber in keiner Wei-se, dass der Iran der Hisbollah irgend-wie ihre Politik oder ihre Stellungnah-men vorschreibt oder in der Lage wäre, das Handeln dieser Partei zu kontrollie-ren. Zudem sind die iranischen Bemü-hungen, den libanesischen SchiitInnen eine panschiitische, auf den Iran orien-tierte Identität zu vermitteln, mit de-ren arabischer Identität in Konflikt ge-raten und haben den libanesischen Na-tionalismus der Hisbollah selbst ver-stärkt.“14 Die Beziehungen zum Iran scheinen heute mehr praktischer denn strategischer und ideologischer Natur zu sein. Sie sind nach wie vor religiös, aber sicher stärker politisch.

POLITISCHE NEuFORMIE-RuNGEN

Der 33-Tage-Krieg bestätigt den zen-tralen politischen Stellenwert der His-bollah im Nahen Osten, der nach dem Rückzug der israelischen Truppen im Jahr 2000 begonnen hat und heute be-sonders deutlich ist und für verschie-dene Formen der politischen Neufor-mierung im Nahen Osten steht:

Die islamisch-fundamentalistische Strömung ist heute gezwungen, in das komplexe Gewand des Nationalismus zu schlüpfen, was sie vor wahre Wider-sprüche stellt: Durch Übernahme gan-zer Abschnitte der historischen Ziele der nationalen Befreiungsbewegungen ist sie gezwungen, ihr Programm, ihre Ziele und ihre Programmatik schlecht-hin anzupassen. Die Nationalisierung der islamischen Bewegung oder die Bildung religiös inspirierter nationaler Bewegungen hat sich sowohl im Sieg

14 Lara Deeb, Une introduction au Hezbollah, http:bellaciao.org/fr/article.php3?id_artic-le=31950, 4. August 2006.

der Hamas bei den Parlamentswahlen von Januar 2006 als auch im symbo-lischen und politischen Sieg der Hisbol-lah im Juli/August 2006 konkretisiert. Der Vergleich mit der islamischen Be-wegung der 80er Jahre lässt sich daher kaum halten. Seit den 90er Jahren fin-det sowohl eine Islamisierung des na-tionalistischen Diskurses als auch eine Nationalisierung und Arabisierung des islamisch-fundamentalistischen Dis-kurses statt. Zudem hat sich der Rah-men der Zusammenarbeit zwischen der Linken, den NationalistInnen und den islamischen FundamentalistInnen vervielfältigt, da alle drei Strömungen die nationale Frage im arabischen Raum nicht lösen konnten. Heute gibt es mehr Querverbindungen zwischen den drei Strömungen als in der Vergan-genheit. Während des Konflikts räum-te Hisbollah-Generalsekretär Nasrallah libanesischen und arabischen Fragen mehr Gewicht ein als jenen einer hypo-thetischen muslimischen Religionsge-meinschaft (umma). Unterdessen gibt es einen dynamischen Austausch und systematische Übergänge zwischen ei-ner neuen Form von antikolonialem Panarabismus, territorialem (palästi-nensischem, libanesischem) Nationa-lismus und einem politischen Islam, der im Rahmen des Kampfes gegen die Besatzung als kulturelle Waffe einge-setzt wird. Die Hisbollah setzt mit ih-rem Diskurs am Schnittpunkt verschie-dener Identitäten an: einer konfessio-nell-schiitischen, einer national-libane-sischen, einer transnational-arabischen und einer religiös-islamischen. Joseph Samaha, ein linker Nasserist und Chef-redakteur einer der wichtigsten liba-nesischen Tageszeitungen, Al-Akhbar, meint dazu: „Wenn man heute die La-ge anschaut, wenn man eine Zustands-beschreibung der arabischen Welt gibt, dann besteht unter den Arabern heute eine große Nachfrage nach einer nati-onalen oder patriotischen Strömung. Nach der Niederlage der arabisch-na-tionalistischen Strömung glaubte man eine Zeitlang, die Linke könnte diese Lücke füllen. Das hat sie nicht. Es sind die islamischen Fundamentalisten, die nach und nach in diese Lücke gesprun-gen sind, mit all den Veränderungen, die sie selbst in den 90er Jahren nach dem Ende der Sowjetunion, dem En-de des Afghanistankrieges, dem Kurs-wechsel der amerikanischen Politik und den Kadern, die aus der linken und

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der arabisch-nationalistischen Bewe-gung gekommen sind, durchlaufen ha-ben. […] Ich kenne die Hisbollah und ihre Kader ganz gut. Jedes Mal, wenn man mit ihnen spricht, hat man den Eindruck, es sind Nationalisten. Und nicht nur das: Man hat den Eindruck, sie sind der Rohstoff für eine große lin-ke Bewegung, hätten dies sein können oder könnten es in Zukunft werden.“15 Es ist also eher ein sich neu formie-render Nationalismus als der simple Aufstieg des islamischen Fundamenta-lismus, der in der Hisbollah zum Aus-druck kommt. Die neuen Querverbin-dungen zwischen Islam und Nationa-lismus einerseits und der Generationen-wechsel, der durch den Tod von Jassir Arafat und das neue Gewicht einer Ge-neration von unter 50-jährigen Kadern ermöglicht wurde (Ministerpräsident Ismail Hanniya in Palästina, Hassan Nasrallah im Libanon), aber auch die Tatsache, dass die symbolische Füh-rung des arabischen Nationalismus von den Sunniten auf die Schiiten überge-gangen ist, all das steht für die Ablö-sung einer Phase, deren Schlussfolge-rungen noch nicht vollständig ermes-sen werden können.

Die qualitative Veränderung der is-lamistischen Bewegungen, wie sie die Hisbollah verkörpert, stellt daher eine Aufforderung dar, nicht zu viele Ana-logien mit den Rahmenbedingungen der 70er und 80er Jahre zu ziehen, ins-besondere mit dem Iran unter Khom-eini. Während die Iranische Revolution in einer starken Aufschwungphase des islamischen Fundamentalismus eines mehrheitlich muslimischen Landes stattfand, ist die Phase der 90er und 2000er Jahre vom Aufstieg des Islam in Bereichen geprägt, wo dieser mit einem sozialen, politischen und kon-fessionellen Umfeld zusammenarbei-ten muss, das ihn zwingt, einen gewis-sen demokratischen Konsens zu akzep-tieren und mit anderen Kräften zusam-

15 Joseph Samaha, Gespräch mit dem Autor am Sitz von As-Safir, Hamra, 17. Februar 2006. Joseph Samaha ist ein wichtiger Intellektueller der nationalistischen libanesischen Linken und hat mehrere Jahre lang die linke Tageszeitung As-Safir geleitet. Nach einem heftigen politi-schen Konflikt innerhalb der Zeitung während des ganzen Jahres 2005 hat er sich entschieden, wieder die ehemalige Tageszeitung der KPL, Al-Akhbar, zu übernehmen, um sie zu einer neuen Tribüne des Gedankenaustauschs der li-banesischen Linken, aber auch aller Strömun-gen, die im Widerstand aktiv sind, zu machen. Die erste Nummer von Al-Akhbar ist mitten im Konflikt erschienen.

menzuspannen: „Im Libanon und im Irak bilden die Schiiten eine schwache Mehrheit neben einer Reihe von bedeu-tenden Minderheiten, und in Palästina ist die Hamas nur eine der vier wich-tigsten Fraktionen. Die Hisbollah muss die Macht teilen und mit den Sunni-ten, den Christen und den Drusen zu-sammenarbeiten, wie auch in derselben Logik die Schiiten im Irak die Macht teilen und mit den Sunniten und Chris-ten zusammenarbeiten müssen. In Pa-lästina muss die Hamas die Macht tei-

len und mit der Fatah, dem Islamischen Dschihad, der PFLP und der DFLP zu-sammenarbeiten. In diesem Rahmen stellen die islamischen Fundamenta-listen im Libanon, in Palästina und im Irak das genaue Gegenteil der Islamis-ten im Iran dar. […] Die ungeheure de-mographische Vielfalt im Libanon, im Irak und in Palästina trägt stark zur Ent-wicklung einer pluralistischen Gesell-schaft und einer kosmopolitischen poli-tischen Kultur bei.“16 So muss die His-bollah selbst vor einem libanesischen und arabischen Hintergrund gesehen werden, denn es ist die multikulturelle gesellschaftliche Realität im Libanon und der tief verankerte arabische Cha-rakter der Bevölkerung, die sie zu ei-ner praktischen und theoretischen Öff-nung zwingen. Ebenso ist es das tradi-tionell demokratische und säkulare so-ziale Gefüge der palästinensischen Ge-sellschaft, das die Hamas dazu zwingt, sich auf konsensuelle Weise in den po-

16 Hamid Dabashi, Lessons from Lebanon: Re-thinking national liberation movement, Al-Ah-ram Weekly, 7.–13. September 2006.

litischen Nationalismus einzubetten.Es geht also darum, die Hisbollah

politisch weder als rot noch als braun zu beschreiben,17 sondern die Gesamt-heit der Widersprüche und Möglich-keiten dieser religiös inspirierten na-tionalistischen Bewegung zu erfas-sen. Denn wie Gilbert Achcar schreibt, ist „der Aufstieg der fundamentalisti-schen Strömung in vielen, wenn nicht allen Fällen nicht in erster Linie Aus-druck eines gesellschaftlichen Rechts-rutschs, wie dies für den Faschismus in

Europa galt […], sondern kann in ers-ter Linie ein Ausdruck der Radikalisie-rung eines auf die falsche Bahn gera-tenen, deformierten demokratischen nationalen Kampfes sein. […]“.18 Den islamisch-fundamentalistischen Be-wegungen wird oft eine Massenba-sis nachgesagt, die sich sowohl aus dem Mittelstand und der radikalisier-ten Kleinbourgeoisie als auch aus den ärmsten, unterdrücktesten Schichten zusammensetzt. Mit ihrer gesellschaft-lichen Basis, die sich aus den armen ländlichen Klassen im Süden und Os-ten und den in prekären Verhältnissen lebenden, urbanisierten Schichten Süd-beiruts zusammensetzt, lässt sich die Hisbollah daher nur schwer als Partei

17 Nach der bekannten Formulierung von Gilbert Achcar „weder faschistisch noch fortschritt-lich“, sofern man gleichzeitig bedenkt, dass die Geschichte je nach gegebenem Kontext of-fen für negative wie positive Entwicklungen ist, und man den islamischen und nationalisti-schen Bewegungen mittelfristig kein unverän-derliches Wesen zuzuschreibt.

18 Gilbert Achcar, L’orient incandescent. Le Moy-en-Orient au miroir marxiste, Lausanne 2003, S. 250.

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Demonstration der Hisbollah in Teheran

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bezeichnen, die die Interessen der liba-nesischen Oberschicht vertritt, zumal sich die Schiiten-Bewegung trotz ih-res enormen Reichtums eher durch den einfachen, redlichen Lebensstil ihrer Führung und ihren Verzicht auf materi-elle Privilegien auszeichnet, was stark zu ihrer politischen Glaubwürdigkeit beiträgt und sie von der üblichen Kor-ruptheit der großen politischen Fami-lien des Libanons unterscheidet. Daher ist die Hauptkritik, die der Hisbollah in der gegenwärtigen Phase von der Lin-ken gemacht werden kann, dass sie die nationale und die soziale Frage nicht miteinander verbindet, wo sie doch be-hauptet, die Vertretung der Benachtei-ligten im Libanon zu sein. Bei zwei Gelegenheiten hat die Hisbollah in den Jahren 2000 und 2005 der christ-lichen und sunnitischen libanesischen Oberschicht sogar letztlich die Hand gereicht, obwohl diese ihr auf Dauer ständig in den Rücken gefallen ist und das Bündnis mit dem Westen erneuert, die Entwaffnung der Hisbollah gefor-dert und völlig vor den nationalen For-derungen der LibanesInnen kapituliert hat. Die KPL und die nationale Linke sind daher der Ansicht, die Hisbollah habe nach dem israelischen Rückzug zwischen 2000 und 2005 einen Teil der Früchte des Widerstands verspielt. Sie hoffen darauf, dass die Hisbollah ein für alle Mal den Kampf gegen das li-banesische konfessionelle System auf-nehmen wird, das Teil der neokoloni-alen Beherrschung des Libanons ist. Die Frage ist nur, ob eine Bewegung wie die Hisbollah, die in einem tiefgrei-fenden Umbruch ist, dazu in der Lage ist. Denn sie ist selbst gespalten zwi-schen einer konservativen Strömung, die mehr oder weniger aus den alten Kadern der Partei ad-Dawa hervorge-gangen ist und weiter einer konserva-tiven, reaktionären Vorstellung von ge-sellschaftlichen Verhältnissen anhängt, und einer jüngeren, offeneren Tendenz, die mehr im Rahmen des Kampfs ge-gen die Besatzung und der nationalen Frage geschult wurde als nach dem tra-ditionellen fundamentalistischen Ras-ter. Die Rede von Hassan Nasrallah vom 22. September 2006 scheint tat-sächlich eine scharfe Kritik an der liba-nesischen Regierung zu enthalten, denn

er ruft zu einer neuen Regierung und zu einer Verbindung von gerechtem, schützendem Staat und starkem Wider-stand auf. Die Frage der Entwicklung der Hisbollah wird von Nasrallah selbst gestellt: „Ich stelle mir vor, dass es möglich sein sollte, auf der Grundlage der Erfahrungen dieses letzten Krieges viele Vorstellungen und Teile des Pro-gramms der Hisbollah zu überdenken. […] Diese neue Ausgangslage wird si-cher eine tiefe Spur im Denken der His-bollah, in ihrem Verständnis der Ereig-nisse, ihrem Funktionieren, ihrem Han-deln und ihren Beziehungen hinterlas-sen.“19 Zudem bemühen sich seit En-de des Krieges Hisbollah und die Kräf-te, die den Widerstand unterstützt ha-ben, von Michel Aun bis zur KPL, um Schlussfolgerungen und einen innen-politischen Ausdruck der Dynamik des nationalen Widerstands, indem sie ge-meinsam ein minimales Übergangspro-gramm für einen Staat diskutieren, der Widerstand und soziale Entwicklung miteinander verbindet. Das setzt für die KPL notwendigerweise die Ab-schaffung des konfessionellen Systems und der Quoten voraus. Noch kann nie-mand sagen, ob diese Gespräche von Erfolg gekrönt sein werden, doch man muss die Fähigkeit der Hisbollah kons-tatieren, sich durch diese Fragen her-ausfordern zu lassen. Der Libanonkrieg war auch entlarvend, was die politische und ideologische Anpassung der bür-gerlichen oder aristokratischen Ober-schichten an die amerikanischen Plä-ne betrifft. Die Einladung Tony Blairs durch die libanesische Regierung von Fuad Siniora knapp einen Monat nach Ende des Konflikts bedeutete für die Hisbollah übrigens eine herbe Enttäu-schung. Der Bruch, zu dem sie viel-leicht in der Lage sein wird, die Aner-kennung ihrer wirklichen Gegner und ihrer wahren Verbündeten werden in den kommenden Monaten und Jahren ein entscheidender Test sein. Sie wer-den auch ausschlaggebend für die Zu-kunft des islamischen Nationalismus und neue Formen des arabischen Nati-onalismus sein, die nunmehr gezwun-gen sind, sich politisch, wirtschaftlich

19 Hassan Nasrallah, Gespräch mit Talal Salman, Tageszeitung As-Safir, Beirut, 27. September 2006.

und sozial festzulegen. „Das Ziel einer linken Politik ist zweifellos die Aus-schaltung reaktionärer Dynamiken, die sich auf den Islam berufen. Doch das bedeutet nicht bloß reine Anpran-gerung, Konfrontation oder Krieg zwi-schen verschiedenen Fronten. […] Es bedeutet auch positive Interaktion, Austausch in der Kontroverse, Reflexi-on und Praxis. […] So kann vielleicht eine transversale Widerstandsdynamik zur gegenwärtigen Moderne und damit eine Dynamik entstehen, die über die-se hinausweist und -führt. Und an der sich Strömungen aus der einfachen Be-völkerung beteiligen, die sich auf einen Islam berufen, der mit seinen reaktio-nären Auslegungen bricht. So heuchle-risch es ist, den Islam dazu aufzufor-dern, mit der Zeit zu gehen, so unum-gänglich ist es, von einem offenen po-litischen Islam zu fordern, über sei-ne Zeit hinauszugehen. Dieselbe Leh-re gilt aber auch für die Linke.“20 Aller-dings wird es einige Zeit brauchen, bis überprüfbar sein wird, was sich verän-dert hat: ein vielleicht ausgeglichenes symbolisches Kräfteverhältnis, ein panarabischer Nationalismus in vollem Umbruch, eine arabische Welt, die viel-leicht wieder Selbstvertrauen schöpft, politische Bewegungen, die sich – ob Linke oder islamische Fundamentalis-tInnen – neuen Fragen, neuen Ausrich-tungen, neuen Strategien stellen müs-sen. Und vielleicht haben sich auch die Spielregeln verändert, und die Angst ist besiegt.

Nicolas Qualander, Doktorand im Fach Poli-tische Studien des Nahen Ostens, hat als Ver-treter der Ligue communiste révolutionnaire (LCR, frz. Sektion der Vierten Internationale) Ende Juli 2006 an der internationalen Solidari-tätsdelegation in den Libanon teilgenommen.

Aus dem Französischen: Tigrib

20 Sadri Khiari und Mohamed Cherif-Ferjani, Trajectoires et paradoxes de l’islam politique. Contre l’orientalisme et l’orientalisme inversé. In: Contretemps Nr. 12, Februar 2005, Paris.

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Die Schiiten des Libanons waren schon immer der am meisten unterdrückte Teil der Bevölkerung. Das heißt nicht, dass sie alle ausschließlich ArbeiterInnen gewesen wären oder aus der bäuer-lichen Bevölkerung stammten. Es gab immer schon eine Hand voll sehr wohl-habender Familien neben einer Schicht von LadenbesitzerInnen, HändlerInnen und Freiberuflichen. Aber der Prozent-satz der Schiiten, die zu den unteren Gesellschaftsklassen gehörten, war wesentlich höher als bei den anderen religiösen Gruppierungen des Landes – sie waren „überrepräsentiert in den unterentwickelten Sektoren der Indus-trie und der Landwirtschaft.“21 Sogar die Mittelschicht sah sich eingezwängt durch die vom französischen Imperi-alismus ererbte Staatsstruktur, die die politische Macht unter den Führern der maronitischen Christen, der sunni-tischen Muslime und der Drusen auf-teilte. Zum Zeitpunkt der Unabhängig-keit von den Franzosen waren 40 Pro-zent aller Führungsposten im Staats-dienst von Maroniten besetzt, 27 Pro-zent von Sunniten und lediglich 3,2 Prozent von Schiiten.22 Dieses Diskri-minierungsmuster blieb – wenn auch weniger stark ausgeprägt – im Wesent-lichen bis zum Taif-Abkommen von 1989 bestehen, das dem Bürgerkrieg ein Ende setzte.

Zwei Erfahrungen trugen zur Ent-stehung der Hisbollah als Bewegung bei. Die erste war die iranische Revolu-tion von 1979, durch die ein von schi-itischen Geistlichen angeführtes Re-gime an die Macht kam. Einige der schiitischen Geistlichen im Libanon hatten enge Bildungs- und Familien-beziehungen zu den Siegern im Iran. Deren Ideologie der Befreiung von Unterdrückung und Armut durch die Schaffung einer islamischen „Gemein-schaft“, die Reiche wie Arme vereinigt

21 A N Hamzeh, „In the Path of the Hizbullah“, Syracuse University Press, 2004, S.13

22 ebenda, S.11

und Gier und Individualisierung infol-ge „westlicher Einflüsse“ überwindet, stellte für sie eine Quelle der Inspira-tion dar. Durch religiöse Predigten und die Schaffung einer „soziopolitischen Bewegung mit der vordringlichen Mis-sion, die Armut zu lindern“ – vor allem im Süden Libanons, der östlich gele-genen Bekaa-Ebene und den „Vororten der Misere um Beirut“ –, versuchten sie, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern.23

Die zweite Erfahrung waren die is-raelischen Invasionen in den Libanon in den Jahren 1978 und 1982, um die Pa-lästinenserbewegung zu zerschlagen. Es stellte sich schnell heraus, dass vor allem die mehrheitlich schiitische Bevölke-rung Südlibanons die Hauptlast der isra-elischen Besatzung zu tragen hatte. Die radikale schiitische Geistlichkeit be-gann mit Hilfe einer großen Abteilung revolutionärer Garden aus dem Iran ei-ne Guerillaorganisation aufzubauen, die der israelischen Besatzung gewachsen war. Die Ausbildung beschränkte sich nicht auf militärische Aspekte. Sie war mit einem hochreligiösen Inhalt verbun-den, der eine tiefe Verpflichtung zum Kampf einflößen sollte. „Die Kämpfer der Hisbollah müssen sich dem größe-ren Dschihad unterziehen, das heißt der spirituellen, religiösen Transformation, wenn sie sich in die Lage versetzen wol-len, den kleineren Dschihad, das heißt den das Märtyrertum erfordernden be-waffneten Dschihad zu meistern. Durch die Überwindung des eigenen Selbsts und irdischer Begierden, durch die An-nahme der Tugenden des Märtyrertums waren die Hisbollah-Kämpfer in der La-ge, Angst und Schrecken unter ihren Feinden zu säen.“24

23 ebenda, S.13. Die ersten Anstrengungen, eine „Bewegung der Benachteiligten“, wurden 1974 von Musa al-Sadr (der während einer Reise nach Libyen 1978 verschwand) in An-griff genommen. Dieser frühe Versuch wur-de aber bald durch den Ausbruch des Bürger-kriegs im Libanon überschattet.

24 ebenda, S.87

Die Bereitschaft, das Märtyrertum auf sich zu nehmen, wurde als wesent-licher Bestandteil des Kampfes angese-hen, denn das „Machtungleichgewicht“ infolge des Waffenarsenals, das den Is-raelis zur Verfügung stand, „konnte nur durch das Märtyrertum ausgeglichen werden“.25 Ein sehr tief verankertes schiitisches religiöses Empfinden war nötig, um die erforderliche Geistesein-stellung zu bewerkstelligen. Allerdings waren Selbstmordattentate keineswegs die hauptsächliche Kampfform.

„Das Schwergewicht wird auf Me-thoden gelegt, die kein Märtyrertum er-fordern … Es wurden lediglich zwölf Operationen mit Autobomben regis-triert.“ Zum Märtyrertod kam es in der überwiegenden Anzahl der Fälle im Zuge „atypischer“ Operationen, in de-nen der Tod „einen Ausgang, mit dem man rechnen muss,“ darstellte.26

Den Schlüssel zur Strategie der His-bollah gegen die von 1982 bis 2000 an-dauernde Besatzung Südlibanons durch die israelische Armee bildeten Überra-

25 N Qassem, „Hizbullah: The Story from With-in“, London, 2005, S.68

26 ebenda, S.74–75

Die Hisbollah nach dem gewonnenen Kriegchris Harman

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Chris Harman

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schungsangriffe gegen den Feind, und nicht vorgeblich heldenhafte, in Wirk-lichkeit aber katastrophale Zusammen-stöße unter Bedingungen, die der Geg-ner diktierte. So wuchs die Zahl der Operationen von 100 in der Zeit von 1985–89 auf 1 030 in der Zeit 1990–95 bis auf 4 928 von 1996–2000,27 als schließlich der unordentliche Rückzug der israelischen Streitkräfte die Popu-larität der Hisbollah enorm steigerte. Nach manchen Quellen zählte die His-bollah vor drei Jahren „20 000 Kämp-fer und 5 000 Sicherheitskräfte“.28

Ihre Popularität erreichte solche Ausmaße, dass sich sogar Nichtschi-iten dem aktiven Widerstand anschlie-ßen wollten und gesonderte Guerilla-einheiten für sie geschaffen wurden, wobei allerdings sichergestellt wurde, dass die Gesamtkontrolle in den Hän-den der „Frommen“ blieb. Nach Ham-zehs Angaben umfasst die Islamische Strömung der Hisbollah sunnitische Gruppen, die ihre Aktivitäten mit der Hisbollah koordinieren, sowie libane-sische Widerstandsbrigaden aus Isla-misten und Nichtislamisten.29 Wäh-rend des 33 Tage andauernden Kriegs koordinierte sie auch ihre Aktivitäten mit unabhängigen Widerstandsorgani-sationen, beispielsweise mit denen un-ter Leitung der Libanesischen Kommu-nistischen Partei.

Die Hisbollah begann nicht als mi-litärische Organisation, und auch heute ist sie viel mehr als das. Ihr Wohlfahrts-netzwerk an Kliniken, Spitälern, Schu-len, Gemeinschaftseinrichtungen und Stipendien wurde massiv ausgeweitet, so dass es nach manchen Darstellun-gen in den südlichen Vororten Beiruts, in der Bekaa-Ebene und im Süden Liba-nons größer ist als das des libanesischen Staats.30 Von ihren medizinischen Ein-heiten wird behauptet, dass sie eine hal-be Million Menschen jährlich behan-deln. Und um ihre Unterstützerbasis zu erweitern, ist sie dazu übergegangen, in ihren Gebieten auch Sunniten, Christen und Drusen zu versorgen.

Sie hat einen modern ausgestatteten TV-Kanal, al-Manar, der „mit seinen Hunderten von Angestellten die Atmos-

27 A N Hamzeh, a.a.O., S.89

28 ebenda, S.75

29 ebenda, S.77

30 ebenda, S.50–55; der Autor listet Zahlen für verschiedene Ausgabenbereiche auf, wobei eine genaue Betrachtung mich vermuten lässt, dass er (oder der Setzer) ein paar Nullen an die falsche Stelle gesetzt hat.

phäre eines Konzerns ausstrahlt“,31 und ihre „Gewerkschaftsabteilung hat Vertreter in der Libanesischen Arbei-terföderation, den libanesischen Ge-werkschaften, der Libanesischen Ver-einigung der Landwirte, der Libane-sischen Vereinigung Hochschulange-stellter, dem Syndikat der Ingenieure und der Libanesischen Studentenverei-nigung“.32

Es ist dieses Netzwerk an volks-nahen Aktivitäten und Organisationen, das den enormen Rückhalt, den die His-bollah in der Bevölkerung hat, erklärt, und das ihr ermöglichte, direkt unter den Kanonenläufen der israelischen Panzer zu operieren. Dieses Netzwerk war auch das Sprungbrett, um sich bis ins Zentrum der libanesischen öffent-lichen Institutionen einzunisten. Lokal-behörden und Parlamentsabgeordnete stehen unter ihrem Einfluss, und seit letztem Jahr hat die Partei zwei Vertre-ter in der Regierung.

Das verwickelt sie allerdings in zwei Sorten von Kompromissen:

Zunächst mit der eigenen religiösen Basis. Die Schiiten sind die größte Minderheit in der libanesischen Gesell-schaft, sie sind dennoch eine Minder-heit, und unter ihnen sind auch andere politische Kräfte außer der Hisbollah. Um unter solchen Bedingungen den Einfluss der Organisation zu festigen, und um der Gefahr, das Land erneut in einen Bürgerkrieg zu stürzen, aus dem Weg zu gehen, hat die Hisbollah-Füh-rung ihre unter Khomeinis Einfluss ur-sprünglich erhobene Forderung nach einem schiitisch-islamischen Staat fal-lenlassen.33

Der parteieigene Historiker der Hisbollah, Kassem, belegt anhand von Zitaten, dass der Koran Zwang in Re-ligionsfragen ablehnt und argumen-tiert, dass „die Schaffung eines isla-mischen Staats nicht über den Um-weg geht, dass er von einer Gruppie-rung oder Abzweig in Beschlag ge-nommen wird, um anschließend ande-ren Gruppierungen aufgezwungen zu werden“. Die Hisbollah, schreibt er, ruft nach der „Implementierung des is-lamischen Systems auf der Grundla-

31 ebenda, S.59

32 ebenda, S.67

33 Eine ausführliche Behandlung der Neuausrich-tung ihrer Politik in dieser Frage findet sich in A Saad-Ghorayeb, „Hizbu’llah, Politics and Religion“, London, 2002, S.34–59.

ge der direkten und freien Wahl durch das Volk und nicht durch Zwangsmaß-nahmen …“. „Wir glauben, dass unse-re politische Erfahrung im Libanon ein Muster zu Tage gefördert hat, das mit einer islamischen Vision innerhalb ei-ner gemischten Gesellschaft harmo-niert – in einem Land, das nicht einer islamischen Denkrichtung folgt.“34 Bei Gemeindewahlen stellte die Hisbollah wirtschaftliche und soziale Fragen in den Vordergrund und „präsentierte ih-re Kandidaten auf einer nichtsektiere-rischen Plattform, wobei sie Ehrlich-keit und Ernsthaftigkeit in der Gemein-dearbeit hervorhob“.35

Damit soll nicht suggeriert werden, dass sich die Hisbollah in eine freiden-kende, liberale Organisation verwan-delt hat. In der Vergangenheit hat sie ihre Gegner mit Waffengewalt zur Rä-son gebracht, in den frühen 1980er Jah-ren traf es manche kommunistische Wi-derstandskämpfer sowie die rivalisie-rende, ebenfalls schiitische Amal (ob-wohl viele kommunistische AktivistIn-nen kurz danach zur Hisbollah wech-selten und Hisbollah heute sowohl mit der Kommunistischen Partei als auch mit Amal kooperiert). Ihre Führer füh-len sich nach wie vor einer religiösen Vision verpflichtet und geben sich große Mühe, in den von ihnen kontrol-lierten Gebieten Zustimmung für ihre Vorstellungen zu gewinnen (beispiels-weise die Verschleierung von Frauen). Da wo sie können, versuchen sie, ih-re Auslegung der Scharia zu verwirkli-chen (die die Rolle islamischer Richter bei der Mediation von Konflikten stark hervorhebt, um die alten Vendetta-Tra-ditionen zwischen den Familien zu bre-chen).36 Die Tatsache aber, dass ihre Anführer auch Nichtschiiten und sogar nichtreligiösen Kräften die Hand rei-chen, um den „großen Satan“ USA und den „kleinen Satan“ Israel zu bekämp-fen, ist ein Element des Widerspruchs zu ihrem eng religiösen Ausgangs-standpunkt und einer der Faktoren hin-ter den in der Vergangenheit erfolgten Spaltungen innerhalb der Hisbollah-Führung.37 Dieser Widerspruch wird noch in dem Maße wachsen, wie der

34 N Qassem, a.a.O., S.31

35 A N Hamzeh, a.a.O., S.123

36 so die Darstellung A N Hamzehs, a.a.O., S.105–108

37 Sowohl Hamzeh als auch Qassem behandeln diese Spaltungen, allerdings von verschiede-nen Standpunkten aus.

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nichtschiitische und nichtmuslimische internationale Widerstand gegen den Imperialismus wächst.

Dieser Widerspruch geht jedoch mit Kompromissen auf einer anderen Ebe-ne einher: mit dem libanesischen Staat, mit den anderen politischen Parteien im Land – einschließlich denen, die sich auf die Seite des Imperialismus geschla-gen haben – und mit den umliegenden arabischen Staaten. Das libanesische politische System beruht auf Deals, die die Anführer der verschiedenen religi-ösen Gruppierungen mit denen anderer Gruppierungen schließen mit dem Ziel, genügend staatliche Förderung einzusa-cken, um sich die Treue ihrer Anhänger-schaft sichern zu können. In einem sol-chen System können enorme Konflikte zwischen den verschiedenen Parteien entflammen und sogar militärisch aus-getragen werden, ohne dass die Wesens-züge des politischen und ökonomischen Systems überhaupt infrage gestellt wer-den.

In der Anfangszeit hatte die Hisbol-lah dieses auf Sektierertum basierende System verurteilt. Jetzt hat sie sich ent-schlossen, ihm beizutreten. Das schließt Wahlvereinbarungen nicht nur mit der antiimperialistischen Linken ein, son-dern ebenfalls mit der proimperialisti-schen Rechten. Bei den Wahlen stellte sie Gemeinschaftslisten mit der Kom-munistischen Partei in Nabatiyyah und Tyrus auf, schloss sich aber in Beirut der Liste von Saad Hariri an, dem mit Saudiarabien liierten Milliardärssohn des ermordeten Premierministers Rafik Hariri. Sie rechtfertigte diesen Deal mit ideologischen und politischen Gegnern mit dem Argument, „das sektiererische Gleichgewicht aufrechterhalten zu wol-len“.38 Den jüngsten Deal schloss sie mit Michel Aoun, dem maronitischen Gene-ral und Premierminister in der Endphase des Bürgerkriegs der 1980er Jahre.

Es wird behauptet, dass solche Deals der Hisbollah während der Konfrontati-on mit Israel einen gewissen Schutz ge-währten. Aoun, nach 15 Jahren im Exil, war bestrebt, seine eigenen Ambitionen auf den Präsidentschaftsposten zu för-dern und unterstützte tatsächlich die Hisbollah in einem gewissen Maße, bei-spielsweise durch die Organisierung der Aufnahme tausender Flüchtlinge in christlichen Dörfern des Mount Leba-non. Der prowestliche Hariri-Block hin-gegen, der die Regierung beherrscht,

38 A N Hamzeh, a.a.O., S.126.

hatte seine Hoffnungen in die Fähig-keit der Israelis gesetzt, die Hisbollah zu zerschlagen, damit er selbst die Kon-trolle über den Süden des Landes erlan-gen könne.39 Einen wirklichen Schutz für die Hisbollah bot nur ihre breite so-ziale Basis und ihre Kampffähigkeit – hätte diese auch nur vorübergehend nachgelassen, hätten die meisten ihrer „Verbündeten“ in treuer Freundschaft zu Washington, Paris oder Riad ihr den Dolch in den Rücken gestoßen. Was di-ese Deals allerdings erreichen, ist, ihren

39 aus dem persönlichen Briefwechsel mit Simon Assaf in Beirut, 6. September 2006

Handlungsspielraum einzuengen.Früher stimmte die Hisbollah ge-

gen Rafik Hariris Haushaltspläne mit dem Argument, die libanesische Regie-rung gerierte sich wie ein „Aufsichts-rat“ und dass Hariri das Land wie eines seiner Unternehmen leite.40 Mit ihrem Beitritt zur Regierung letztes Jahr ent-schloss sie sich, diese Konstruktion zu akzeptieren. Damit schwächt sie aber zwangsläufig ihre Fähigkeit, Maßnah-men zur Besserung der Lebensbedin-gungen der Armen, unter den sie ih-re politische Basis aufgebaut hat, in

40 zitiert in A N Hamzeh, a.a.O., S.121

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Die Hisbollah begann nicht als militärische Organisation, und auch heute ist sie vielmehr als das.

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die Wege zu leiten, und damit auch die Perspektive, den dominierenden Ein-fluss verschiedener sektiererischer Po-litiker auf die jeweilige Anhänger-schaft zu untergraben. Die Hisbollah mag in der Lage sein, bestimmte Wohl-fahrtsleistungen durch ihre eigenen ka-ritativen Netzwerke zu erbringen. Die-se aber sind kein Ersatz für die Sor-te Leistungen, die der Staat erbringen sollte und auch könnte, wenn er nur nicht mit dem neoliberalen Kapitalis-mus verflochten wäre.

Solche Deals unterminieren auch die Fähigkeit der Hisbollah, den Kampf gegen Imperialismus und Kapitalis-mus so zu führen, wie sie möglicher-weise gedenkt. In der Schlussphase des 33-Tage-Kriegs wurde enormer Druck auf die Hisbollah ausgeübt, das end-gültige Waffenstillstandsabkommen zu unterschreiben, und sie gab schließ-lich nach. Im Rahmen des Abkommens durften israelische Streitkräfte im Sü-den Libanons bleiben, die israelische Blockade blieb aufrecht und es kamen französische Truppen ins Land trotz der Übereinkunft zwischen der franzö-sischen Regierung und den USA, dass die Hisbollah entwaffnet werden soll-te. Ihr Anführer Nasrallah erklärte: „Wir sehen hier das vernünftige, das mög-liche und natürliche Resultat der großen Standhaftigkeit, die die Libanesen von ihren verschiedenen Standpunkten aus zum Ausdruck brachten.“41

Die proamerikanische Regierung „drohte zusammenzubrechen“, als ih-re Hoffnungen auf einen schnellen is-raelischen Sieg verflogen. „Ihr nacktes Überleben hing von der Hisbollah ab. Die Partei sieht keine Alternative zum ‚breiten Konsens‘.“ Seit dem Sieg der Hisbollah jedoch „tut die Siniora-Re-gierung ihr Möglichstes, die Wieder-aufbauanstrengungen zu blockieren und zu torpedieren, während sie US-amerikanisches Geld entgegennimmt […] Das jüngste Beispiel ist das Re-gierungsveto gegen die vom Arbeits-minister und Hisbollah-Vertreter in der Regierung vorgeschlagenen Hilfszah-lungen für die, die durch den Krieg ih-ren Arbeitsplatz verloren haben“.42

41 Zitiert von G Achcar in „Lebanon: The 33-Day War and UNSC Resolution 1701“, www.zmag.org/content/showarticle. cfm?ItemID=10767. Dieser Artikel bietet eine hervorragende Dar-stellung des unendlichen Manövrierens wegen des Wortlauts der Resolution.

42 Briefwechsel mit Simon Assaf in Beirut, 6 September 2006

Es handelt sich nicht nur um Kom-promisse in innenpolitischen Fragen. Hisbollah hatte sich lange Zeit auf ihr Bündnis mit Syrien verlassen. Naim Kassem gibt das offizielle Denken der Hisbollah wieder, wenn er sagt, dass „es nur natürlich ist, wenn sich die An-sichten der Hisbollah mit denen Syri-ens decken, denn niemand ist vor Isra-els Ambitionen sicher“, und dass „die Beziehungen zu Syrien … den Eck-stein für die Bewältigung zentraler re-gionaler Verpflichtungen“ bilden.43 Aber das syrische Regime lässt sich nicht von antiimperialistischen, nicht einmal von antizionistischen Prin-zipien leiten. Es stellte willig seine Hil-fe in den Dienst der USA zur Zeit des ersten US-Kriegs gegen den Irak. Und noch davor, 1976, intervenierte Syrien im Libanon, um den zu erwartenden Sieg des Bündnisses von Linken mit PalästinenserInnen in der ersten Phase des Bürgerkriegs zu vereiteln, und da-nach verfolgte es Mitte der 1980er Jah-re das Ziel, die PalästinenserInnen am Wiederaufbau von Militärbasen im Sü-den zu hindern. Kassem räumt ein: „Sy-rien massakrierte 27 Parteimitglieder, als es in Beirut 1987 einmarschierte, um dem Bürgerkrieg ein Ende zu setzen.“44 Es ist ein offenes Geheimnis, dass Sy-rien einen Deal mit Israel (und auch den USA) schon morgen schließen würde, wenn es die von Israel 1967 besetzten Golanhöhen zurückbekäme.

Die Hisbollah schaut aber nicht nur auf Syrien. Kassem besteht darauf, dass keiner der arabischen Staaten, möge er durch den Imperialismus und den Zi-onismus noch so sehr kompromittiert sein, gestürzt zu werden brauche. Sie „müssen eine Reihe Veränderungen mit dem Ziel einer Versöhnung mit ih-ren Völkern in die Wege leiten“45, und „aktive soziale Kräfte müssen sich an-strengen und zu einer positiven Trans-formation mit politischen Mitteln unter Ausschluss von bewaffneten Konflikten beitragen“.46 Aber „wer auch immer den Slogan von der Befreiung der ara-bischen Regimes als Voraussetzung für die Befreiung Palästinas aufgreift, ist auf dem Irrweg und verkompliziert le-diglich die Aufgabe der Befreiung“.47

Im Einklang mit dieser Herange-

43 N Qassem, a.a.O., S.243

44 ebenda, S.240

45 ebenda, S.243

46 ebenda, S.244

47 ebenda, S.245

hensweise „[…] begrüßt die Hisbol-lah die Beteiligung Qatars im Süden. Die Qataris haben trotz ihrer engen Be-ziehungen mit den USA und mit Israel grünes Licht erhalten, den Süden wieder aufzubauen.“48

DIE KLASSENBASIS DER HIS-BOLLAH

Indem sie sich auf Deals mit dem eige-nen Staat verlässt und eine revolutio-näre Haltung in Bezug auf andere Staa-ten ablehnt, läuft die Hisbollah Gefahr, den gleichen Weg einzuschlagen, den die PLO seit so vielen Jahren beschrei-tet. Wenn sie das tut, wird sie ihren Sieg des Sommers nicht in eine aktive Stra-tegie gegen die Herrschaft des israeli-schen Staats über die PalästinenserInnen oder die imperialistischen Pläne für die gesamte Region ummünzen.

Durch ihre Vorgehensweise verfängt sich die Hisbollah in Deals und Kompro-missen. Das Netzwerk an Wohlfahrtsor-ganisationen, das zur Zementierung ih-rer Basis in der Bevölkerung eine so wichtige Rolle spielt, ist nicht vom Him-mel gefallen. Es muss finanziert werden. Die Geldmittel speisen sich im Wesent-lichen aus zwei Quellen: zum einen dem iranischen Staat, in dem einflussreiche politische Kräfte agieren, die sofort ei-nen Deal mit den USA schließen wür-den, wenn Iran als bedeutende Regio-nalmacht anerkannt würde, und zum an-deren schiitischen Mittelschichten und Geschäftsinteressen im Libanon und im Ausland. Nach Hamzah ist die Hisbol-lah auf „Spenden von Individuen, Grup-pen, Geschäften, Unternehmen und Banken im Lande und von deren Ge-genspielern in Ländern wie USA, Kana-da, Lateinamerika, Europa und Austra-lien“ angewiesen sowie auf parteieige-ne Geschäftsinvestitionen in „Dutzende Supermärkte, Tankstellen, Einkaufspas-sagen, Restaurants, Bauunternehmen und Reisebüros“, die von „Libanons freier Marktwirtschaft profitieren“.49 Da überrascht es nicht, wenn eine Orga-nisation, deren Überleben so sehr vom reibungslosen Funktionieren innerhalb des Kapitalismus abhängt, ein „konser-vatives“ Wirtschaftsprogramm50 daheim vertritt und den Sturz von benachbarten

48 Briefwechsel mit Simon Assaf in Beirut, 6 September 2006

49 N Qassem, a.a.O., S.64

50 Diese Beschreibung habe ich einem Gespräch mit Gilbert Achcar entnommen.

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arabischen Regierungen ablehnt. Das er-innert einen daran, wie sehr der soziale Radikalismus der IRA/Sinn Fein durch ihre Abhängigkeit von Geldern wohl-habender Unterstützer in den USA ge-bremst wurde, noch während sie einen Guerillakrieg im Norden Irlands führte.

Die Arbeit im Rahmen des Systems kann die Hisbollah, wie damals die PLO, in anderer Hinsicht negativ beein-flussen. Ihre Kompromisse bedeuten, dass zur Aufrechterhaltung ihrer poli-tischen Netzwerke die radikalen, anti-imperialistischen und antizionistischen Glaubensführer an der Spitze der Orga-nisation sich auf eine Schicht aufstre-bender Angehöriger höherer Berufe ver-lassen müssen. „Die von der Hisbollah unterstützten KandidatInnen und Lis-ten im Jahr 2004 bestanden hauptsäch-lich aus Freiberuflichen – Ingenieu-rInnen, ÄrztInnen, RechtsanwältInnen und Geschäftsleuten“.51 Mit solchen Leuten in verantwortlichen Positionen für die Umsetzung ihrer Politik wundert es einen nicht, wenn die im Aktionspro-gramm für die Kommunalwahlen fest-gehaltenen wirtschaftlichen und poli-tischen Forderungen kaum radikaler als die von New Labour ausfallen:• Ermunterung der BürgerInnen, eine

aktivere Rolle im Auswahlverfahren für Entwicklungsprojekte zu spielen.

• Die Funktionen und Befugnisse der Gemeinden in Bezug auf Bildungs-, Gesundheits- und sozioökonomische Einrichtungen erweitern.

• Einbeziehung von fachlich qualifi-zierten Kräften in Entwicklungspro-jekte.

• Finanzierung von Entwicklungsquel-len sowohl durch Gemeindeeinkünf-te als auch durch Spenden.

• Effektive Kontrolle öffentlicher Ar-beiten und Verhinderung von Unter-schlagungen.

• Erneuerung der physischen und ad-ministrativen Strukturen der Gemein-den und Bereitstellung von Compu-teranlagen.52

DIE AuSWIRKuNGEN DES SIEGS

Hisbollah hat im Sommer einen bemer-kenswerten Sieg davongetragen, der Is-raels Ansprüche zurechtstutzte, und so-mit all jenen Kräften Auftrieb gegeben, die nach grundsätzlicher Veränderung in

51 A N Hamzeh, a.a.O., S.135

52 ebenda, S.123

ganz Nahost streben. Die Hisbollah ist jedoch nicht das politische Werkzeug zur Erreichung dieser Veränderung. Das liegt nicht in erster Linie an ihren religi-ösen Vorstellungen selbst, sondern viel-mehr daran, dass letztere Klassenkräf-te überdecken, die nicht über einen be-stimmten Punkt in ihrer Konfrontation – weder mit Israel noch mit dem Imperia-lismus – hinausgehen können. Es muss immer wieder gesagt werden: In keinem Land kann der Imperialismus durch ei-nen Kampf besiegt werden, der sich auf dieses Land beschränkt, genauso wenig wie der Sieg über den Zionismus durch einen auf Palästina beschränkten Kampf denkbar ist. Was erforderlich ist, ist ein Durchbruch in einem Land, der einen revolutionären Prozess in der gesamt-en Region auslöst. Der Sieg der Hisbol-lah ist ein Beitrag dazu, weil er optimis-tischere Visionen vom Erreichbaren er-öffnet – genauso wie die Niederlage von 1967 die AktivistInnen der Region in ei-nen depressiven Pessimismus stürzte.

Kurzfristig wird er wahrscheinlich die Anziehungskraft bestimmter Formen des Islamismus erhöhen. Wobei es auch eine bedeutende Verschiebung in der Be-liebtheit verschiedener Auslegungen des Islams geben kann. Die Niederlagen der Vergangenheit begünstigten enge Aus-legungen des Islams, die religiöse Rein-heit auf der einen und elitäre Formen in-dividualistischer, direkter Aktionen von der dschihadistischen Sorte auf der ande-ren Seite betonten. Da wo diese kläglich versagten, wie im Fall der Herausforde-rung des ägyptischen und des algerischen Staates, fielen viele AktivistInnen auf milde Formen des religiösen Reformis-mus zurück. Die Betonung der religiösen Reinheit hatte auch die Auswirkung, die-jenigen mit einer bestimmten religiösen Interpretation gegen jene mit einer ande-ren Interpretation aufzustellen – nicht nur den Islam gegen andere Religionen, son-dern auch Sunniten gegen Schiiten. Sol-che Spaltungen konnten dann durch den Imperialismus und ihre Agenten sowie durch opportunistische Karrieristen auf der Suche nach einer eigenen politischen Basis manipuliert werden, wie es in Pa-kistan oder – mit viel blutigeren Konse-quenzen – im Irak der Fall war.

Der Sieg der Hisbollah wird sich ge-gen diese Trends auswirken. Hisbollahs eigenes Beispiel wird als Beleg dienen, dass Bündnisse über religiöse Grenzen hinweg möglich sind. Die arabischen Re-gimes sind schon jetzt besorgt wegen der

Anziehungskraft des Sieges der Hisbol-lah auf ihre eigenen sunnitischen Mehr-heiten. Es geht aber um viel mehr. Siege erweitern die Horizonte von Menschen. Auf einmal sehen sie Möglichkeiten, die zuvor verborgen waren. Und Beispiele antiimperialistischer Aktionen in ande-ren Teilen der Welt, wie Antikriegsde-monstrationen in Europa und den USA oder Hugo Chávez Rückruf des venezo-lanischen Botschafters aus Israel, kön-nen den Menschen das Bewusstsein ver-mitteln, dass sie nichtmuslimische Ver-bündete haben, genauso wie sie in Ge-stalt der bestehenden arabischen Regi-mes auch muslimische Feinde haben. Dabei ist es wichtig, stets zu betonen, dass die Methoden der Hisbollah das Gegenteil von denen al-Qaidas sind. Die Hisbollah verurteilt nicht nur in Worten die Methode, Bomben zu legen, denen Zivilisten im Westen oder der Dritten Welt zum Opfer fallen. Ihr eigener mili-tärischer Erfolg ist das direkte Ergebnis ihrer Massenarbeit. Ihre Beschränkung liegt darin, dass sie die Notwendigkeit von Massenarbeit auch unter jenen, die unter dem Imperialismus und seinen örtlichen Verbündeten in anderen Teilen der arabischen Welt – den ArbeiterInnen und der bäuerlichen Bevölkerung Ägyp-tens, Syriens, Jordaniens und anderswo – leiden, nicht sehen. Ihr Sieg wird es jedoch einfacher machen für diejenigen, die diese Einsicht teilen, eine Zuhörer-schaft zu finden, nicht zuletzt auch unter denjenigen, die manchen islamistischen Vorstellungen anhängen.

Chris Harman ist führendes Mitglied der bri-tischen Socialist Workers Party und Herausge-ber ihrer Theorie-Zeitschrift International Soci-alism Journal. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Auf Deutsch erhältlich sind u.a. „Die verlorene Revolution – Deutschland 1918–1923“, „Impe-rialismus – vom Kolonialismus bis zu den Krie-gen des 21. Jahrhunderts“, „Islamischer Funda-mentalismus – Befreiungsbewegung oder neuer Faschismus?“, „Antikapitalismus – Theorie und Praxis“, „Der Irrsinn der Marktwirtschaft“ und die Einführung „Das ist Marxismus“ (erhält-lich über edition-aurora.de, Basaltstr.43, 60487 Frankfurt).

Aus dem Englischen von David Paen-son, in Zusammenarbeit mit Rosema-rie Nünning

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Die KP Libanon ist eine nicht-konfes-sionelle Partei und im nationalen Wi-derstand engagiert. Wie sind ihre Be-ziehungen zur Hisbollah?

Marie Nassif-Debs: Unser Verhält-nis hat sich während der letzten 20 Jahre erheblich verändert. Vor 20 Jah-ren führte Hisbollah einen gnaden-losen Krieg gegen die Kommunisten. Die hauptsächlich von der Da’wa – einer islamisch fundamentalistischen Partei, die ihre Basis im Irak und Iran hatte und mehrheitlich aus Schiiten bestand – repräsentierte fundamenta-listische Strömung sah in der KPL ih-ren absoluten Gegensatz. Ihr ging es darum, jedweden nichtkonfessionellen Ansatz oder unvoreingenommene und abweichende Gedanken zu unterdrü-cken. Das Verhältnis zu uns war da-her sehr angespannt und es ging so-weit, dass die Hisbollah mehrere Ge-nossen von uns umbrachte, hauptsäch-lich Intellektuelle und Professoren. Beispielsweise haben sie Mahdi Amil ermordet, ein bedeutender Intellek-tueller und Philosoph, der sich mit der Materie des Kolonialismus und der Religion befasste. Oder Hassan Mroue, auch er ein bedeutender Phi-losoph, dessen Hauptwerk: „Die ma-terialistischen Tendenzen des Islam“ ins Französische übersetzt wurde. Ur-sprünglich war er Scheich und woll-te in Najaf im Irak studieren. Als er vor Ort feststellte, dass dies sein Ding nicht war, ist er Kommunist geworden und hat ein bedeutendes Werk hinter-lassen.

Es fanden auch kleinere Kämp-fe statt, z.B. in Beirut oder in ver-schiedenen Regionen der West-Be-kaa- Ebene – überall dort, wo unglei-che Kräfteverhältnisse herrschten. Di-es erleichterte es auch den pro-sy-rischen Kräften, die Kommunisten aus der nationalen Widerstandsbewegung zu verdrängen. Insofern bestand ei-ne Art Entente zwischen den pro-sy-

rischen Kräften und der Hisbollah und auch anderen Kräften. Wir sind dabei regelrecht verfolgt worden und eini-ge Genossen wurden bei Einsätzen im Rahmen nationaler Widerstandsakti-onen durch Schüsse aus den eigenen Reihen, also des nationalen Wider-stands, getötet.

Später dann entwickelten sich die Beziehungen positiv. Man saß gemein-sam in israelischen Gefängnissen und Militärlagern, wobei die Kommunis-ten stärker als die Hisbollah betroffen waren, und so entwickelten sich Kon-takte zwischen den Kadern der beiden Organisationen. Diese Kontakte wur-den dann nach der Freilassung mehr oder weniger intensiviert.

Außerdem entwickelte sich die Hisbollah auch ideologisch, v. a. nach der Wahl von Hassan Nasrallah zum Generalsekretär. Denn er ist in erster Linie Araber und danach erst Moslem – eine Einschätzung, in der mir viele Genossen zustimmen. Das heißt, dass er die Dinge mit den Augen eines Ara-bers sieht: Er will Jerusalem nicht be-freien, weil es eine der heiligen Stät-ten des Islam ist, sondern weil die Pa-lästinenser in das Land ihrer Väter zu-rückkehren und einen eigenen Staat haben müssen … Seine Sichtweise unterscheidet ihn von seinen Vorgän-gern. Unsere Beziehungen gestalteten sich daraufhin mehr oder weniger ent-spannt, mal gut, mal weniger.

… und inzwischen?Marie Nassif-Debs: Besonders

nach dem jüngsten Überfall der Israe-lis haben unsere Beziehungen einen Aufschwung erlebt. Wir hatten von uns aus zum Aufbau einer nationalen Widerstandsfront aufgerufen und Mi-lizen gestellt. Diese hatten sich dem israelischen Einmarsch und seinen Militärkommandos in etlichen Dör-fern der Bekaa-Ebene in der Nähe von Balbeck entgegengestellt, so auch

dem Kommando, das nach Jamaliyy-eh – einem Ort mit kommunistischer Mehrheit – eindringen wollte. Dabei sind drei unserer Genossen ums Le-ben gekommen.

Allerdings gibt es auch noch eine gewisse Skepsis in unsrem Verhältnis zur Hisbollah, da es weiterhin strittige Punkte gibt. Ein Beispiel ist die Reli-gionsfreiheit, wo ihre Positionen noch immer sehr unklar sind, auch wenn es hier Fortschritte gibt.

Im Sommer 2005 nach dem Rück-zug der syrischen Streitkräfte lagen unsere Positionen auseinander. Die Hisbollah glaubte – um sich gegen die Resolution 1559 zu wappnen – bei den Parlamentswahlen ein Bündnis mit pro-syrischen Kräften eingehen zu müssen, die sich dann zu Pro-Ameri-kanern gewandelt haben, nämlich die Libanesischen Kräfte, Hariri (Mus-taqbal) und die PSP von Dschum-blat. Dank dieser Allianz erlangten die Kräfte des 14. März die Mehrheit – wie Nasrallah inzwischen einräumt – und konnten die Regierung bilden. Denn hätten die Hisbollah sich mit den Kommunisten und bestimmten Kräften aus dem Lager Aouns verbün-det, wäre diese Mehrheit nicht zustan-de gekommen.

Insofern halten wir die Hisbollah zwar für eine Partei des Widerstands-lagers, die Teil der Befreiungsbewe-gung auf nationaler und arabischer Ebene ist, aber wir haben Differenzen mit ihr in der Frage, wie mit der poli-tischen und wirtschaftlichen Situation im Libanon umzugehen ist. Allerdings gibt es auch da Fortschritte, besonders in den letzten vier Monaten, seitdem sie sich für die Großdemonstration am 10. Mai außerordentlich engagiert hat. Andererseits gibt es bis heute wenig klare Aussagen zu einer Vielzahl pro-blematischer Fragen. Beispielsweise ist ihre Position in der aktuellen Pri-vatisierungskampagne der Energie-

Die Hisbollah aus der Sicht der KP-LibanonInterview mit Marie nassif-Debs

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versorgung im Libanon recht lau und wenig kämpferisch, obwohl sie neben einem weiteren Ressort das Energie-ministerium innehat.

Ein weiteres Problem ist ihre un-klare Haltung zur Systemfrage und zu den politischen Reformen im Sinne einer modernen und nicht-konfessi-onellen Gesellschaft. Neben diesen beiden wesentlichen Streitfragen gibt es eine dritte: Wir waren gegen die Mandatsverlängerung des Staatsprä-sidenten Emile Lahoud im Jahr 2004, während die Hisbollah dafür war.

Seht ihr Chancen für eine grundle-gendere Entwicklung der Hisbollah?

Marie Nassif-Debs: Hisbollah be-steht mehr oder weniger aus zwei großen Flügeln: der Da’wa, die nur den Islam etc. im Kopf hat, und denje-nigen, die eine Entwicklung durchge-macht haben und von Gewaltenteilung und (politischen) Alternativen etc. re-den. Meines Erachtens bleibt dieser Tendenz gar nichts anderes übrig, als sich weiter zu entwickeln, wenn sie nicht zum zweiten Mal um die Früch-te ihres siegreichen Engagements ge-bracht werden will … jedenfalls blei-ben wir mit ihnen im Gespräch. Von Sieg rede ich insofern, als wir der im-merhin größten Militärmacht der Re-gion – Israel – im Juli/August erfolg-reich die Stirn geboten haben.

Und wenn die Hisbollah diesen Sieg für sich und die Libanesen aus-kosten will, dann muss sie sich weiter entwickeln oder wir landen wieder am gleichen Punkt wie im Jahr 2000, als unser Land zum ersten Mal in der ara-bischen Geschichte – und zwar dank des islamischen Widerstands – befreit worden war und der Sieg aber aus re-ligiösen Motiven verspielt wurde. Ein Teil der Hisbollah-Kader hat di-es meines Erachtens begriffen und wir hoffen, dass sie sich in diesem fortlau-fenden Richtungsstreit in der Partei durchsetzen können und nicht wieder in die alten sektiererischen, d. h. kon-fessionellen Positionen verfallen.

Wird die nationale Widerstandsfront, die sich während des Krieges gebildet hat, Bestand haben?

Marie Nassif-Debs: Wir suchen weiterhin die Diskussion mit der His-bollah und den Anhängern Aouns über ein politisches Bündnis. Ein Großteil der Anhänger Aouns sieht in ihm je-manden, der sich den christlichen Fa-schisten entgegengestellt hat. Unter der Jugend gibt es eine regelrechte aounistische Bewegung, v. a. an den Universitäten, die sich ursprünglich für die Befreiung von der syrischen Vorherrschaft engagiert, sich dann aber ein Verständnis für die arabischen Belange angeeignet hat und sich mit den grundlegenden Problemen des Li-banons und der Notwendigkeit von Reformen befasst. Dies reicht weit über den Kampf gegen die Korrupti-on hinaus bis hin zur Forderung nach wirklichen gesellschaftlichen Ände-rungen außerhalb des Islamismus. Da-durch wird der Weg für neue Konstel-lationen frei. Der ehemalige Premier-minister Selim Hoss ist ebenfalls sehr aufgeschlossen der arabischen Fra-ge gegenüber und es gibt eine Über-einstimmung in wesentlichen Fragen. Das heißt, wir bemühen uns um das Zustandekommen einer Regierung auf der Grundlage eines nationalen Bünd-nisses und fordern daher vorgezogene Neuwahlen des Parlaments auf Basis eines nicht-konfessionsgebundenen Verhältniswahlrechts mit anschlie-ßender Wahl des Präsidenten der Re-publik. Dafür werden wir Anträge zur Verfassungsänderung einbringen, um die Konfessionsgebundenheit in Poli-tik und Verwaltung abzuschaffen.

Und über all dies diskutiert ihr mit der Hisbollah?

Marie Nassif-Debs: Selbstver-ständlich! Wir argumentieren, dass ei-ne große und so charismatische Per-sönlichkeit wie Nasrallah eine Gali-onsfigur im gesamten und nicht nur arabischen Nahen Osten darstell, er aber nicht Staatspräsident im Libanon werden kann. Und sie verstehen dies auch! Wenn man will, dass das Volk an die Schaltstellen der Staatsmacht gelangen kann, darf es keine Bindung an eine Konfession geben. Und auch wenn er zur Wahl anträte und die Stim-men nahezu aller Schiiten erhielte und

er auch bei vielen Christen Popularität genießt und er insofern durchaus eine Mehrheit erzielen könnte, so könnte er noch immer nicht Präsident werden!

Ein internationales Renommee sagt angesichts der klerikalen Herrschafts-strukturen überhaupt nichts aus über die Bedeutung im eigenen Land. Von den 128 Abgeordneten sind die Hälf-te Moslems und davon wiederum ein Drittel Schiiten. Dadurch limitiert sich automatisch die Zahl seiner Abgeord-neten und Ministersitze, die quotiert werden. Ergo gibt es nur die Alterna-tive, diese Quotierung abzuschaffen, damit alle Strömungen tatsächlich und auf der Grundlage programmatischer Aussagen zur Sozial- und Wirtschafts-politik miteinander konkurrieren und untereinander Bündnisse bilden kön-nen. Inzwischen sind viele Leute zu dieser Überzeugung gelangt… Außer der KP und ein paar linken Gruppie-rungen sind alle politischen Parteien konfessionell ausgerichtet: Hisbollah und Amal sind schiitisch, die Libane-sischen Kräfte maronitisch, zum ge-ringen Teil auch griechisch-orthodox, die PSP ist drusisch, die Zukunftspar-tei von Hariri ist sunnitisch usw. Un-ser System reproduziert sich selbst, da all seine Abgeordneten auf konfessio-neller Grundlage gewählt werden und Gesetze zur Wahrung ihrer eigenen In-teressen machen. Unsere Bürgerkriege basierten auf Glaubensgegensätzen, obwohl es wirklich grundlegende Pro-bleme in sozialer, politischer und wirt-schaftlicher Hinsicht gegeben hat, die aber unter den Tisch gefallen sind.

Das Interview mit Marie Nassif-Debs führten M. Court und N. Qua-lander am 21.9.2006 in Paris.

M. Nassif-Debs ist Mitglied im Politischen Büro der KPL, Feministin, aktive Gewerk-schafterin, Schriftstellerin und Journalistin. Sie ist Mitglied im Nationalen Treff zur Ab-schaffung der Frauendiskriminierung.

Übersetzung: MiWe

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1. Die imperialistische Rechte schla-genManuel Rosales, der Gouverneur von Zulia, der Provinz mit den größten Öl-vorkommen, steht den separatistischen Kräften nahe und wird von allen Kräf-ten der venezolanischen Rechten und dem US-Außenministerium unterstützt. Er ist der Kandidat einer Rechten, die mit Besessenheit alles zerstören will, was der revolutionäre Prozess seit 1998 in Gang gebracht hat. Geht es nach dem Willen dieser Rechten, müssen die de-mokratischen Errungenschaften, die das venezolanische Volk durch seinen Kampf seit 1989 durchgesetzt hat – et-wa bei der Niederschlagung des Putsch-versuches 2002, bei den Aussperrungen im Winter 2002/2003 und den mehrfa-chen Versuchen der militärischen und ökonomischen Destabilisierung – un-verzüglich beseitigt werden, um zu ei-ner Situation zurückzufinden, in der der Staat strikt im Interesse der besitzenden Klassen agiert.�

1 Schon in den Morgenstunden war die Wahl-beteiligung ungewöhnlich hoch. Vor vielen der insgesamt 33 000 Wahllokale hatten sich schon vor Sonnenaufgang lange Schlangen gebildet. In vielen Städten sind die Wähler von Chávez-Anhängern schon um drei Uhr morgens mit Feuerwerken oder mit Lautsprecherfahrzeugen geweckt worden. Bei den Parlamentswahlen

Die Revolution muss vertieft werden! Stimmt für chávez!Bei den Präsidentschaftswahlen am �. Dezember wurde Hugo chávez mit 62,87% der Stimmen wiedergewählt. Sein Herausforderer Manuel Rosales von der rechten Opposition erhielt �6,88%.

Bemerkenswert ist auch die für Venezuela ausgesprochen hohe Wahlbeteiligung von 74,75%.� chávez erzielte die Mehrheit in allen 24 Bundesstaaten. Sogar in der im Westen gelegenen erdölreichen Re-gion Zulia (hier war Rosales bis zu seiner Aufstellung als Präsident-schaftskandidat Gouverneur) gewann chávez mit 50,57 gegen 49,26 Prozent.

Angesichts der damit zu Tage getretenen Kräfteverhältnisse zog Rosales es vor, die Wahl nicht anzufechten. Zur Bedeutung der Wahl-en und zur Bewertung der Lage in Venezuela dokumentieren wir den Aufruf der IV. Internationale vom 22. Oktober (seit Mitte november auf Deutsch auf unserer Internetseite), den wir auch nach der Wahl den geneigten LeserInnen zur Lektüre empfehlen.

Die Redaktion

Erklärung der IV. Internationale

Wir sind nicht immer mit Hugo Chávez einverstanden, was seine Politik auf internationalem Gebiet betrifft, wo er manchmal Internationalismus mit Di-plomatie verwechselt. Das ist beispiels-weise der Fall bei den Blankoschecks, die er der weißrussischen und der ira-nischen Regierung sowie der Kommu-nistischen Partei Chinas ausstellte. Dass jemand der Macht der Vereinigten Staa-ten die Stirn bietet, kann nicht heißen, dass man bestimmte Regierungen als fortschrittlich klassifiziert, die gegen die Interessen ihrer eigenen Bevölkerung handeln, selbst wenn das im Rahmen ei-ner internationalen Politik geschieht, die mit der Ölabhängigkeit Venezuelas zu-sammenhängt.

Dennoch stellen diese Differenzen insgesamt unsere entschiedene Unter-stützung für zahllose Positionen der ve-nezolanischen Regierung und für ihre kompromisslose Linie gegenüber den USA nicht in Frage. Die konsequente Opposition gegen die imperialistischen Kriege, die Abberufung des Botschaf-ters in Israel als Ausdruck des Protestes gegen den Krieg im Libanon, die De-nunzierung der bewaffneten Interventi-

Ende 2005 hatte es eine Enthaltung von über 70 Prozent gegeben, weil die Opposition zu ei-nem Boykott aufgerufen hatte.

on in Haiti, die schonungslose Verurtei-lung der Politik Tony Blairs im Nahen Osten, die offene Unterstützung der la-teinamerikanischen Linken, die ausge-dehnten diplomatischen Aktivitäten in Afrika (Venezuela ist mit Kuba das la-teinamerikanische Land mit der größ-ten Präsenz auf dem afrikanischen Kon-tinent) und im Mittleren Osten, all das hat Chávez zu einer der herausragends-ten Figuren des antiimperialistischen Kampfes weltweit gemacht.

Ein klarer Sieg von Chávez und dem venezolanischen Volk käme einem Auf-ruf zum kontinentweiten Kampf gleich. Und er wäre ein neuerlicher Beweis, dass man bei seinen Positionen stand-haft bleiben kann – auch dann, wenn man Staatspräsident ist.

2. Für ein sozialistisches Venezuela, für die Stärkung der Selbstorganisa-tion und den Bruch mit dem kapita-listischen Modell

In Venezuela bleibt die Situation ge-prägt von der Entwicklung eines revolu-tionären Prozesses. Es findet ein offener Kampf zweier Strömungen statt. Die einen meinen, dass das Wichtigste be-reits getan ist und dass es sich in der Zu-kunft darum handelt, in der Tagespolitik das Bestmögliche für die Bevölkerung zu tun, aber im Rahmen des real exis-tierenden weltweiten kapitalistischen Systems und innerhalb dessen eine Ni-sche für Venezuela zu finden. Die an-deren, die für eine Beschleunigung und Vertiefung des Prozesses eintreten, seh-en sich darin oftmals von Chávez unter-stützt und sind wahrscheinlich im Land in der Mehrheit. Sie sind der Meinung, dass die erreichten demokratischen und sozialen Errungenschaften nur einen ersten Schritt auf dem Weg zu dem Ziel darstellen, das sie als „Sozialismus des XXI. Jahrhunderts“ bezeichnen, etwas, was der Gewerkschaftsverband UNT als „Sozialismus ohne Bürokraten, Kapita-listen und Großgrundbesitzer“ definiert.

Die organisierte Arbeiterschaft in den Betrieben spielt eine immer bedeu-tendere Rolle im venezolanischen Pro-

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zess und verbündet sich mit der Avant-garde, die sich in den Armenvierteln au-tonom organisiert, um sich gegen die Polizei der Rechten zur Wehr zu set-zen, die Lebensbedingungen der Armen zu verbessern und auch direkt die Stadt-teile zu verwalten.

Die Rebellion gegen die verkruste-ten Bürokraten des Staatsapparats, ob sie nun aus dem alten Regime kom-men oder unter der Ägide des „boliva-rianischen“ Blocks eingesetzt wurden, trifft auf mannigfache Hindernisse, aber sie schreitet voran, innerhalb der Ge-werkschaftsbewegung, unter den Bau-ern, in den Armenvierteln, ja sogar bei den Wahlkämpfen. Sie ist ein zentrales Element des Fortschreitens des bolivari-anischen Prozesses.

Die Kämpfe um Land, die immer be-deutenderen Mobilisierungen der Ärms-ten für neue und bessere öffentliche Ver-sorgung, für Zugang zu Gesundheitswe-sen, Bildung und Wasser, das Bestreben, die Macht so direkt wie möglich durch das Volk selbst ausüben zu lassen, illus-trieren die Vertiefung des revolutionären Prozesses und die Bereitschaft des ve-nezolanischen Volkes, sich weiter zu mobilisieren.

Die kämpferischsten Sektoren, die sich in der Gewerkschaftszentrale UNT, der Front Ezequiel Zamora (Bauern-verband) und der Nationalen Assozi-ation der freien kommunitären Medi-en finden, und die politischen Kräf-te wie die Partei Revolution und Sozia-lismus (PRS), das „Projekt Unser Ame-rika“ (PNA) oder die Studentenorgani-sation Utopia, ebenso wie die Tausen-de nicht organisierter, aber für den Pro-zess der Selbstorganisation des Volkes entscheidender AktivistInnen – alle di-ese sagen schon seit Jahren: Um al-le Energien freizusetzen, damit die Re-volution überlebt und sich durchsetzt, muss mensch die politischen Struktu-ren des Landes angreifen, den Staatsap-parat, der die Bürokratie, die Korrupti-on und den Klientelismus reproduziert, zerstören, die Besitzer der großen Län-dereien, der Banken, der Stahlwerke at-tackieren und die nationale Debatte über die Leitung der PDVSA (staatliche Öl-gesellschaft) eröffnen, auf die die Arbei-ter der Ölindustrie warten, und diese der (Mit)verwaltung durch die Arbeiter un-terstellen.

Das ist der Sinn unserer Hilfe für die-se politischen Kräfte und unseres Enga-gements zur Unterstützung ihrer Kämp-

fe in unseren jeweiligen Ländern, denn nur diese Kämpfe und die unseren er-möglichen es, zum Aufbau einer Gesell-schaft zu gelangen, die vom Kapitalis-mus befreit ist.

Wenn Chávez wiedergewählt wird, dann stehen die Arbeiter und die Armen Venezuelas vor neuen Kämpfen. Jeder

Sieg der Venezolaner ist eine neue Hoff-nung für die Kämpfe der ArbeiterInnen und Völker weltweit.

3. Welche politische Organisations-form braucht die bolivarianische Re-volution?Das Bild der politischen Partei als Or-ganisationsform hat durch 50 Jahre Kli-entelismus, Korruption und Führung des Landes durch die proimperialisti-sche Bourgeoisie schweren Schaden genommen. Dennoch stellt sich heu-te nach acht Jahren des revolutionären Prozesses mit aller Schärfe die Frage: Welche Partei muss aufgebaut werden und welche Form muss sie annehmen, um die bolivarianische Revolution wei-tertreiben und vertiefen zu können?

Wir unterstützen alle Versuche, ei-ne politische Organisation zu schaffen, die den Zusammenschluss der radika-lisierten Sektoren, auf die wir uns wei-ter oben bezogen haben, möglich macht. Die Allianz zwischen der Union Popular de Venezuela (Volksunion Venezuelas), der PRS und der klassenkämpferischen Tendenz der UNT, oder der Vorschlag der Liga Socialista, einen Kongress zur Organisierung der SozialistInnen vor-zubereiten, zeigen, dass es bedeutende Sektoren gibt, die sich der Notwendig-

keit einer revolutionären Organisation bewusst sind.

Auf einer umfassenderen Ebene hat Chávez die Gründung einer föderalen Partei vorgeschlagen, die alle Organi-sationen zusammenführen soll, die den bolivarianischen Prozess unterstützen, und präzisiert, dass diese Partei eine

„nicht reformistische“ sein solle. Dieser Vorschlag ist interessant.

Jedoch könnte diese Organisation nicht von den gleichen politischen Kräf-ten mit aufgebaut werden, gegen die die Volksorganisationen tagtäglich kämp-fen, wenn sie sich gegen die Bürokratie wenden, für Fortschritte bei der Agrar-reform eintreten oder dafür, die Beteili-gung der ArbeiterInnen an der Führung der Wirtschaft auszuweiten. Die Grün-dung einer solchen Organisation wür-de zumindest zwei Probleme lösen, vor denen der bolivarianische Prozess steht: Das Eigengewicht der Person Chávez – ein Faktor, der die Rolle der venezola-nischen Massen schwächt – und die Ver-mischung von Diplomatie und internati-onalistischer Politik.

Der Prozess des Aufbaus einer sol-chen Partei müsste es in der Folge er-möglichen, die strategischen Diskussi-onen über den Weg zu führen, den es einzuschlagen gilt, um den Kapitalis-mus zu besiegen und die Basis für eine sozialistische Gesellschaft zu schaffen.

Erklärung des Exekutivbüros der IV. Internatio-nale, 22. Oktober 2006

Übers.: Thadeus Pato

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Im ersten Wahlgang am 1. Oktober 2006 war eine von der Politik ent-täuschte Wählerschaft mit einer Pola-risierung zwischen den beiden großen politischen Blöcken des Landes, dem Block um die Arbeiterpartei (PT) und dem um das Bündnis aus PSDB und PFL herum, konfrontiert. Diese Pola-risierung drückte sich vor allem in den letzten Wochen vor der Wahl durch den Gegensatz zwischen den Präsi-dentschaftskandidaten Ignacio Lula da Silva und Garaldo Alckmin aus.

Bei 46,66 Mio. Stimmen hat Lula 48,61% der abgegebenen Stimmen er-halten. Alckmin hat 39,97 Mio. Stim-men oder 41,64% bekommen. Die Kandidatin der PSOL und der Links-front, Heloisa Helena, kam mit 6,575 Mio. Stimmen oder 6,85% auf den dritten Platz. Schließlich brachte es der Senator Cristovam Buarque von der PDT – die im allgemeinen als po-pulistische Linkspartei eingeschätzt wird – auf 2,54 Mio. oder 2,64% der Stimmen; alle anderen KandidatInnen bekamen nur geringe Stimmanteile.

Im Unterschied zu den letzten Wahlen war der Wahlkampf diesmal von einer großen Apathie gekenn-zeichnet. Oberflächliche Erklärungen schreiben diese Apathie den neuen Wahlregelungen zu, die den Wahl-kampf einschränken, der früher meh-rere Monate lang auf die WählerInnen niederprasselte. Ernsthaftere Stimmen sprechen von den frustrierten Erwar-tungen auf einen Wandel in den poli-tisierten Sektoren im Verlauf der vier Jahre Regierungszeit von Lula.

ENTMuTIGuNG uND FRAG-MENTIERuNG

Diese Frustrationen zeigten sich dar-in, dass die Straßenaktivitäten, die frü-her so bezeichnend für die PT waren, verschwunden (sie wurden durch die Profis ersetzt) und dass die „engagier-ten Stimmen“ zugunsten der PT zu-

Brasilienwahlen: Ein tiefer politischer BruchJosé corrêa Leite und João Machado

rückgegangen sind. Dass dies passie-ren würde, war nach dem ersten groß-en Schock nach der Wahl vorherseh-bar, als Lulas explizite Bekehrung zum Neoliberalismus (oder „Sozialli-beralismus“) und die großen Korrup-tionsfälle in der PT offenbar wurden.

Die breite politische Enttäuschung und besonders der Rückgang der Überzeugung, die Politik könne ein Mittel gesellschaftlicher Veränderung und der Emanzipation sein, haben je-doch tiefere Ursachen.

Es wurden bereits zahlreiche Er-wartungen enttäuscht seit der Wieder-einführung der Demokratie in Brasi-lien im Verlauf der achtziger Jahre: Das gilt für die Hoffnungen auf die Op-positionspartei gegen die Militärdikta-tur (die PMDB wurde als eine „demo-kratische Front“ angesehen), dies gilt für die ersten Präsidentschaftswahlen zu Ende der Diktatur (1989) und auch für die Hoffnungen, die sich ein op-timistischer Teil der Bevölkerung in den ersten Jahren der Regierung Fern-ando Henrique Cardoso (FHC) ge-macht hatte. Somit ist die Frustration über Lula und über die PT nur die letz-te in einer langen Reihe. Aber sie geht auch am tiefsten.

Man muss auch den Verlauf der Umwälzungen in der brasilianischen Gesellschaft seit 1990 betrachten. Die vier Regierungsjahre von Lula folgen auf die acht Jahre von FHC und die fünf Jahre der Regierung Collor-Ita-mar. Dieser Zeitraum war durch eine Eingliederung von Brasilien in unter-geordneter Position in den Weltmarkt, eine neoliberale Umstrukturierung der Produktionsstruktur des Landes, sodann die wirtschaftliche Stagnati-on, die Auflösung der früheren Be-ziehungen und Klassenidentitäten, die Entwicklung des Individualismus und der Konsumgier, die ideologische Regression und die Disqualifizierung von bürgernahen politischen Aktivi-täten gekennzeichnet. Ein Gutteil der

sozialistischen Linken, der in der Ar-beiterklasse verwurzelt und unabhän-gig organisiert war, und der die Ar-beiterpartei und die Einheitszentrale der Arbeitenden (CUT) aufgebaut hat, existiert nicht mehr. Die unabhängige Klassenorganisation ist aufgelöst, die Arbeitenden wurden gesellschaftlich fragmentiert und die verbliebene so-zialistische Linke ist gespalten, in der Defensive, und es fehlt ihr ein glaub-würdiges Projekt. Was im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre den Unter-schied zwischen der brasilianischen Linken und der übrigen lateinamerika-nischen Linken ausmachte – die sozi-alistische Massenaktion, die im unab-hängig von der kapitalistischen Klasse organisierten Proletariat verankert war – gibt es nicht mehr.

Dasselbe ist mit den sozialen Be-wegungen passiert. Die achtziger Jah-re waren von großen Mobilisierungen charakterisiert, die neunziger vom Rückfluten, wobei die Bewegung der Landlosen (MST) die einzige Bewe-gung war, die im Verlauf jenes Jahr-zehnts eine große Mobilisierungska-pazität beibehielt, doch in der Regie-rung Lula ist sie im Morast versun-ken. Die Gewerkschaften haben schon vor längerer Zeit aufgehört, eine be-deutsame politische Wirkung zu ent-falten. In diesem Kontext haben die neuen Generationen noch keine Er-fahrung mit großen gesellschaftlichen Mobilisierungen. Der politische Zy-klus der 1980er Jahre ist an sein En-de gelangt und der Zerstörung der po-litischen Identität der Linken in Brasi-lien ist bereits weit gediehen.

Im Verlauf der Wahlen ist eine neo-populistische PT aufgetaucht, eine auf der charismatischen Führungsgestalt von Lula und auf die Kontrolle öffent-licher Gelder aufgebaute Wahlmaschi-ne. Lula stellte sich als Verteidiger der Armen gegen eine unsensible Elite hin, wobei er jedoch den herrschenden Klassen Stabilität garantiert und ihnen

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versichert, dass ihre Geschäfte laufen wie immer.

Die nationale Krise ist weiter of-fen, ohne dass einer der beiden Teile des Blocks an der Macht in der La-ge wäre, irgendeinen Fortschritt zu si-chern. Brasilien stagniert in einer in-ternationalen Wirtschaft, die ein ra-sches Wachstum kennt. Die regionale Integration kommt nicht voran. Die soziale Krise spitzt sich zu, während weder Lula noch Alckmin der Bevöl-kerung Hoffnung auf eine bessere Zu-kunft machen können.

Bestimmte Organisationsformen kommen voran, doch es gelingt ihnen nicht, ambitioniertere Aktionen durch-zuführen, was eben die Rolle von Par-teien wäre. Die brasilianische Gesell-schaft ist eine der konfliktträchtigsten der Welt, inmitten von Lateinameri-ka, in dem es gärt und wo radikalere Alternativen an Raum gewinnen. Für die Linke werden neue Breschen ent-stehen!

DIE KANDIDATuR VON HELOI-SA HELENA

Im Rahmen des genannten Rückflu-tens drückte die Kandidatur von He-loisa Helena im Namen der Linksfront den Widerstand gegen den Verlust der Identität der Linken aus; sie stellte ei-ne Neuheit im Wahlkampf dar, auch wenn das nicht genügte, die Krise der fortschrittlichen Politik in Brasilien abzubremsen.

Die PSOL – die als legale Partei erst seit gut einem Jahr (September 2005) anerkannt und registriert wor-den ist – war bei weitem die wichtigs-te Partei der Linksfront. Die beiden anderen Parteien, die PSTU (vereini-gte Arbeiterpartei, die auf die Tradi-tion von Nahuel Moreno zurückgeht) und die PCB (KP Brasiliens) – haben ein deutlich geringeres politisches Ge-wicht und weniger Anhang bei den WählerInnen.

Zum Zeitpunkt der Wahlen ver-fügte die PSOL über einige Tausend Mitglieder, vor allem Gewerkschaf-terInnen, über ein gewisses Gewicht unter Jugendlichen und eine kleine Gruppe im Parlament: eine Senatorin, sieben Abgeordnete auf Bundesebene und vier Abgeordnete in den Einzel-staaten sowie einige Dutzend Stadträ-tInnen. Es handelt sich somit um ei-ne minoritäre Kraft, die nur einen Teil

der historischen Linken der PT um-fasst und noch weniger die Mitglieder der anderen linken Parteien (ein Teil der Mitglieder kam aus der PSTU).

Die PSOL hatte eine weit größe-re Ausstrahlung bei den Wahlen, als es ihre schwache Organisation und ihre kleine soziale Basis hoffen las-sen konnten; dies ist vor allem auf die Popularität und das Charisma der Se-natorin Heloisa Helena zurückzufüh-ren. Im Verlauf der ersten Monate des Jahres, vor dem Beginn der Kampag-ne, gaben ihr die Meinungsforscher zwischen vier und sechs Prozent der Stimmen; sie kam damit auf die dritte Position. Ab Juli wurden die Wahlen zu einem Hauptthema der Massenme-dien – besonders die Präsidentenwahl. So hatten die zur Wahl stehenden Kan-didatInnen täglich einige Minuten Zu-gang zu den Massenmedien und das Fernsehen, vor allem zum Rede Glo-bo, den wichtigsten Kanal des Landes. Dadurch wurden die ungeheuren ma-teriellen und medialen Unterschiede in den Möglichkeiten der Kandida-tInnen etwas reduziert, was der Kandi-datur von Heloisa Helena einen kräf-tigen Auftrieb verschaffte. Mitte Au-gust kam sie bei Umfragen auf 12% der Stimmen (was, wenn man die wei-ßen und ungültigen Stimmen abzieht, einem Anteil von 14 bis 15% entspro-chen hätte). Dieser Aufstieg lässt sich durch mehrere Gründe erklären: die Kandidatur einer Frau, die von allen als kämpferisch anerkannt ist und die den Mut hatte, sich mit der Regierung Lula anzulegen, während er noch auf dem Gipfel der Popularität schwebte und wochenlang überhaupt nicht kriti-siert wurde; der Einbruch von Lula in

Kreisen, die die öffentliche Meinung bilden; auch die Interessen der mit der PSDB, der Partei von FDC und Alck-min, verbundenen Opposition, diesen Durchbruch zu begünstigen, um leich-ter in den zweiten Wahlgang kommen zu können. Aber zu diesem Zeitpunkt ging der Abstand in den Meinungsum-fragen zwischen Heloisa Helena und Alckmin soweit zurück, dass es mög-lich schien, dass es nicht zu einem Zweikampf Lula gegen Alckmin kä-me.

Doch mit Beginn der offiziellen Wahlkampagne im Fernsehen (am 15. August) besetzten die großen Wahl-maschinen die Vorderbühne und die relativ günstige Lage wandelte sich schnell.

Mit Beginn dieses Zeitpunktes wurde der riesige Unterschied in den materiellen Ressourcen und den orga-nisatorischen Kapazitäten der beiden großen Blöcke (um Lula und Alckmin) und der Linksfront überdeutlich. Die-ser Unterschied wurde durch die Tatsa-che weiter vergrößert, dass die Wahl-gesetzgebung allen politischen Kräf-ten in Rundfunk und Fernsehen Sen-dezeiten zuteilt; die Grundlage für die Sendezeiten sind die Wahlergebnisse bei den vorangegangenen Wahlen, in diesem Fall die Wahlen von 2002, als die PSOL noch gar nicht existierte.

Die organisatorische Schwäche der PSOL und der Linksfront ermöglichte es auch nicht, alle diejenigen zu orga-nisieren, die sich im Verlauf der Kam-pagne angeschlossen hatten und zu-sammenarbeiten wollten. So muss-te sich ein Teil der WählerInnenschaft von Heloisa Helena klar werden, dass die organisatorische Basis zu sch-

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mal war, um eine wirkliche Alterna-tive darstellen zu können. Besonders in den letzten Wochen schließlich, als der Abstand zwischen Lula und Alck-min abnahm und die Möglichkeit eines zweiten Wahlgangs auftauchte, kam auch der Druck der „nützlichen Stimmabgabe“ auf.

Die organisatorische Schwäche der Linksfront ging mit ihren poli-tischen Schwächen einher, was den Wahlkampf nicht gerade erleichterte. Es gelang nicht, eine vereinigte poli-tische Leitung für den bundesweiten Wahlkampf aufzubauen, und dassel-be gilt für die meisten Einzelstaaten. Die schlimmste Folge dieser Schwä-che war die Unfähigkeit, wegen der unterschiedlichen Meinungen in der PSOL und zwischen den anderen Par-teien, die die Linksfront bildeten, ein Regierungsprogramm fertig zu stellen – es wurde nur ein Manifest veröffent-licht. Dies bedeutet natürlich nicht, dass Heloisa Helena und die anderen KandidatInnen der Front keine pro-grammatischen Alternativen vorge-stellt hätten. Doch die Tatsache, dass kein vollständiges programmatisches Dokument verabschiedet worden war, verminderte die Wirkung der Darstel-lung von Alternativen und machte die Front gegenüber den Kritikern und der Presse verwundbar.

Eine andere politische Begrenzt-heit der Kampagne der Genossin He-loisa Helena lag darin, dass sie zu-meist in der ersten Person und nicht als Vertreterin eines politisches Pro-jektes oder eines Prozesses von gesell-schaftlichen Kämpfen sprach. In ge-wisser Weise war das unvermeidlich: Es handelte sich um eine Kandidatur mit nationaler Wirkung und mit einem politischen Projekt, dessen Aufbau gerade erst begonnen hatte, und das noch nicht über eine kollektive Füh-rung verfügte – bei einem niedrigen Niveau von Mobilisierungen der Be-völkerung. Im Übrigen ergibt sich di-es auch aus der Logik von Präsident-schaftswahlen: Es kämpfen die Kan-didaten gegeneinander und nicht ihre Parteien oder Zusammenschlüsse, die sie unterstützen. Doch kann es keinen Zweifel daran geben, dass darin eine Schwäche des Wahlkampfes lag.

Eine andere Frage hatte negative Auswirkungen auf die Kampagne – ohne dass man davon ausgehen kann, dass die Auswirkungen auf die Wir-kung der Kampagne bedeutsam ge-wesen wären –, nämlich die Frage der Straflosigkeit bei Schwangerschafts-abbruch. Während die große Mehr-heit der PSOL und der Linksfront für die Straflosigkeit der Abtreibung ein-treten, ist Heloisa Helena aus Gewis-sengründen nicht dieser Meinung. Die Presse hat diese Meinungsverschie-denheit aufgegriffen und hat sie zu je-dem Augenblick nach ihrer Meinung zu dieser Frage befragt (was man bei den anderen Kandidaten nie getan hat).

Jedoch stellen die 6,5 Mio. Stim-men und die 6,85% der abgegebenen Stimmen sowohl für Brasilien wie in-ternational für eine als „radikal“ ein-geschätzte Kandidatin ein historisches Ergebnis dar: Sie hat ihre Wahlkam-pagne (bei der letzten Diskussions-runde der KandidatInnen im Fernse-hen) damit beendet, dass sie sagte, ihr Wahlkampf habe das Ziel, das sozia-listische Engagement zu retten, das die PT längst aufgegeben habe.

Die 6,575 Mio. Stimmen von He-loisa Helena (1,56 Mio. im Staat São Paulo, 1,42 Mio. im Staat Rio de Ja-neiro, 579 000 im Staat Minas Gerais und 440 000 in Rio Grande do Sul) stellen vor allem eine Unterstützung für eine ethische und gegen den Neo-liberalismus gerichtete Politik dar. In

einer für die Linke schwierigen Lage ist dies ein Sieg, das Ergebnis eines Dialogs mit fortschrittlichen Krei-sen der Kirche, mit Angestellten des öffentlichen Sektors, mit organisier-ten ArbeiterInnen, mit Teilen der libe-ralen Mittelklasse und der Universität. Die Bedeutung dieses Ergebnisses tritt noch deutlicher zu Tage, wenn man weiß, dass Heloisa Helena im Staat Rio de Janeiro (der als der politischste des Landes gilt) über 17% erhalten hat – und 25% in Maceió, ihrer Heimat-stadt, die im Nordwesten Brasiliens gelegen ist, der Region, die am meis-ten von den Unterstützungsprogram-men der Regierung Lula profitiert hat und wo der Kandidat der PT das beste Ergebnis erzielt hat.

Insgesamt hat die Linke im weiten Sinn, soweit sie das neoliberale Pro-gramm in den beiden (zur Wahl ste-henden) Varianten kritisiert, fast zehn Prozent der Stimmen bekommen. Es handelt sich um diffuse Sektoren, die mit der PT gebrochen und für Heloi-sa Helena oder Cristovam Buarque ge-stimmt haben.

DER KAMPF ZWISCHEN DER PT uND DER PSDB

Seit den Gemeinderatswahlen von 2004 haben die PT und die PSDB ihre Wahlauseinandersetzung vorbereitet. Obwohl die Ergebnisse jener Wahl be-reits die Schwäche der PT in den gro-ßen Zentren des Südens und Südostens offenbart haben, gestaltete sich die Lage der Partei erst nach dem „men-salão“-Skandal1 ab Juni 2005 wirklich schwierig. Doch im Verlauf der ersten Jahreshälfte 2006 hat Lula die Lage wieder in den Griff bekommen und ist als Favorit in den Wahlkampf gestar-tet. Der „mensalão“-Skandal wurde

1 Der Skandal der „monatlichen Zahlungen“ hat dazu geführt, dass 19 Abgeordnete ange-klagt wurden, von Seiten der Regierung mo-natlich unter der Hand beträchtliche Zahlun-gen erhalten zu haben, damit sie für ihre Vor-haben stimmten. Einige Dutzend, ja vielleicht über hundert Abgeordnete und Senatoren sind wahrscheinlich nicht belangt worden, weil die Vertreter der PT und ihre Verbündeten im Kon-gress entsprechende Manöver durchgezogen haben. Das Geld für die „mensalão“ stimmte aus Betrug aus öffentlichen Unternehmen (dar-unter die Post und der staatliche Rückversiche-rer in Brasilien) und lief über ein privates Wer-beunternehmen, das von Marcos Valerio ge-leitet wird, dessen Vermögen sich seit Lulas Amtsantritt vervierfacht hat und dem bereits Verträge mit der Regierung von über 150 Mio. Reais (55 Mio. €) zugeschanzt wurden.

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von anderen Skandalen überdeckt, so dem Vampir-Skandal2 und dem „Blut-sauger“-Skandal.3 Der Kandidat der PSDB hatte aus diesem Grund mit ei-ner gespaltenen Partei zu kämpfen und konnte nicht einmal sicher sein, in die zweite Runde zu kommen.

Wenn man den Kommentatoren glauben darf, so lag die Tatsache, dass Lula im ersten Wahlgang weni-ger Stimmen erhalten hat als gedacht und er in den zweiten Wahlgang ge-hen musste, an zwei Schwachpunkten des zur Wiederwahl stehenden Präsi-denten: Es waren da die Rückwirkun-gen des „Dossier-Skandals“4 sowie Lulas Weigerung, sich an einer Debat-te unter den KandidatInnen im Fern-sehen zu beteiligen, die drei Tage vor dem Wahlgang ausgestrahlt wurde.5

Der überraschendste Aspekt der Konfrontation zwischen Lula und Alckmin war die Polarisierung und die Identifizierung der Armen bzw. Reichen mit der jeweiligen Kandida-tur, ohne dass es irgendeine Polarisie-

2 Betrug bei den Angeboten für den Einkauf von Medikamenten. Solcher „beeinflusste Handel“ wurde bei Petrobras, bei BR Distribuidora, bei Infraero, in den Ministerien für Kommunika-tion, für Pensionen und Renten, im Nationa-len Institut der Sozialversicherung, im Pensi-onsfonds Nucleos (Pensionsfonds von Elec-trobras) und im Gesundheitssekretariat des Bundesdistriktes festgestellt. Der frühere Ge-sundheitsminister und Kandidat der PT als Gouverneur in Pernambuco, Humberto Costa und der frühere Schatzmeister der PT Delúbio Soares führten diese beiden Gruppen an, die die Betrugsmaßnahmen organisierten.

3 Die Firma Planam (die der Familie Vedoin ge-hört) hat den Kommunen verschiedener Staa-ten des Landes überhöhte Rechnungen ausge-stellt. Über hundert Abgeordnete und Senato-ren stellten Gesetzestexte vor, um die „für die Gesundheit vorgesehenen“ Gelder für mehr als 600 Gemeinden freizubekommen. Die seit 2001 bestehende Gruppe hat auch über Tau-send Ambulanzfahrzeuge mit 110% überfaktu-riert, wobei es um 110 Mio. Reais (40 Mio. €) ging. Außer vielen Abgeordneten waren auch einige Dutzend hohe Beamte des Gesundheits-ministeriums, über 50 Berater des Parlaments und mindestens 60 prefeitos (Bürgermeister) in den Skandal verwickelt. Alle erhielten sie für ihr Mitmachen „Kommissionen“. Die Un-tersuchungen haben auch über zwei Dutzend Scheinfirmen und einige NGOs ausgemacht, die Mittlerdienste vollführten.

4 Am 15. September 2006 verhaftete die Bun-despolizei Angestellte von Parteiführern der PT mit 1,7 Mo. Reais (630 000 €), die versuch-ten, ein Dossier mit Informationen zu kaufen, die gegen José Serra, einen Führer der PSDB, hätten verwendet werden können.

5 Wohl weil er sich den anderen KandidatInnen überlegen dünkte (oder die Konfrontation mit Heloisa Helena fürchtet), hat Lula an keiner der drei ausgestrahlten Wahldebatten teilge-nommen.

rung über die Frage der Gestaltung der Zukunft der Nation gegeben hätte.

Durch seine Politik der Subventi-onierung und durch sein persönliches Charisma gelang es Lula, seine Iden-tifizierung mit den Armen und mit den „unterentwickelten“ Regionen des Landes aufrecht zu erhalten. Die Wirkung des Hilfsprogramms „Bol-sa Familia“6 war groß genug, um bei den Wahlen ins Gewicht zu fallen, und auch die Tatsache, dass der Prä-sident der Republik aus bescheidenen Verhältnissen stammt, spielte bei den Wahlen eine bedeutende Rolle. Die reichen und konservativsten Teile der Bevölkerung haben sich spontan mit Alckmin identifiziert, der für einen brutalen Neoliberalismus steht.

Jedoch hat das „Dossier-Gate“ neuerlich in aller Deutlichkeit gezeigt, dass die Partei-Maschine der PT tag-täglich Mafiamethoden einsetzt (wo-durch sie sogar die Wiederwahl von Lula in Gefahr hätte bringen können) und die Empörung von Teilen der Mit-telschichten und der Bourgeoisie ver-stärkt hat, was vermehrt dazu geführt hat, sie mit einem zweiten Wahlgang

6 Das Programm „Bolsa Familia“ ist ein Hilfspro-gramm für ganz arme Familien (mit einem Mo-natseinkommen von weniger als 90 Reais (ca. 35 €). Die monatlichen Zahlungen reichen von 50 bis 95 Reais, je nach dem Einkommen und der Kinderzahl. Wenn sich eine Familie bei „Bolsa Familia“ einschreibt, verpflichtet sie sich, die Kinder zur Schule zu schicken und für sie zu sorgen. 2006 haben etwa 25% der Fami-lien des Landes solche Hilfen bekommen.

büßen zu lassen. Darunter befanden sich auch Sektoren, die sich bis da-hin neutral verhalten hatten und die nun nach rechts gingen und ihre Ab-neigung gegen die PT erneuerten. Un-ter dem Druck dieser Situation haben Lula und die PT alles getan, Alckmin als Mann der Reichen und Vertreter der Politik der FHC-Regierungen hin-zustellen;7 gleichzeitig vermehrten sie zwischen den Wahlgängen ihre Ver-sprechungen zugunsten der Armen und für eine linke Phase in der neu-en Regierungszeit – wobei sie gleich-zeitig betonten, die Wirtschaftspoli-tik nicht ändern und die Sparpolitik weiterführen zu wollen, die ja weitere Einschnitte bei den öffentlichen Aus-gaben vorsieht.

So kam es zu einer gesellschaft-lichen Identifizierung der Armen mit Lula, was aber überhaupt nicht bedeu-tet, dass wir es mit der Konfrontation zwischen zwei unterschiedlichen poli-tischen und gesellschaftlichen Alter-nativen zu tun hätten. Es handelt sich um die Vergabe von Mitteln durch den Staat, die durch den Einsatz öffent-licher Fonds genährt werden, um Min-desteinkommen zu finanzieren, die aber eine große Wirkung haben, weil die Mehrheit des Volkes in bitterer Ar-mut lebt. Man kann annehmen, dass sich eine mögliche Regierung Alck-

7 Es dürfte in diesem Zusammenhang interes-sant sein, zu erfahren, dass Alckmin im zwei-ten Wahlgang 2,5 Mio. Stimmen weniger be-kommen hat als im ersten!

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min von der zweiten Regierung Lu-la in einigen Aspekten der Außenpo-litik unterschieden hätte, doch nichts spricht dafür, zu sagen, Lula werde mit der neoliberalen Orthodoxie bre-chen.

DIE ERGEBNISSE DER PSOL

Die Wahlergebnisse der PSOL sowie die der Linksfront (die PSTU und die PCB konnten nicht allzu viele Stim-men beisteuern) – fielen deutlich ge-ringer aus als die für Heloisa Hele-na abgegebenen Stimmen, was die Schwäche der Partei (und der Front) aufzeigt. Dort, wo es uns gelungen ist, KandidatInnen für den Gouver-neursposten von Einzelstaaten aufzu-stellen, die in der Lage waren, in grö-ßere Debatten einzugreifen, konnten wir einen Großteil der für Heloisa He-lena abgegebenen Stimmen gewinnen. Dies gilt für das Bundesdistrikt (Bra-silia) und für Pará, wo die Kandida-turen von Toninho und von Edmilson über 4% der Stimmen bekamen, für Ceará, wo Renato Rosenao 2,75% er-hielt (aber in der Hauptstadt Fortale-za über 7%) und mit Plinio Sampaio in São Paulo, der 2,5% der Stimmen erhielt (was eine halbe Million Stim-men sind). Doch in den meisten Staa-ten kamen unsere KandidatInnen ge-rade mal über die 1% oder blieben so-gar darunter.

Auf nationaler Ebene hat die PSOL 1,149 Mio. Stimmen bekommen, also 1,4% der abgegebenen Stimmen, was weit unter der Marke von 5% liegt, die man überspringen muss, um an der Sitzverteilung teilzunehmen. Es wur-den also nur drei Bundesabgeordnete gewählt – Luciana Genro im Staat Rio Grande do Sul, Ivan Valente in São Paulo und Chico Alencar in Rio de Janeiro, sodann drei Abgeordnete in Parlamente der Einzelstaaten – Gian-azzi und Raul Marcelo in São Paulo und Marcelo Freixo in Rio de Janeiro. Die PSTU und die PCB konnten nie-manden durchbringen.

Wenn wir diese Ergebnisse un-ter dem Aspekt betrachten, dass die PSOL erstmalig an Wahlen teilgenom-men hat, dann können wir sagen, dass sie nicht schlecht sind. Wenn wir sie aber mit der Lage der Partei vor den Wahlen vergleichen, müssen wir von einem Rückgang sprechen. Nach den Wahlen verfügt die PSOL über eine

Vertretung in den Institutionen, die schwächer ist als vorher. Dies kann man vor allem mit der fehlenden Ge-schlossenheit der PSOL als Partei und mit der sehr großen Schwierigkeit er-klären, in ihren Reihen die Einheit in der Aktion herzustellen. Es fehlte der PSOL die Fähigkeit, ihre Kandida-tInnen in den sozialen Bereichen und den wichtigsten Regionen bekannt zu machen.

Wir verlieren also einen Teil des politischen Kapitals, das wir besaßen, als wir die Arbeiterpartei verließen: die Mandate, die von Abgeordneten in São Paulo (Orlando Fantazini), in Rio de Janeiro (Babá), in Brasilia (Stérile) und im Staat Ceará (João Alfredo) ge-halten wurden; außerdem vier Man-date in den Einzelstaaten (was teilwei-se dadurch kompensiert wird, dass auf dieser Ebene drei neue gewählt wur-den).

Angesichts der inneren Zersplitte-rung der PSOL wäre es schwierig ge-wesen, ein qualitativ besseres Ergeb-nis zu erzielen. Im Lichte der Ergeb-nisse hätten wir bei einer größeren Stimmabgabe zugunsten der Partei hoffen können, einen zusätzlichen Ab-geordneten in São Paulo und einen in Rio de Janeiro zu bekommen.

Doch wie wir bereits erwähnt ha-ben, verfügten wir in diesem Wahl-kampf nicht einmal über einen Ansatz von kollektiver politischer Leitung. Dass Heloisa Helena bei vielen Tref-fen allein zugegen war, zeugt von die-ser Führungsschwäche auf politischer, organisatorischer und finanzieller Ebe-ne. Bei einem Teil der AktivistInnen der PSOL, die in den Gewerkschaften arbeiten, fehlte es an Erfahrung, was die Durchführung von Wahlkämpfen anbetrifft. In dieser Hinsicht hat He-loisa Helena eine ganz wichtige Rol-le gespielt, weil sie die Kampagne in einem Land von kontinentalen Aus-maßen immer am Laufen hielt – ohne dass die materiellen Ressourcen dafür ausreichten.

Die Wahlergebnisse zeigen auch die eingeschränkten Tätigkeiten von PSTU und KPB; auf erstere entfielen etwa 100 000 Stimmen, auf letztere et-wa 40 000.

DER ZWEITE WAHLGANG

Sowohl bei der Präsidentenwahl wie auch bei verschiedenen Gouverneurs-

wahlen der Einzelstaaten wird ein zweiter Wahlgang stattfinden. Für die Präsidentschaftswahlen hat die PSOL beschlossen, keinen der beiden Kandi-daten zu unterstützen, auch wenn eini-ge Teile der Partei der Meinung waren, man müsste Lula in einer bestimmten Form unterstützen, um Alckmin, der noch weiter rechts steht, den Weg zu versperren. Ein anderer Teil der Partei sprach sich für eine Kampagne „Keine einzige Stimme für Alckmin“ aus (oh-ne zu sagen, ob man ungültig oder für Lula stimmen sollte).

Es gibt mehrere Gründe für die Weigerung der Parteimehrheit, eine solche Orientierung einzuschlagen. Zunächst wird Lula eine eindeutig so-zial-liberale Regierung bilden, d.h. er wird hinsichtlich der Wirtschafts- und Sozialpolitik dem neoliberalen Mo-dell folgen. Zweitens hat er ein Bünd-nis gebildet, in dem sich auch wich-tige Parteien der brasilianischen Rech-ten befinden, so die Partei von Paulo Maluf.8 Lula ist daher kein Kandidat eines Linksblocks, wiewohl es eine gesellschaftliche Polarisierung zu sei-nen Gunsten gibt, wie wir bereits er-wähnt haben.

Der Soziologe Ricardo Antunes, ein Gründungsmitglied der PSOL, hat seine Ablehnung der Idee, Lula im zweiten Wahlgang zu unterstützen, wie folgt begründet:9

„Es ist offensichtlich, dass die Kandidatur von Lula und die von Alckmin nicht identisch sind. Aber die Architektur ihrer Wirtschaftpoli-tik hat große Ähnlichkeiten: Verbin-dung zu den Banken, zum Finanzkapi-tal und zu den großen Industrieunter-nehmen. Wenn Alckmin der Kandidat der traditionellen Rechten ist, dann ist die Regierung Lula Ausdruck ge-sellschaftlicher Kämpfe, denen sie ein

8 Paolo Maluf, brasilianischer Unternehmer und Politiker, hatte 1964 den Militärputsch unter-stützt, wodurch er zum Bürgermeister von São Paulo wurde (1969-1972), danach war er ge-gen Ende der Diktatur Gouverneur jenes Staa-tes (1979-1982). Seine „Fortschrittspartei“ ent-stand aus der ARENA, der offiziellen Partei der Diktatur. 1992 gelang es ihm, wieder zum Bür-germeister von São Paulo gewählt zu werden. Jetzt ist er Abgeordneter im Bundesparlament. Seitdem er jedem Fußball-Weltmeister einen VW-Käfer geschenkt hat (was mit öffentlichen Geldern bezahlt wurde), steht er in Brasilien für Korruption. Das Verb „malufar“, das nach seinem Namen gebildet wurde, bedeutet so viel wie „öffentliche Gelder stehlen“. Er wurde wegen Korruption verurteilt.

9 Interview mit Agencia Carta Maior, 13. Okto-ber 2006.

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Ende bereitet hat, um sodann eine Ori-entierung nach rechts einzuschlagen. So handelt Lula, um gesellschaftliche Kämpfe abzuwiegeln. Sein Vorgänger, Fernando Henrique Cardoso, hat Jahre lang versucht, die Renten der öffent-lich Bediensteten anzugreifen und die Renten zu besteuern, doch es ist ihm nicht gelungen, weil die sozialen Be-wegungen Widerstand geleistet haben. Das hat dann die sich als „kompetent“ erweisende Regierung Lula gemacht und hat dabei die bereits dezimier-te brasilianische Linke durcheinander gewirbelt. Die Herausforderung, vor der die PSOL und die sozialen Bewe-gungen stehen, liegt im Neuaufbau der Linken. Die von der Regierung Lula gesäte Konfusion erreicht immer neue Höhen, denn für die sozialen Bewe-gungen ist er gleichzeitig Freund und Feind; sogar seine eigene Regierung sagt, sie bekämpfe die Linke und die Rechte. Daher ist es schwierig zu sa-gen, welches Ergebnis schlimmer ist bei der Wahl zwischen ihm und Alck-min.“

Es handelt sich hier um eine Mei-nung, die von der Mehrheit der Mit-glieder der PSOL geteilt wird. Sie hat jedoch keine aktive Kampagne zu-gunsten weißer Wahlscheine unter-nommen, weil sie die Wähler und Wählerinnen nicht verprellen wollte, die für Heloisa Helena gestimmt ha-ben und in der Stichwahl Lula ihre Stimme geben wollten.

WELCHES PROJEKT FüR DAS LAND?

Die PSOL hat – wie die gesamte Linksfront – eine tiefgreifende Refle-xion über ihr politisches Projekt nötig. Das neoliberale Brasilien unterschei-det sich massiv vom Brasilien der Ent-wicklungspläne, das noch unsere poli-tische Vorstellungswelt bestimmt. Von den Rentenkürzungen bis zur „Bol-sa Familia“ hat Lula geschickt ma-növriert und sich auf jene Realität ge-stützt, die er gut kennt und die sich bereits unter der Regierung Cardoso stark entwickelt hatte. In der Zeit der Regierung Lula führte das paradoxer-weise zu einem kleinen Rückgang der statistischen Einkommenskonzentra-tion. Aber in Wirklichkeit handelt es sich um eine Umverteilung von Ein-kommen innerhalb der Arbeiterklas-se: ein kleiner Anstieg der Einkünfte

für eine große Masse der Armen, ein Rückgang für die besser gestellten Ar-beiterInnen und die „Mittelklassen“. Was die 20 000 Familien angeht, die in Brasilien bestimmen, so geht es ihnen besser denn je, ihre historischen Privi-legien wurden gewahrt und sie waren von der sogenannten Umverteilung nicht betroffen. Diese Art der Politik ist nicht geeignet als Entwicklungs-projekt für die Nation, doch sie stellt eine wirkungsvolle Art und Weise dar, in einer der Gesellschaften der Welt mit der größten sozialen Ungleichheit die Stabilität zu garantieren.

Die linke politische Meinung, der organisierte und bewusste Teil der in-dustriellen Arbeiterklasse, die „Mittel-schichten“ und die in Bürgerrechtsfra-gen engagierten Intellektuellen haben ihr Gewicht verloren und ihre Identi-tät wurde aufgrund wachsender Pro-letarisierung und Prekarisierung zer-stört. Diese Schichten – ein Produkt der Entwicklung der Nation bis in die achtziger Jahre hinein – wurden durch das neue Akkumulationsregime Mar-ke Lula am stärksten betroffen. Unser linkes Projekt muss im Rahmen eines neuen historischen Blocks mit den verarmten Massen darauf eine Ant-wort geben.

Es gibt einen strukturierten Raum, selbst wenn er im Augenblick nur ei-ne Minderheit betrifft, für ein linkes Projekt in unserm Land. Aber jedes auf Hegemonie abzielende Projekt, das den Anspruch erhebt, eine blü-hende, gerechte und souveräne Nati-on zu schaffen, und das einen Über-gang zum Aufbau des Sozialismus er-öffnen will, muss sich zwei Heraus-forderungen stellen:

Einerseits muss es die politische Intervention in diesem Bereich der Bevölkerung strukturieren. Dies be-deutet, die Ansprüche der Entwick-lungsprojekte der Vergangenheit, die man hinsichtlich Wachstum, Beschäf-tigung und Löhne auf den Punkt brin-gen kann, wieder aufzugreifen, aber sie verlangen eine Reihe von Gege-benheiten, die auf mittlere Sicht nicht erreichbar sind: eine blühende Wirt-schaft, dynamische Gewerkschaften, öffentliche Bildung und gutes Ge-sundheitswesen sowie Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs. Dies bedeutet auch, dass neue Themenstellungen in-tegriert werden müssen, die diese Sek-toren der Gesellschaft jeden Tag mehr

betreffen – von der Ökologie zur Frei-heit des Zugangs zu Kenntnissen, von der Kultur zur Sexualität, von den An-sätzen von Identitätspolitik zur glo-balisierungskritischen Bewegung. Es dreht sich hier um strategische Fra-gen, die besonders die Jugend inter-essieren, ohne die es keine politische Neuzusammensetzung der Linken ge-ben wird.

Andererseits müssen wir die Fra-ge der Hegemonie wieder aufgreifen, sie also in den Dialog mit den verarm-ten Massen einbauen, mit jener Mehr-heit, die heute an den Urnen für Lu-la stimmt und die für eine nicht-eta-tistische Linke nicht zugänglich ist, wenn diese die Einkommensfragen nicht aufgreift. Lula ist ein Neopopu-list, weil er eine stabile Formel gefun-den hat, sich an die verarmten Mas-sen zu wenden, wie dies vor ihm Ge-túlio Vargas10 getan hat, der aber der Arbeiterklasse im Rahmen des For-dismus und der Entwicklungsstrategie der CEPAL11 Beschäftigungsperspek-tiven und Aufstiegsmöglichkeiten an-zubieten hatte.

Genauso wie der Bruch mit dem alten Populismus nur möglich war, als die Sektoren, auf die er abzielte, sich zu autonomen Protagonisten ihres Ge-schicks machten, so wird die Überwin-dung des Lulismus nur durch eine Ver-allgemeinerung der Politik des garan-tierten Einkommens und/oder der Be-schäftigung möglich sein. Dies ist ein in der neoliberalen Welt sehr unwahr-scheinlicher Fortschritt, doch er ist vom Vorstellungshorizont der Mehr-heit der brasilianischen Bevölkerung weniger weit entfernt als die nunmehr versprochenen 50 Mio. Arbeitsplätze.

Aber neben diesen unmittelbaren Herausforderungen und in Verbin-dung mit ihnen, besteht die größte Herausforderung in der internationa-len Wiederherstellung der Glaubwür-digkeit eines sozialistischen Projekts und die Erarbeitung eines neuen Über-gangsprogramms.

Übersetzung: Paul B. Kleiser

10 Getúlio Vargas war Präsident Brasiliens von 1930-1945; in dieser Zeit hat er sein populisti-sches Programm des „neuen Staates“ lanciert, sodann amtierte er nochmals von 1950-1954.

11 Wirtschaftskommission für Lateinamerika, eine Unterorganisation der UNO, die ein Kon-zept der wirtschaftspolitischen Entwicklung durch Staatsintervention vertrat.

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##########BOLIVIEn

Evo Morales Ayma ist mit einem präzi-sen Mandat an die Macht gelangt, das durch die unter dem Namen „Oktobera-genda”1 bekannten Forderungen defi-niert ist: die Einberufung einer Kons-tituierenden Versammlung zwecks „Neugründung des Landes“ und die Verstaatlichung des Kohlenwasser-stoffs. Während der ersten fünf Monate verliefen die Handlungen der Regie-rung im Sinne einer Anwendung dieses Mandats.

Im März verkündete Morales im Kongress die Gesetze zur Einberu-fung der Konstituierenden Versamm-lung und zum Referendum über die Autonomien, bei dem die Bevölkerung des Landes aufgefordert war, über den Übergang des gegenwärtigen einheit-lichen Bolivien zu einem Land mit ei-ner gewissen Autonomie auf der Ebe-ne der Departements zu entscheiden. Und am 1. Mai 2006 unterzeichnete er das Dekret „Héroes del Chaco“, das den Staat, der im Laufe der 90er Jahre zu einem marginalen Akteur geworden war, wieder ins Zentrum der Verhand-lungen in Bezug auf das Gas und das Erdöl stellte.

Mit diesem politischen Kapital ver-sehen wurde der bolivianische Präsi-dent durch die Wahlen zur Konstituan-te am 2. Juli mit großer Mehrheit be-stätigt, als er erneut mit großem Vor-sprung die absolute Mehrheit der Stim-men erhielt und auf diese Weise die am 18. Dezember [2005] bei den Präsident-schaftswahlen mit 53,7% der Stimmen errungene Legitimität bekräftigte.2

1 Als „Oktoberagenda“ wird die Forderungsplatt-form der sozialen Bewegung vom September bis Oktober 2003 bezeichnet, als ein Volksauf-stand den Präsidenten Gonzalo Sánchez de Loz-ada stürzte und ins Exil in die USA trieb.

2 Das Referendum hat erneut die im Land be-stehende Spaltung zwischen „Westen“ und „Osten“ gezeigt. In Santa Cruz, Tarija, Beni und Pando setzte sich das „Ja“ in vergleichba-rer Weise durch wie das „Nein“ in La Paz, Or-uro, Potosí, Chuquisaca und Cochabamba. Auf nationaler Ebene hat das „Ja“ eine Mehrheit von 54% der Stimmen.

Doch scheinen die beiden Haupt-achsen der von Evo Morales durchge-führten Politik des Wandels einem un-ebenen Pfad zu folgen, der ihre Konso-lidierung spürbar verlangsamt und po-tenziell dazu führen könnte, ihre blo-ße Existenz selbst in Frage zu stellen. Paradoxerweise sind die Hindernisse für diese Politik ebenso das Werk ihrer Gegner als auch derjenigen, die sie sei-tens der Staatsmacht erarbeiten.

Einerseits vollzieht sich die Ver-wandlung der Presse in eine Art Sprachrohr einer zweimal hinterein-ander geschlagenen konservativen Op-position, deren Angriffe auf die Re-gierung immer heftiger werden. Be-griffe wie „populistisch“, „rückwärts-gewandt“, „kommunistisch“ nehmen im Diskurs der Opposition in dem Ma-ße einen großen Platz ein, wie die Pola-risierung des politischen Raums schär-fer wird, was an die Situation in Vene-zuela erinnert: So prangert die Rechte die Konsolidierung einer Diktatur an – wobei die „allmächtige“ Konstituante nun das Mittel sein soll, um dieses Ziel durchzusetzen –, während die Regie-rung die Opposition beschuldigt, die Interessen elitärer Gruppen zu vertre-ten, die durch eine indigene Massenbe-wegung von der Macht gedrängt wor-den waren.

Aber andererseits existieren Schwä-chen, die der nationalistischen Regie-rung eigen sind. Diese betreffen die Leitung des Staatsapparats, den Aufbau einer kritischen Masse an technischem Personal, das fähig ist, den institutio-nellen Raum zu besetzen und neu zu strukturieren, sowie die Bestimmung einer konkreten strategischen Orientie-rung in Bezug auf die soziale Transfor-mation, die sie durchführen will. Da-zu kommen Schwierigkeiten, die nur durch die rhetorischen Exzesse und die Überaktivität der Hauptakteure der Re-gierung vorübergehend kaschiert wer-den können. Wenn die Verstaatlichung den Gipfel der Wiedererschaffung

eines national-populären Mythos dar-gestellt hat, der den Prozess begleitete, so hat das Massaker unter den Bergleu-ten in Huanuni das hässlichste Gesicht des „alten“ Bolivien bloßgelegt, das zu verschwinden sich weigert.

EIN CHRONISCHER MANGEL AN POLITISCHEN KADERN

Parallel zum zunehmenden Misskredit des dem neoliberalen Zyklus (1985–2002) zugrundeliegenden ideolo-gischen Projekts hat sich der Prozess des Wiederaufbaus der bolivianischen Volksbewegung nach und nach vom Land auf die Städte ausgedehnt, um schließlich durch das „politische In-strument“ der Bauerngewerkschaften kanalisiert zu werden, das später über sein wahlpolitisches Label, der Be-wegung zum Sozialismus (MAS), be-kannt werden sollte. Jedoch hat die-ser indirekte Typ politischer Aktivität auf dem Umweg über gewerkschaft-liche Organisationen die Eingliede-rung städtischer Sektoren, die nicht zu den korporativen Institutionen ge-hören, gebremst. Dies hat dazu beige-tragen, dass der Prozess der Bildung politischer und administrativer Kader, die fähig wären, den Staatsapparat zu lenken, beschränkt wurde.

Resultat ihrer schwachen städ-tischen Entwicklung war, dass es der MAS nicht gelang, bei Wahlen ei-ne „große“ Gemeinde zu erobern. Ih-re städtischen Strukturen funktionie-ren entsprechend einer Logik, die vom politischen Klientelismus abhängig ist. „In den Städten wird die MAS weitge-hend als eine Arbeitsagentur wahrge-nommen, die es ermöglicht, an einen Posten in der staatlichen Verwaltung zu gelangen; seit 2002 handelt es sich um das Parlament, seit 2006 sind dies die Ministerien und die öffentlichen Insti-tutionen“, stellt Hervé Do Alto fest, der die dieser Partei eigenen politischen Formen untersucht.

Das Labyrinth der bolivianischen RevolutionPablo Stefanoni

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##########BOLIVIEn

Die Beschränkungen der MAS im städtischen Milieu ermöglichen zu be-greifen, warum Evo Morales’ Aktionen prioritär auf die Kampagnen orientiert sind, bei denen die „härteste“ und loy-alste Unterstützung zu finden ist. Es ist bezeichnend, dass es die Bauern und Bäurinnen sind – etwa 40% der bolivi-anischen Bevölkerung –, die am meis-ten von der öffentlich wahrnehmbaren Politik der neuen Regierung profitiert haben, einer Politik, die oftmals per-sönlich vom Präsidenten in den be-treffenden ländlichen Zonen verkün-det und initiiert wird: der Aufbau von Infrastruktur in den Bereichen Ge-sundheit und Bildung; der Alphabeti-sierungsplan; die Ausstattung mit Per-sonalausweisen; die Aufteilung von dem Staat gehörenden Ländereien im Rahmen einer „Agrarrevolution“, die schließlich die unproduktiven privaten Latifundien einschließen muss; die Verteilung von Traktoren zu niedrigen Preisen; die Versorgung mit einem Te-lefonnetz; die kostenlose Übertragung von Spielen der Fußballweltmeister-schaft usw.3

Morales reist mehrfach in der Wo-che zu bislang vom Staat vernachläs-sigten Orten. Dort liebt er es, Anek-doten zu erzählen, die an seine Ver-gangenheit als Lamazüchter, Musi-ker oder Kartoffelbauer erinnern, um so eine Empathie bei der Bevölke-rung hervorzurufen. In diesen Regi-onen des tiefsten Bolivien bleibt die Führung des Präsidenten noch intakt. Diese Unterstützung der ländlichen Welt dehnt sich heute sogar auf die autonomen Regionen von Santa Cruz und Tarija aus, deren Hauptstädte nun buchstäblich von den Anhängern der

3 Jedoch schränken diese Leitungsprobleme den Gebrauch der nicht unbeträchtlichen Res-sourcen, über die der Staat verfügt, in der ge-genwärtigen wirtschaftlichen Konjunktur ein, besonders aufgrund der erhöhten Rohstoff-preise und der höheren Steuern auf Kohlen-wasserstoff infolge der Verstaatlichung. Bis August hatte die zentrale Verwaltung nur 20% ihres Jahresbudgets ausgegeben, die Kommu-nen, die dank des Gesetzes über die Volksbe-teiligung über eine Autonomie verfügen, 40% und die Präfekturen oder Regionalräte 25%. Ein echtes Paradoxon in einem armen Land, das betroffen ist von einem Mangel an grund-legender Infrastruktur, Wohnungen und Stra-ßen (Selbsteinschätzung des Regierungsteams und von Evo Morales im Dorf Huatajata, am Ufer des Titicaca-Sees, 22. August 2006).

MAS eingekreist sind: Es sind Basti-onen der Migration in den Anden, die zu Stimmengewinnen geführt und so am 2. Juli der regierenden Partei in diesen zwei Departements mit 25% in Santa Cruz und 41% in Tarija den Sieg gebracht hat, wobei so die Macht der regionalistischen Opposition ein-geschränkt wurde.

Gegenüber dieser aus den Kam-pagnen herrührenden „bedingungs-losen Loyalität“ ist die städtische Un-terstützung flüchtiger, besonders im Milieu der „gutsituierten Mittelklas-se“, die am 18. Dezember [2005] Evo Morales gewählt hat, um einen poli-tischen und sozialen Wandel zu for-dern, manchmal einfach aufgrund der Überzeugung, dass wenn „ein Straßen-blockierer sich durchsetzt“, dieser mit der sozialen Instabilität Schluss ma-chen kann, die in weniger als drei Jah-ren das Mandat von zwei Präsidenten abrupt hat enden lassen.

Heute zeigen die Umfragen, die oft auf ausschließlich städtischen Stich-proben beruhen, dass diese Mittel-klassen sich von einer mit ihren ers-ten Schwierigkeiten kämpfenden Re-gierung langsam distanzieren und ihr gegenüber eine elitäre Haltung ein-nehmen. Nach einer von der gesam-ten bolivianischen Presse verbreite-ten Untersuchung des Instituts Apo-yo, Opinión y Mercado hat die Unter-stützung für Morales im Mai, nach der Verstaatlichung der Erdgas- und Erd-ölvorkommen (Kohlenwasserstoffe), 81% betragen. Im Juni sank diese Un-terstützung auf 78%, anschließend im Juli auf 68%. Zwischen August und September waren es schon nur mehr 52%, die niedrigste Zustimmung gab es in Santa Cruz mit 27%.

Die Regierung steht heute vor einem Dilemma: Entweder muss sie die strategischen Posten mit indígenas und Bauern besetzen, die für die Lei-tung des Staatsapparats nicht genü-gend ausgebildet sind, und einen un-gewissen Lernprozess einleiten, wo-bei das Risiko besteht, dass die ge-sellschaftlichen Bestrebungen nach einem raschen Wandel enttäuscht wer-den, oder sie muss auf diese Stellen Personen aus den Mittelklassen beru-fen, von denen viele mit den Regie-

rungen der 90er Jahre verbunden wa-ren, bevor sie in den letzten Jahren der intellektuellen und moralischen Krise des Neoliberalismus ihre Perspektive radikal änderten, um bei der aufkom-menden nationalistischen Welle nicht abseits zu stehen.

In Bolivien ist der Staat der Pfeiler der ökonomischen Reproduktion von Eliten, und unter der MAS-Regierung haben viele dieser Sektoren tatsäch-lich mehrere Privilegien verloren wie beispielsweise die Expertisen von auf diese Weise für ihre politische Unter-stützung entlohnten Beratern oder der direkte Zugang zu Ministerposten. Der Kommentar eines „Professionellen“ des bürgerlichen Südteils von La Paz, wiedergegeben von einem Funktionär der aktuellen Regierung, ist für die ge-genwärtige Epoche symptomatisch: „Ich kann mir nicht vorstellen, was es bedeutet, mehr als 500 Jahre der Aus-grenzung zu erleben, wenn ich sehe, dass es kaum acht Monate gebraucht hat, dass wir uns von der Macht ver-drängt fühlen und nicht mehr wissen, wohin wir gehen sollen.”

Ein kürzlich erschienener Leitar-tikel der Wochenzeitung Pulso spie-gelt aus einer mehr soziologischen Perspektive den Pessimismus der Eli-ten gegenüber einem Land wider, über das sie regelmäßig die Kontrol-le verlieren: „Weder der Sozialismus noch der Autoritarismus, den manche fürchten. Nicht der strukturelle Wan-del und auch nicht der Beginn eines neuen Entwicklungszyklus, den an-dere wünschen. Einfach das alte und hässliche, so vertraute Gesicht des bo-livianischen Übels: die politische In-stabilität, die reine Unmöglichkeit zu regieren, die ebenso synthetische Wei-sen sind, den chronischen Zusammen-bruch des Landes zu kennzeichnen.”4

Pablo Stefanoni ist Korrespondent der argen-tinischen Zeitung Pagina/�2 in Bolivien.

Übersetzung: HGM

4 Pulso (La Paz), Nr. 368, 6.10.2006

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##########REGISTER 2006

Titel AutorIn Heft Seite MonatAlgerienDie Märchen des Präsidenten Bou-

teflikaM. Ouezzane 412 4 3

ArgentinienBesetzen, Widerstehen, Produzieren von ArbeiterInnen der

Kooperative BAUEN und Jorge Sanmartino

420 39 11

BelgienEin heißer Herbst Matthias Lievens 410 43 1BolivienZwischen Indígena-Utopie und Wirt-

schaftspragmatismus, die MAS ero-bert die Macht

Hervé Do Alto 410 4 1

Die Regierung Morales Hervé do Alto 414 7 5Nach dem Wahlsieg der MAS Hervé do Alto 414 8 5BrasilienKrise und Neuformierung der Linken François Sabado 410 20 1Mitgliederbewegungen auf der Linken

stärken die PSOLJosé Correa Leite 414 19 5

Für eine politische Alternative in Bra-silien! Gegen die Banker, den Impe-rialismus und die Korruption! We-der Lula noch Alckmin! Heloisa Hele-na Presidente

420 18 11

BritannienBlair am Ende Frédéric Leplat 416 16 7Erklärung der ISG zur Krise der SSP International Socialist

Group418 39 9

ChinaEntstehung einer wirtschaftlichen

GroßmachtMichel Husson 412 34 3

30 Jahre danach – Maos dritter Tod Pierre Rousset 420 52 11EuskadiDas Ende der ETA José Ramón Castaños

„Troglo“416 14 7

FrankreichPolitische Perspektiven – der 16. Par-

teitag der LCRFrançois Duval 412 45 3

Vordringlich ist die Verbindung von Ar-beiterInnen und Studierenden

Daniel Bensaïd 414 3 5

Frankreich in einer tiefen sozialen und politischen Krise

Laurent Carasso 416 4 7

Nationale Konferenz der LCR, Perspek-tiven für das Jahr 2007

Roseline Vachetta 418 35 9

GriechenlandStudentenbewegung in Griechenland –

erstes Nachgeben der RegierungPanagiotis Sifogiorgakis 418 31 9

GroßbritannienRespect baut sich auf Frédéric Leplat 410 52 1IndonesienJava von einem Erdbeben erschüttert Pierre Rousset 416 3 7InternationalZu den Mohammed-Karikaturen Internationales Komitee

der IV. Internationale412 47 3

IrlandSieg im irischen Fährstreik Kjell Pettersson 412 8 3Israel/PalästinaIsraels permanenter Präventionskrieg Michel Warschawski 420 5 11Italien„Das Projekt der Unione ist geschei-

tert“Franco Turigliatto 416 9 7

Regierung Prodi II, die radikale und pa-zifistische Linke und der Krieg

Jan Malewski 420 9 11

Resolutionsentwurf zu Afghanistan Claudio Grassi, Salvatore Cannavò

420 10 11

Rede von Franco Turigliatto im Senat Franco Turigliatto 420 12 11Ein Vertrauensvotum auf begrenzte Zeit

– Erklärung vor dem Senat 420 13 11

Unsere Zustimmung ist kein Blanko-scheck, sondern genau befristet

Gigi Malabarba 420 14 11

Vorlage auf der Leitungssitzung der PRC am 14.9.06

Salvatore Cannavò, Fran-co Turigliatto

420 16 11

JugoslawienDer blutige Untergang Jugoslawiens Catherine Samary 418 41 9LateinamerikaAnmerkungen zur politischen Konjunk-

tur in LateinamerikaFrançois Sabado 414 4 5

Titel AutorIn Heft Seite MonatLibanonSchluss mit der israelischen Aggres-

sion!, Solidarität mit dem Wider-stand!

LCR und die Kommunis-tische Partei Libanon (Sektion Frankreich)

418 52 9

Gegen die Resolution 1701, gegen den Einsatz von Nato-Truppen

Gilbert Achcar 420 3 11

Mali und NigerDie neoliberale Globalisierung richtet

sich gegen die ÄrmstenJean Nanga 412 37 3

MexikoDie zapatistische Art, Politik zu machenSergio Rodriguez 410 13 1Naher Osten„Israel nimmt eine gesamte Bevölke-

rung in Geiselhaft“Gilbert Achcar 418 3 9

Risse in der zionistischen Mythologie und Fragen zur Identität

Cinzia Nachira 418 6 9

Die Hexenjagd auf Tali Fahima Lin Calozin-Dovrat 418 10 9Das sinkende Schiff des US-ImperiumsGilbert Achcar 418 14 9NiederlandeLinkswende bei Kommunalwahl Murray Smith 414 49 5NigeriaGewerkschaften in Nigeria – Wider-

stand gegen die neoliberale OffensiveDanielle Obono 416 17 7

PakistanAufruf zur Unterstützung der Labour

Relief Campaign in PakistanPierre Rousset 410 31 1

Arbeiterhilfskampagne nach dem Erd-beben

Farooq Tariq 416 42 7

PalästinaWahlsieg der Hamas Badil Resource Center for

Palestinian Residency and Refugee Rights

412 3 3

Neuer palästinensischer Nationalis-mus?

Nicolas Qualander 414 42 5

Krisenabstimmung Christian Picquet 414 43 5Weiter um den heißen Brei reden? Urs Diethelm 414 45 5Zwischen Hamas-Sieg und dem Diktat

Israels und des WestensMohammad Jaradat

(BADIL)414 46 5

PolenBewegung im linken Lager Bogusław Ziętek 412 9 3„Arbeit und Brot!“ – Wahlmanifest der

polnischen Partei der ArbeitPartei der Arbeit 412 14 3

PortugalNicht gehaltene Versprechungen und

WahldebakelLuís Branco 410 48 1

RusslandErstes Russisches Sozialforum Ljudmilla Bulawka 412 15 3SlowenienGewerkschaftliche Mobilisierung gegen

den NeoliberalismusJ.M. 410 51 1

Spanischer StaatSolidarität mit den entlassenen SEAT-

BeschäftigtenInternationales Komitee

der IV. Internationale412 48 3

Sri LankaWahlausgang bedeutet politischen Um-

bruchVickramabahu Karuna-

rathne410 37 1

Erklärung der CMU zu den Präsident-schaftswahlen 2005

Bala Tampoe 410 41 1

Nach dem Tsunami Niel Wijethilake 416 40 7SüdafrikaWiderstand gegen den Neoliberalismus

in SüdafrikaJosep Maria Antentas 420 47 11

ThailandDas „Land des Lächelns“ in einer neu-

en politischen KriseDanielle Sabaï und Je-

an Sanuk416 45 7

UruguayMLN Tupamaros … die ehemalige

Guerilla an der RegierungErnesto Herrera 412 6 3

USAGewerkschaftsbund gespalten Chris Kutalik 410 31 1VenezuelaPolitische Erklärung der Partei Revolu-

tion und SozialismusNationales Gründungs-

komitee der PRS410 8 1

„Die Revolution muss vertieft werden“ Orlando Chirino 416 48 7Die Revolution aus der Sicht der Lin-

ken oder die Erbsünde des Chavis-mus

Roland Denis 420 34 11

Register 2006 nach Ländern

Page 51: Putsch in Thailand · Daniel Bensaïd, führendes Mitglied der Ligue communiste Révolution-naire (LcR), der französischen Sek-tion der IV. Internationale und Pro-fessor für Philosophie,

Titel AutorIn Heft Seite MonatDebatteZurück zu den Quellen: Einheitsfront

und politische FormierungManuel Kellner 414 27 5

GeschichteCyrano de Bergerac und die Geduld

des RevolutionärsRudolf Segall 414 23 5

Cyrano von Bergerac und die Geduld des Revolutionärs (Teil II)

Rudolf Segall 416 23 7

Dolf Segall zum Andenken Helmut Dahmer 416 31 7Der Spanische Bürgerkrieg – aus der

Sicht von Hans David Freund 418 23 9

Briefe aus Madrid Hans David Freund 418 23 9Doppelherrschaft in der Spanischen

Revolution – Die Problematik der Komitees

418 27 9

Hans David Freund (1912–1937), Biographische Notiz

Friedrich Dorn 418 29 9

Bolschewismus und Stalinismus Daniel Bensaïd 420 21 11Ungarn 1956: eine Revolution wird

entstelltCharles-André Udry 420 28 11

GewerkschaftenEuropäische Gewerkschaftsbewe-

gung heute – ein kurzer ÜberblickThadeus Pato 418 18 9

IV. InternationaleBrasilienresolution Internationales Komitee

der IV. Internationale414 32 5

Zur Klimaerwärmung Internationales Komitee der IV. Internationale

414 33 5

Titel AutorIn Heft Seite MonatLinkeThesen zur Linkspartei und zur poli-

tischen LageRevolutionär Sozialisti-

scher Bund/IV. Inter-nationale (RSB)

410 23 1

Zeit für Alternativen. Zur politischen Situation und den Aufgaben einer sozialistischen Linken

internationale sozialisti-sche linke (isl)

410 27 1

Einheitsfront, neue Linkspartei und Rolle der PDS – Bewegung in der Bewegung

Thies Gleiss 412 17 3

NachrufManfred Behrend 1930 – 2006 D. B. 412 23 3„Zeiten der Hoffnung – Zeiten des

Zorns“Hanna Behrend 412 23 3

Manfred Behrends Vorwort zu sei-nem Buch „Eine Geschichte der PDS“

Manfred Behrend 412 26 3

Simonne Minguet (1920–2005) Jean-Michel Krivine 412 31 3Basile Karlinsky (Michel Lequenne),

1925–2006 414 50 5

Rudolf Segall, 1911–2006 414 52 5ÖkonomieWeltwirtschaftliche Trends und

SpannungenEduardo Lucita 414 35 5

Politik und NaturTsunami, Katrina, Kaschmir: Politi-

sche Reflexion über die sich häu-fenden Naturkatastrophen

Pierre Rousset 416 31 7

SommercampSommercamp der IV. Internationale 416 52 7WTODie WTO muss außer Gefecht ge-

setzt werden!Michel Husson 410 3 1

Register 2006 nach Themen (Auswahl)

die Internationale 2006

Titel AutorIn Heft Seite MonatThesen zur Linkspartei und zur poli-

tischen LageRevolutionär Sozialisti-

scher Bund/IV. Inter-nationale (RSB)

410 23 1

Zeit für Alternativen. Zur politischen Situation und den Aufgaben einer sozialistischen Linken

internationale sozialisti-sche linke (isl)

410 27 1

Einheitsfront, neue Linkspartei und Rolle der PDS – Bewegung in der Bewegung

Thies Gleiss 412 17 3

Wie Phoenix aus der Asche B. B. 412 19 3Manfred Behrend 1930 – 2006 D. B. 412 23 3„Zeiten der Hoffnung – Zeiten des

Zorns“Hanna Behrend 412 23 3

Manfred Behrends Vorwort zu sei-nem Buch „Eine Geschichte der PDS“

Manfred Behrend 412 26 3

Zum „Karikaturenstreit“ und dem drohenden Angriff der Großmäch-te auf den Iran

Erklärung des RSB 412 29 3

www.dielinke.at: „die linke“ in Öster-reich geht online

412 31 3

Titel AutorIn Heft Seite MonatSimonne Minguet (1920–2005) Jean-Michel Krivine 412 31 3Cyrano de Bergerac und die Geduld

des RevolutionärsRudolf Segall 414 23 5

Zurück zu den Quellen: Einheitsfront und politische Formierung

Manuel Kellner 414 27 5

Cyrano von Bergerac und die Geduld des Revolutionärs (Teil II)

Rudolf Segall 416 23 7

Dolf Segall zum Andenken Helmut Dahmer 416 31 7Der Spanische Bürgerkrieg – aus der

Sicht von Hans David Freund 418 23 9

Briefe aus Madrid Hans David Freund 418 23 9Doppelherrschaft in der Spanischen

Revolution – Die Problematik der Komitees

418 27 9

Hans David Freund (1912–1937), Biographische Notiz

Friedrich Dorn 418 29 9

Bolschewismus und Stalinismus Daniel Bensaïd 420 21 11Ungarn 1956: eine Revolution wird

entstelltCharles-André Udry 420 28 11

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REGISTER 2006

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G9861

Im Juni 2007 wird eine große Aktionswoche zum G8-Gip-fel in Heiligendamm stattfinden. Die G8 stehen für eine so-zial ungerechte, ökologisch unverantwortliche und militaris-tisch imperiale Politik. Hiergegen werden zehntausende Men-schen aus der Region, aus dem ganzen Bundesgebiet, aus Eu-ropa und der ganzen Welt protestieren und Alternativen zu der herrschenden Globalisierung sichtbar machen.

Wir begrüßen die Aktivistinnen und Aktivisten aus dem Ausland und freuen uns auf eine der größten internationalen Demonstrationen seit Jahren. Alle Spektren der globalisie-rungskritischen Bewegung werden in den kommenden Mona-ten ihre Inhalte und Aktionsvorschläge verstärkt in die öffent-liche Diskussion einbringen – hier in der Region wie auch in den jeweiligen Orten und Ländern, aus denen sie kommen.

Mehr als 450 Aktivistinnen und Aktivisten aus ganz Eu-ropa haben sich auf der zweiten Aktionskonferenz in Rostock auf den Fahrplan für die Protestwoche gegen den G8-Gipfel verständigt.

Die Aktionswoche beginnt mit der Großdemonstration ge-gen den G8-Gipfel am Samstag, 2. Juni.

Am Sonntag, 3. Juni, gibt es eine große Auftaktveranstal-tung, die gemeinsam mit unseren internationalen Freundinnen und Freunden gestaltet wird.

Am Montag, 4. Juni, wird ein migrationspolitischer Akti-onstag mit inhaltlichen, aktionistischen und kulturellen Beiträ-gen veranstaltet – unter dem Motto „Für globale Bewegungs-freiheit! Gleiche Rechte für alle!“.

Am Dienstag, 5. Juni, wird im Rahmen des Aktionstags gegen Militarismus, Krieg, Folter und den globalen Ausnah-mezustand der Flughafen Rostock Laage blockiert und um-

zingelt, um die ankommenden Regierungschefs zu begrüßen. Am Dienstagabend startet der Alternativgipfel, der bis zum Donnerstag, 7. Juni, gehen wird. Eine Reihe von „Satelliten-veranstaltungen“ des Alternativgipfels begleiten die gesamte Aktionswoche (zum Beispiel auf dem Camp und bei den Ak-tionen).

Am Mittwoch, 6. Juni, beginnen die Blockaden des G8-Gipfels.

Am Donnerstag, 7. Juni, finden ein Konzert mit Herbert Grönemeyer unter dem Motto „Music and Messages“ weitere Blockaden, und Demonstrationen statt. Prominente internatio-nale Sprecherinnen und Sprecher des Alternativgipfels werden am Auftakt der Demonstrationen teilnehmen.

Wer sich den G8-Gipfel einlädt, lädt sich auch den Pro-test ein. Wir fordern das Land Mecklenburg-Vorpommern, den Landkreis Bad Doberan und die Hansestadt Rostock auf, dass die nötige Infrastruktur für die Unterbringungen der Men-schen in Camps und für das Austragen der Veranstaltungen zur Verfügung gestellt wird.

Rostock, 12. November 2006

Kontakt:• Monty Schädel, Rostocker G8-Bündnis und DFG-VK, Tel.

0177-887 10 14• Christoph Kleine, Interventionistische Linke / Block G8,

Tel. 0172-900 61 61• Sabine Zimpel, Erlassjahr, Tel. 0177-784 41 54• Sibylle Gundert-Hock, Eine-Welt-Netzwerk, Tel. 0160-336

62 68• Peter Wahl, Attac, Tel. 0160-823 43 77

Gemeinsame Abschlusserklärung der G8-Aktionskonferenz „Rostock II“ vom �0. bis �2. november 2006

Vom 10.–12. November haben VertreterInnen sozialer Bewe-gungen und Initiativen in Rostock auf einer Internationalen Aktionskonferenz über die Proteste gegen den im Juni 2007 in Heiligendamm stattfindenden G8-Gipfel beraten.

Die teilnehmenden Gewerkschafterinnen und Gewerk-schafter aus verschiedenen europäischen Ländern laden ihre Gewerkschaftskolleginnen und -kollegen sowie die Gewerk-schaften ein, sich an diesen Protesten und an lokalen Anti-G8-Bündnissen zu beteiligen.

Mit diesen Protesten soll ein Zeichen gegen Sozi-alabbau, Rentenklau, Massenarbeitslosigkeit, Stand-ortkonkurrenz und Privatisierung öffentlichen Eigen-tums gesetzt werden.

Infineon, AEG, Bosch-Siemens-Hausgeräte, BenQ, Allianz – das ist nur die Spitze eines Eisberges. Arbeitsplätze werden im Tausenderpack vernichtet, durch Rationalisierung und Arbeitsplatzverlagerung. Das Kapital macht sich mit dem von Generationen von Arbeitern und Angestellten erarbeiteten Reichtum da-von; dorthin, wo niedrige Löhne und Sozialleistungen hohe Profite versprechen und keine gewerkschaftliche Kraft die Unternehmermacht einschränkt.

Die Regierenden der G8 haben dafür das globale Feld po-litisch bereitet und eine grenzenlose Spirale des Lohn- und Sozialdumpings durch die Standortkonkurrenz ausgelöst.

Deshalb protestieren wir gegen das Gipfeltreffen der G8. Wir rufen auf, der internationalen Standortkonkurrenz unsere gewerkschaftliche Solidarität entgegenzusetzen.

Rostock, 11. November 2006

Erklärung von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern