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Ausgewählte Projekte von 2012 - 2015 Portfolio Annekatrin Trautmann [email protected]

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Page 2: Portfolio Annekatrin TrautmannPortfolio Annekatrin Trautmann annekatrin.trautmann@gmail.com Ich habe die Improvisationstechnik an der Tessiner Universität Scuola Teatro Dimitri (STD)

Ich habe die Improvisationstechnik an der Tessiner Universität Scuola Teatro Dimitri (STD) des Studiengangs Bachelor of Fine Arts im Bereich Physical Theatre und Kreation in grossen Teilen erstmals syste-matisch untersucht und dokumentiert. Es handelt sich um eine eigenständige, kaum erfasste Technik, die im Bereich Kreation, Rezitation und Training für darstellende Künstler zum Einsatz kommt. Von 2005 bis 2008 bin ich während des Studiums in der Technik ausgebildet worden. Seitdem durchdringt sie nicht nur meine praktische Arbeit, sondern schärft essentielle Frages-tellungen für meine Recherche.

Ich habe mich bei der Assistenz auf die Dokumentation des Aufbaus von dem drei-jährigen Praxis-Curriculum konzentriert und die Organisation der Abläufe, das Ineinandergreifen der ein-zelnen Phasen und Elemente im Prozess der Improvisation beleuchtet. In den Bericht beschreibe ich die Verbindung und Weiterentwicklung der thematischen Hauptstränge der Technik auf inhaltlicher Ebene. Zahlreiche Übungen sind detailliert dokumentiert und mit ergänzenden Skizzen

und Fotos als Rohmaterial vorhanden. Einzelne Aspekte werden in umfangre-ichen Interviews von Jean-Martin Roy erklärt.

Das besondere Freistellungsmerkmal der Technik ist der starke Bezug zwischen dem Bereich des Imaginativen und dem verkörperten Ausdruck. Die Technik liefert fundiert Anleitungen, das individuelle Material von Erfahrung, Erinnerung und Vorstellbarem zu erschliessen und für Improvisation und Kreativ-Vorgänge zu nutzen. Die Körperempfindungen über-nehmen die Schlüsselfunktion in dem Prozess aus der Vorstellungskraft einen körperbasierten Ausdruck zu schöpfen.

Im Anhang A (Seite 9-36) finden Sie einen Überblick mit Auszug aus dem Text zur Dokumentationsphase.

2013 - ongoing

Assistenz Jean-Martin RoyAssistenz bei Jean-Martin Roy zur somatischen Improvisationstechnik in der theatralen Arbeit und im Ausbildungsbereich der STD.

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Unter dem Thema „Zur Beforschung der Improvisation als wesentlicher Bestandteil des Physical Theatre, Eine Untersuchung im Rahmen der Scuola Teatro Dimitri (STD) und Scuola universitaria professio-nale della Svizzera italiana (SUPSI)“ habe ich im Auftrag der Universität Scuola Teatro Dimitri den somatischen Ansatz der theatralen Improvisation untersucht. Das Forschungsmandat war Teil eines drei-jährigen Schweizerischen-Natio-nalfonds-Projekts zur Untersuchung der Funktionsweisen des Physical Theatre als künstlerisch-wissenschaftliche Recherche.Diese Forschung beschreibt nach über 35-jähriger Praxis der Improvisation nach Roy an der Universität erstmals den Alleinstellungscharakter der Methode, der durch diese wissenschaftliche Unter-suchung zu benennen ist. Ein weiterer Kernpunkt der Forschung liegt in der Untersuchung der feinangelegten Didaktik.

Im Anhang B (Seite 37 - 44) können Sie einen Teil des Abschlussberichtes einse-hen, der speziell die Art der Vermittlung und die Wechselbeziehung zwischen Technik und Lehrendem untersucht.

Ich frage nach Vorgängen und Abgren-zungen innerhalb der Transition zwischen der Rolle des Lehrers und der ganzen Per-son des Lehrers, die eine ästhetische und authentische Aktion des Unterrichtens ausmacht.

2014

ForschungsmandatSpezifisches Forschungsmandat als Teil des Schweizerischen Natio-nalfonds – Projekts „Physical Theatre und Genologie des Clowns“.

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Meine praktische Recherche ist von der Frage geleitet: Welche inneren Prozesse vollziehen sich, dass Energie und Kraft so fokussiert werden, dass die sichtbare Bewegung so aufgeladen wird, dass Aus-druckskraft und Präsenz quasi spürbar sind?

Beim Training stellt sich ein Zustand der Gewissheit und Sicherheit („doubtless-ness“) ein, bei dem der feinsinnige und physiologische Körper zentriert wird. Das Geschehen zu erfassen und die Handlung zu steuern steht in Zusammenhang mit dem Fluss der vitalen Energie. Es vollzieht sich ein kontinuierliches Ausbalanci-eren und Reagieren zwischen der realen Aktion und leiblichen Kräften.

Die Kampfkunst spitzt ganz direkt viele The-men der Improvisation zu und setzt einen klaren Übungs-Rahmen. Das Training liefert eine Praxis, die vergleichbare Ziele wie die Improvisation verfolgt. In beiden Fällen - Kampfkunst und Improvisation - geht es um Polarisierungen und Extreme. Es wird beispielsweise Flexibilität, Spontanität, omni-präsente Wahrnehmung und Gelassenheit

gesucht, bei gleichzeitiger Konzentration, Fokussierung, Handlungsplanung, hohe physische Anstrengung und enorme Präzi-sion.

2013 - ongoing

KalarippayattuPractical Research in der südindischen Kampfkunst Kalarippayattu.

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Seit 2012 bin ich Mitglied der Johanna Devi Dance Company in Berlin. Das Company-Training konzentriert sich auf den südindischen klassischen Tanzstil Bharatanatyam und verbindet das formale Bewegungvokabular mit der Philosophie der Release Technik. Neben Produktio-nen und Kooperation bin ich mit Johanna Devi mit der Recherche zu einem eigen-ständigen Training, welches die Struktur des Ansatzes unterstützt, involviert.

Im Mittelpunkt der Company-Arbeit steht die Durchdringung der kodifizierten Ras-terung und der Rückbau des klassischen Tanzstils. Die freigelegten Elemente finden eine neue Ergänzung in der Verb-indung mit den konträren Bewegungsab-läufen der Release Technik. Es entstehen gegensätzliche, nahezu unvereinbare Bewegungsqualitäten.

Die Bewegungsrecherche ist durch Rhyth-musarbeit geprägt. Polyrhythmen aus dem carnatischen und hindustani Musiksystem bieten das Fundament für präzise Fussar-beit, filigrane Handgesten, Mudras und individuelles Bewegungsmaterial.

2012 - ongoing

Bharatanatyam und Release-TechnikPraktische Recherche zum südindischen klassischen Tanzstil Bhara-tanatyam und Horton / Release-Technik im Kontext der JDDC.

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2005 bin ich das erste Mal mit dem Bewegungstraining Klein Technique in Kontakt gekommen und verfolge diesen Ansatz in regelmässigen Profitrainings-Klassen bei Hanna Hegenscheidt oder in Workshops mit Susan Klein bei Sasha Waltz&Guests und Barbara Mahler. Das Herzstück dieser Technik ist die Funk-tionsweise der Tiefenmuskulatur. Dar-steller und Tänzer lernen ihren eigenen Körper im Kontext der physischen Gesetz-mässigkeiten effizient einzusetzen und ihre physische Kompetenz als künstle-risches Potenzial mit hoher Belastbarkeit auszuschöpfen.

Die Praxis der sanften Kampfkünste wie Fan Gi-gong, Tai-chi und dem Kampfsport Kalarippayattu ergänzen sich mit den Prinzipien der Klein Technique. Präzise Kenntnis und Differenzierung der anato-mischen Strukturen des Körpers ermögli-chen mir eine tiefgreifende Untersuchung der Bewegung. Es sind die tiefliegenden Muskelschichten, die das Knochengerüst nicht nur ausrichten, die Kraftlinien stabilisieren und die Muskulatur korrekt funktionieren lassen, sondern direkt über

die Sehnen mit den Knochen verbunden sind. Das ermöglicht ein Arbeiten mit dem eigenen Körper, der in Verbindung zum Boden und Raum steht.

Mich interessieren speziell die Muskel-gruppen, die im physiologischen Sinne Innen und Aussen in Kontakt treten las-sen; wie zum Beispiel der Iliopsoas, der am Oberkörper an der Lendenwirbelsäule ansetzt und am Oberschenkelkopf endet. Dieser Muskel ist mit dem Diaphragma verbunden und ermöglicht eine Verbin-dung zwischen Atem und Skelett.

Diese Arbeit fundiert mein künstlerisches Schaffen und durchzieht die Unterrichts-tätigkeit.

2005 - onogoing

Somatische Praxis

Somatisches Bewegungstraining und Recherche ergänzt den Ansatz der Klein Technique mit fernöstlichen Kampfkunstmethoden

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Master-AbschlussarbeitMit der Master-Abschlussarbeit reflektiere ich den Prozess der Materialgenerierung und Figurenfindung im genreübergreifen-den Arbeitsfeld des Bewegungstheaters unter dem Thema: Die Konstitution der Figur im Physical Theatre dargestellt am Fallbeispiel ’Shut up and let me know - a play’. Ich erarbeite ein Systementwurf zum autonomen Kreieren und beschreibe dessen Einbettung und Anwendung. Einen Eindruck in die theoretische Ausführung können Sie im Anhang C (Seite 45 - 54)gewinnen.

ProduktionCharakteristisch für das abendfüllende Stück ’Shut up and let me know – a play’ sind die Kernthemen Kommunika-tion, Körpersprache und das Spiel mit Archetypen und Rollenvorstellungen zwischen Mann und Frau. In den Szenen ist Austauschbarkeit, Durchlässigkeit und Wiederholung spürbar. Wir haben in der Kreation mit Funktionsweisen der Montage,

von ’loops’ und ’pattern’ gearbeitet und Publikumsreaktionen durch festgelegte Spielregeln und „scores“ in den Ablauf des Stückes eingebettet.

> Trailer ”Shut up let me know”

2010

Master-Abschlussarbeit & Produktion ”Shut up let me know - a play“…ist eine abendfüllende Produktion und wird als Fallbeispiel in der Master-Abschlussarbeit herangezogen.

2010

Master-Abschlussarbeit & Produktion ”Shut up let me know - a play“…ist eine abendfüllende Produktion und wird als Fallbeispiel in der Master-Abschlussarbeit herangezogen.

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Anhänge

> Anhang A: ”Assistenz und Dokumentation Jean-Martin Roy”Seite 9 - 36

> Anhang B: Abschlußbericht ForschungsmandatSeite 37 - 44

> Anhang C: Master-Abschlussarbeit ”Shut up and let me know”Seite 45 - 54

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Anhang A: ”Assistenz und Dokumentation Jean-Martin Roy”

Auszug, Trautmann, Annekatrin (2013/ 2014), Die Improvisationsmethode von Jean-Martin Roy im

Kontext der Didaktik der Scuola Teatro Dimitri und als kreativer Produktionsprozesse im Physical

Theatre, Inhaltsverzeichnis, Kapitel 1 – Kapitel 2.4, S. 1-28

Inhaltsverzeichnis

1. Lehrtätigkeit an der Scuola Teatro Dimitri: Aufbau und allgemeine Strukturierung des

Improvisationsunterrichts im dreijährigen Ausbildungszyklus der Schule

1.1 Allgemeine Verortung und Zielsetzung des Fachs ”Improvisation” im Kontext der Schule

1.2 Der typischer Ablauf einer Unterrichtseinheit

1.2.1 Aufwärmen/Trainingseinheit

1.2.2 thematische Einführung als praktischer Einstieg im Gruppenverband

1.2.3 alternierende Einzelarbeit/Coaching als ausführlicher Übungsteil

1.3 Ausbildung im Sechs-Phasen-Modell/ thematischer Bogen der drei Ausbildungsjahre

1.3.1 Erste Phase: Erste Phase: Fokussieren und Stimulierung als Grundfertigkeit der Improvisation

1.3.2 Zweite Phase: Den Fokus halten und zugleich einen Ausdruck aufspannen

1.3.3 DrittePhase: Dynamischer Kreislauf: Stimulus > Eindruck > Ausdruck

1.3.4 Vierte Phase: Verinnerlichen des dynamischen Kreislaufs/ Körperempfindungen definieren Verhalten

1.3.5 Fünfte Phase: Charakter-/Personnagen-/Szenen-Erfindung + Partner-Improvisationen

1.3.6 Sechste Phase: Rollen-/ Geschichten-Entwicklung + Gruppen-Improvisationen

1.3.7 Das Sechsphasenmodell als bidirektionaler Komplex

2. Ausgewählte Technikaspekte der Arbeit von Jean-Martin Roys

2.1 Grundidee des Unterrichts: Verschränkung der Makro- & Mikroebene, Unterricht in thematischen Bahnen

2.2 grundsätzliche Fertigkeiten und Hauptbegriffe der Technik

2.3 Gegenüberstellung von Individualismus und Konformität innerhalb Jean-Martins Ansatz und das Freilegen von persönlichen Potentialen

2.4 Zum Verhältnis von aktiver Teilnahme und teilnehmender Beobachtung in Jean-Martins Arbeit

2.5 Technik der Konstruktion von Charakteren durch Körperempfindungen als Verbindung zum persönlichen Erfahrungsspeicher des Körpergedächtnis'

2.6 Technik der Konstruktion von Geschichten durch Charakter-orientiertes Improvisieren

2.5.1 Beschreibung zwei beispielhafter Übungen in Einzelimprovisation

2.6 Improvisation mit Partner

2.6.1 Beschreibung einer beispielhaften Übung in Partnerimprovisation

2.7 Zonenarbeit

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3. Philosophische Fundierung

3.1 Existentielles Credo Jean-Martin Roys Technik: Improvisation schöpft aus dem Inneren

3.2 Persönliche Konstitution als Input und Maß für den Improvisations-Vorgang

3.3 Der Mensch als Schöpfer seiner Aktion im Zeitalter der Quantenphysik: Die Verbindung zwischen Körperempfindung und Imagination

3.4 Improvisation als Zustand

3.4.1 am Beispiel chinesicher Tuschzeichnungs-Verfahren

3.4.2 am Beispiel der Malerin Emma Kunz

3.4.3 am Beispiel der südindischen klassischen Tanzform Bharatanatyam

3.4.4 am Beispiel der südindischen Kampfkunst Kalarippayattu

4. Inspirationsquellen von Jean-Martin Roy

4.1 Anleihen aus dem Tanz

4.1.1 Jean-Martin Roy im Vergleich bekannter Tanztheorien

4.1.2 Jean-Martin Roy im Vergleich aktueller Tanzpraxisansätze

4.2 Einflüsse aus dem Theater

4.2.1 praktische Recherche von Jean-Martin Roy mit dem Künstlerkollektiv unter Alain Knapp

4.2.2 Jean-Martin Roy im Vergleich bekannter Theoretiker und Praktiker

4.2.3 Schlüsselposition der Methode von Michail Cechov

4.3 Einflüsse verschiedener Autoren

5. Fazit und Würdigung

5.1 Entwicklungsstufen in Jean-Martin Roys Lehrtätigkeit an der Scuola Teatro Dimitri

5.2 Schlüsselerfahrungen und ihre Auswirkungen auf die Didaktik

5.3 Innovationen

5.4 Herausragende Andersartigkeit Jean-Martins Methode

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1. Lehrtätigkeit an der Scuola Teatro Dimitri: Aufbau und allgemeine Strukturierung des

Improvisationsunterrichts im dreijährigen Ausbildungszyklus der Schule

1.1 Allgemeine Verortung und Zielsetzung des Fachs ”Improvisation” im Kontext der Schule

Die Improvisationsarbeit mit Jean-Martin Roy an der Scuola Teatro Dimitri beschreibt eine

Improvisationspraxis in Stimme und Bewegung. Die Methode bietet, ganz allgemein formuliert,

eine fundierte und detaillierte Anleitung, um aus dem Stehgreif etwas zu erfinden und darzustellen,

und zur Interpretation bestehender Textvorlagen.

Dabei wird die Vorgehensweise der Improvisation zum Einen ganz im Sinne der Definition des

Wortes: „Improvviso im Sinne von unvorhergesehen, unerwartet“ wird etwas Neues, noch nicht da

gewesenes formuliert. (www.wikipedia.org/wiki/Improvisation). Zum Anderen wird Improvisation

als Mittel genutzt, um eine gewisse Könnerschaft im Bereich der Textarbeit zu erlangen.

Die Devise der Technik könnte lauten: Sie fordert [dabei das] ein was vorhanden ist“ (ebd.), denn

sie stellt nicht nur den Darsteller selbst in den Mittelpunkt, sondern geht noch ein Schritt weiter und

erklärt ihn zur eigenen Inspirationsquelle und somit zum „höchste(n) Schöpfer (...) des Geschehens“

(O. Ortolani, 2005:17) und macht aus dem Akt der Improvisation eine „schöpferische Tätigkeit“

(JM,Theaterimprovisation, 1984: 1).

Mit diesem didaktischen Ansatz stellt das Fach Improvisation ein konstituierendes Element im

Ausbildungszyklus der Scuola Teatro Dimitri dar. Sara Bocchini stellt in ihrer Abschlussarbeit über

die STD die zwei hauptsächlichen Grundaspekte des Ausbildungsprogramms heraus und beschreibt

diese allgemein als Erarbeitung spezifischer Könnerschaft im Bereich des Bewegungstheaters

bezüglich Interpretation und Kreation:

„L’accento è posto sullo sviluppo e sul consolidamento dell’espressività corporea in tutte le sue

manifestazioni e utilizzazioni nell’ambito dello spettacolo teatrale, mentre l’altro aspetto riguarda la

conoscenza delle tappe del processo creativo, dall’ideazione alla messa in scena di progetti personali.“

(Sara Bocchini)

Das Fach Improvisation setzt sich imAllgemeinen in diesem Kontext folgendes zum Ziel:

„A terme, la formation de l'acteur par l'improvisation lui donne une maîtrise de ses moyens créateurs

et le rend: de crée seul un personnage ou un fait théâtrale, de confronter et d'enrichir son jeu avec des

partenaires ayant la même formation que lui, de découvrir les lois specifiques d'une oeuvre en cours

d'invention ou à interpréter.“ (text, Théâtre-Création, S.6/7)

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Jean-Martins Ansatz erwächst aus einer Lehrmethode, die, unter der Leitung von Alain Knapp, von

einer Künstlergruppe Théâtre Création Lausanne in eingehender Recherche entwickelt wurde. Diese

Lehrmethode, die in Kapitel 5.2.1 näher beschrieben wird, bietet eine Reihe praktischer Übungen

an, konzipiert für Einzel- und Gruppenimprovisationen, und offeriert folgendes Angebot:

„L'expérientation méthodique se fait sur propositions d'exercise simples. Ils ont pour but l'éveil des

facultés créatrice de l'individu“. (Théâtre-Création, S.8)

Dabei steht Verflechtung und Wechselbeziehung von Struktur, Inhalt, Technik und Form im

Vordergrund und nicht die separate Abhandlung der einzelnen strukturierenden Elemente. Dieser

Grundsatz zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Didaktik von Jean-Martin Roy und gibt

der Methode einen organischen prozeduralen Charakter.

Die thematische Rahmung des dreijährigen Ausbildungsprogramms im Fach Improvisation lässt

sich auch grob in das bestehende Raster einordnen, die von Florian Reichert beschriebene „triade:

sudare, interpretare, creare.“ (Sara Bocchini, S.36), wobei jedes der drei Verben der Reihenfolge

nach eine knappe inhaltliche Synthesis des ersten, zweiten und dritten Ausbildungsjahrs darstellt.

Jean-Martin selbst beschreibt das allgemeine Ziel seines Wirkens an der Scuola Teatro Dimitri, als

einen Betrag zur Ausbildung von Darstellern als „acteurs-créateurs“, die in der Lage sind, mit

einem hohen Maß an Sensibilität, Szenenmaterial selbst zu erfinden und eine spezifische oder

bestehende Rolle, durch selbstbestimmten Umgang mit erlernten Technikaspekten, zu interpretieren

und zu verkörpern. (Mitschrift des Interviews mit Jean-Martin am 12.12.2013)

1.2 Der typische Ablauf einer Unterrichtseinheit

Der Unterricht bei Jean-Martin hat vorwiegend starken Workshop-charakter. Ein Block geht meist

über eine oder zwei Wochen. Zum Teil sind auch einzelne Unterrichtseinheiten zwischen den

geblockten stage-artigen Einheiten, um die Kontinuität der Materie zu garantieren. Eine

Unterrichtseinheiten fasst meist zwei Unterrichtsstunden mit einer Länge von 3 bis 4 Zeitstunden.

Während eines Improvisations-Blocks wird vorwiegend jeden Tag vormittags oder nachmittags,

also halbtägig, gearbeitet. Ein Intensiv-Unterrichtsblock hat immer einen thematischen

Schwerpunkt. Zur Schwerpunktsetzung berichte ich im Zuge des Sechs-Phasen-Modells ausführlich

und bezüglich der organischen Schwerpunktfindung im drei Jahreszyklus im Kapitel 3.1.

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1.2.1 Aufwärmen/Trainingseinheit

Eine einfache Unterrichtseinheit von 4 Stunden sieht bei Jean-Martin typischer Weise wie folgt aus:

Alle Studenten beginnen gemeinsam mit einer Art Aufwärm-Serie, von circa 10 Minuten Länge.

Dafür stehen alle Studenten lose im Raum verteilt und gehen meist für sich allein oder auf

Anweisung zu zweit oder in der Gruppe, eine feste Bewegungsabfolge durch. Diese Sequenz nennt

Jean-Martin Training. Sie setzt sich aus Elementen des Tai Chi bzw. des Wu Chi zusammen und

dient der allgemeinen Körpersensibilisierung. Die Wahrnehmung wird geschärft und quasi in den

Körper geholt. Um diesen Prozess zu favorisieren wird die Übungssequenz im leichten adagio

ausgeführt. Dabei wird darauf wertgelegt, dass nichts mechanisch geschieht oder reproduziert wird.

Die Studenten sollen üben das wahrzunehmen, was momentan tatsächlich geschieht. Das fordert

eine präzise Verbindung zwischen physiologischer Koordinierung und Konzentration der

Aufmerksamkeit. Die Vorstellungskraft und Lenkung der Aufmerksamkeit ist hierbei entscheidend.

Um dies zu üben werden zusätzliche Ebene über die praktische Ausführung der Trainingseinheit

gelegt. So können die Studenten aufgefordert werden ihre Aufmerksamkeit bewusst in einzelne

Körperteile oder Körperregionen zu lenken (zum Beispiel: der kleinen Finger, die Handgelenke

etc.), während sie das Training ausführen. Oder es werden während der Bewegungen des Trainings

Körperempfindungen bewusst abgelesen.

Hier möchte ich grob zwischen zwei Abstufungen unterscheiden, verdeutlicht an folgenden

Beispielen: Was ist der Unterschied zwischen das Handgelenk in den Raum vor-drücken oder den

Unterarm in den Raum nach-ziehen? Die beschriebene Bewegung sieht von aussen, für ein relativ

ungeschultes Auge, gleich aus. Oder: Was beschreibt tatsächlich die Binnen-Bewegung, wenn die

Schulterblätter auf dem Brustkorb nach aussen rutschen oder Richtung Wirbelsäule fallen, wenn

beide Arme lateral über den Kopf gehoben werden? Hierbei wird keine Analyse einer Bewegung

angestrebt im intellektuellen, beobachtenden Sinne. Es soll vielmehr das physiologische Geschehen

mit einhergehenden Körperempfindungen wahrgenommen und abgetastet werden.

Die Bewegungsqualität, Bewegungsenergie und ihr beschriebene Verlaufsbahn im Raum sollen auf

präzise und detaillierte Art und Weise über die Sinnesmodalitäten wahrgenommen werden. Die

Studenten entwickeln dabei ein Gespür was im Körper-Innenraum und an der Körperoberfläche

passiert, wenn sie eine sichtbare Bewegung im Raum ausführen. Dabei wird geübt simultan

verlaufende Vorgänge wahrzunehmen und in einem gleichmässigen Bewegungsfluss zu

koordinieren. Sara Bocchini beschreibt in diesem Teil ihrer Ausarbeitungen, dass jede Bewegung

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des Trainings mit einer Empfindung bzw. einem Bild verbunden sei (Vgl. Sara Bocchini, S.49),

dabei ist zu präzisieren, dass es sich nicht um innere Bilder oder Assoziationen des Übenden

handelt, sondern Jean-Martin Bilder als Anleitung zur Bewegungsbeschreibung benutzt. Der

Unterschied besteht wieder im innen und aussen. Jean-Martin leitet nicht die äussere Form einer

Bewegung an, sondern gibt ein Bild mit einer Empfindung, dass der Bewegung eine gewisse

Qualität verleiht. Zum Beispiel sagt er, um eine Bewegung der Hände vor dem Bauchraum

Richtung Brustkorb zu beschreiben, die Hände zu heben, wie aus imaginärem Wasser und dabei

spüren wie Wassertropfen von den Fingern abperlen. Jeder Student wird die Bewegung anders, auf

seine Art und Weise, ausführen und doch beschreiben alle eine ähnliche Qualität. Dieses Vorgehen

ist exemplarisch für Jean-Martins Arbeitsweise.

In diesem Teil der Unterrichtseinheit, der circa 15 Minuten dauert, können auch Atemübungen, der

Tai Chi Schritt oder ähnliche Übungen aus dem Butoh oder Yoga-Bereich ausgeführt werden. JM

achtet auf korrekte Ausführung der Übungen und nimmt meist aktiv teil.

1.2.2 thematische Einführung als praktischer Einstieg im Gruppenverband

In diesem Teil wird oft noch die Aufwärmphase in angeleiteten Gruppenübungen verlängert. Hier

ein Beispiel aus einer Unterrichtsmitschrift vom 10. Dezember 2013 im Unterricht mit dem ersten

Jahrgang:

Slow-motion im Raum, alle Studenten laufen gleichzeitig in Zeitlupe im Raum: innerer Zustand

oder Aufmerksamkeits-Zustand ist entscheidend und folgt dem Prinzip allem Geschehen zu

gleichen Teilen Aufmerksamkeit entgegen bringen: Ich weiss nicht wann sich mein Fuss vom

Boden löst, wann ich etwas berühre und wie oder in welche Richtung eine Bewegung geht; ich

habe nur die Gewissheit, dass Bewegung geschieht ! Gewolltes Eliminieren der Fragen: WANN

und WAS (sich von der Idee, dem Verlangen nach Sinn, Kausalität und Originalität,

verabschieden). Nur die Aufmerksamkeit auf die körperlichen Empfindungen lenken und

versuchen jeden Bruchteil, jede einzelne Nuance der Bewegung wahrzunehmen. Dann in jede

körperliche Empfindung sinken, mit ihr verschmelzen, diese feiern.

Dieser Teil kann je nach Bedarf zeitlich stark variieren und liegt in Jean-Martins Ermessen. Diese

beschriebene Übung hat circa 45 Minuten gedauert.

Anschliessend wird ein thematischer Einstieg eröffnet, in dem Übungen angerissen werden, die im

späteren Verlauf des Unterrichts im Zentrum stehen, die je nach Thema des jeweiligen Unterrichts-

Blocks variieren. Oder es werden Übungen ausgeführt, die auf eine komplexeres Thema hinführen

und als Vorbereitung dienen. Alle Studenten arbeiten gleichzeitig im Raum. Hier ein Beispiel aus

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dem Unterricht des ersten Jahrgangs vom 16. Dezember 2013, eine Assoziationsübung, zur

Belebung der Fähigkeit fiktive Elemente in realistische Bilder zu integrieren von Michail Cechov:

lavoro sull'immagine – Arbeitsfokus liegt auf dem Ausgangspunkt einer Improvisation (punto di

partenza). Man nimmt zunächst ein Wort, oder JM nennt ein Wort, empfängt das und lässt ein

inneres Bild entstehen. Ein zweites genanntes Wort, verändert dieses Bild, modificazione del

immagine. Das dritte Wort transformiert das Bild bis zum Abstrakten (zum Beispiel: 1 - Bild des

Mondes, 2 – Der Mond im Winter schneebedeckt oder regenbogenfarben zu Fasching. 3 – Im

modifizierten Mondbild entsteht ein quadratisches Loch, dort seht eine TV und daraus spricht eine

breite, imaginierte Sprache in Seifenblasen, die ein Eigenleben beschreibt...)

Dieser Teil ermöglicht allen einen thematischen Einstieg, der nicht nur verbal über eine Einleitung

erfolgt, sondern direkt erprobt und körperlich erfahren wird. Das ermöglicht auf schnellem Weg

eine klare Vorstellung von der bevorstehenden Arbeit zu erlangen und ggf. spezifische Unklarheiten

gleich zu klären. Gleichzeitig hat jeder durch die kurze praktische Einführung eine eigene

Erfahrung gesammelt und einen persönlichen Bezug zum Thema hergestellt. Dieser Teil dauert in

der Regel 15 bis 30 Minuten.

1.2.3 Alternierende Einzelarbeit/Coaching als ausführlicher Übungsteil

Anschliessend steht eine spezifische Übung im Zentrum des Unterrichts und Jean-Martin arbeitet

einzeln mit jedem Studenten und die Klasse schaut zu. Hier wird im Detail gearbeitet und vertieft.

Die Dauer einer Einzelübung variiert stark je nach Aufgabe und Komplexität. Sie kann circa 10

Minuten im ersten Ausbildungsjahr und bis zu 30 oder 40 Minuten im letzten Ausbildungsjahr

dauern. Wie die Arbeit genau aussieht wird in diesem und folgenden Kapitel erörtert. Jede Einzel-

Session wird anschliessend gemeinsam besprochen. Der Student lernt sowohl beim Zuschauen als

auch beim aktiven Ausführen einer Übung unter Jean-Martins Anleitung. Zum teilhabenden und

beobachtenden Lernen gehe ich in Kapitel 3.4 näher ein.

1.3 Ausbildung im Sechs-Phasen-Modell/ thematischer Bogen der drei Ausbildungsjahre

Um ein erstes Gefühl für den Improvisations-Vorgang zu bekommen, schlage ich vor die, von Jean-

Martin differenzierten 6 Arbeitsphasen, die im Anschluss ausführlich vorgestellt und besprochen

werden, an dieser Stelle in drei Phasen zu vereinfachen.

Phase eins und zwei könnten unter der Überschrift Fokussierung gefasst werden. Das heisst, um

eine Improvisation zu beginnen, schlägt Jean-Martin zunächst vor, sich auf eine spezifische Sache

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zu konzentrieren, also einen Fokus zu setzten als Ausgangspunkt an dem die Improvisation für ein

Erstes festgemacht wird. Im nächsten Schritt wird eine sich radial öffnende Bewegung mit

definiertem Fokus angeboten, die Phase drei und vier beschreiben. Das bedeutet mit dem Fokus als

Anker kann die Öffnung sinnvoll genutzt werden. Ohne definiertes Zentrum wird eine Öffnung zur

willkürlichen Bewegung in die Breite ohne spezielles Interesse oder Angebot zur emphatischen

Teilhabe für den Zuschauer. Hier geht es also um ein sukzessives Entfalten oder Aufspannen der

erfundenen Realität. Wobei, sinnbildlich gesprochen, der Boden erst kurz vor jedem Schritt

erschaffen wird. Im weiteren Verlauf werden Fokussierung und Aufspannen in einem plastischen

Kreislauf synchronisiert und dynamisiert. Diese Form, die den Vorgang der fünften und sechsten

Phase beschreibt und die logische Fortsetzung der vorangegangenen Bewegungen darstellt, ist aus

der Physik entlehnt und heisst Torus und beschreibt beispielsweise die subatomare Struktur eines

Atoms. Die Form des Torus findet sich in unendlichen Variationen in Strukturierung, Anlage und

Funktionsweise der Natur wieder und ist für seinen autostimulierenden unendlichen

Bewegungsfluss kennzeichnend. Hier zur Verdeutlichung eine Skizzierung der drei Schritte:

Wenn der Improvisierende in der Mittelachse des Torus' angeordnet wird, ist er permanent von

zirkulierenden Bewegungen durchströmt. Die im Zentrum des Torus' fliessende Bewegung ist

aufsteigend und entspricht einer gewissen Verinnerlichung. Auf seiner Oberfläche hingegen

beschreibt die Bewegung in Spiralen oder linear angeordnet eine abfallende Kurve. Diesem

Vorgang könnte eine Veräusserung zugeordnet werden. Die stimulierende Wechselbeziehung der

beiden Vorgänge, die sich vereint in der Funktionsweise der Torus-Sphäre wieder finden Die

beschreibt exemplarisch Jean-Martins Vorgehensweise und findet sich auf der Mikroebene, in jeder

Übung, und auf der thematischen Makroebne des Ausbildungszyklus' wieder. Die drei Schritte sind

ebenfalls repräsentativ für die Schwerpunktsetzung des jeweiligen Ausbildungsjahrs.

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1.3.1 Erste Phase: Fokussieren und Stimulierung als Grundfertigkeit der Improvisation

Im ersten Ausbildungsjahr und in der ersten Phase der Improvisationsarbeit wird im Sinne des

schulinternen Dreierschritts „...sudare: all’allenamento fisico, a rendere disponibile il corpo come

mezzo d’espressione...“ (Sara Bocchini, Florian Reichert im Interview, S.36) an der Durchlässigkeit

und Bereitschaft des Darstellers und seinem Instrument – Körper, Organismus, Apparat –

gearbeitet. Jean-Martin beschreibt diese Anfangsphase auch als Durchkneten (sinngemäss zitiert,

Interview mit Jean-Martin vom 12.12.13).

Dabei ist die Entwicklung der Wahrnehmungs-Fähigkeit intrakorporaler Prozesse, ausgelöst durch

einen aussenliegenden Stimulus, das primäre Lernziel. Hierbei handelt es sich um die

Bewusstwerdung eines persönlichen innerlichen Bildes, und der Wirkung der Assoziation vor dem

geistigen Auge auf den Gesamtorganismus des Darstellers, das durch die Wahrnehmung eines

äusseren stimulierenden Impulses ausgelöst wird. Das bedeutet der Darsteller hört zum Beispiel ein

Geräusch, bekommt ein Wort gesagt oder sieht ein Wasserglas (Stimulus) und nimmt die Wirkung

auf sich selbst bewusst wahr. Und wenn er möchte, kann er trainieren, dies in ungefilterte und

spontane, assoziative, innere Bilder zu lenken. Diese Bilder sind mehrdimensionale Gebilde und

setzten sich aus persönlichen Eindrücken und Erfahrungen zusammen. Ich gehe auf die Komplexität

dieser inneren Gebilde näher in Kapitel vier ein. Momentan ist der Begriff der „Innerung“ den

Schulz von Thun für die Gesamtheit „von Vorstellungsinhalte[n], die auf die Vergangenheit

bezogen sind (Er-Innerung)“ verwendet, dienlich. (Friedemann Schulz von Thun, 1989: 20)

Diese Art von Fokus nennt Jean-Martin auch Mono-Kanal.

Die Studenten lernen im ersten Schritt durch Lokalisierung und Fokussierung einen Ausgangspunkt

für eine Improvisation zu schaffen. Das erste starke Bild wird festgehalten, verinnerlicht, um darin,

wie in einer inneren Landschaft, spazieren zu gehen; es zu erforschen, um es kreativ nutzen zu

können. Dieses Festhalten der Assoziation als klaren Fokus, als Tiefenanker gesetzt, ist der erste

Schritt in Richtung interessanten Ausdruck. Der Darsteller arbeitet mit geöffneten Augen. Das Bild

ist immer eine Zusammensetzung aus fiktiven und real-erlebten Elementen.

Zusammengefasst wird das Erlernen der folgenden Fähigkeiten in der ersten Phase angestrebt:

„Faculté de réflexe intérieur – savoir s'appuyer sur la parenté des sentiments et des états avec le

système physiologique des postures et des rythmes.“ (Théâtre-Création, S.17)

„Faculté de se créer des contacts d'expression – savoir partir de n'importe quel fragment d'image et

développer à partir de là une image inérieure saisissable donc maniable“ (ebd. S.14)

Jean-Martin beschreibt diesen Vorgang als eine präzise Bestimmungsarbeit, die Natur des inneren

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Bildes zu erforschen und ihm ein gewisses Gewicht, eine „fiktive Wertung“ zukommen zu lassen.

(3. Theaterimprovisation unter Objekt, Ergänzung im Telefonat am 20.02.2014).

1.3.2 Zweite Phase: Den Fokus halten und zugleich einen Ausdruck aufspannen

In der zweiten Phase bringt die Wirkung, die das innere Bild im gesamten Organismus des

Darstellers hervorruft eine erste In-Formsetzung hervor. Dieser Ausdruck ist wirklich eine erste

Skizzierung einer Darstellung nach aussen in Form von Bewegung, Lauten oder Sätzen (nach JM,

Theoretischer Überblick). Der Schwerpunkt hierbei liegt in der zweiten Phase noch ganz klar auf

der Unterhaltung des inneren Bildes und der Wirkung der Verinnerlichung. Dabei steht die Qualität

des verbalen oder non-verbalen Ausdrucks im Vordergrund und nicht der inhaltliche Gehalt eines

verbalen Ausdrucks beispielsweise. Wie das Aufspannen eines Ausdrucks im Detail funktioniert,

kann hier nur idealtypisch Schritt für Schritt erklärt werden, da es sich um einen

ineinandergreifenden Prozess handelt, bei dem sich die einzelnen Abläufe überschneiden oder

simultan verlaufen.

Der anfängliche Impuls dient nur als stimulierende Komponente als Mittel zum Zweck, um ein

inneres Bild entstehen zu lassen, anschliessende ist der Auslöser nicht mehr von Interesse. Danach

ist der persönliche Bezug, den der Darsteller zum inneren Bild aufbaut, formgebend. Die

individuelle fiktive Wertung legt hier die Vorlage. Der Darsteller positioniert sich zum inneren

Fokus. Die Wirkung dieser Bezugnahme liefert dem Darsteller Spielmaterial in Form von

affektiven, physiologischen, emotionalen oder kognitiven Bindungen zur Situation. Hierbei wird

der Darsteller ermuntert sich an den Bereich der Körperempfindungen zu halten, um im

momentanen Geschehen präsent zu bleiben und nicht in zu realistisches Erinnerungsmaterial

abzugleiten. Er lernt in diesem Verinnerlichungs-Prozess diese fiktive Beziehung zu entdecken und

zu entwickeln, indem er sie unterhält und sich in diesem Kanal lenken lässt, bis der Vorgang so sehr

an Klarheit gewinnt, dass der Darsteller sozusagen dadurch in eine Veräusserung kommt und eine

Aktion oder Handlung motiviert (sinngemäss 3. Theaterimprovisation unter Beziehung).

Durch die Vertiefung der faculté d'intérioration wird der Ausdruck gewissermassen geboren und

kann durch die faculté d'expression technisch vertieft werden.

„Faculté d'intérioration – savoir de créer une relation avec le fragment d'image-contact, savoir

procéder à partir de ca fragment à la construction d'une action et de ses conséquences. Cette faculté

d'intérioration n'est pas introspective, mais directement liée a l'expression ainsi qu'à la formulation.

Faculté d'expression – saisir les fragment (d'une image qui se compose) dans leur effet sur soi-même,

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expérimenter les conséquences intérieures des fragments d'image, en tirer une stimulation affective,

intellectuelle es sensorielle, rendre présent aux autres les sentiments et les idées par l'expression

verbale ou/et physique.“ (text, Théâtre-Création, S.14)

Jean-Martins Beschreibung dieser Phase entspricht dem zu beobachtenden Teil der

Wechselbeziehung der beiden simultan unterhaltenen Fähigkeiten: "Welches ist die spontane Form

von Bewegung und Lauten, die diesem Bild entsprechen? Wie sollte der Körper oder die Stimme

dieser Form eine Präsenz im Raum geben?" (JM, Theoretischer Überblick).

Damit die Studenten diese Basis-Abläufe der Improvisation verinnerlichen können wird im Verlauf

des ersten Ausbildungsjahrs an mehreren Punkten angesetzt und gearbeitet, um ein effektives

Vorankommen zu favorisieren. Im Zuge dessen wird im Allgemeinen der Vorgang der

Wahrnehmung sensibilisiert, die Entwicklung der schöpferischen Vorstellungskraft vertieft und am

Ausdruck des Einzelnen gearbeitet. Dazu gehört, sich mit dem Funktionieren der Sinnesmodalitäten

zu beschäftigen, spontane Ausdrucksfähigkeit zu schulen, sich mit inneren und äusseren Kontakten

zu befassen, persönliche Automatismen, d.h. Bewegungsmuster zu erkennen, um sich jenseits

davon frei bewegen zu können und Schablonen abzubauen, d.h. sich nicht von Klischee-

Vorstellungen lenken zu lassen. Des Weiteren beschäftigt sich der Unterricht eingehend mit dem

Prozess der Verinnerlichung, dem Beziehungsaufbau zum fiktiven Gehalt als Spielzustand, in dem

die Gefühlszusammenhänge produktiv genutzt werden können. Begriffe wie Raum und Form in

denen sich der Körper bewegt und in Ton und Sprache ausdrückt sind weitere

Unterrichtsgegenstände.

(JM, 3. Theaterimprovisation, S.7)

1.3.3 Dritte Phase: Dynamischer Kreislauf: Stimulus > Eindruck > Ausdruck

In der dritten Phase wird der verbindende Aspekt in dem Prozess der Verinnerlichung und

Veräusserung im Mittelpunkt. Es entsteht ein dynamisierter Kreislauf, der sich selbst in

Bewegung hält und, wie an der Torus-Form verdeutlicht, in zwei Richtungen zirkuliert. Der

Kreislauf schliesst sich, da jeder eigens produzierte Ausdruck, zum neuen stimulierenden

Impuls erklärt wird. Jean-Martin beschreibt an dieser Stelle "Welche Resonanz entsteht … [im

Darsteller] selbst durch die Veräusserung des [inneren] Bildes?" Das In-Sich-Hineinhören,

sinken lassen, wirken lassen, tastet innerlich die Wirkung der Veräusserung, der Aktion und der

Handlung ab (JM, Theoretischer Überblick). Es entsteht eine Art Feedback-Schleife: Stimulus –

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Eindruck (oder Abdruck) – Ausdruck. Der Darsteller bildet den Resonanzraum für seine

Behauptungen und lernt beide Prozesse nicht nur simultan wahrzunehmen, sondern seine

Improvisation dadurch zu navigieren. Ein Ablauf, der sich wiederholt und mit immer anderen

Inhalten neu im Raum geschrieben wird:

„Faculté de continuité – Saisir les conséquences intérieures de cette première stimultation et de

cette première expression, les premdre à son compte, s'impliquer dans le processus, se nourrir de

ces conséquences pour passer à d'autre fragments d'image qui à leur tour créent de nouvelles

stimultations, de nouvelles formulation, de nouveau arguments.“(Théâtre-Création, S.14)

Wie in dem Textauszug deutlich wird, ist der Vorgang dynamisch und zieht zunächst immer

weiter werdende Kreise um ein anfangs definiertes Zentrum. Es liegt in der Natur der Sache,

dass sich die Position des Zentrums der zirkulierenden Bewegung auf organischen Bahnen

ändert, wenn eine Argumentation erschöpft ist oder wenn es der Dynamik der Improvisation

dient. Dennoch wird die Kontinuität gewahrt. Zum genauen Vorgang dieser autostimulierenden

Kontinuität in der Improvisation wird im Kapitel 3.6 berichtet.

An dieser Stelle ist anzumerken, dass in den ersten drei Phasen verstärkt darauf wertgelegt wird,

dass überhaupt der Vorgang aus dem Stehgreif etwas zu kreieren verinnerlicht und im Körper als

Ablauf etabliert wird. Hier wird keine mechanische, vertechnisierte Verinnerlichung angestrebt,

sondern eher, durch die natürliche Einverleibung der angebotenen Vorgehensweisen, ein bewusster,

freier und kreativer Umgang mit den Verfahrensweisen verfolgt. In den folgenden Phasen vier bis

sechs wird zunehmend gelehrt wie sich der Improvisierende in dem permanenten Circuit-Mobilé

bezüglich Inhalt, Strukturierung und Kohärenz eines Charakters und der Geschichte in einer

Improvisation organisiert.

1.3.4 Vierte Phase: Verinnerlichen des dynamischen Kreislaufs/ Körperempfindungen

definieren Verhalten

In dieser Phase liegt verstärkt der Fokus auf der Verinnerlichung des zunächst neuartigen Ablaufs,

der bis jetzt beschrieben wurde. Darin besteht die Basis Jean-Martins Technik. Die Studenten lernen

innerhalb dieses Vorgehens in verschiedenen Übungen „für sich Spielmotivationen zu ergründen,

die Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart der Figur zu entdecken und zu erfinden, sich

Gedanken- und Handlungsimpulse zu geben und … [diese] durch den Körper, die Geste, den Ton

und die Sprache auszudrücken ...“ (JM, 3. Theaterimprovisation, S.3). Die Studenten erwerben

Souveränität im Bereich der Erfindung von szenischem Material und personnagen. Es werden erste

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Schritte eingeführt, um in der Lage zu sein eine lesbare Linie im Verhalten der erfundenen Personen

zu etablieren und somit Charaktere anzulegen. Und die Studenten lernen vor allem dem Prozess an

sich zu vertrauen. Das bedeutet, einerseits, dass sich störende Mechanismen wie originell sein zu

wollen oder Angst zu haben zu langweilen, den Verlauf einer Improvisation schon im Voraus

innerlich anzulegen und zu planen, mit der Zeit abschwächen. Erst in diesem Zustand der Öffnung,

des sich Einlassens und des Vertrauens, kann das praktische Konzept des Entstehenlassens im

Torus-Fluss erst wirklich greifen. Andererseits lernen die Studenten ihr eigenes Spielmaterial und

die Funktionsweisen ihres eigenen Instruments kennen. (JM im incontro am 13.12.2013) Sie

erproben ihre Ausdrucks-Spannbreite, schulen kontinuierlich ihre Aufmerksamkeit und die

Fähigkeit einen Kanal aufzubauen und zu halten und zwei Realitäten übereinander zu legen – die

innerlich aktiv zugänglich in der äusserlichen zu halten. Dies wird hier durch die Faculté de

structuration et de formulation und die Faculté de crédibilité et de clarté praktisch geübt, um sich

agil und spontan im Strukturierungsprozess und der Auto-Argumentation einer Improvisation

bewegen zu können und in der Lage zu sein neue Elemente aufzugreifen oder, für die Geschichte

zuträglich, zu transformieren. (Théâtre-Création, S.15) In dieser Phase wird verstärkt in Form des

Monologs gearbeitet.

Das heisst im zweiten Ausbildungsjahr an der Schule sind Kreation und Formgebung

hauptsächlicher Unterrichtsgegenstand. Das hat sich in den letzten Jahren verlagert und stellt

momentan die Auseinandersetzung mit Form und Struktur und die Konfrontation mit gegebenen

Strukturen als Hauptaspekt heraus und schliesst somit zur Kategorisierung sudare, interpretare,

creare auf:

Il secondo anno ha come titolo “interpretazione”: gli studenti si confrontano con modelli già

esistenti senza preoccuparsi della creazione. I modelli non sono per forza testi. Si tratta di

comprendere cosa significhi l’aspetto dell’interpretazione nelle diverse materie. (Florian

Reichert im Interview, Sara Bocchini, S.36)

Wobei hier anzumerken ist, dass die eingehende Beschäftigung einen adäquaten Ausdruck für einen

inneren Abdruck zu finden, immer auch den Aspekt der Interpretation einschliesst und praktisch

beleuchtet.

Zur Zeit wird im zweiten Ausbildungsjahr von Daniel Bausch in Zusammenarbeit mit Antonella

Astolfi ein Unterrichts-Block angeboten, der sich mit der Interpretation einer klassischen

Textvorlage einer Tragödien beschäftigt und mit einer Aufführung im Klassenverband abschliesst.

Diese Arbeit ist mir völlig unbekannt und ich kann dazu keine Stellung beziehen.

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1.3.5 Fünfte Phase: Charakter-/Personnagen-/Szenen-Erfindung + Partner-Improvisationen

Die Organisation des Ausdrucks, das heisst sinnbildlich gesprochen, die Formatierungen auf der

sphärischen Oberfläche des Torus gewinnen an Kontur. Ein Charakter oder eine Rolle kann nur

lebendig werden, wenn der Darsteller präzise und konkrete Entscheidungen bezüglich seines

Ausdrucks trifft. Die Improvisationen werden inhaltlich feinmaschiger und zeichnen sich durch eine

gewisse Binnenlogik und Sinnhaftigkeit aus.

Die Arbeit in Partnerimprovisation bewegt sich weg von einer gewissen formalisierten Vertrautheit

hin zu komplexeren Ebenen, auf der sich fiktive Charaktere begegnen und sich miteinander in der

gemeinsamen Improvisation auseinandersetzen oder abgrenzen. Die Studenten lernen den Umgang

mit einer völlig neuen Variablen, eine unvorhersehbare Komponente: Der Partner.

Hierbei klingt mir eine Anweisung von Jean-Martin aus meiner Ausbildungszeit an der Scuola

Teatro Dimitri noch nach: Andare sul contreto – keine Angst vor dem konkreten Benennen! Das ist

ein trickreicher Punkt in der Improvisationsentwicklung, denn, selbst wenn die Torus-Bewegung

grösstenteils verinnerlicht ist, besteht hier die Tendenz sich in alten Mustern zu verfangen. Man

bekommt feuchte Hände und drückt sich vor geradezu behaupteten Argumentationen, weil man

vermeintlich meint sich zu sehr festzulegen und sich womöglich einen Weg für später zu

versperren. Genau das Gegenteil ist der Fall. Eine Behauptung wie 'Gestern war deine

Schwiegermutter aber zäh auf das Erbschaftsthema zu sprechen.', öffnet Türen. Neue

Handlungsmöglichkeiten und Spielangebote lassen eine konkrete Projektionsfläche zwischen den

Spielpartnern entstehen. Vage, zu allgemeine Ausdrücke bremsen den gesamten Mechanismus der

Materialgenerierung, erschweren das physiologischen Abtasten und bieten dem Zuschauer/Partner

keine Ansatzpunkte von der Darstellung persönlich berührt zu sein. Darunter liegt ein

Technikaspekt auf den in Kapitel 2.1 näher eingegangen wird.

In dieser Phase ist es Ziel, dass der Darsteller lernt eine Mischung von spezifischen Verhalten

anzulegen und zu verfolgen. Das ergibt in Grundzüge eine Rolle. Der Darsteller muss in der Lage

mit einem gewissen distanzierendem Überblick das Gesamtgeschehen im Blick zu halten. Während

sein Ausdruck permanent die Suche nach kohärentem aktivem Handeln in der Darstellung

widerspiegelt. Die Geschichte entsteht durch charakterliche Prägnanz.

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1.3.6 Sechste Phase: Rollen-/ Geschichten-Entwicklung + Gruppen-Improvisationen

In der sechsten Arbeitsphase liegt der Fokus auf dem Inhalt der Improvisation. Es wird an

Stringenz, Sinnhaftigkeit, Klarheit in der Argumentation und Glaubwürdigkeit eines Charakters,

einer Rolle und ihrer Geschichte gearbeitet. Hier wird noch einmal stark am persönlichen Interesse

des Darstellers, wie Jean-Martin beschreibt: „Es geht nicht darum irgend etwas zu tun, sondern

einem Weg zu folgen, der persönlich berührt, der aus einer allgemeinen Erfahrung des Individuums

entsteht und der durch den Ausdruck einen einzigartigen Standpunkt übermittelt, der an seine

Person gebunden ist und dies in einer nachvollziehbaren und lesbaren Form.“ verkörpert. (JM,

Theoretischer Überblick, S.2)

Es wird einmal mehr auf einer subtileren Ebene die Welt des fiktiven Charakters gearbeitet. Jean-

Martin nennt die Welt einer erfundenen Person Umständekreis, cerchio di circostanza, oder im

erweiterten Kontext einer Partner- oder Guppenimprovisation Weltenhintergrund. Um diese Welten

sinnvoll und interessant zu gestalten, muss der Darsteller mit feinem Gespür die Substanz jeder

Behauptung, jeder ausgedrückten Affirmation, wiegen und in sich nachklingen lassen. Das führt ihn

dazu ihre Zusammenhänge und ihre Bedeutung wie eine Schwingung im eigenen Resonanzkörper

zu erfahren. Dabei fragt sich der Darsteller nicht: Was hat mich jetzt diese Aussage in dieser

Qualität formulieren lassen? Er geht sofort auf die Konsequenz dieser Aussage und hat somit schon

eine Antwort, die er sinnvoll als Spielmaterial verwenden kann. Er geht über die Analyse und

Fragestellung, sondern greift sofort auf physiologisch Art und Weise über die Körperempfindungen

eine Antwort auf.

Das heisst am Ende der sechs Phasen schliesst es wieder auf einer tieferen Ebene zur Torus-

Bewegung auf. Form findet Inhalt wieder, damit wie und was einer Improvisation ineinandergreifen

und sich dynamisch ergänzen.

Das dritte Jahr steht somit ganz unter der Prämisse des Dreiklangs: „Il terzo anno,

“creazione”.“(Sara Bocchini, Florian Reichert im Interview, S.36)

Ursprünglich waren die Hauptthemen des dritten Ausbildungsjahrs: „Kreation, Interpretation und

Probe“; Vertiefung der Punkte des ersten und zweiten Jahres, Erarbeitung von Rollen und die

Wechselbeziehung zwischen den Rollen in der Dialogform. „Erschaffung und Formgebung von

dramatischen Ereignissen … und der Rollen [eines] Stückes, Stil … und Probe eines Stückes.“ (JM,

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3. Theaterimprovisation, S.8) Darüber hinaus ist ein weiterer Unterrichtsgegenstand die

„Gegenüberstellung von Text, praktische Untersuchung des schöpferischen Weges des Autors“

(ebd.). Das beschreibt die Zonenarbeit und beschäftigt sich mit der Auslegung und Verkörperung in

einer erarbeiteten Darstellung einer bestehenden Textvorlage. Zu meiner Schulzeit wurde dieser

Teil im zweiten Jahr unter dem Titel Zonenarbeit in Kooperation mit Antonella Astolfi unterrichtet.

Hier scheint mir der Rahmenplan der Scuola momentan nicht eindeutig, in welchem Jahr

spezifische Themen Gegenstand sind. Vielmehr habe ich den Eindruck, dass Jean-Martin mehr als

denn je sehr kreativ und dynamisch die Unterrichtsgegenstände zu dem Zeitpunkt anbringt und

verbindet, wo es sinnvoll erscheint, um die Studenten zwar weiterzubringen, jedoch dort abzuholen

wo sie stehen.

Es gibt in dem Jahr noch einen Themenblock 'creazione di storia'. Diese Arbeit kenne ich nur

ungenügend als dass ich sie hier beschreiben könnte. Des Weiteren widmet sich Jean-Martin

spezifischen Aspekten wie Sprachstil, dazu gehören die frasi impersonale, und die Improvisation

unter ein Thema zu stellen, welches während der Improvisation vom Darsteller selbst

herauskristallisiert wird. Der Aspekt der Gruppenimprovisation wurde damals kaum behandelt und

heute treffe ich sie nicht mehr an.

Abschliessend sollten alle Studenten in der Lage sein sich selbst im Prozess der Improvisation zu

führen, Charaktere, Rollen und Geschichten anzulegen und darzustellen und dieses Material zu

fixieren, sowie einen vertrauten Umgang mit Textvorlagen aufweisen.

1.3.7 Das Sechsphasenmodell als bidirektionaler Komplex

Das Sechsphasenmodell wird in zwei Richtungen ausgelegt. Die eine Richtung verläuft von 1 bis 6,

geht vom Darsteller aus und beschreibt den Weg einer Improvisation und kann bis hin zu einer

fixierten Physical Theater/Devised Creation-Produktion vor Publikum gespannt werden. Die andere

Richtung verläuft entgegengesetzt der ersten und beschreibt den Weg der Interpretationsarbeit des

Darstellers in einer Theaterinszenierung von 6 bis 1 ausgehend von einer Textvorlage jeglicher

Form bis zur Aufführung vor Publikum. Hier als Schaubild verdeutlicht:

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Zuschauer sehenBühnenproduktion/Inszenierung

Darsteller interpretiert• Rolle• chorisch

◄---------------------------------------------------------------------------INTERPRETATION----------------- Textvorlage

• mit bestehenden Rollen• ohne spezifische Rollen

----IMPROVISATION------------------------------------------------------------------------------------------►

Entwurf eines Charakters Rollen-EnwurfDarsteller personnage Materialgenerierung

Szene Spiel mit Partner&Gruppe

Zuschauer sehenDevised Theater -

Produktion

Das ist ein Entwurf und entspricht einem idealtypischem Modell, um das Arbeitsfeld von Jean-

Martin abzustecken. Es beinhaltet natürliche Vor- und Rückgriffe einzelner Vorgänge und soll die

Auslegung und Anwendung des Sechsphasenmodells im Improvisationsunterricht verdeutlichen.

In diesem Schaubild ist die Abfolge 1 bis 6 eingebettet. Diese kausale Verkettung der vorgestellten

Elemente lässt sich bidirektional auslegen:

1 = Objekt / Stimulus > 2 = individuelle Beziehung / Bezug > 3 = Handlung/Aktion >

4 = Verhalten > 5 = Rolle > 6 = Geschichte

Das Vorgehen im Rahmen der Erarbeitung einer Inszenierung sieht dementsprechend wie folgt aus:

Geschichte > Rolle > Verhalten > Handlung > Beziehung / Bezug > Objekte (innerlich / äusserlich)

Wie das Arbeiten in den einzelnen Abschnitten verläuft, veranschaulicht das nächste Diagramm.

PP steht für persone presenti, anwesenden Personen als Partner und PI ist die Abkürzung für

persone immaginarie, imaginäre, erdachte, nicht anwesende, Personen als Partner.

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◄-------------------------------------------------------------------------------

IO -------------------------------------------------------------------------► PERSONAGGIO

CAUSA IN RELAZIONE IN RAPPORTO

WO ▲ CON CHI CON

WELCHES ▼ COSA

WAS PERCHE ▼ ▼ TEMA

WIE ▼

SCOPO PP PI

COME

In meinen Augen, ergeben sich zwei klare Arbeitsrichtungen aus der Synthese der Diagramme.

Jean-Martin unterscheidet jedoch noch einmal explizit zwischen zwei Formen der

Interpretationsarbeit. Zum Einen die Erfindung und Verkörperung von Figuren und deren

Geschichten und zum Anderen der klassischen Interpretationsarbeit und „Spiel eines

Autorentextes“. Hier wird ein besonderer Weg vorgeschlagen. Die Arbeit nennt Jean-Martin

Zonenarbeit. Der Arbeitsprozess setzt folgendes voraus: „Das Spiel eines von einem Autor kreierten

Stückes geht (...) die Suche der Wege der Kreation, welche den Autor dazu geführt haben.“ (JM, 3.

Theaterimprovisation, S.5-6) Es wird praktisch erforscht was der Ursprung des geformten

Gedankens des Autors ist, der sich in Form eines dramatischen Textes verfestigt hat.

Die Arbeit zum Spiel eines Autorentextes habe ich momentan nicht im Lehrplan angetroffen und ist

nicht mehr Gegenstand des drei-Jahres-Curriculum. Im Kapitel 2.7 versuche ich die Zonenarbeit

genauer zu beschreiben. Bis dato habe ich nicht die Möglichkeit gehabt, im Rahmen des

Forschungsmandats, diese durch teilnehmende Beobachtung und Assistenz in ihren Grundzügen zu

erörtern.

2. Ausgewählte Technikaspekte der Arbeit von Jean-Martin

2.1 Grundidee des Unterrichts: Verschränkung der Makro- und Mikroebene / prozesshafter

Unterrichtsverlauf in thematischen Bahnen

Wie schon ganz zu Beginn in der Einführung der schriftlichen Arbeit betont wurde, ist die

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Verschränkung einzelner Elemente und Lerngegenstände und ihre Wechselbeziehung zueinander

charakteristisch für Jean-Martins Methode. Jetzt soll näher untersucht werden, ob dieser Aspekt des

Ineinandergreifens als prägnantes didaktisches Element der Methode freigestellt und beschrieben

werden kann.

Jean-Martin betont, dass sich die Makroebene mit Fern- und Nahzielsetzung im dreijährigen

Ausbildungszyklus in jeder praktischen Übung widerspiegeln. Oder jede Übung ist so konzipiert,

dass sie nicht nur einen Aspekt aufgreift und isoliert behandelt, sondern immer einen

Prozessabschnitt oder einen Teilprozess im Makro-Prozess ausbaut. Wie das am Beispiel von

ausgewählten Übungen im Detail aussieht wird in der zweiten Hälfte dieses Kapitel näher

beleuchtet.

Jean-Martin unterscheidet hierbei oft im Gespräch zwischen subjektiver und objektiver Arbeit, wie

Sara Bocchini hier zusammenfasst:

„Il lavoro di improvvisazione che si affronta alla STD si muove costantemente su due binari, uno

soggettivo, l’altro oggettivo. Riconoscere ed accettare l’esistenza di meccanismi oggettivi nel

funzionamento della creatività e dell’immaginazione permette di penetrare il proprio bagaglio

soggettivo.“ (vgl. hierzu auch den Interviewausschnitt mit JM, S.49 Sara Bocchini)

Mich hat diese Unterscheidung zwischen subjektiv und objektiv im Zuge der momentanen Arbeit

des Forschungsmandats immer etwas verwirrt. Hinzu kommt, dass Jean-Martin selbst seinen

methodischen Ablauf nicht in Überkategorien fasst, sondern oft gleich auf die Mikroebene springt

und eine Übung beispielhaft anführt, die dieses oder jenes Arbeitsthema veranschaulicht und

inhaltlich bearbeitet. Das ist verständlich, wenn einmal klar erkannt wurde, dass seine Methode auf

Kategorisierung und inhaltliche Angaben der praktischen Anleitungen an der Schnittstelle Lehrer –

Student, komplett verzichtet.

Mit subjektiv ist demzufolge „une démarche subjective“ gemeint, innerhalb einer präzisen

Rahmensetzung durch „exercises objectifs“ (Théâtre Création, S.24). Das bedeutet jede praktische

Übung bietet eine definierte Spielfläche mit vorgegebenen Regeln, eine Art Score, die der Student

inhaltlich, also persönlich und individuell, beschreibt. Oder wie von Théâtre Création beschrieben

wird, die „Exercices proposés: [bilden einen] contenant [und erst der Darsteller, durch seine]

Participation [beschreibt] contenu [und definiert darüber hinaus permanent] (…) modification du

contenant.“ (ebd.).

Das spiegelt sich auf der Ebene der praktischen Übungsanweisungen wider und wird hier durch den

Begriff der structure-genèse verdeutlich:

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„Tous les exercices sont posés en terme de structure-genèse. Ils ne déterminent pas des formes et

des contenus particuliers. Autant de personnes pratiquant les exercices, autant de formes et de

contenus spécifiques.“ (ebd. S.8)

Dabei ist wichtig zu erkennen, was mit structure-genèse, in Abgrenzung zur allgemeinen

Strukturierung oder Rahmensetzung in den einzelnen Phasen und auf der Makroebene, gemeint ist:

„La notion de structure , dans sa définition (manière dont les parties d'un tout sont arrangées entre elles

ou ensemble des relations d'un tout) comporte un aspect statique. La notion de structure-genèse doit

se comprendre ici comme une structure simple de départ qui, par libre utilisation et transformation

permet la naissance et la formation d'une construction ayant sa structure spécifique, donc différente de

la structure de départ, mais incluent celle-ci. Ce passage de la structure-genèse à une structure plus

complexe, qui procède par l'organisation des divers éléments de la construction entre eux dépend

uniquement de la personne qui pratique l'exercice. Ce processus de transformation est appelé ici:

structuration.“ (ebd. S.8-9)

Diese Ausführung sollen hier einerseits verdeutlichen, dass aufgrund dieser Score-Vorgehensweise

der Methode eine neutrale Rahmung, ein objektives Setting, möglich ist. Dieses Gefäss, dieser

contenant, ermöglicht dem Studenten sich sicher zu fühlen und sich seinem individuellen Material

zu öffnet und in einen Ausdruck zu bringt. Der Lehrer hat dadurch ebenfalls ein präzises Vokabular,

mit dem er den Studenten zwar anleiten und lenken kann „sans aliéner les possibilités de réflexions

individuelles“ (ebd. S.24) jedoch nicht auf persönliche Ordnungskategorien zurückgreifen muss, die

willkürlich erscheinen, da sie nicht offengelegt sind.

Andererseits wird die verschachtelte Anordnung von Inhalt und Form auf der Mikro- und

Makroebene klar. So findet sich beispielsweise der Dreiklang Fokussierung – Aufspannen eines

Ausdrucks – fliessende Torus-Bewegung schon in dem System der structure-genèse selbst wieder.

Er beschreibt jedoch auch im Kursbogen über drei Jahre zum Beispiel die Anordnung von

Einzelarbeit über Monolog-Techniken hin zu Dialogformen mit passiven und später aktiven

Partnern. Auch technischer Ansätze im ersten Jahr oder das Training reihen sich problemlos ein und

unterstützen immer wieder auf unterschiedliche Art und Weise ähnliche Prinzipien.

Oder um noch eine subtilere Entsprechung aufzuzeigen, könnten die Torus-Bewegung zur

Verdeutlichung dienen, wie Modifikationen und deren Integration in einer Improvisation ablaufen:

Hier sind die vom Théâtre Création geprägten Begrifflichkeiten, s'induire et déduire, Induction

et Déduction (ebd. S.22) interessant und beschreiben den Ablauf ein Detail zu entdecken -

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bewusst aufzunehmen – zu integrieren.

Es liegt mittlerweile auf der Hand, dass die verwobene Verschränkung, ein prozesshaftes

Arbeiten und einen Entwicklungsverlauf gestaltet, der unter Umständen das mehrmalige

Abgehen oder Erlaufen auf unterschiedlichen Wegen fordert, Wege mehrmals neu begeht und

eine andere Linearität aufzeigt – vielleicht eine menschlichere? Jean-Martin beschreibt dazu

sein Vorgehen wie folgt und formt im Interview vom 12.12.2013:

seine linke Hand locker zu einer Hohlfaust, es entsteht das Volumen einer Kugel. Jetzt verbindet

er mit der rechten Hand imaginäre Punkte miteinander auf der Oberfläche der linken Hand-Kugel.

Die Punkte bilden Teile einer Bahn. Durch seine Bewegung verbindet er immer wieder neue

Linien, die sich zu Kreisen schliessen. Je mehr Linien, umso zahlreicher sind die Schnittpunkte.

Denkt man sich die Hand weg, entsteht allein durch die Linien ein dichtes Netz vor dem inneren

Auge in Form einer Spähre. Diese Matrix scheint auf ihre Art und Weise kohärent.

Die Textur der beschriebenen Bahnen steht stellvertretend für den allgemeinen Lernprozess im Fach

Improvisation. Jeder Student wird seine eigene Textur oder Matrix anlegen in ähnlichen Bahnen.

Die Fixpunkte können Themen oder Grundprinzipien darstellen. Wichtig ist nur zu erkennen, dass

sie immer wieder von verschiedenen Perspektive, in unterschiedlichen Kontexten, in einem anderen

Licht wieder und wieder beleuchtet, erprobt, getestet und somit im bestmöglichen Falle zu

vertrautem Material und unterstützendem Handwerkszeug eines Darstellers werden.

Die Bewegungen innerhalb der Bahnen haben wie in einer Spur ein gewisses Spiel und werden ihre

organische Form finden. Die Bahnen an sich stehen in einer binnenlogischen Beziehung zu den

Eckpunkten und stehen untereinander in einem kausalen Zusammenhang. Daraus ergibt sich das für

Jean-Martins Vorgehen so typische Curriculum.

Das ermöglicht auch Jean-Martin einen kreativen Umgang mit dem Unterrichtsverlauf. Er kann und

muss, in meinen Augen, sich mit den Unterrichtsinhalten immer dem Stand der Studenten in dem

jeweiligen Moment in der spezifischen Situation anpassen, ohne die grobe Linie aus dem Auge zu

verlieren, um die Gruppe da abholen zu können wo sie, nach einer langen Lücke (ohne

kontinuierlichen Improvisationsunterricht) oder nach einer anderen intensiven Blockveranstaltung

oder Produktion, steht.

Jean-Martin kommuniziert diese Prinzipien seines Verfahrens nicht zwangsläufig den Studenten.

Aus damaliger Sicht als Studentin erinnere ich mich, dass es zweitrangig war, zu wissen, was der

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grössere Kontext einer Arbeit ist. Man ist so in die Arbeit vertieft in allen Fächer, dass man quasi

froh um einen konkreten Arbeitsgegenstand ist. Das kleinteilig wussten wir schon woran wir

arbeiteten. Wenn etwas unklar war, hat JM immer deutliche Erläuterungen gegeben. Viel

entscheidender ist jedoch, dass man als Student eine deutliche Strukturierung mit einer eingehenden

Logik gespürt hat. Mich persönlich hat das damals befreit, mich auf das Wesentliche konzentrieren

zu können, mich einzulassen und einer stringenten Führung des Vermittelnden anzuvertrauen. Das

hat mir damals den Rücken gestärkt und räumt auch die Möglichkeit ein Zusammenhänge selbst zu

entdecken. Und das kann einem kein Lehrer vermitteln, weil es nicht abzusehen ist, wenn es

plötzlich an einer Stelle klick macht und sich von dort ein Aha-Erlebnis ausbreitet. Ich würde

rückblickend sagen, dass JM soviel theoretischen Background gegeben hat wie wir Studenten

jeweils benötigten. So dass der Prozess nicht „verkopft“ aber auch nicht gehindert wurde.

2.2 Grundsätzliche Fertigkeiten und Hauptbegriffe der Technik

Jean-Martins Methode arbeitet, ganz im Sinne des vorhergehenden Kapitels, vom Einfachen zum

Komplexen. Jede Phase fundiert die folgende und jeder Schritt legt die Basis für den nächsten an.

Jean-Martin liefert keine Vorschläge zur Kategorisierung der Haupt-Begrifflichkeiten zur Technik.

Sein Herangehen ist jedoch klar im Kontext einer „gebundenen Improvisation“

(www.wikipedia.org/wiki/Tanzimprovisation) einzuordnen, da jede Übung, wie zuvor ausführlich

besprochen, objektiv zufassende Anweisungen vorschreibt.

In Termini der Musikimprovisation ausgedrückt, wäre die Methode also näher an der indischen

Kunstmusik mit festgelegtem Grundgerüst innerhalb gewisser musikalischer Parameter als in einer

völlig freien Improvisation, die sich in „vollkommen voraussetzungsloses spontanes Spiel“ versinkt

wie in Extremfällen des Free Jazz, zu verorten. (www.wikipedia.org/wiki/Improvisation_(Musik))

Innerhalb der Tanztherapie werden methodische Kategorien der Improvisation hilfreich abgesteckt

und können hier Jean-Martins Ansatz in folgenden übergeordneten Begriffen beschreiben:

Exploration, Imitation, Imagination, Aufmerksamkeitslenkung, Intermodale Tranformation,

kontinuierliche begleitende Verbalisierung von Bewegungsaufgaben, Entwicklungsprogression

und /-regression. Wobei unter Imitation verschiedene Ausführungen unterschieden werden wie

beispielsweise die präzise Nachahmung von Bewegungsformen und technische Abläufen,

empathische Nachahmung und die mimische Nachahmung. (Elke Willke, 2007: 202).

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Herangehensweisen zur technischen Umsetzung könnten wie folgt gefasst werden: Wiederholen,

Übertreiben, Anhalten/Stoppen/Innehalten, Fokussieren, Identifizierung, Vorstellungsbilder

einsetzen, Berührung und Verankern neuer Ereignisse oder die Technik des Ausbreitens, der

Kontrastierung und der Polarisierung oder des Vollendens. Das spiegelt sich allgemein in Ansätzen

wie Atemregulierung, stimmliche Erforschung, Unsinnssprache, Spannungsmodulation,

Wechselwirkung innen/aussen der Kinesphäre und allgemeine Stimulierung wider. Weitere Begriffe

beziehen auf den Raumparameter in Form von Vergrössern und Verkleinern des Ausdrucks in der

Kinesphäre, Variation von Richtung, Ebene und Dimension. Kategorien wie Techniken der

Tempiwechsel und Rhythmisierung oder Veränderung der rhythmischen Struktur beleuchten den

Zeitparameter.

Als grundsätzlichen Fertigkeiten, beschreibt Jean-Martin die unabdingbaren Voraussetzung für eine

Übungspraxis. Da die Studenten mit sehr unterschiedlichen Praxis-Hintergründen an der STD ihr

Studium beginnen, kann das kein Ausschlusskriterium sein, sondern fordert vielmehr eine simultan

ablaufende Sensibilisierung als eingebettete Ergänzung zur kontinuierlichen Improvisationsarbeit.

Man könnte bezüglich der Fertigkeiten eher von wünschenswerter Einstellung oder innerem

Zustand, der eine bestimmte Arbeit favorisiert, sprechen. Folgender Grundverlauf zeichnet sich ab.

Hier ist allem voran der allgemeine Zustand einer sensiblen Durchlässigkeit und konkreten Öffnung

in Form von positiver Bejahung zu nennen. Damit ist die typische Arbeitsmoral des Clowns

gemeint: Zu allem JA sagen, jedes Detail, jeder Impuls, jedes Spielangebot wahrnehmen und

annehmen. So kann sich innerlich ein Raum öffnen und das Material bekommt eine Chance. Wobei

das eine weitere wichtige Grundfertigkeit ist: Dare una chance di vita, ohne vorzuplanen oder zu

zensieren. Daraus ergibt sich der nächste absolut lebensnotwendige Aspekt in einer Improvisation:

Non fare, ma lasciare nascere oder mettersi nello statto di fare, ma non fare, nicht produzieren,

sondern den Moment, jede Bewegung, jedes Wort, entstehen lassen aus dem konkret

Vorangegangenen. Und dabei einen inneren Ruhepol zu nähren im Sinne make yourself

comfortable in uncomfortable situations (allgemein als Grundregel einer Tanz- oder Theater-

Improvisation bekannt). Darin steckt auch, sich das Geschehen anzueignen, es zum eigenen

Material werden zu lassen, mühelos und ruhig, und dabei weder zu forcieren oder zu übersteuern

noch sich akribisch zu versklaven. Was dem Improvisierenden dabei als einziges hilft, ist: Andare

sul conreto und sich an die präzise Ausführung der Übungsanweisungen fokussieren und die

Konzentration auf das Tun an sich lenken. Spätestens hier kommt die physiologische Komponente

ins Spiel. Und hier muss der Improvisierende aufzuhören in bewährten Verfahren zu denken. Er

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muss sich hochgradig im Moment verankern, bis zur zellulären Ebene. Hier entsteht die

Ausdehnung eines beständigen Flux, im Sinne von physikalischem Fluss, der die Möglichkeit bietet

den unmittelbaren Prozess mit allen Sinnesmodalitäten wahrzunehmen. Da sind wir im Bereich der

unmittelbaren Aktivitäten (in der Körper-Innensphäre und im Aussenraum). Hier ist eine

Wirklichkeitsebene (Eindruck der Wirklichkeit) anzutreffen, die nur noch IST und den Darsteller

SEIN lässt. Der Darsteller nimmt demnach die Dinge anders wahr und bewegt sich

dementsprechend: seguire la linea del'energia. Das ermöglicht einen Einblick hinter die

Offensichtlichkeit der Dinge und schärft den Blick jenseits deren Bedeutung und enthüllt die

unmittelbare Vibration eines Wortes als dichte Schwingung. Auf diesen Punkt wird ausführlich im

zweiten Teil des Kapitel eingegangen.

In diesem Bereich sind die Körperempfindungen, la sensazione fisica anzutreffen.

An der Stelle muss der Darsteller nicht mehr fragen, niente domande – risposte!, sondern findet

Antworten in Form von hinterlegten „Innerungen“ mit affektiven Prägungen, die ihm vielerlei

Spielmaterial offenbaren. Der persönliche Erfahrungs- oder Empfindungsspeicher, archivio

personale ermöglicht ein Hineinsinken und fordert ein aprire in dietro, um weiterzugehen. Dieser

paradox erscheinende Rückgriff für ein Voranschreiten verhindert ein Steckenbleiben im

Subjektiven. Das wiederum ist mit dem Reflex gekoppelt, der den Improvisierende anhält sich auf

die konkrete Konsequenz des Geschehens bezüglich seiner Situation zu konzentrieren und zu

formulieren: Andare sulle conseguenze, prendere le considerazioni. Und das funktioniert über die

persönliche Positionierung zur Sache: rapporto personale.

Die meist verwandte Form die hierbei, immer auf einer oder mehreren Ebenen, anzutreffen ist,

beschreibt die klassischen Improvisations-Parameter: repetition and revision. Dabei wird

vergrössert, angepasst, integriert, modifiziert.

2.3 Gegenüberstellung von Individualismus und Konformität innerhalb Jean-Martins Ansatz

und das Freilegen von persönlichen Potentialen

Wie schon das Kapitel 3.2 vermuten lässt, sind die Studenten gerade im Fach Improvisation im

höchsten Maß mit sich selbst konfrontiert. Sie müssen sich kontinuierlich mit charakter-

spezifischen Aspekten auseinandersetzten und merken schnell, dass tiefliegende Angewohnheiten,

Einstellungen, Ansichten, Überzeugungen, Funktionsweisen oder Glaubenssätze, die für die Arbeit

der Improvisation unter Umständen hinderlich sind, nicht einfach so geändert oder umgeschrieben

werden können. Sie wurden einige Jahre eingeschrieben und verkörpert. Hier darf nicht unterschätzt

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werden, dass die private authentische Person mit dem Spielmaterial, dem Darsteller-Organismus,

zusammenfällt. Es gibt keine zusätzliche Ebene wie in anderen Kunstdisziplinen, in denen

Kunstwerk und Künstler getrennt voneinander existieren.

„Si tratta in poche parole come allievi di fare i conti con ciò che si è più che con ciò che si sa,

confrontarsi con un percorso di crescita umana e, come conseguenza, artistica.“ (Sara Bocchini, S. 42)

Wichtig ist zu erkennen, dass es sich ausschliesslich um die Vermittlung einer Kreationsarbeit und

keiner therapeutischen Aufarbeitung handelt. Es soll zwar ein Zugang zum persönlichen

Erfahrungsspeicher erschlossen werden, doch wird gleichzeitig immer an dem Weg in die Fiktion

gearbeitet, um in der Kombination und Ergänzung des Materials etwas neuen, noch nicht da

gewesenes, zu erschaffen. Verstrickung im Persönlichen verbauen den Kreationsprozess.

Dazu muss zweifelsohne „eine Annäherung (…) [an den inneren Kern] des kreativen Potenzials

eines jeden“ geschehen, die, meiner Meinung nach, den kraftvollen Treibstoff liefern sollte und

nicht das ganze Auto ist. (JM, 3. Theaterimprovisation, S.5) Das heisst die Individualität eines jeden

Studenten ist bezüglich des Inhalts einer einzelnen gebundenen Improvisation federführend.

Die Improvisationsarbeit an der STD vollzieht sich auf zwei Ebenen. Die individuelle Arbeit findet

immer im Klassenverband statt, ausser unter Umständen im Rahmen der liff oder lcff Arbeiten. Das

heisst der erarbeitete Ausdruck eines Studenten konfrontiert sich jeweils in der Kommunikation mit

einem Publikum der Klassenkameraden.

„Précisons que si le travail se pratique à l'intérieur d'un groupe, il s'adresse d'abord aus individualités,

respectant en cela le processus de création qui n'est, a priori, qu'individuel.“ (ebd. S.7)

Das heisst der Ansatz sucht keine Konformität. Die Studenten sind nicht angehalten sich persönlich

auf eine Gruppennorm einzupassen. Es findet keine Normierung statt, da die Technik nicht zum

Ziel hat eine Homogenität aus zu nivilieren. Jean-Martins Ansatz sucht ein hohes Maß an

Individualität durch eine gewisse Formalisierung. So ist der Rahmen umschrieben und das

Vorgehen impliziert, damit die Inhalte der Arbeit sich individuell entwickeln.

Der Arbeitsverlauf im Klassenverband wird vielmehr von einem positiven Aspekt der

Formalisierung getragen. Die Studenten fühlen sich einer Gruppe und dem Prozess der Arbeit in

einer Gemeinschaft verbunden. Das fördert die Zugehörigkeit. Gleichsam stellt sich eine

dynamische Wechselbeziehung zwischen dem Aspekt der Gemeinschaft, dem gemeinsamen

Erfahren und dem individuellem Arbeitsprozess ein. Gerade die Andersartigkeit und Diversität der

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Gruppe unterstützt und stimuliert den individuellen Arbeitsprozess. Sie definiert gewissermassen

den Möglichkeitsraum und steckt Amplituden ab. Der einzelne Student wird dementsprechend

ständig animiert über seine eigenen Grenzen hinaus zu gehen. Das erweitert den persönlichen

Horizont und fordert eine natürliche Integration des Erlernten.

Jean-Martins Vorgehen im Verlauf der drei Jahre oszilliert gewissermassen zwischen Individuum

und Gruppe, zwischen persönlich abgestimmten Anleiten und allgemeingültigerem Vorangehen.

In einer ersten Phase zeigt er den Studenten Wege auf, an ihre Potenziale ranzukommen, das

Durchkneten könnte als Umrunden des Individuums eingebettet in die Gruppe, gesehen werden.

Er ordnet in gewisser Hinsicht das Vorhandene neu und legt zum Teil andere Verbindungen an.

Diese werden in praktischen Übungen trainiert. Ein Beispiel hierfür wäre: Unsere mentalen

Prozesse steuert und kontrolliert in einer Vertikalität viele Abläufe im Körper und im Bereich der

Vorstellung, Fiktion oder in der emotionalen Landschaft. Durch eine Ent-Hirarchisierung können

sich ganz neue Räume öffnen. Vorhandene Potenziale entfalten sich und gewisse angeeignete

Mechanismen emanzipieren sich bewertenden Kategorisierungen. Jetzt ist das Material in einer

Horizontalen gleichwertig zugänglich und kann zum Improvisieren dienen. Vertrauen, Intuition und

ein neutraler Raum zum Ausprobieren führen in dem Zusammenhang zu kompetenter Könnerschaft

und nehmen in dieser Arbeit eine Schlüsselfunktion ein.

In einer zweiten Phase steht die Individualität des Studenten insofern präsenter im Raum, weil sich

Jean-Martin an der Individualität jedes Studenten orientiert, ohne die Lernziele etc. aus dem Blick

zu verlieren. Er erkennt sehr schnell an welchen Punkten es hakt, wo die persönlichen Stärken und

Schwächen eines Studenten liegen und was die Natur des Studenten ausmacht. Hier besteht Jean-

Martin Kunst als Lehrer darin über welche Wege er den Studenten am Besten erreicht und dazu

bringt, gewisse Prozesse und Etappen zu erarbeiten oder Prinzipien zu verinnerlichen. Das ändert

aber an den Wegen, den Bahnen, selbst nichts, sondern spricht vielmehr die sinnvolle Verbindung

an, die je nach Student variiert. Deshalb, meine ich, dass die Individualität und Persönlichkeit eines

Studenten als Orientierung richtungsweisend ist. Phänomenal ist, und das ist, meiner Meinung, in

der präzisen Form einzigartig, wie es Jean-Martin bewerkstelligt einen Studenten anzuleiten und

u.a. durch Blockaden zu führen ohne jemals eine persönliche Wertung zu nutzen. Das zeigt wie

sinnvoll strukturiert dieser wichtige neutrale Rahmen ist, das Setting, das Vokabular. Jean-Martin

legt dadurch alle Werkzeuge, alle Spielregeln, das Spielfeld von Anfang an offen. Er hält sich an

diese Abmachung und benutzt nicht plötzlich andere subjektive Kategorien. Darüber erreicht Jean-

Martin die minimal notwendige Distanz, die individuelle Lenkung ohne persönlich werden zu

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müssen, ermöglicht. Der Student geht genauso die Abmachung ein, doch er weiss worauf er sich

einlässt. Das definierte Terrain bietet ihm Sicherheit und ermöglicht eine Öffnung, ein sich-öffnen

und ausdrücken, für zum Teil sehr persönliche Gegenstände. Das ist ein subtiler, zu Weilen hoch

emotionaler, Punkt in jedem Kreationsprozess, der in Jean-Martins Methode respektvoll und clever

formuliert wird.

In der letzten Phase löst sich Jean-Martin wieder von der persönlichen Ebene und ermöglicht so

dem Studenten die erlernten Werkzeuge selbst auszuwählen und anzuwenden und sich autonom in

der Könnerschaft zu bewegen.

Da jeder Student in seiner Persönlichkeit einzigartig ist, liegt nahe, dass sich jeder diesen Weg

selbst erarbeiten muss und das viele Faktoren, von schulinternen Regelungen,

unterrichtsübergreifenden Planungen bis zu ganz persönlichen Gründen, den Verlauf dieser

Annäherung mitbestimmen und beeinflussen. Bei diesen Komponenten handelt es sich um

Variablen. Demnach muss man sich die Tragweite vor Augen führen, auch wenn sich der Student

engagiert und auf den eigenen Weg der prozesshaften Kreationsarbeit konzentriert, „que le résultat

final de la création [même und der angestrebten Ausbildung zum acteur-créateur] est influencé,

parfois même déterminé par les conditions de la création, par le cheminement de la réalisation, de

son point de départ à son point d'aboutissment.“ (Théâtre Création, S.17) Dies verlangt eine klare

Linie und Führungsqualität von Seiten des Lehrers für fachinterne Abläufe und respektvolle

Planung und Einbettung des Fachformats in der Schulcharakteristika der Interdisziplinarität.

Anderweitig besteht die Gefahr, dass keine qualitative Arbeit geleistet werden kann.

2.4 Zum Verhältnis von aktiver Teilnahme und teilnehmender Beobachtung in Jean-Martins

Arbeit

Die alternierende Einzelarbeit bietet eine solide Struktur mit facettenreichen Inhalten. Alle

Studenten durchlaufen immer wieder den Zyklus der Einzelarbeit als Ausführender und Zuschauer.

Hier können wertvolle Lernerfahrungen in aktiver und beobachtender Form gemacht werden.

Da alle Studenten beide Arbeitsformen kennen, entsteht eine Art gemeinsamer, kollektiver

Erfahrungsschatz. Alle arbeiten gewissermassen als Gruppe gemeinsam an einer Sache, obwohl nur

ein Student an der Reihe ist. Deshalb sind beide Lernprozesse sowohl als aktiver als auch als

beobachtender Teilnehmer wertvoll.

Der Arbeits- und Feedback-Prozess sind offengelegt und Teil der Didaktik. Der Student lernt

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gleichermassen durch das Coaching eines Mitstudenten und die aktive Ausführung einer Übung. Es

bereichert und beschleunigt sogar den Lernprozess. Es wirkt sich auch positiv auf die

Gruppendynamik, die Atmosphäre und Arbeitsmoral aus. Die Gruppe erarbeitet sich quasi

gemeinsam Neuigkeiten oder entdeckt während der Diskussion oder Nachbesprechung Neues, was

es zu integrieren gilt. Ein "Aha-Erlebnis" kann genauso gut beim Beobachten oder Besprechen

stattfinden als auch beim aktiven Improvisieren. Die Erkenntnis gliedert sich in den

Erfahrungsschatz ein, weil die beiden Lernprozesse gekoppelt sind.

Darüber hinaus werden soft skills im Bereich differenzierter Wahrnehmung und Beobachtung

erlernt. Ein Student lernt quasi nebenbei sich verbal mitzuteilen, Beobachtungen zu formulieren und

gezielt fragen zu stellen. Nicht zuletzt ist der Student ständig Zeuge eines delikaten Lehr- und

Lernprozesses und kann erleben wie dieser gestaltet wird. Das wird mir besonders jetzt während der

Unterrichtshospitanz bewusst. Das habe ich damals als Studentin, denke ich, nicht so bewusst

aufgefasst. Und doch könnte ich behaupten, dass mich dieser Teil der Didaktik vermutlich

unbewusst zum Positiven beeinflusst hat. Es ist faszinierend und hilfreich zu zusehen wie ein

erfahrener Lehrer etwas vermittelt oder formuliert.

Der grundsätzliche Effekt der aktiven Teilnahme ist, wenn der Student merkt, dass sein Ausdruck

an Geschmeidigkeit gewinnt und sich ein gewisser Fluss oder eine Art Mühelosigkeit abzeichnet.

Jetzt realisiert der Student womöglich auf einer ganzheitlichen Ebene, dass er selbst die Instanz ist,

die den Improvisationsprozess in Gang setzt und unterhält. Er ist der Erschaffende, der die

schöpferische Tätigkeit ausführt und lenkt und den Fundus dazu stellt. Wenn der Student dann noch

merkt, dass er in dem Prozess recht mühelos navigieren kann und seine Persönlichkeit eine

Kompass-Funktion einnimmt, ist viel erreicht. Jetzt kann an Feinheiten wie speziellen Thematiken,

einer Handschrift oder einem Stil gearbeitet werden. Oder der Fokus wird auf das Arbeitsgebiet der

Interpretation gelegt. Ich kann mich auch erinnern, dass es durchaus Improvisationen im dritten Jahr

gab, wo Jean-Martin nicht viel angemerkt hat. Man merkt als Student selbst, wenn erlernten

Inhalten so weit verinnerlicht wurde, dass man nicht mehr daran denkt. Hier beginnt der freie

Umgang damit und ein selbstbestimmter Einsatz der Mittel unabhängig vom Lehrer.

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Anhang B: ”Abschlußbericht Forschungsmandat”

Auszug, Trautmann, Annekatrin (2010), Zur Beforschung der Improvisation als

wesentlicher Bestandteil des Physical Theatre, Kapitel 4, S. 12-20

4. Zur Arbeitsweise von Jean-Martin Roy anhand seiner Rahmenbildung und

Übungen

Ich bemühe mich um eine angemessene Annäherung durch eine Beschreibung der

wesentlichen Elemente des Settings, bzw. der Rahmen, in Verbindung mit den am

stärksten wiederkehrenden Übungen im Verlauf des dreijährigen Curriculums.

Psychoanalyse und Improvisation mit und von Jean-Martin Roy sind zwei verschiedene

Dinge und doch findet sich eine grosse Gemeinsamkeit, die sich in generellen

Bildungszielen beider Disziplinen treffen. Auf jeden Fall ist die Improvisation keine

Therapie und ebenso keine Schule, in der eine bestimmte Technik instruktionspädagogisch

gelehrt wird, sondern es ist ein Lernen durch Erfahrung, es geht um ein sich Einlassen

darauf, das eigene Können zu entfalten, zu zeigen, zu beforschen und zu entdecken und

nicht durch persönliche Bewertungen zu verbauen.

Eine wichtige Gemeinsamkeit von Improvisation und Psychoanalyse ist das Arbeiten mit

Wiederholungen. Ohne Wiederholung gibt es keine Hemmungen und Widerstände, die

sich zeigen; Wiederholungen sind das wichtigste Vehikel, um irgendwann Zugang zu etwas

Neuem, Unvorhersehbarem und Überraschendem zu finden. Manche Teile der

Psychoanalyse stochern mit Entwicklungspsychologischen Predigten in der Biografie der

Analysanten herum und verfehlen die Wahrnehmung von und den Umgang mit aktuellen

Übertragungen. In der Improvisation von Jean-Martin Roy wird die Biografie mit

äusserstem Taktgefühl im Hinblick auf die aktuellen sich zeigenden Formen

wahrgenommen. Überhaupt arbeitet die Improvisation vorrangig über Formen und wenn

dann sehr behutsam mit Inhalten. Der Meister arbeitet stark deutungsabstinent und tritt

dennoch freundlich stützend, ermutigend, haltend und jeden einzelnen schützend, auf. Er

arbeitet interpretierend erstmalig mit einem klassischen Text im Rahmen der Zonenarbeit.

Das Borgen der Ich-Anteile ist in der Psychoanalyse und in der Improvisationsarbeit sehr

ähnlich. Der Analysant in der Analyse verinnerlicht den analytischen Prozess im Laufe

einer Analyse soweit, dass er für den Zweck der unendlichen Analyse einen Analytiker gar

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nicht mehr braucht oder zumindest für sehr lange Zeit nicht mehr. Die Verinnerlichung

der Improvisationsarbeit hat eine grosse Wirkung auf die Biografie und das

Identitätsgefühl des Teilnehmers und darauf wie er sich als Künstler kennt und mit diesem

Kennen arbeiten kann. An dieser Stelle sei über die Parallelen zwischen Psychoanalyse und

Improvisation zusammenfassend über Jean-Martin Roy gesagt: Im Verlauf der Ausbildung

ist er nicht nur Impulsgeber, sondern er lässt jeden einzelnen Teilnehmer sehr nah an sich

heran und nimmt ihn als ganze Person nicht nur im vis-à-vis sondern an sich selbst wahr.

Über diese Wahrnehmung des Anderen an sich selbst reichert er das, was er ihm

zurückgibt immer auch mit etwas von sich selber an und diese Anreicherung entspricht der

inneren Transformationsarbeit von Jean-Martin Roy, die eng damit verknüpft ist nicht zu

wissen, wer seine Gegenüber sind, aber trotzdem unbedingt an sie zu glauben. In dem er

ihnen vorlebt, dass die Fähigkeit zu glauben und zu vertrauen und Visionen zu haben dort

anfängt, wo alles positive Wissen, insbesondere der Science, aufhört, entwickelt jeder

Einzelne für sich selbst diese Fähigkeiten Jean-Martin Roys, sofern er in der Lage ist das,

was er ihnen da füttert, nicht nur zu assimilieren, sondern zu akkommodieren (aktiv

gestaltend anzueignen – nach Jean Piaget, passim) und zu verdauen.

Die Gruppe einer Improvisation schreibt einen Lebenstext. Um jeden Buchstaben des

Textes sind ganz viele Kränze geflochten. Jeder der Kränze ist so üppig, dass der einzelne

Buchstabe hinter den Kränze nicht unmittelbar sichtbar ist. Jeder Kranz stellt die

Sammlung einer Kleiderordnung dar. Jede Kleiderordnung steht für die persönliche

kulturelle Tradition. Es muss demnach auf die Beschäftigung mit den Kränzen Wert gelegt

werden, um die dahinter liegenden Buchstaben anzusprechen und in ihrer aktuellen

Wirksamkeit erkennen zu können. Deshalb beschäftigt sich die Untersuchung nicht mit

einzelnen Sätzen von Jean-Martin Roy, sondern dem Gesamtgefüge seiner in bestimmten

Situationen und Dialogen formulierten Kontexte vollständiger Produktionen der

Improvisation.

Um sich nicht nur in und mit der Konformität der Kleiderordnung zu bewegen, ist Jean-

Martin Roy bemüht in seinem Improvisationsunterricht die Buchstaben sprechen zu

lassen und das menschliche Material, um mit Peter Brooks Worten zu sprechen, in der

Nahaufnahme freizulegen, um es handlungsfähig und formgebend für den Ausdruck in

einer Improvisation zu machen. Wie entwirft Jean-Martin Roy ein Terrain als Raum des

Erfindens?

Eine Unterrichtseinheit ist in der Regel 3 bis 4 Zeitstunden lang und umfasst zwei

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Unterrichtsstunden im Stundenplan der Scuola, nachmittags oder vormittags mit einer

kleinen Pause zur Halbzeit. Die Schüler erscheinen in Trainingskleidung. Kostüme oder

Requisiten kommen im Fach Improvisation, nach meinem Wissensstand, nicht zum

Einsatz. Jean-Martin Roy legt lediglich darauf Wert, dass während des Unterrichts Socken

getragen werden, da der Raum mit Teppich ausgelegt ist. Der Unterricht findet bei

normaler Raumbeleuchtung statt; die Neonröhren sind abgeblendet und an den

Längsseiten des Unterrichtsraumes angebracht. Eine Linie trennt den vorderen Bereich

des Raumes, circa ein Viertel bis Drittel der Gesamtfläche, ab, in dem die Schüler Platz

nehmen, wenn einzeln gearbeitet wird. Es werden keine Bühnenelemente verwendet, bis

auf eine Ausnahme: Im Unterrichtsblock Geschichten erfinden/Storie legt Jean-Martin

Roy auf eine sparsame Bühnenausstattung wert; das heisst zwei schwarze Quinten, als

Hintergrund und ein Hocker, der auf einem circa 2 qm grossen, 20 cm hohen

Bühnenpodest plaziert wird, deuten eine Bühnensituation an. Oder der Unterricht wird im

piccolo teatro, auf der kleinen Bühne des Teatro Dimitri, durchgeführt.

Jede Unterrichtseinheit folgt einer dreigliedrigen Struktur bei wechselnden Inhalten, die

streng eingehalten wird: Zunächst findet sich die Gruppe in einem individuell ausgeübten

Training, eine festgelegte Bewegungsabfolge mit Elementen aus dem Tai Chi und Wu Chi

zur bewussten Zentrierung und Sensibilisierung auf körperlicher Ebene. Darauf folgt ein

Abschnitt im Gruppenverband entlang von ihm vorgegebenen Übungen. Jean-Martin Roy

lässt die gesamte Gruppe Fertigkeiten üben, damit sie in die Lage versetzt werden, einer

komplexen Übung folgen zu können, zum Beispiel dem Umgang mit einem Monolog. Jede

weitere Hinführung bedeutet eine Vertiefung. Die Schüler praktizieren diese hinführenden

Übungen individuell, alle Mitschüler gleichzeitig im Raum verteilt. Hierbei beleuchten sie

schwierige Teilaspekte des Themas und stellen folglich einen praktischen und persönlichen

Bezug zum Thema her, der als erfahrungsbasierter Einstieg der Verdeutlichung des

Themas dient. Nun folgt der individuelle Übungsteil, Improvisationen im Einzelsetting, die

je nach Übung allein, mit Partner oder in einer Kleingruppe durchgeführt werden. Dabei

bildet die Klasse das Publikum und beobachtet teilnehmend. Anschliessende

Besprechungen in der Gruppe, die von Jean-Martin Roy anmoderiert werden, sind

ebenfalls Teil der alternierenden Einzelarbeit. Der Unterrichtsaufbau folgt immer dieser

formalen Rahmenstruktur, sei es in regelmässigen einzelnen Unterrichtseinheiten, zum

Beispiel wöchentlich oder alle zwei Wochen, um die Kontinuität der Materie zu wahren

oder in einer intensiven Vertiefung in work-shop-artiger Form, die eine bis vier Wochen,

halb- oder ganztags, stattfinden kann und an der Schule Unterrichtsblock genannt wird.

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Wiederholung nimmt in der Arbeit von Jean-Martin Roy eine Schlüsselfunktion ein. Sie ist

inhaltlich und formal, auf der Übungsebene und im Hinblick auf das Setting, ein

entscheidendes Strukturelement. Es liegt in der Wiederholung dieser Rahmung, um die

Rahmen als Räume des Geschehens immer wieder abzustecken und neu zu behaupten,

dass die Gruppe und jeder Einzelne in der Lage ist, die Fähigkeit zu entwickeln, sich in den

Zustand des geschehen Lassens und Entdeckens zu versetzten.

Zu Beginn der Ausbildungszeit liegt der Fokus auf der Funktionsweise von

Wahrnehmungsprozessen und Aufmerksamkeitslenkung vorwiegend auf formaler Ebene.

In den ersten Monaten steht die Lautmalerei (Suono e movimento), der Übergang und die

Wechselbeziehung von Geräusch und Ton zur Geste und Bewegung im Vordergrund. Man

geht zurück in das Lautieren, um von da aus das normale Sprechen neu zu fundieren.

Durchlässigkeit und Spontanität werden dabei auch trainiert. Das Ausdrucksspektrum

jedes Einzelnen erweitert sich dabei radial durch die Entdeckung der Extreme: Subtile

Schichten der Empfindungen und comicartig übertriebene Vergrösserung und

Verdopplung.

Ein Leitmotiv bildet hierbei der aus der Musik und Jazz Improvisation stammende

Grundsatz: repetition and revision. In der Lautmalerei beispielsweise wird eine Sound-

Gebärde wiederholt und in der Wiederholung verändert sie sich in ihrer Intensität; sie

wird sukzessiv verkleinert oder vergrössert, bis sie sich schliesslich in etwas Neuem

auflöst, das sich wiederum nach gleichem Schema verändert. Ein möglicher inhaltlicher

Gehalt eines solchen lautmalerischen Ausdrucks zeigt sich nur kurz unmittelbar in seiner

Entstehung und stetigen Wandlung. Darstellung und Interpretation greifen im Augenblick

des Entdeckens ineinander.

Diese Eigendynamik der Veränderung geschehen zu lassen und dem Prozess vertrauen zu

können, in dem die Dinge entstehen, kann nicht vorsätzlich produziert werden; jedoch

kann auch in umgekehrter Herangehensweise Neues wahrgenommen und geübt werden.

Hierbei werden keine Bewegungsabläufe erfunden, sondern ganz alltägliche Gesten

werden in einer Kette von repetition and revision von der Bedeutung entfernt. Das Prinzip

ist das gleiche: Wiederholung und stufenweise Veränderung in der Intensität, bis ein

Maximum oder Minimum den Wendepunkt beschreibt. Das heisst beispielsweise, die

Geste eines Steinwurfs wird in der Wiederholung verkleinert oder vergrössert und

während der Ausführung wird sich voll und ganz auf die Bewegungsform und Qualität

konzentriert, bis diese sich von der ursprünglichen Bedeutung befreit, oder entleert hat

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und in einem neuen Bewegungsablauf aufgeht, als würde ein semantisches Merkmal zur

neuen Form überleiten. Hier wird ganz deutlich, dass der Übungsentwurf eine Fähigkeit

schult, die der Kinästhetik als Lehre der Bewegungsempfindung zugeordnet ist. Der

Schüler muss sich auf zwei Elemente simultan und gleichmässig konzentrieren während er

die Bewegung ausführt: Die Wahrnehmung bzw. Bewusstwerdung und das potentielle

Empfindungsspektrum einer Bewegung.

Was bei der Lautmalerei die Phonemik übernimmt, bestimmt in der Übungskategorie der

formalen Wiederholungen bekannter Gesten oder Bewegungen und deren Verwandlung

eine Art Ent-Semantisierung, im Sinne der Freilegung der Zeichen aller Art auf formaler

Ebene, damit sie sich neu zusammensetzten und in keiner Weise mehr vorgefertigten

Konstruktionen folgen.

Die Übungen werden im ersten Jahr allgemein sehr genau besprochen; dazu zählt die

Durchdringung der Anleitung eines Übungssettings und die Auswertung und

Nachbesprechung, die das Aufgehen der Übungsanweisung in der Umsetzung in der

Vordergrund stellt und nicht eine persönliche Bewertung des Inhalts. Jean-Martin Roy

führt die Schüler direkt an, in dem er sie eng am Rahmen einer Übung hält, die wie Ufer

des Bewegungsflusses wirken. Indirekt vollzieht sich eine ergänzende Art der Führung

durch die detaillierten Nachbesprechungen, deren Verinnerlichung für jeden Einzelnen

Folgen in weiterer Arbeit gewinnt.

Im Verlauf des ersten Ausbildungsjahrs wird des Weiteren geübt, die Konzentration auf

subtile Prozesse zu lenken: Die tatsächlichen Ereignisse von Moment zu Moment

wahrzunehmen, Körperempfindungen zu erfahren, eine fiktive Realität aufzuspannen und

aufrecht zu erhalten, Stimulierung aufzubauen und effizient weiterzutragen, einen

persönlichen Bezug zum Geschehen aufzubauen, sich dem potentiellen Gehalt einer

Bewegung, Körperpositur, eines Geräusches oder Wortes zu öffnen und die Wirkung in

Form eines Monologs oder Statements zu kommentieren. Vor allem lernt man sich selbst

als Person, als subjektiver Moment, in dem die Wirkung des Geschehens widerhallt, als

Resonanzkörper wahrzunehmen und immer wieder auf ein Neues urteilsfrei

kennenzulernen. Dieses Wahrnehmen und Erkennen ist ganz im Sinne von

Nachmanovitchs Formel für Kreativität zu verstehen: „Finde heraus, was dich belastet,

und leg es ab, so wie man einen übervoll bepackten Koffer abstellt, den man viel zu lange

getragen hat. … Das Geheimnis besteht darin [die eigenen Begrenzungen] fallenzulassen.

Das ist kein Verlust, sondern Bereicherung.“ (Nachmanovitch, S., 2013, S. 249)

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Alles was im ersten Jahr in den Grundelementen angelegt und vorwiegend auf der Ebene

der Form verinnerlicht wird, entfaltet sich auf komplexere Weise in den folgenden Jahren

immer deutlicher auf inhaltlicher Ebene. Die Arbeit am Monolog mit unterschiedlichen

Ausgangspositionen, das heisst der sogenannten zero position oder Nullstellung mit

unterschiedlichen Settings zur Stimulierung. wird ausgebaut und mit dramaturgischen

Momenten rhythmisiert. Hierbei ist eine übliche Ausgangssituation als stimulierender

Beginn, zum Beispiel bei einer Monologform, die Verdammt-noch-mal-Monolog heisst,

dass Jean-Martin Roy den Improvisierenden, der im Raum geht, durch ein Klatschen,

unvermittelt stoppt. Die Person verharrt dann in der Position und tastet, nach hinten sich

öffnend, die spezifische Körperpositur nach potentiellem Gehalt in Form von unmittelbar,

im Leiblichen eingeschriebenem Material ab. Dieser Prozess wird in drei sich steigernden

Etappen nicht nur intensiviert, sondern immer wieder neu beschritten, so dass der

Improvisierende die letzte Bewegung wiederholt, vergrössert und in alle Richtungen des

Raumes öffnet, bis die Bewegung nicht mehr steigerungsfähig ist und den verbalen

Ausdruck benötigt. Dahinter steht die treibende Kraft eines hochaufgeladenen Zustandes.

Die ersten verbalen Äusserungen werden, als Vorgabe der Übung, mit

zusammengebissenen Zähnen gemacht, nach innen gekehrt, damit auf diese Weise von der

Stimulierung nichts verloren geht. Diese Formalisierung hilft einen Übergang zum Wort zu

schaffen ohne den Stimulus zu verlieren. Wenn das Risiko einer Blockade in der verbalen

Weiterführung besteht, wird das Lautieren als Zwischenstufe eingeschoben.

Der Aspekt des Dialogs wird im zweiten Jahr, je nachdem wann die Gruppe so weit ist, erst

durch einen passiven dann durch einen aktiven Partner eingeführt. Und jedes Mal geht es

um das Grundprinzip fokussieren, aufspannen, zirkulieren mit einem Partner oder

mehreren als einer oder mehreren ungewissen Variablen. Fokussieren handelt davon, sich

auf ein bestimmtes Phänomen zu konzentrieren, als Ausgangspunkt einer Improvisation.

Aufspannen vom Fokussieren ausgehend bedeutet, eine fiktive Realität zu erschaffen.

Durch die Erneuerung von Fokussieren und Aufspannen von Moment zu Moment entsteht

das Zirkulieren. Zirkulieren meint die Bewegung der Oszillation zwischen Fokussieren und

Aufspannen. Dieses hier umrissene Grundprinzip aller Übungen wird für jeden

Teilnehmer umso verständlicher, je mehr er die Wirkung des gesamten Prozesses

verinnerlicht hat.

Ein Element kommt bei Jean-Martin Roy in der Generierung von etwas Neuem besondere

Wichtigkeit zu: Genügend Abstand zur eigenen Biografie ist ständig zu wahren. Dabei ist

grundlegend entscheidend, dass eine Fiktion, eine Neu-Kombinierung aus Erfahrenem,

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Vorstellbaren und Unbewussten, angestrebt wird. Jean-Martin Roy geht soweit, dass er

den Übungsraum an sich als fiktiven Rahmen definiert, in dem folglich alles was innerhalb

dieses Raumes entsteht Teil einer Fiktion sein muss. Unter Beachtung zweier besonders

wichtiger Aspekte: Die Aussengerichtetheit und die körperliche Empfindung.

Durch die Aussengerichtetheit wird verhindert, in persönlichen Emotionen und

biografieabhängigen Erfahrungen zu versinken. Dieser zuletzt beschriebene

Zusammenhang wird durch eine Rahmensetzung gestützt. Was das Aussengerichtetsein

betrifft, achtet Jean-Martin Roy extrem genau auf einen Kontakt, bei dem der Teilnehmer

genügend sichere Beziehung zu sich selbst hat, um zugleich das im Äusseren

Wahrnehmbare vollständig anzueignen. Diese Doppelbewegung nach Aussen wie nach

Innen schützt vor der Gefahr, dass der Schüler, überwältigt wird von dem was sich nach

Innen hin aufbaut, wenn er zum Beispiel seine Augen schliesst oder dass er zu stark im

Ausdruck nach Aussen aufgeht, nach Innen aber jeden Boden unter den Füssen verliert.

Diese Balance von Innen und Aussen sichert das Weiterarbeiten können ohne das der

Teilnehmer im übertragenen Sinne verbrennt oder andersherum ohne innere Festigung

der äussere Ausdruck keine Kraft hat – mit und ohne panisches Überreagieren.

Jean-Martin Roy verlangt mit hoher Präzision, dass die Körperempfindungen im

Mittelpunkt stehen. Er leitet die Teilnehmer an, sich mit allen Sinnen auf die Essenz, das

heisst die physische Sedimentierung der hier geschilderten Situation zu konzentrieren.

Zuletzt wurde das Setting der Monologform beschrieben und die beiden in ihr wirksamen

Linienführungen; über die Erfahrung mit einem oder mehreren Partnern gelingt dann der

Zugang dazu, dass die Linienführungen umso stabiler sind, je deutlicher die Anwesenheit

der im Aussen wirksamen Partner eine Justierung eines stabilen Verhältnisses von innen

und aussen überhaupt ermöglicht. Der Zuschauer ist immer in der Funktion eines

Partners, genauso wie der zuschauende Lehrer. Das besondere Spannungsverhältnis dieser

Justierung charakterisiert David Mamet, wenn er beschreibt: „Wenn … eine Mutter darum

bittet, das Leben ihres Kindes zu retten, … richte[t sie] keinerlei Aufmerksamkeit auf ihr

eigenes Befinden; sie achte[t] vielmehr äußerst genau auf das Befinden jenes Menschens,

von dem sie etwas verlang[t].“ (Mamet, D., 2001, S.22) Die Mutter steht jedoch so stark

mit sich selbst in Verbindung, dass sie ihren inneren Zustand über den Partner und dessen

Verhalten nährt und erneuert.

Die Dauer einer Einzel- oder Partnerübung variiert stark je nach Aufgabe und Komplexität

und kann von circa 10 Minuten im ersten Jahr bis zu 40 Minuten im letzten

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Ausbildungsjahr dauern. Parallel dazu sollte im zweiten Jahr die chorische Arbeit als erste

Konfrontation mit einem klassischen, dramatischen Text in Form der

Interpretationsarbeit, genannt Zonenarbeit erfolgen.

Es erfolgen immer wieder Rückgriffe auf bereits erarbeitete und verinnerlichte Prinzipien.

Oder Prozesse werden mit Hilfsmitteln wie Stock und Stoff über eine Art Veräusserung

oder Auslagerung verdeutlicht oder es wird bewusst auf die Form Bezug genommen, um

das gleiche prozedurale Vorgehen dann auf die Generierung eines erfundenen Inhalts

anzuwenden. Übungen, die im ersten Jahr Hauptbestandteil einer Stunde sind, können

beispielsweise im letzten Jahr im ersten Teil einer Unterrichtseinheit als Übung zum

aufwärmen, zentrieren und lockern wieder aufgegriffen werden. Dabei wirkt die

Verschränkung und Verlagerung für sich und der Schüler kann seine Entwicklung entlang

dieser Konfrontation wahrnehmen und sich dementsprechend selbst einschätzen. Dabei ist

ein immer weniger werdendes Intervenieren und Sprechen seitens Jean-Martin Roys zu

beobachten. Er ist anwesend und nimmt die Erfahrungen in sich auf, führt die Studenten

sparsam durch Bekräftigung und eine Art tonischen Dialog (ein Begriff aus dem Bereich

der Motopädie) durch sein aktives Hineinversetzen in das Geschehen. Er schenkt dem

handelndem Teilnehmer Glauben und verleiht der Fiktion durch seine Anwesenheit eine

Existenz, die mitteilbar und teilbar ist.

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Anhang C: Master-Abschlussarbeit ”Shut up and let me know”

Auszug, Trautmann, Annekatrin (2010), Die Konstitution der Figur im Physical Theatre

dargestellt am Fallbeispiel 'Shut up and let me know - a play', Einleitung, S. 1-3 und Kapitel 5, S. 14-20.

1. Einleitung

Die vorliegende Arbeit beschaftigt sich mit dem Prozess der Erfindung einer Buhnenrolle

im Genre des Physical Theatres. Der Ausgangspunkt liegt in der Individualitat und in dem

phanomenologischen Korper des Darstellers. Es existiert bisher keine systematische

Vorgehensweise, die Losungsansatze prasentiert, um mogliche Schwierigkeiten und

Probleme wahrend des Kreationsprozesses zu bewaltigen.

In einem ersten Teil wird Heinrich von Kleists Modellentwurf eines Marionettentheaters,

Modell A, als Analogie zum Tanz- und Bewegungstheater vorgestellt. Nachdem das Modell

analysiert und die einzelnen Positionen zu Begrifflichkeiten herausgearbeitet werden,

zeichnen sich zwei Hauptproblematiken ab, die der Darsteller beim Arbeiten uberwinden

muss:

1. Der Darsteller verliert seinen organischen (grazilen) Ausdruck, sobald er eine

vorgegebene Choreographie oder eine dramatische Rolle verkorpern soll.

2. Der Darsteller gerat in dem hierarchischen System des Regietheaters in die

Abhangigkeit des Regisseurs. Seine eigene Reflexion zu seiner

Ausdrucksgenerierung ist nicht gefragt.

Im zweiten Teil wird Kleists Modell auf das System des Regietheaters ubertragen und das

Modell B entworfen. Beide Modelle werden gepruft und es wird festgestellt, dass sie

keinen Losungsansatz fur die Probleme des Darstellers bieten.

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Das Modell C resultiert aus der eigenen Kreationserfahrung wahrend des

Produktionsprozesses des Projektes „Shut up and let me know“. Mit dem Modell C wird ein

eigener Entwurf fur autonomes Kreieren eines Buhnenstuckes und der Rollenebene im

Umfeld des Physical Theatres vorgestellt. Dabei ubernehmen die Darsteller die

Autorenschaft. Verschiedene Disziplinen arbeiten kreativ zusammen.

Es wird gezeigt, dass mit diesem Modell die oben genannten Hauptprobleme des

Kleistschen Marionettentheaters bzw. des Regietheaters uberwunden werden konnen.

Zum Abschluss wird die Anwendung des Modells C anhand des Probenprozesses des

Projektes beschrieben. Es folgt eine Reflexion uber die Rollenfindung als durchlaufener

Prozess. Die Erfahrungen werden dokumentiert und analysiert.

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5. Systementwurf zum autonomen Kreieren: Modell C

Mit Modell A habe ich ein System fur das Tanztheater beschrieben, an dem Modell B habe

ich die Vorgange des Regietheaters verdeutlicht und mit Modell C versuche ich, ein System

fur das Arbeiten im Genre Physical Theatre zu entwerfen, so wie ich es verstehe. Das

Modell C ist ebenfalls ein Versuch, Problem 1 und 2 zu losen. Um das Modell C

verstandlich zu machen, bediene ich mich der bereits verwendeten Begrifflichkeiten der

Modelle A und B. In diesem Fall verandert sich nicht nur die Besetzung der Positionen,

sondern auch deren Anordnung und Verhaltnis zu einander. Es wird in den folgenden

Paragraphen schnell klar werden, dass eine veranderte Ausgangsposition eine neue

Arbeitsweise verlangt, die wiederum unmoglich ihre richtige Anwendung innerhalb eines

hierarchischen Systems erfahren kann.

Meine Ausgangsposition fur das Stuck „Shut up and let me know“ weicht in mehreren

Hinsichten von der einer Regietheaterinszenierung ab. Ich inszeniere weder ein

bestehendes Werk eines Autors, noch wahle ich einen Regisseur, der die Darsteller in

Szene setzt. Mehrere Positionen aus den vorherigen Modellen scheinen wegzufallen. Alle

Mitwirkenden sind multifunktional eingesetzt und besetzten mehr als eine Position. Alle

Qualitaten von jedem Einzelnen sind gefragt. Es gibt kein Machtmonopol, d.h. die absolute

Position des Entscheidungstragers fallt weg. Es existieren keine, im Vorhinein, definierten

Rollen oder Inszenierungskonzepte. Produzierende, befehlende und beobachtende

Funktionen der einzelnen Positionen vereinigen sich in der Person des Darstellers (Position

III). Zudem wechseln die Mitwirkenden wahrend der Stuckentwicklung zwischen

verschiedenen Teilfunktionen. Ich bin beispielsweise in dem Projekt sowohl Projektleiterin,

Darstellerin, als auch in der Position des out-side-eyes tatig.

Ich beginne meine Arbeit mit einer komplett neuen Ausgangssituation. Die außere

Vorgabe durch ein Drama fallt weg. Damit existiert kein Text, welcher bislang das

Hauptmaterial fur die Rolle liefert (siehe Modell B, Ausgangsposition). Keines der

beschriebenen Modelle bietet mir mit der neuen Ausgangssituation ein systematisches

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Vorgehen.

Es gibt jedoch immer noch ein Ziel, welches alle drei Modelle gemeinsam haben. Die

horizontal gelesene Ebene III – III’ – IV des Modells B, verdeutlicht das Ziel. Ich habe,

genau wie in Modell A und B, Darsteller auf der Buhne (III), die sich durch Bewegung und

Sprache ausdrucken (III’) und in dem Rahmen einer Inszenierung (IV) eine Rolle

verkorpern (Rollenspiel der Position III’). Der Prozess der Stuckentwicklung hat genau wie

bei Modell B eine gewisse Probenzeit zur Verfugung. Mit diesen gemeinsamen Eckpunkten

formuliert sich ein Ziel: Eine Inszenierung bzw. in meinem Fall eine Kreation eines Stuckes

zu verwirklichen.

Ich habe also nicht das Ziel, dieses Projekt als Improvisationstheater oder Happening zu

realisieren. Der Unterschied zwischen Kreation und Inszenierung liegt auf der Hand. Ich

kreiere zuerst ein Stuck, um es dann auf der Buhne zu prasentieren. Wie der Prozess der

Rollenfindung im Detail vor sich geht, wird zu einem spateren Zeitpunkt der vorliegenden

Arbeit genauer beschrieben werden.

Die Arbeitsvorgange des Kreationsprozesses vollziehen sich, wie bei Modell B, in zwei

Stufen. Stufe 1 des Modells C heißt Vorbereitungsphase. Die Stufe 2 beschreibt die

Probenphase. Die Position IV bleibt bestehen: Das Produkt, das Stuck. In meinem

konkreten Fall handelt es sich um die Inszenierung „Shut up and let me know“1,

Premiere am 5. Marz 2010 in der Aula Grande der Scuola Teatro Dimitri (STD) in Verscio,

Schweiz.

Das Stuck muss erfunden, also geplant, realisiert und arrangiert werden. Die Gruppe ist

das Ausgangsmaterial in diesem Vorgang wahrend der beiden Arbeitsstufen, in meinem

Fall:

Zwei Darsteller, eine Frau ein Mann

1 Eine Kurzbeschreibung des Stuckes befindet sich im Anhang.

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Eine Buhnenbildnerin

Eine Videokunstlerin

Zwei Personen als out-side-eye2

Das ist der Kern der Gruppe. Gegen Ende des Probenprozesses sind noch zwei weitere

Personen involviert: Eine Kostumbildnerin und eine Maskenbildnerin. Sie sind jedoch nicht

in den kreativen Prozess der Stuckentwicklung eingebunden.

Eine Tendenz, die hier schon sichtbar ist und im Verlauf der Prasentation des Modells C

verdeutlicht wird, ist die „Ent-Vertikalisierung“. Eine Gruppe, in der sich verschiedene

Disziplinen vereinen, bildet den Startpunkt. Das deutet auch darauf hin, dass die

Individualitat der Kunstlerpersonlichkeiten gefragt ist. Es handelt sich nicht mehr um ein

hierarchisches und diktatorisches System. Position III hat gewissermaßen den Platz der

Position I eingenommen. Was vorher als eine, in Abhangigkeit funktionierende

Arbeitsweise beschrieben wurde, spiegelt sich jetzt als gemeinsamer Arbeits- oder

Rechercheprozess wider.

Wie sind die Positionen in der Vorbereitungsphase besetzt? An erster Stelle auf Position I

steht die Kerngruppe der Mitwirkenden. Jeder ist spezialisiert in seinem Fachgebiet. Das

heißt, ihre Individualitat, ihr subjektiver Blick und die Fertigkeit in der jeweiligen Disziplin

sind nicht nur erwunschte Qualitaten, sondern bilden den Grundstock einer

bevorstehenden produktiven Kreationsphase. Damit es zu dieser Gruppenformation

kommt, muss der Position I eine Entscheidung vorausgegangen sein.

Die Projektleitung liegt in meinen Handen. Es handelt sich um meine Idee und um die

Realisierung des praktischen Teils meines Master-Studiums an der STD. Ich bin Initiatorin

des Projektes, habe das Team zusammengestellt und Thema bzw. Genre des Projektes

bestimmt. Ich habe, mit anderen Worten formuliert, das Spielfeld definiert und die Spieler

gewahlt. Diese Entscheidungsinstanz ist nicht zu verwechseln mit der Position II des

Modells B der Stufe 1, der des Befehlsgebers, der totalitaren Position des Regisseurs.

2 Eine kurze Vorstellung aller Mitwirkenden befindet sich im Anhang.

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Modell C arbeitet nicht mit der Idee des Inszenierungskonzeptes. Es ist eine Rahmung, ein

abgestecktes Feld der „Zutaten“ durch das Thema und Genre gegeben, aber keine im

Vorhinein definierten Umsetzungskonzepte. Das Gerust soll gemeinsam erschaffen und

ausgearbeitet werden bis eine Stuck-Kreation existiert. Die Ansatze der Arbeitsweisen im

Modell B und C sind grundlegend verschieden.

Im Modell C steht an Position II der ersten Stufe der Prozess der Materialsammlung. Alle

Mitwirkenden sammeln aus verschiedenen Bereichen Material. Ich bleibe bei der Metapher

der Spielkomponenten. Die Beteiligten machen Vorschlage zur Konkretisierung des

Spielfeldes. Parallel dazu werden die Vorschlage in der Gruppe diskutiert und ausgewertet.

Daraus ergeben sich erste asthetische und inhaltliche Stoßrichtungen. Sie stellen eine

Vorstufe des Gerustes der Kreation dar. Die unendlichen Moglichkeiten szenisch etwas zu

erzahlen, werden eingegrenzt. Als Kommunikationsform dienen der Gruppe

Austauschformen wie ein Internetforum3, Skype-Konferenzen, Telefonate und individuelle

Treffen sowie Zusammenkunfte der gesamten Gruppe.

Als Position III konnen die Arbeitsergebnisse der Vorbereitungsphase zusammengefasst

werden. Es existieren jetzt Pools mit sortiertem Bildmaterial, produziertem und zum Teil

bearbeitetem Videomaterial, Musiksammlungen und Entwurfe fur das Buhnenbild sowie

Ideen und Ansatze fur das Spiel der Darsteller. Daruber hinaus wird eine vorlaufige

Textcollage4 aus dem Pool der Texte erstellt. Die Textcollage ist eine version brute des

Stuckes. Sie ist ein vorlaufiges, dramaturgisches Gerust. Die Textcollage fasst gesammelte

Texte, in Kapiteln und Unterthemen sortiert, zusammen. Sie dient als Orientierung und

hilft in der folgenden Arbeitsphase einen Probenalltag festzulegen. Nennen wir die Position

III den output der Stufe 1. Er existiert in Form eines Potpourris und dient als input der

Stufe 2.

Wahrend der Vorbereitungsphase vollziehen sich einige wichtige Prozesse. Einerseits wird

3Der web-link zur eingerichteten Yahoo-Group (Forum) befindet sich mit den Zugangsdaten (ID und Passwort) im

Anhang.

4Die Textcollage befindet sich in kompletter Form im Anhang. Somit bietet sich die Moglichkeit einen Eindruck der

selbst geschriebenen bzw. gesammelten Texte und deren thematische Gliederung in Kapitel zu gewinnen.

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das abstrakt formulierte Thema in einem ersten Annaherungsschritt transponiert und in

konkreten Materialvorschlagen gefasst und verankert (mit der Textcollage in eine Form

gebracht, in den Pools fokussiert und geordnet), andererseits lernt sich die Gruppe in

dieser Phase kennen. Die Einzelpersonen wachsen zu einem Team zusammen. Ein

gegenseitiges Kennenlernen in kognitiver Hinsicht hat begonnen. Eine Diskussionskultur

entsteht mit dem Vortasten an die Frage: Wie funktioniert der andere als produzierende

Kraft in einem kreativen Prozess?

Diese Frage erweitert, vertieft und intensiviert sich wahrend der nachsten Arbeitsstufe, der

Probenphase. Zu Beginn der Probenphase sind alle Mitwirkenden der Kerngruppe

anwesend bis auf die zwei out-side-eye Personen. Sie intervenieren und sind zu

unterschiedlichen Zeitperioden anwesend. Die zweite Stufe dieses Modells ist, wie ich

schon angedeutet habe, unmoglich in einer tabellarischen Diagrammform zu erfassen. Es

existieren nach wie vor drei Positionen. Jedoch handelt es sich jetzt weniger um Posten,

als um Prozesse, nennen wir sie Arbeitsabschnitte I’ – III’.

Die Probenphase kann als sternformiges Diagramm beschrieben werden, auf dessen

Strahlen verschiedene Stationen angeordnet sind. Diese Stationen stehen im Austausch

und in Wechselwirkung zueinander. Das heißt, sie sind verbunden und es ergeben sich

vier Ringe. Jenseits des außersten Randes, des Ringes IV, steht, wie im vorherigen Modell

B, die Position IV, fur das Produkt, das Stuck. Die Lesart des Diagramms erfolgt nicht

mehr von oben nach unten, sondern vollzieht sich von innen nach außen.

In der Mitte stehen nun die beiden Darsteller als Autorenschaft fur die Erfindung und

Ausarbeitung von Handlung und Rolle des Stuckes. Der Darsteller als Individuum mit

seiner spezifischen Korperlichkeit ist Ausgangsmaterial fur den Arbeitsabschnitt I’, die

konkrete Materialgenerierung fur den Buhnenausdruck. Der Arbeitsabschnitt I’ vollzieht

sich in den ersten zwei Innenringen des Diagramms. Die beiden Darsteller stehen im

Zentrum. Auf dem ersten Ring sind die zwei weiteren Mitwirkenden angeordnet: Die

Buhnenbildnerin zwischen dem Pool der Bilder und den Darstellern und die Videokunstlerin

zwischen dem Videomaterial und den Darstellern. Auf dem zweiten Ring bilden die

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Stationen der Material-Pools den input fur das Arbeiten in diesem Arbeitsabschnitt I’. Es

handelt sich um nichts anderes als das gesammelte Material (der output der

Vorbereitungsphase, Stufe 1) in sortierter Form. So findet man alle einzelnen Pools auf

dem zweiten Ring als Stationen wieder: Die Textcollage, die Bildersammlung, die

Musikzusammenstellungen, das Videomaterial etc. Eine weitere Station ist jetzt eine

tagliche Trainingseinheit.

Ziel dieses Arbeitsabschnittes I’ ist es, Material durch Improvisationen zu sammeln, die zu

Spielszenen des Stuckes ausgearbeitet werden konnen. Es wird kein Wert auf die Prazision

der einzelnen Spielangebote gelegt. Es ist jedoch wichtig, dass sie in diesem Rohzustand

gut dokumentiert werden, damit ihr Ursprung, der Motor oder die Essenz eines

Szenenfragmentes nicht verloren geht. In den Trainingseinheiten ist der Fokus auf das

Kennenlernen in physischer Hinsicht gerichtet. Man lernt einen anderen Darstellerkorper

einschatzen, abschatzen und zuletzt – kennen, um eine Vertrauensebene fur das

korperliche Arbeiten zu schaffen.

Die Buhnenbildnerin und die Videokunstlerin wirken in dem Arbeitsabschnitt als aktive und

reaktive Komponente. Ihre Funktion ist auf dem Ring zwischen den Darstellern und den

Pools angesiedelt. Sie sind an keinem Punkt der Arbeit auf eine ausschließlich ausfuhrende

Kraft reduziert. Sie bieten den Darstellern beispielsweise in einem Probeabschnitt, sagen

wir wahrend eines Nachmittages am Probetag „x“, eine von ihnen definierte

Ausgangssituation (ein Setting5 oder eine kleine Filmmontage) oder sie reagieren auf die

Spielangebote der Darsteller und integrieren diese in ihren Arbeitsprozess. Alle

Mitwirkenden arbeiten autonom und stehen in standigem Austausch. Es bildet sich ein in

Wechselwirkung funktionierendes Arbeitsnetz. Am Ende des Arbeitsabschnittes I’ sind

einzelne Spielszenen in fragmentarischer Form vorhanden: Der neue output. Ich habe sie

im Diagramm zwischen den zweiten und dritten Ring angeordnet.

Der gemeinsame kleinste Nenner dieser Szenenfragmente sind die Darsteller, da sie die

lebendige Komponente in allen Szenen sind. Der Zusammenhang der Szenen

5Siehe Beispiel 2 im Anhang.

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untereinander ist auf die simple, jedoch entscheidende Tatsache zuruckzufuhren, dass die

„Zutaten“ fur ihre Erschaffung immer aus der Materialsammlungen der verschiedenen

Pools stammen. Das heißt sie pragen zwangslaufig ein gemeinsames Vokabular und eine

einheitliche Handschrift. Die Spieler sind sich erstmals in einer Partie auf dem Spielfeld

begegnet. Welche Verfahrensweise (Spielregeln des Zusammenspiels) sich in diesem

Arbeitsabschnitt bewahrt haben, beschreibe ich nachdem das Modell C vollstandig

erlautert ist.

Der Arbeitsabschnitt II’ beinhaltet das Erstellen eines schlussigen Arrangements der

existierenden Einzelteile (Spielszenen und Angebote) zu einem Stuck. Der dritte Ring

reprasentiert das Sortieren der Fragmente des outputs des Arbeitsabschnittes I’. Hier

kommt die Funktion des objektiven Beobachters, die des potenziellen Zuschauers, des out-

side-eye zum Einsatz. Es ist unmoglich auf der Buhne zu agieren und sich dabei selbst zu

beobachten, um die Schlussigkeit und Wirkung des Spiels einschatzen zu konnen. Dafur

ubernimmt die Person eine out-side-eye-Funktion und spiegelt den Darstellern ihre

Buhnenaktion und gibt ihnen Ruckmeldung und Kritik. So werden die Szenen nicht nur

Stuck fur Stuck inhaltlich erarbeitet, sondern ihre Reihenfolge in eine schlussige Abfolge

gebracht.

Der dritte Arbeitsabschnitt III’ vollzieht sich zwischen dem vierten und dritten Ring des

Diagramms und beinhaltet die Arbeit des Prazisierens und Verinnerlichens des szenischen

Materials. Der Stuckablauf wird verfeinert, vertieft und wiederholt, letzten Endes -

„geprobt“. Das Ergebnis dieser Arbeit ist die Inszenierung, der außerste Ring des

Diagramms.

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© 2015Portfolio Annekatrin Trautmann”Ausgewählte Projekte von 2012 - 2015”