Miłosz an Venclova

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Wie in der polnischen Literatur allgemein, so reflektiert sich auch im Essay die Wechsel volle politische, soziale und kulturelle Geschichte Po- lens. Aus ihr erwächst seine inhaltliche wie formale Besonderheit. All- gemeiner findet im polnischen Essay, bewußter und unmittelbarer als in anderen Bereichen der Literatur, ein vermittelnder Dialog zwischen Wertvorstellungen des Ostens und des Westens statt. Formal zeichnet er sich durch den Rückgriff auf mündliche Traditionen aus, Plaude- reien, Erinnerungen, Erzählungen sowie durch eine stärkere subjekti- ve Perspektive. Inhaltlich lassen sich grob drei Richtungen ausmachen: War die erste eine kritische Abrechnung mit der Vergangenheit und dem kollektiven Mythos im Namen einer umfassenden sozialen, kul- turellen und geistigen Modernisierung, so erwies sich die zweite eher als ein Suchen nach Identität in der Verwurzelung, in der Stetigkeit der Tradition. Die dritte Richtung schließlich gibt Zeugnis ab von der all- gemeinen Katastrophe, von einer äußersten, fast eschatologischen Grenzerfahrung: der Vertreibung und Ausrottung. Marek Klecel, der Herausgeber, ist Publizist und Chefredakteur der polnischen Zeitschrift »Neue Bücher«. Polen zwischen Ost und West Polnische Essays des 20. Jahrhunderts Eine Anthologie Herausgegeben von Marek Klecel Suhrkamp

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Brief von Czeslaw Miłoszabgedruckt in: Polen zwischen Ost und West.

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Wie in der polnischen Literatur allgemein, so reflektiert sich auch im Essay die Wechsel volle politische, soziale und kulturelle Geschichte Po­lens. Aus ihr erwächst seine inhaltliche wie formale Besonderheit. Al l ­gemeiner findet im polnischen Essay, bewußter und unmittelbarer als in anderen Bereichen der Literatur, ein vermittelnder Dialog zwischen Wertvorstellungen des Ostens und des Westens statt. Formal zeichnet er sich durch den Rückgriff auf mündliche Traditionen aus, Plaude­reien, Erinnerungen, Erzählungen sowie durch eine stärkere subjekti­ve Perspektive. Inhaltlich lassen sich grob drei Richtungen ausmachen: War die erste eine kritische Abrechnung mit der Vergangenheit und dem kollektiven Mythos im Namen einer umfassenden sozialen, kul­turellen und geistigen Modernisierung, so erwies sich die zweite eher als ein Suchen nach Identität in der Verwurzelung, in der Stetigkeit der Tradition. Die dritte Richtung schließlich gibt Zeugnis ab von der all­gemeinen Katastrophe, von einer äußersten, fast eschatologischen Grenzerfahrung: der Vertreibung und Ausrottung. Marek Klecel, der Herausgeber, ist Publizist und Chefredakteur der polnischen Zeitschrift »Neue Bücher«.

Polen zwischen Ost und West Polnische Essays

des 2 0 . Jahrhunderts Eine Anthologie

Herausgegeben von Marek Klecel

Suhrkamp

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Die Texte wurden übersetzt von Ulrike Bischof, Friedrich Griese, Martina Hassenstein, Ursula Kiermeier, Winfried Lipscher,

Renate Schmidgall, Klaus Staemmler, Karin L. Wolff

Der Band erschien erstmals 1995 im Rahmen der von Karl Dedecius herausgegebenen Polnischen Bibliothek

im Suhrkamp Verlag. Umschlagfoto: Krzysztof Pawela

suhrkamp taschenbuch 2 5 9 0

Ers te Auf lage 1996

© der vorl iegenden A u s g a b e

S u h r k a m p Verlag Frankfurt am M a i n 1995

Quel lennachweise a m Schluß des Bandes

S u h r k a m p Taschenbuch Verlag

A l l e Rechte vorbehalten, insbesondere das

des öffentlichen Vortrags , der Ü b e r t r a g u n g

durch Rundfunk und Fernsehen

sowie der Überse tzung , auch einzelner Teile.

D r u c k : N o m o s Verlagsgesellschaft, B a d e n - B a d e n

Printed in G e r m a n y

U m s c h l a g nach E n t w ü r f e n von

Wil ly Fleckhaus und R o l f Staudt

I 2 3 4 5 6 - Ol 00 99 98 9 7 96

I N H A L T

I . S E L B S T K R I T I K

Stanislaw Brzozowski: Die Menschheit und das Volk I I

Stanislaw I. Witkiewicz: Der verfluchte Sarmate . . . 21 Witold Gombrowicz : Fratze und Gesicht 38 Jan Jozef Szczepanski: Der Heilige 50 Jan Blonski: Die armen Polen blicken aufs Getto . . 76

I I . D E R O S T E N

Jerzy Stempowski: Die Polen in den Romanen Dostojewskijs 97

Gustaw Herling-Grudzinski: Mit den Augen Conrads 1 2 1

Jozef Mackiewicz: Der sogenannte Osten Europas . 150 Jozef Czapski: Nationahtät oder Einseitigkeit 167 Czeslaw Milosz: A n Tomas Venclova 177

I I I . D E R W E S T E N

Jözef Wittlin: Z u r Verteidigung deutscher Bücher . 201 Boleslaw Micinski: Antwor t auf einen Brief des

römischen Bürgers Francesco 206 Kazimierz Wyka: Faust auf Ruinen 218 Mieczyslaw Jastrun: Den Göttern gleich 235 Andrzej Kijowski : Deutsche, Polen und andere . . . . 253

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sischen Volkes ihre Stimme erheben und gegen das Bi ld des ausschließlich grausamen und ausschließhch unmenschli­chen Rußlands kämpfen. Gelänge es, den Instinkt der ver­lorenen Solidarität mit diesem anderen Rußland, das nie aufgehört hat zu existieren, wiederzubeleben, dann und nur dann könnten wir von einer Zukunft träumen, die nicht -wie N o r w i d schreibt - Zusammenprall zweier Monohthe, ein Nichts und die endgültige Zerstörung der Kräfte sein wird.

(1958) Aus dem Polnischen von Ulrike Bischof

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C Z E S L A W M I L O S Z

A N T O M A S V E N C L O V A

Lieber Tomas, Z w e i Dichter, Litauer der eine, Pole der andere, sind in der gleichen Stadt aufgewachsen. Das dürfte eigentlich ein aus­reichender Grund sein, daß sie über ihre Stadt sprechen und das sogar öffenthch. Z w a r gehörte die Stadt, die ich kannte, zu Polen, hieß Wilno, und auf den Schulen und in der Universität wurde Polnisch gesprochen: Deine Stadt war die Hauptstadt der Litauischen S S R , hieß Vilnius, und Du hast die Schule und die Universität in einer anderen Epoche, nach dem Zweiten Weltkrieg besucht. Dennoch ist es ein und dieselbe Stadt, und ihre Architektur, die Landschaften ihrer Umgebung und ihr Himmel haben uns beide ge­formt. Gewisse sozusagen tellurische Einflüsse sind nicht auszuschließen. Außerdem habe ich den Eindruck, daß Städte ihren Geist und ihre Aura haben, und manchmal, wenn ich die Straßen von Wilna entlanggegangen bin, kam es mir so vor, als spürte ich diese Aura auf eine beinahe sinnliche Weise.

Kürzlich fragte mich ein Freund, warum ich mit einer sol­chen Hartnäckigkeit in meiner Erinnerung nach Wilna, nach Litauen zurückkehre, was in meinen Gedichten und Prosatexten sichtbar wird. Ich antwortete darauf, daß es sich hierbei meiner Meinung nach nicht um die Sentimen­talität eines Emigranten handelt, denn ich würde nicht dorthin fahren wollen. Hier spielt sicher die Suche nach einer durch den Lauf der Zeit, wie bei Proust, gereinigten Wirklichkeit eine Rolle, doch es gibt auch andere Erklä­rungen. In Wilna habe ich mein Knabenalter verlebt, w o ich dachte, daß sich das Leben für mich irgendwie durch­schnittlich gestalten wird, und erst später begann sich alles in diesem Leben zu verdrehen, so daß Wilna für mich ein

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Bezugspunkt für eine Möglichkeit, eine mögliche N o r m a ­lität, geblieben ist. Dort hatte ich schHeßHch, als ich die polnischen Romantiker las, auch schon eine unklare Vorah­nung meines künftigen anomalen Schicksals, obwohl da­mals selbst der lebhaftesten Phantasie weder die Bilder ' meiner persönlichen noch die meiner historischen Zukunft in den Sinn gekommen wären. Ich möchte hier eine Person einführen, die nichts mit Wilna zu tun hat, aber für alle Europäer »von dort«, d. h. aus dem Grenzgebiet der Sprachen, Konfessionen und Kulturen, wichtig ist. Stanislaw Vincenz stammte aus dem Karpaten­vorland, aus der Gegend von Czarnohora, wohin seine Familie im 1 7 . Jahrhundert aus der Provence ausgewandert war. Ich lernte ihn im Jahre 1951 kennen, als mein Wilno schon nicht mehr existierte, in Frankreich, in der Nähe von Grenoble - als Emigranten zog es ihn in die Berge, und so schloß sich der Kreis der Wanderungen der Vincenz-Fami-lie beinahe. Ich war empfänglich für seine Lehren. Denn ungeachtet der Werke, die er hinterließ, war Vincenz ein herumziehender Weiser, ein Quatschmaul, ein Lehrer und fast ein Zaddik für Menschen verschiedener Nationahtäten. Er stand in Opposition zum 20. Jahrhundert, obwohl — oder gerade weil — er vor dem Ersten Weltkrieg in Wien seinen Doktor über die Philosophie Hegels gemacht hatte. Für Vincenz war das Wichtigste, was Simone Weil emacinement (Verwurzelung) nennt und was ohne Heimat nicht möglich ist. Aber der Heimat-Staat ist zu groß, und wenn Vincenz von einem »Europa der Vaterländer» träumte, hatte er klei­ne territoriale Einheiten im Sinn, wie sein gehebtes Huzuler Land, in dem Ukrainer, Juden und Polen lebten, ein Land­strich, der übrigens dadurch berühmt wurde, daß dort Baal Schern Tov, der Gründer des Chassidismus, lebte. Ich Htt damals, in der Zeit unserer ersten Gespräche, sehr, und Vincenz half mir, den Sinn des Wortes Heimat zu finden. Ich bin mir nicht sicher, ob ich einige Jahre später zu selbst-

therapeutischen Zwecken das »Tal der Issa« geschrieben hätte, wenn diese Gespräche nicht gewesen wären. Und so wie Vincenz sein ganzes Leben lang in seinen Karpaten verwurzelt blieb, so bin ich oder so ist auf jeden Fall meine Phantasie Litauen treu gebheben. Doch zurück zu unserer besonderen Stadt. Vielleicht ge­lingt es, trotz der Veränderungen in ihr eine gewisse K o n ­tinuität zu entdecken. Beschäftigen wir uns vielleicht auch mit der Universität, an der wir beide studiert haben und die jetzt ihr 40ojähriges Bestehen feiert. Das ist auch eine gute Gelegenheit, um ohne Umschweife und diplomatische Ausflüchte unsere Ansichten zu den polnisch-litauischen Beziehungen auszutauschen. Wilna läßt sich nicht aus der Geschichte der polnischen Kultur ausradieren, schon Mickiewicz, der Philomathen, Slowacki und Pilsudski wegen nicht. Ich habe mir oft über eine gewisse Ähnlichkeit des Wilnas meiner Jugend mit dem Wilna aus der Zeit von vor mehr als hundert Jahren Gedanken gemacht, das die beste Universität in dem Im­perium von Gnaden Alexander I. hatte. Es war damals eine Stadt des Freimaurertums — eigentlich geht die Zerschla­gung der Philomathen zeitlich mit Alexanders Vorgehen gegen das Freimaurertum im gesamten Zarenreich einher. Die Philomathen hatten ihre freimaurerischen Verbindun­gen durch Kont rym, den Universitätsbibliothekar. Ich wußte um die Logen der Freimaurer in meinem, dem neue­ren Wilna, und die Geheimorganisation »Pet«, in die ich als Gymnasiast aufgenommen wurde, hatte auch ihre Verbin­dungen. PoHtisch wandte sie sich gegen die polnische Nationaldemokratie. Doch als ich vor nicht allzu langer Zeit meinen ehemaligen Professor, Stanislaw Swianiewicz, einen der jüngsten Professoren der Rechtswissenschaft bei uns, traf, erfuhr ich von ihm, daß es viele Freimaurerlogen gegeben hat und fast alle Professoren irgendeiner Loge an­gehört haben. Uberhaupt hat mich die Verbreitung des

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Freimaurertums in Wilna laut seinem Bericht (und er ist ein absolut wahrheitshebender Mensch) in Erstaunen versetzt. Ob darin eine anhaltende Berufung von Wilna zu erkennen ist, weiß ich nicht. A u f jeden Fall kam ich schon in der Mittelschule mit etwas in der Art einer »Loge« in Berüh­rung. Ich benutze dieses Wort nicht in wörtlicher Bedeu­tung, sondern ledighch, um die Geheimbünde der Elite zu bezeichnen, in die man aufgenommen werden mußte. Die ­se Elite hatte eine verächthche Einstellung zu den »recht denkenden«, das heißt zu dem ganzen Geflecht von polni­schem Nationalismus, Sienkiewicz, den Studentenverbin­dungen mit den Kappen auf den Köpfen etc. Solch eine »Loge« war auch der Akademische Klub der Landstreicher, in dem ich mich gleich nach der Aufnahme an der Univer­sität befand und, etwas später, während des großen, aber kurzzeitigen Anschwellens der linken Welle in den frühen 30er Jahren, der K . I. oder Klub der Intellektuellen, eine Art Ausschuß, der Vorhaben plante und koordinierte sowie Diskussionen in den Räumen des Juristenverbandes, das heißt im Verband der Jura-Studenten, veranstaltete. In die­sen »Logen« sehe ich das romantische Erbe - den Traum von der Befreiung der Menschheit »von oben«, durch diejeni­gen, die »es besser wissen«.

Und die Rechten, die Anhänger der Losung Gott und Va­terland des »hundertprozentigen Polentums«? Das war die Mehrheit der Polnischsprechenden. SpracUich muß das Wilna aus der Zeit der Philomathen mehr polnisch gewesen sein als meins, ich weiß nur nicht, ob das Umland über­wiegend polnisch war, wie zu meiner Zeit, oder weißrus­sisch. Vielleicht ist die htauische Sprache (die in jenen Gebieten bekanndich schrittweise durch das Weißrussische verdrängt wurde) damals näher an Wilna herangekommen. Der Stadt selbst hat das neunzehnte Jahrhundert, das Jahr­hundert der russischen Herrschaft, seinen Stempel aufge­drückt, und deshalb sage ich, daß das frühere Wilna

vielleicht mehr polnisch war. Dennoch war fast die Hälfte der Bevölkerung meines Wilno Juden, und ein beträchtli­cher Teil von ihnen übernahm die russische Sprache bezie­hungsweise tendierte zu dieser Sprache. Daher die russi­schen Gymnasien in meinem Wilno, neben den polnischen. Es gab - wenn ich mich nicht irre - auch noch ein hebrä­isches und irgendwelche jiddische Schulen. (Wie Du sicher weißt, gab es ein litauisches Gymnasium, das den Namen Witold des Großen trug, und ein weißrussisches.) A u f die russischen Schulen schickte die mit der russischen Kultur verbundene jüdische Intelligenz ihre Kinder - denn in W i l ­na gab es wenig Russen, einige, die aus den zaristischen Zeiten übriggeblieben waren, plus eine Handvoll Emigran­ten. Es gab auch noch andere russische Überbleibsel, die russischen Garnisonsstädten eigene häßhche Architektur, die in starkem Gegensatz zu dem alten Wilna mit seinen engen Gassen steht. Die Hauptstraße hieß irgendwann ein­mal Swietojerski Prospekt und wurde noch als ich zur Schule ging »Jerek« genannt. »Jerek« war eine Promenade, w o die Herren Offiziere und die Studenten flanieren gin­gen. Später gewöhnte man sich nach und nach an den neuen Namen: Mickiewicz-Straße.

Mit all dem wurde man, wenn man Wilna mit anderen Städten verghch, seiner Spezifik gewahr. Der Psalmist nennt Jerusalem eine »in sich geschlossene« Stadt, und das wäre in gewissem Maße auch auf Wilna anwendbar, im starken Gegensatz zu den auf einer Ebene erbauten Städten wie Warschau. In seiner Geschlossenheit erinnerte Wilna an Krakau, doch die Grundlage dieser beiden Städte ist ver­schieden, denn Wilna hat keinen Markt als Mittelpunkt. Aus der Kindheit ist mir eine im übrigen ziemlich nebulöse Erinnerung an Dorpat oder Tartu geblieben. Vielleicht irre ich mich, wenn ich da etwas mit Wilna Gemeinsames her­auslese. Aber auch im tschechischen Prag habe ich mich viel mehr »wie in Wilna« gefühlt als in Warschau. Übrigens ist

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das historische Wilna so oft Bränden zum Opfer gefallen, daß wahrscheinlich allein die Lage am Zusammenlauf zweier Flüsse und zwischen Anhöhen der Stadt jene »Ge­schlossenheit« gibt. Daß Wilna Provinz und nicht Hauptstadt war, habe ich ziemlich stark gespürt. Und im Falle einer Polonisierung all dieser Gebiete, die ethnisch litauisch und weißrussisch w a ­ren, wäre es auch Provinz geblieben. Sehen wi r uns doch einmal Frankreich an. Die Gebiete südlich der Loire waren nicht französisch, sie sprachen die Sprache Oc, doch wurden sie seit der Eroberung im 13 . Jahrhundert unter dem Vor­wand des Kreuzzuges gegen die Albigenser schrittweise »französisiert«. Noch im 19 . Jahrhundert wurde dort in den gesamten ländlichen Gebieten patois oder Oc gesprochen, doch als ich vor einigen Jahren im Departement Lot war, erfuhr ich, daß in den Dörfern nur Menschen über 40 diese Sprache kennen. Das war die Sprache der Partisanen (die Sprache maquis) während des Krieges, die sehr nützlich war, weil die Leute aus der Stadt, das heißt die Franzosen, sie nicht verstanden. Sagen wir es schonungslos: wenn Polen nicht seinen historischen Einsatz verloren hätte, hätte es alle Gebiete bis an den Dnjepr polonisiert, so wie Frankreich seine Sprache bis zum Mittelmeer ausgedehnt hat (Dante hatte einst noch die Absicht, die »Götdiche Komödie« in der Sprache der Poeten, das heißt in Oc, zu schreiben!). U n d Wilna wäre eine Regionalstadt wie Carcassonne gewesen. Doch lassen wi r uns nicht auf unterschiedliche historische Spekulationen ein. Im 20. Jahrhundert war das Programm der polnischen Nationalisten für die ethnisch nichtpolni­schen Gebiete dumm, da Wilna oder Lemberg Enklaven waren. Ich denke, daß es jungen Leuten heute recht schwer fällt, diesen Enklaven-Charakter des Vorkriegs-Wilna zu verstehen: das war weder Polen noch Nicht-Polen, weder Litauen noch Nicht-Litauen, weder Provinz noch Haupt­stadt, obwohl doch vor allem Provinz. Und natürhch war

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Wilna, wie ich es aus der Perspektive sehe, absonderhch, eine Stadt mit vermischten, einander überlappenden Gebie­ten wie Triest oder Czernowitz. Dort aufzuwachsen war nicht das gleiche wie in ethnisch einheitlichen Gebieten aufzuwachsen. Die Sprache selbst wurde anders empfunden. Es gab keinen volkstümlichen städtischen oder dörflichen Dialekt mit rein polnischen Wurzeln, es gab die »hiesige« lustig wirkende Sprache, die vielleicht dem Geist der Weißrussischen Sprache näher war als dem der polnischen, obwohl sie freilich viele polnische Worte bewahrt hatte, die im 16 . und 1 7 . Jahrhundert üb-hch, in Polen jedoch aus dem Sprachgebrauch verschwun­den waren. Die Grenze zwischen der »hiesigen« Sprache und der Sprache der adligen Gemeinde (die Mickiewicz sowohl in der Kindheit als auch später in Paris mit dem inneren Ohr hörte) war natürlich fließend, genauso wie die zwischen der Sprache des Kleinadels und der des Hofes oder auch der v o m Hof kommenden Intelligenz. All das war jedoch dem polnischen Bauern-Dialekt wirklich fremd. In der »hiesigen« Sprache sprach das Proletariat von Wilna, sie hatte keine Ähnlichkeit mit der Warschauer Volkssprache, w o sich wahrscheinlich ein gewisses bäuerliches Substrat erhalten hat. Für mich ist zum Beispiel ein Dichter wie Miron Bialoszewski exotisch. Diese Sprachquellen habe ich nicht. Ich riskiere die Feststellung, daß unsere Sprache emp-fänghcher war für Korrektheit und auch für rhythmische Prägnanz, deshalb empfinde ich das klare Polnisch der Dichter des 1 8 . Jahrhunderts wie Krasicki oder Trembecki als »das meine«. Es ist schwierig, das zu analysieren. Was mich betrifft, so würde ich sagen, meine Sprache wurde davon beeinflußt, daß ich der Versuchung der ostslawischen Sprachen, in erster Linie des Russischen, widerstanden und ein Register gesucht habe, in dem ich - in bezug auf die rhythmische Modulation - mit den ostslawischen Elemen­ten wetteifern konnte. Ich weiß nicht, wie sich der Wider-

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stand gegen das Russische auf Dein Litauisch ausgewirkt hat. Ich weiß, daß es für mich und für jeden, der ein emp­findsames Ohr für das Russische hat, schädHch ist, dem starken beat des russischen Jambus nachzugeben, und daß dies nicht die Hauptrichtung des Polnischen ist. Der Provinzcharakter Wilnas. Er hat mich sehr bedrückt, und ich habe mich danach gesehnt, in die Welt zu entflie­hen. Deshalb ist es nicht nötig, einen Mythos von der geliebten, verlorenen Stadt zu schaffen, wenn ich es dort kaum noch aushalten konnte, und - als der damalige W o -jewode , Bociahski, v o m Polnischen Rundfunk in Wilna forderte, mich als politisch Verdächtigen zu entlassen - die infolgedessen zwangsweise Abreise nach Warschau mit E r ­leichterung aufnahm. Denn Wilna war ein Kaff: eine un­vorstellbar enge Basis, wenn Du die jiddisch oder russisch sprechenden und lesenden Juden abrechnest und die »hiesi­ge« Bevölkerung, die gar nicht las. Was blieb übrig? Etwas Intelligenz adliger Herkunft, im allgemeinen ziemlich stu­pide. Und damit ist die Nationahtätenfrage verbunden. Denn wenn wi r uns für Litauer gehalten hätten, wäre Wi l ­na unsere Hauptstadt und unser Zentrum gewesen. Ein sehr schwieriges Problem, wie D u weißt. Logisch wäre die fin­nische Lösung. Ich kenne diese Probleme nicht näher. Ich weiß nicht, wie das die Finnen aus schwedischsprechenden Familien gelöst haben, aber Helsinki war wohl ihr Zentrum und nicht Stockholm. Grundsätzlich hätten wi r uns für Litauer mit polnischer Muttersprache halten müssen - und Mickiewiczs »Litauen, du meine Heimat« unter neuen B e ­dingungen fortsetzen, was bedeutet hätte, litauische Litera­tur in polnischer Sprache zu schaffen als Parallele zur Htauischen Literatur in htauischer Sprache. Doch das wollte niemand - weder die Litauer, die sich fest gegen die pol­nische Kultur als eine ihre eigene Kultur gefährdende sträubten, noch all diejenigen, die Polnisch sprachen, sich selbst einfach als Polen ansahen und ein verächtliches Ver­

halten gegenüber den »Klausiuks«, dem Volk der Bauern, an den Tag legten. Es gab nicht viele Kreise, die anders dach­ten, dafür aber sehr interessante und wertvolle und energi­sche. In meinem Wilno waren es die sogenannten »krajow-cy« (Vertreter der Heimatidee), die von der Bewahrung der Traditionen des Großfürstentums Litauen als einzigem G e ­gengewicht gegen Rußland träumten, das heißt von einer Föderation der Völker , die einst zum Großfiirstentum ge­hört hatten. Diese Kreise deckten sich mehr oder weniger mit denen der Freimaurer in Wilna. Die Geschichte dieser eigentümlichen Ideologie müßte irgendwann einmal ge­schrieben werden, doch wenn ich sage, daß das interessant, j a sogar faszinierend ist, so sage ich das jetzt, expost, denn als junger Mensch mit allen avantgardistischen Neigungen, der sich mit moderner Poesie, der französischen Intellektu­el len-Bewegung u. s. w . beschäftigte, habe ich dem, was in der Stadt vorging, keine größere Aufmerksamkeit ge­schenkt. Im übrigen war das eine schon damals verlorene Bewegung , die letzten Nachklänge. Von litauischer Seite konnte sie noch nicht einmal mit einer Spur von Sympathie rechnen, weil sie als Verlängerung der »Jagiellonischen Idee« empfunden wurde. Und zweifellos verbarg sich bei vielen gebürtigen Krautjunkern hinter der sentimentalen Ver­bundenheit mit der Idee des Großfurstentums der Traum von der Vorherrschaft. Ungeachtet dessen waren Ludwik Abramowicz und ein paar andere Vertreter der Heimatidee tiefgründige und ehrliche Menschen in ihrem Widerstand gegen den polnischen Nationahsmus. Das waren die Erben des umfassenden Denkens, in der Art der Aufklärer der einstigen Republik des i8. Jahrhunderts. Ich denke nicht, daß es auf litauischer Seite irgendeine Entsprechung gege­ben hat - dort war mehr oder weniger alles ein neuer, zwangsläufig spasmischer Nationahsmus. So oder so waren die Vertreter der Heimatidee die einzigen unter den pol­nischsprechenden Wilnaern, die Wilna als Hauptstadt und

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nicht als Provinz betrachteten. Ich denke heute, daß jeder, der es mit dieser Stadt gut meint, ihr den Hauptstadt-Status wünschen soll, was automatisch irgendwelche polnischen Ansprüche an ein »polnisches Wilna« ausschließt. Ich muß an dieser Stelle das Problem des nationalen Verrats zur Sprache bringen. Wie D u weißt, ist es dort, w o schmerzhafte Gefühle vorhanden sind, leicht, solch einen Vorwur f zu erheben, und sicher hast Du das am eigenen Leib erfahren. Die Idee der »Heimat« war von beiden Seiten dem Vorwurf des Verrats ausgesetzt - sowohl von selten des polnischen als auch des litauischen Nationalismus. Ich habe mich an vieles erinnert, als ich 1967 gemeinsam mit Adam Wazyk beim Rencontre mondiale de poésie in Montreal weilte und wir auf die intellektuellen Kreise Quebecs mit ihrem französischen Fanatismus stießen. Und auch, als ich einige Jahre später am Poesie-Kongreß in Rotterdam teilnahm, auf dem ich viele flämischsprechende Belgier kennenlernte. Sie sprachen lieber Enghsch als Französisch, ohnehin konnten sie Enghsch schon besser als Französisch. Vor dem Krieg, in meinem Studentenjahr in Paris, rochen meine Besuche in der Litauischen Botschaft bei Oskar Milosz etwas nach »Verrat«. Er war für die Polen ein »Verräter«, und ich konnte beobachten, wie sich eine solche Feindseligkeit wie elektri­scher Strom, eigendich ohne Worte, überträgt. Hier hat die Gemeinschaft ihre geheimen Mittel der Verständigung. Doch die Briefe von Oskar Milosz an Christian Gauss, die ich in der Bibhothek der Universität Princeton entdeckt und in einem gesonderten Buch in Paris veröffenthcht habe, geben Antwor t auf die Frage, wie und warum er sich zum Litauer erklärt hat. Als er das im Jahr 1 9 1 8 tat, wußte er nichts von der nationalen litauischen Bewegung . Er geriet einfach in Zorn, als er erfuhr, daß die Polen die Unabhän­gigkeit Litauens nicht anerkennen wollten (sicher ging es hier um die nationalistischen Polen unter dem Banner von Dmowski , die während der Friedenskonferenz diploma-

I tisch tätig waren). Danach arbeitete er auf internationaler Ebene für Litauen. Heute, aus der Perspektive, wird ersicht­lich, daß sein Standpunkt in der Sache Wilna richtig war . Wenn die Litauer ihn auch achteten, so begegneten sie ihm dennoch mit Argwohn , weil er kein Mann der litauischen, sondern der polnischen Sprache war . In Wahrheit war er ein Mann der französischen Sprache, wodurch er eine Auswahl treffen konnte. Wenn ich mich zum Litauer erklärt hätte, was für ein Litauer wäre ich denn gewesen, w o ich polnisch schreibe? Dieser A r g w o h n war der Grund dafür, daß er freiwillig auf eine diplomatische Karriere verzichtete und sich mit dem bescheidenen Posten eines Botschaftsrates zu­friedengab, obwohl man ihm einmal angeboten hatte, Außenminister zu werden. Bedenke andererseits, wie nach­tragend die Polen sind. Vor kurzem, als Artur Mi^dzyrzecki in Polen Oskar Miloszs Roman »L'Amoureuse Initiation« übersetzt hatte und man über das Schaffen von Oskar M i ­losz zu schreiben begann, tauchte ein Brief an die Redaktion im »Tygodnik Powszechny« auf, dessen Autor daran erin­nerte, daß Oskar Milosz mit dem Polentum nichts gemein habe, weil er sich von ihm losgesagt habe. In der htauischen Emigrantenpresse kam es zu Angriffen gegen mich, weil ich, obwohl ich ein Verwandter von Os­kar Milosz bin, Pole und kein Litauer bin. Dagegen stieß ich unter Polen oftmals auf Argwohn , daß da irgend etwas mit meinem Polentum nicht in Ordnung sein könne. Ich muß zugeben, daß darin ein Quentchen Wahrheit steckte, ob­wohl ich als Kind in Rußland rezitierte: »Wer bist Du? Kleiner Pole. Was ist Dein Zeichen? Der weiße Adler.« In Rußland und gegenüber Russen überhaupt habe ich mich immer als hundertprozentiger Pole gefühlt, aber das ist kei­ne Kunst. Etwas anderes war es beim Zusammentreffen mit der aus dem Kernland stammenden Volksgruppe, mit den Polen »aus dem Königreich«. Meine Beziehungen zu Polen waren schmerzlich, nicht weniger, vielleicht sogar mehr als

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bei Gombrowicz , und es wäre übertrieben, darin irgendei­ne Hinwendung zu Litauen zu sehen, während doch in WirkUchkeit mein persönHches Schicksal entschieden hat, die Weigerung, mich vollständig in eine menschliche G e ­meinschaft gleich welcher Art einzugliedern. Das ist mein Buckel, mein Gebrechen. Doch muß man darin auch einen Konflikt mit der polnischen Intelligenz der Vorkriegszeit sehen, denn meine Geisteshaltung war viel mehr interna­tional oder kosmopolitisch. Es ist ziemlich schwierig, das heute zu rekonstruieren. Ver­schiedene Einflüsse haben schon in der Schulzeit gewirkt, wie die Lektüre literarischer Schriften, die nicht eigentlich Schriften der polnischen, sondern der polnisch-jüdischen Intelligenz waren - ich spreche von in Warschau herausge­gebenen Blättern wie »Wiadomosci Literackie«. Daher rührt vielleicht meine frühe Rebelhon gegen Sienkiewicz und die polnische Seele, eine Seele, die von Natur aus eine anima naturaliter endeciana war. In den Studentenjahren kam der Einfluß von Oskar Milosz hinzu, in dessen poHtischen Texten, die nach seinem Tode veröffentlicht wurden. D u eine sehr nüchterne Einschätzung der Situation finden kannst: im Jahre 1927 schrieb er, daß Polen Chancen habe, durch enge Alhanzen die baltischen Staaten, Finnland und dieTschechoslowakei um sich herum zu gruppieren, um ein Gegengewicht gegen die deutschen Pressionen zu schaffen, daß Polen dafür aber auf seinen messianisme national outre­cuidant et chimérique (überhebHchen und utopischen natio­nalen Messianismus) verzichten müßte, wozu es nicht imstande sei, so daß es in etwa 10 Jahren zu einer Katastro­phe kommen werde. Ich muß von einem weiteren Einfluß berichten, und das wird eine längere Geschichte. Du bist nicht mein erster litauischer Freund. Tatsache ist, daß ein litauischer Freund in den Studentenjahren eirien starken Einfluß auf mich ausübte. Er kam nicht aus Wilna, sondern wie es damals hieß aus dem »Kownoer Litauen«. Wie ist er

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zu uns gelangt? Wie Du weißt, gab es damals, während meiner Zeit auf der Universität, 1929-1934 , keine diploma­tischen Beziehungen zwischen Polen und Litauen. Die Grenze war geschlossen, und beide Staaten spielten einan­der Streiche - Polen, indem es dem »Polentum« in Litauen finanziell den Rücken stärkte, Litauen, indem es dasselbe gegenüber dem »Litauertum« im Raum Wilna tat. Ich lernte ihn 1929 auf einem Proseminar über Rechtsphilosophie kennen, das von der Dozentin Ejnikowna geleitet wurde: Plötzlich ergreift ein baumlanger Kerl mit Hornbrille und einem Haarschopf wie ein flachsfarbenes Strohdach das Wort. Er versucht wohl polnisch zu sprechen, aber es ist eigentlich Russisch mit Deutsch vermischt. Er hieß Pranas Ancevicius, d. h. Franciszek Ancewicz. Dies ist eine sehr traurige Geschichte. Er stammte aus einer armen Bauern­familie, kam aufs Gymnasium, begeisterte sich für die revolutionäre russische Literatur (Gorki etc.) und wurde Revolutionär. Er nahm im Jahre 1926 an dem verlorenen Putsch von Pleckajtis teil und mußte aus Litauen fliehen. Er floh nach Wien, w o er in der Arbeitersiedlung »Karl Marx« wohnte und w o ihm die Sozialisten halfen. Überhaupt soll­te Pranas oder Draugas, wie ich ihn nannte, sein ganzes Leben lang ein radikaler Sozialist im Stil des Wiener Mar ­xismus bleiben, und darin liegt seine Tragik. Denn er war zweifelsohne ein zum politischen Handeln drängender, aber zum Schicksal eines Emigranten verurteilter Mann. In Wilna wurde er von den einheimischen Litauern ausgesto­ßen, weil sie der Regierung in K o w n o gegenüber loyal waren, er dagegen für diese Regierung ein pohtischer Ver­brecher war. Andererseits war er bei den litauischen K o m ­munisten besonders verhaßt, weil er ihnen mit seinen guten Kenntnissen der Probleme der Sowjetunion mächtig die Hölle heiß machte und weil er unumwunden seine M e i ­nung sagte, so daß sie die bei ihnen übliche Methode des Anschwärzens anwandten und ihn zum »polnischen A g e n -

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ten«, Provokateur u. s. w . erklärten. Sie verbreiteten G e ­rüchte, er sei gekauft, er werde bezahlt, denn woher habe er denn das Geld für das Studium? Ich wohnte aber mit Drau-gas auf derselben Etage des Studentenwohnheims auf dem Bouffalowa Berg und wußte, daß seine bescheidenen Mi t ­tel zum Lebensunterhalt (und Wilna war eine außerge- ; wohnlich billige Stadt) aus Amerika, von der litauischen Presse stammten, von der wohl antiklerikalen und linken, \ für die er Korrespondenzen schrieb ( er war ein einge­fleischter Atheist). Wenn sich die Geldsendung verspätete, lebte Draugas auf Kredit. Ich war auch Zeuge seiner lang­anhaltenden und schweren Depressionen, denn bei ihm gingen große Begabungen mit neurotischen Störungen einher. Gerade meine Gespräche mit Pranas — bedenke, daß sie in den Jahren meiner Persönlichkeitsbildung stattfanden - erklären, warum ich, als ich nach Warschau zog, zehnmal mehr über den Kommunismus wußte als alle meine litera­rischen Kollegen zusammengenommen, denn Pranas ver­folgte alles, was hinter der Ostgrenze geschah. Und natürlich mußte sich meine Sicht auf Polen und das von Natur aus nationaldemokratische und parochiale Polentum infolge dieses meines Trainings verändern. Ich möchte das mit meiner Politisierung nicht übertreiben. Ich war zu keinerlei pohtischem Entschluß noch zu Akt i ­vitäten fähig, was ich mir vorgeworfen habe, aber ich konnte nie meinen IndividuaHsmus überwinden und mich der Disziplin einer Organisation unterordnen. Pranas war Vorsitzender des Z N M S , das heißt des Verbandes der U n ­abhängigen Sozialistischen Jugend an der Universität. Trotzdem habe ich mich nicht bei dieser Organisation ein­geschrieben, denn er als Freund, das war für mich eine Sache, sein revolutionärer Glaube dagegen eine andere. Pranas machte seinen Doktor jur . und begann, Vorlesungen am Osteuropa Institut zu halten. Hier ist eine gute Gele­genheit, um Fragen anzusprechen, die sicherlich heute

schon unverständlich sind, wie die Inkonsequenz in der polnischen Politik gegenüber den Litauern, Weißrussen und Ukrainern. Es geht darum, daß in Polen, ähnlich wie wir das in Amerika sehen, verschiedene Kräfte aufeinander­prallten, obwohl in den dreißiger Jahren die Rechte mit ihrem Programm der »Polonisierung« mit Hilfe von Poli­zeimethoden, bis hin zu den grausamen Befriedungen der ukrainischen Dörfer, mit jedem Jahr an Stärke gewann. In Wilna nahm der Wojewode Bociahski die Drangsalierun­gen der Litauer vor - das war schon nach dem Tod von Pilsudski. Gleichzeitig entstand das Osteuropa Institut, das von völlig anderen Kräften gegründet wurde, die freilich schon von dem militanten Nationalismus faschistischer Prä­gung hinausgedrängt wurden. Kräfte, die man als liberal bezeichnen kann, die nicht ohne freimaurerische Verbin­dungen und den föderativen Träumen von Pilsudski treu waren. Sie waren nicht unbedingt sozialistisch oder frei­maurerisch - am Institut war zum Beispiel Swianiewicz, der sein ganzes Leben lang ein eifriger Katholik gewesen ist, genauso wie eine Reihe anderer Professoren der Stefan-Batory-Universität. Z u einem bestimmten Zeitpunkt be­gann die Wojewodschaftsadministration gewaltsam einige Litauer zu deportieren, indem sie einfach über die Grenze nach Litauen geschafft wurden. Sie wollte auch Pranas de­portieren, aber dort in K o w n o hätten sie ihn natürlich ins Kittchen gesteckt. Die Leute aus dem Institut haben ihn gerettet. Die Idee, das Institut zu gründen, war hervorra­gend — in Polen war es nötiger als anderswo, von den Nachbarn zu lernen, zumindest sollten das Personen tun, die sich auf ihren Dienst in der Verwaltung oder in der Diplomatie vorbereiteten. In dem Institut wurde das ge­lehrt, was heute Sowjetologie heißt, wie viele Jahre früher, als dieser Wissenszweig sich in Amerika entwickelte, das heißt, es wurden Ökonomie, Geographie und strukturelle Probleme der Sowjetunion gelehrt, aber auch Geschichte

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und die Sprachen unseres Gebietes: Litauisch, Lettisch, Est­nisch und Weißrussisch. Es ist recht charakteristisch, daß es damals, als die Ex-Mitglieder unserer Gruppe »Zagary«, Henryk Dembinski und Stefan J^drychowski , in Wilna als Kommunisten diffamiert wurden und auch etwas später, als sie als Angeklagte in einem Prozeß auftraten, die Leitung des Instituts nicht daran hinderte, sie zu beschäftigen. Se­kretär des Institutes war mein Kollege, der Dichter Teodor Bujnicki, und zu Vorlesungen reiste Stanislaw Baczyhski aus Warschau an (der Vater des späteren Dichters Krzysztof Baczyhski), ein sehr linker, für eine gewisse Mentalität ty­pischer Pilsudskianhänger, Legionär, Teilnehmer des polni­schen Aufstands in Schlesien, der jener polnischen Intelli­genz entstammte, die sich aufmachte, um im Namen ihrer radikalen Ideen für ein unabhängiges Polen zu kämpfen. Mi r scheint, daß Pranas Ancevicius und Baczyhski beson­deren Gefallen aneinander fanden und daß dieser es war, der Pranas zu einem Umzug nach Warschau überredete, weit weg von den Schikanen der örtlichen Verwaltung, und der ihm auch dabei half, eine Arbeit zu bekommen. Ich erin­nere mich nicht mehr, in welchem Forschungsinstitut oder in welcher Bibliothek. Das war übrigens kurz vor Aus­bruch des Krieges.

In den Studentenjahren bestand Wilna für mich aus den Gebäuden rings um den Domplatz — auf der einen Seite die Universität, auf der anderen das Cafe Rudnicki an der Ecke der Mickiewicz-Straße und gleich daneben das Osteuropa Institut. A n unserer Universität wurde man der Kontinuität mehr gewahr als an anderen polnischen Universitäten, die Jagiellonen-Universität ausgenommen. Denn der Zeitraum ihrer Schheßung nach dem Aufstand von 1 8 3 1 verkürzte sich irgendwie, er verschwand, und man lebte mit der Aura der Philomathen. In Wilna aufzuwachsen, das bedeutete, nur in einem gewissen Maße ins 20. Jahrhundert zu gehö­ren, hauptsächhch wahrscheinlich durch die Vermittlung

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des Kinos. Manchmal verwechsele ich heute den Akademi­schen Klub der Landstreicher und insbesondere den Klub der Landstreicher-Senioren mit der Gesellschaft der Schur­ken, der seinerzeit die Professoren des jungen Mickiewicz angehörten. Sogar die Loge »Der eifrige Litauer« war an­scheinend in meinen Studentenjahren weiterhin tätig. Im Vergleich zu Wilna war Warschau eine häßHche Stadt, in seinen Innenbezirken und einigen Randgebieten zerfres­sen von der Flechte des jüdischen Elends, der Misere der Heimarbeiter und Kleinhändler oder des polnischen Prole­tariats, und es reichte nicht an zivilisierte Städte wie das wunderschöne tschechische Prag heran. Dennoch war War­schau schon das 20. Jahrhundert. Für aus Warschau Z u g e ­reiste, solche wie K . I. Galczyhski, war Wilna etwas völlig Exotisches. Mich dagegen erschreckte Warschau. In der Mitte meines Jurastudiums war ich ein Jahr lang an der Universität Warschau, und das war eine schlechte Erfah­rung. Ich fiel bei den Prüfungen durch (bei Professoren, die ihren Wilna-KoUegen nicht das Wasser reichen konnten) und kehrte nach Wilna zurück.

Bis heute kann ich mir die Frage nicht beantworten, warum ich so viele Jahre für das Jurastudium verschwendet habe. Es war so: Ich begann mit der Polonistik, w o ich nach zwei Wochen davonlief, und von dem Moment an, w o ich mich für Jura eingeschrieben habe, hat mich der dumme (litaui­sche?) Eigensinn, die Scham, etwas aufzugeben, was ich angefangen habe, dazu gezwungen, mich noch bis zum Diplom zu quälen. Das Jurastudium war damals Al lge­meinbildung, wie heute in Amerika Anthropologie oder Soziologie. Dort gingen diejenigen hin, die nicht so recht wußten, was sie machen sollten. U n d für die Geisteswis­senschaften war es erforderlich, daß man sich sagte: also gut, dann werde ich Pauker in der Mittelschule. In der Jugend hat man diese hochfliegenden und unbestimmten Träume. Da ist es schwer, nüchtern zu sein und sich den

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bescheidenen Berufeines Lehrers vorzuzeichnen. Wenn ich heute mit meinem jetzigen Wissen die Wahl hätte, dann würde ich weder Polonistik noch Philosophie nehmen (ich bin zu Philosophievorlesungen und -seminaren gegangen), sondern die sogenannte klassische Philologie, und würde außerdem Hebräisch und Bibelkunde studieren. N u r daß Latein und Griechisch damals ein traditionell vorgeschrie­benes Programm bedeuteten, hauptsächlich also die Dich­ter des Altertums, und mich zum Beispiel die griechischen Tragödien entsetzlich langweilten, die in der Übersetzung der Professoren gelesen wurden. Von Vergil hatte ich aus der Schule genug, so daß ich die ganze Philologie für schreckhch langweilig hielt. Heute bedeuten Latein und Griechisch, das ich zu lernen begann, als ich sechzig wurde, für mich etwas anderes: den Zugang zur Welt des Helle­nismus und den Anfangen des Christentums. Wenn sich damals ein kluger Mensch gefunden hätte, der mich gelenkt hätte, vielleicht hätte ich die Langeweile durchgestanden. Es gab damals einen Griechischprofessor von echtem Schrot und Korn, der Stefan Srebrny hieß. Bei dem hätte ich studieren sollen. Und wenn ich dann noch Hebräisch gelernt hätte, wäre ich einer der wenigen gut ausgebildeten Literaten. Trotzdem war das Jurastudium in Wilna meiner Meinung nach besser als an anderen polnischen Universitä­ten, das heißt, es gab jedes Jahr - im Laufe der vier für das Diplom erforderlichen Jahre - mindestens einen Kurs, der hervorragend war. Dazu zähle ich: die Theorie des Rechts (Dozentin Ejnik), die Verfassungsgeschichte des Großfür­stentums Litauen (Iwo Jaworski) , das Strafrecht (Bronislaw Wróblewski, der unter diesem Titel eigentlich einen A n ­thropologiekurs abhielt), und die Geschichte der Rechts­philosophie (Wiktor Sukiennicki). So daß ich in Wilna, sowohl in der Mittelschule als auch auf der Universität, eine anständige Ausbildung erhielt, obgleich sie besser hätte sein können. Bedenken wir , daß das Schulwesen nach 1 9 1 8

plötzhch improvisiert werden mußte. Es fehlte deshalb nicht an Personen, die aufgrund irgendeines Zufalls Lehr­stühle innehatten. Doch auf jeden Fall gab es in Wilna keinen derart indiskutablen Professor wie den berühmten Jarra aus Warschau, der die Studenten zu Prüfungen sein ganzes Lehrbuch der Rechtstheorie auswendig lernen und sie durchfallen ließ, wenn sie »mit eigenen Worten« antwor­teten, wobei sein Lehrbuch ein einziges Gestammel war . Wichtig, wenn wi r über Wilna sprechen, ist, daß es in beträchthchem Maße eine jüdische Stadt war. A u f eine vö l ­lig andere Weise als Warschau. Das jüdische Viertel in Wilna war ein Labyrinth enger, ganz mittelalterlicher Gäßchen, die Häuser durch Arkaden verbunden, das holprige Pflaster zwei, vielleicht drei Meter breit. In Warschau dagegen w a ­ren es Straßen mit scheußlichen Mietshäusern aus dem 19 . Jahrhundert. Das jüdische Elend fiel in Wilna weniger ins Auge , was nicht heißt, daß es das nicht gegeben hätte. Doch nicht darin besteht der Unterschied. Wilna war ein starkes jüdisches Kulturzentrum mit Traditionen. Ich erinnere dar­an, daß eben hier an der Basis der jüdischen Arbeiterschaft, die Jiddisch sprach, vor dem Ersten Weltkrieg der »Bund« entstand. Seine Führer, Alter und Ehrlich, wurden später von Stalin erschossen. Wilna hatte einjüdisches Historisches Institut, das dann nach N e w York verlegt wurde. Und ich denke, daß Wilna besonders zum Wiederaufleben der he­bräischen Sprache in Israel beigetragen hat. Als jemand, der in dieser Stadt lebte, hätte ich eine bestimmte Kenntnis von all dem erlangen müssen, doch dem standen die Sitten und Gebräuche entgegen. Das jüdische und das nichtjüdische Wilna lebten getrennt voneinander. Beide bedienten sich auch in Wort und Schrift einer anderen Sprache. Als Stu­dent war ich sehr international eingestellt, was ziemlich oberflächUch war. Ich wußte nichts über die Geschichte der Juden in Polen und Litauen, über ihr religiöses Gedanken­gut, den jüdischen Mystizismus, die Kabbala. Das sollte ich

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erst viel später, in Amerika, lernen. Das zeigt das Ausmaß der Trennung der beiden Gemeinschaften, denn was soll man über andere Städte im Vorkriegspolen sagen, wenn ich in einer solchen Nachbarschaft ein Ignorant geblieben bin. Soweit ich weiß, hat sich in Polen niemand gewagt vorzu­schlagen, daß Hebräisch in den Schulen als eine der »klas­sischen« Sprachen unterrichtet wird, daß die intellektuelle Geschichte der polnischen Juden gelehrt oder zumindest das Alte Testament gelesen und kommentiert wird: er wäre gesteinigt worden. Und wenn mich auch der Haß der Juden auf die Polen, bei merkwürdiger Vergebungsbereitschaft gegenüber den Deutschen und den Russen, sehr trifft und schmerzt, so muß ich zugeben, daß einem der kleinhche Antisemitismus - auf EngHsch würde ich petty, auf Franzö­sisch mesquin sagen - genauso arg zusetzen kann wie ein Verbrechen, weil er etwas Tagtäghches ist. Ich hoffe, daß Du in meinem Brief Stoff zum Nachdenken findest. Wi r beide wollen, daß sich die polnisch-litauischen Beziehungen anders gestalten als in der Vergangenheit. Z w e i Völker haben schreckhche Erfahrungen hinter sich, sie wurden unterjocht, gedemütigt und getreten. Die neuen Generationen werden sich anders miteinander verständi­gen, als das in den Vorkriegsjahren der Fall war . W i r müssen jedoch mit der Kraft der Trägheit rechnen und damit, daß in dem entstandenen ideologischen Vakuum der Nationa­lismus, sei es in Polen oder in Litauen, oftmals ausgetretene Pfade beschreiten wird, denn in der Geschichte jedes Landes gibt es Muster, patterns, die sich wiederholen. Ende des i8. Jahrhunderts zerfiel Polen in das Lager der Reformen und das sarmatische Lager, und diese Spaltung hat sich in ver­schiedenen Verkleidungen bis heute erhalten, obwohl sie sich unter Bedingungen der Nicht- oder Halböffentlichkeit einer Definition verschHeßt. Vielleicht kündigt das in Paris von der »Kultura« herausgegebene Buch von Adam Mich-nik »Die Kirche, die Linke und der Dialog« das Ende dieser

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Spaltung an. War doch in unserem Jahrhundert die Kirche eine Bastion der sarmatischen Mentalität, die den moder­nen Nationahsmus erzeugte, zumindest bis zum Jahre 1939. Heute zeichnet sich ein neues Bündnis ab. Die Kirche in Polen konzentriert große Energien des Fortschritts in sich, und Fortschritt kann in dem dortigen System nichts anderes bedeuten als die wirksame Verteidigung des Menschen. Doch das sind kompHzierte Veränderungen, die sich nicht von heute auf morgen vollziehen und keineswegs ein plötz­liches Verschwinden der nationalistischen Stimmungen herbeiführen, wie sie vor dem Krieg bei einem beträchtli­chen Teil des Klerus vorherrschten. Die Litauer mochten in den Jahren 1 9 1 8 - 1 9 3 9 all das nicht, was mir in Wilna am Herzen lag: die »Heimatidee«, die Vision einer Föderation, den Regionalismus und die Frei­maurer-Liberalen, die einst Pilsudski gefolgt waren. Scheinbar zogen sie den Umgang mit der anima naturaliter endeciana vor, denn so konnte man den Feind wenigstens deuthch sehen. Vielleicht hatten sie recht. Das werde ich nicht entscheiden. Doch gibt gerade jene und nicht die sarmatische Linie heute Anlaß zur Hoffnung auf eine Freundschaft zwischen Polen und Litauern. Und solcher Art, aus der gleichen Linie, ist schließlich die politische Herkunft von Jerzy Giedroyc, dem Redakteur der Pariser »Kultura«, deren Mitarbeiter ich seit vielen Jahren bin.

(Berkeley 1978) Aus dem Polnischen von Martina Hassenstein

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