INHALTSVERZEICHNIS · Josef Emil Schneckendorf – Bernhard Hoetger – Emanuel Josef Margold –...
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9 GRUSSWORT
Birgitta Wolff
11 VORWORT UND DANK
Manfred Großkinsky
15 DAS RHEIN-MAIN-GEBIET ALS ZIEL
KÜNSTLERISCHER MIGRATION
Claudia Caesar
31 GUSTAVE COURBET IN FRANKFURT 1858/59
Gustave Courbet – Victor Müller – Angilbert Göbel –
Anton Burger – Karl Peter Burnitz – Otto Scholderer
Kat. 1–13
51 FREILICHTMALEREI – ENTDECKUNG DER REGION
Hugo Wilhelm Kauffmann – Wilhelm Busch – Alfred von
Schönberger – Ferdinand Brütt – Robert Hoffmann
Kat. 14–19
63 KÜNSTLERFREUNDSCHAFTEN –
NEUER IDEALISMUS IN FRANKFURT
Hans Thoma – Albert Lang – Karl von Pidoll zu Quintenbach
Kat. 20–25
77 WILHELM TRÜBNER IN FRANKFURT 1896 BIS 1903
Wilhelm Trübner – Alice Trübner – Eugenie Bandell –
Else Luthmer – Hermann Herterich – Hermann Treuner
Kat. 26–34
93 KÜNSTLERKOLONIE DARMSTADT 1899 BIS 1914
Peter Behrens – Rudolf Bosselt – Paul Bürck – Patriz Huber –
Joseph Maria Olbrich – Friedrich Wilhelm Kleukens –
Josef Emil Schneckendorf – Bernhard Hoetger –
Emanuel Josef Margold – Hanns Pellar – Fritz Osswald
Kat. 35–86
149 INTERESSENGEMEINSCHAFT –
RHEINLÄNDISCHE KÜNSTLER IN FRANKFURT
Rudolf Gudden – Alexander Soldenhoff –
August Babberger – Hans Brasch – Albert Haueisen
Kat. 87–92
163 NETZWERKE DER MODERNE –
DIE GALERISTEN LUDWIG SCHAMES UND
HANNA BEKKER VOM RATH
Ida Kerkovius – Peter Rasmussen – Louise Rösler –
Ernst Wilhelm Nay – Siegfried Reich an der Stolpe
Kat. 93–97
175 MÄZEN, SAMMLER UND VERMITTLER –
HEINRICH KIRCHHOFF UND „SEINE“ KÜNSTLER
Josef Eberz – Conrad Felixmüller – Walter Jacob
Kat. 98–104
189 MAX BECKMANN IN FRANKFURT 1915 BIS 1933
Max Beckmann – Karl Tratt – Anna Krüger – Friedrich
Wilhelm Meyer – Walter Hergenhahn – Leo Maillet –
Inge Dinand – Theo Garve
Kat. 105–114
205 VERTREIBUNG – NATIONALSOZIALISTISCHER
TERROR AB 1933
Jakob Nussbaum – Armin Stern – Benno Elkan –
Hermann Lismann – Hanns Ludwig Katz – Willi Baumeister
Kat. 115–121
221 ABSTRAKTION – ANSCHLUSS AN DIE
INTERNATIONALE MODERNE NACH 1945
Paul Fontaine – Bernard Schultze – Karl Otto Götz –
Georg Meistermann
Kat. 122–127
235 PLURALISMUS DER KUNSTFORMEN –
INTERNATIONALISIERUNG
Eberhard Schlotter – Heinrich Steiner – Toni Stadler –
Michael Croissant – Ulrich Rückriem – Per Kirkeby –
Hermann Nitsch
Kat. 128–135
Anhang
254 Abgekürzt zitierte Literatur – 259 Abbildungs- und
Fotonachweis – 260 Personenregister – 263 Abkürzungs -
verzeichnis – 263 Autorenkürzel – 264 Impressum
7
I NHA LT S V E R Z E I CHN I S
Die Ausstellung präsentiert Werke von Künstlerinnen und Künstlern,
die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis heute aus anderen Ge-
genden Deutschlands und darüber hinaus in das Rhein-Main-Gebiet
gekommen sind, dort eine Zeit lang arbeiteten und die Region
dann wieder verließen. Der Fokus liegt dabei nicht auf angehenden
Künstlern, die zur Ausbildung in die Region gekommen sind, son-
dern auf Künstlern, die bereits einen gewissen Ruf genossen, als es
sie in die Gegend verschlug. Außerdem zeigt sie Werke (meist) lo-
kaler Künstler, die unter dem Einfluss und im Umkreis dieser „Durch-
reisenden“ entstanden sind.
Mithilfe des kunsthistorischen Objektmaterials wird eine Reihe
von Fragen aufgeworfen. Dies sind zunächst Fragen nach den sozio-
ökonomischen Bedingungen der Produktion und Distribution von
Kunst im Rhein-Main-Gebiet: Was macht die Region attraktiv für
Künstlerinnen und Künstler aus der Fremde? Jene Frage zielt auf die
in Darmstadt, Frankfurt, Wiesbaden et cetera vorhandenen lokalen
Strukturen, welche sich je nach Ort unterscheiden und über die Zeit
verändern, auf Möglichkeiten, seine Kunst auszuüben, auszustellen,
zu verkaufen, auf Künstlerfreundschaften und Netzwerke. Eine Schnitt-
menge ergibt sich hier mit Künstlern, die aus der Fremde kommen
und in der Region bleiben. Die folgerichtig anschließende Frage ist:
Warum verlässt ein Künstler die Region wieder? Hier kann untersucht
werden, welche strukturellen Veränderungen ihn dazu bringen, sein
Glück anderswo zu suchen, und wohin es Künstler aus der Rhein-
Main-Region zieht – auch hier ergibt sich eine Schnittmenge mit
Künstlern, die in der Region heimisch sind, die diese aber verlassen.
Somit können im Einzelnen Mängel in den regionalen Strukturen, De-
fizite im Netzwerk oder andere Verschiebungen deutlich werden. Dies
betrifft auch beispielsweise die erzwungene Abwanderung von Künst-
lern nach 1933 aufgrund der Vertreibung durch die Nationalsozialisten.
Andererseits lassen sich anhand des versammelten Materials
auch kunstimmanente Fragen bearbeiten: nämlich die nach den
Prozessen der Integration beziehungsweise Adaption von fremden
künstlerischen Formulierungen in die regionale Kunstproduktion
und dem Gewinn, den diese dadurch erfährt; aber auch die nach
den Veränderungen, die ein Aufenthalt in der Rhein-Main-Region
unter Umständen im Werk einzelner „reisender“ Künstler bewirkte.
Damit führt die Ausstellung am Beispiel der Kunst etwas ganz Ele-
mentares vor Augen, das insbesondere heute in einer zunehmend
globalisierten und von Migration geprägten Gesellschaft eine wich-
tige Erkenntnis darstellt: Was bewirkt Migration, wie funktionieren
Integration und der Austausch zwischen „Fremdem“ und „Eige-
nem“, aber auch wie definiert sich Fremdes und Eigenes?
Die Ausstellung positioniert sich mit diesen Fragestellungen in
mehreren interdisziplinären Forschungsrichtungen, die auch zu-
nehmend in dem aktuellen kunsthistorischen Diskurs erörtert wer-
den. Einerseits werden Kunstobjekte gezeigt, die in einem be-
stimmten räumlichen Umfeld entstanden sind, womit der Back-
ground kunstgeographischer Forschung angesprochen ist, dann
wird der längere Aufenthalt ortsfremder Künstler in der Rhein-
Main-Region thematisiert, was uns in den Bereich der auf der his-
torischen Migrationsforschung basierenden Untersuchung zu künst-
lerischer Mobilität führt, und schließlich spielt auch noch der insbe-
sondere im Kontext deutsch-französischer Forschung ausformulierte
Ansatz des Kulturtransfers beziehungsweise kulturellen Austauschs
eine Rolle.
Der Forschungskontext soll einleitend in der nötigen Kürze und
in Konzentration auf die hier relevanten Aspekte umrissen werden.
Anschließend soll ein Überblick über die Strukturen gegeben wer-
den, die im Rhein-Main-Gebiet die Zureise von Künstlern begünstigt
haben. In der Fülle des Materials schien eine Fokussierung auf ein-
wandernde Künstler notwendig, und selbst hier ist nur ein grober
Überblick zu leisten. Abschließend soll exemplarisch Einblick in for-
male, also kunstimmanente Transferleistungen gegeben werden.
15
DAS RH E I N -MA IN -G E B I E T A L S Z I E LKÜNST L E R I S CH E R M IGRAT I ON
Claudia Caesar
Globalisierung zunehmend mit dem Themenfeld Migration ausei-
nandersetzen.13 Der Blick auf Migration unterstützt dabei nicht zu-
letzt die Dekonstruktion nationaler Schulen, die bereits seit Beginn
der Kunstgeschichtsschreibung als Ordnungssystem herangezogen
wurden und bis heute die Hängung vieler Museen bestimmen.
Demgegenüber hat beispielsweise eine Ausstellung der Tate Mo-
dern versucht, die britische Kunst über migrierende Künstler zu er-
zählen und damit ihre nationale Einordnung zu hinterfragen.14 In
kunstgeographischer Sicht knüpft sich an die Migration eines Künst-
lers auch die Diffusion und Aufnahme stilistischer Formulierungen.
Eine ähnliche Stoßrichtung weisen auch interdisziplinäre An-
sätze des Kulturtransfers oder des Kulturaustauschs auf, die sich in
eine Reihe aktueller Forschungskonzepte einreihen lassen, die ver-
suchen, dem national geprägten Blick der Wissenschaften eine
transnationale oder globale Sicht entgegenzusetzen.15 Dabei meint
Transfer „die Bewegung von Menschen, materiellen Gegenständen,
Konzepten und kulturellen Zeichensystemen im Raum und dabei
vorzugsweise zwischen verschiedenen, relativ klar identifizierbaren
und gegeneinander abgrenzbaren Kulturen mit der Konsequenz
ihrer Durchmischung“.16 Der Transferansatz wurde zuerst in den
1980er Jahren im Umfeld deutsch-französischer Literaturwissen-
schaftler aufgegriffen17 und zielt vor allem auf den Prozess des
Austauschs und auf die Veränderungen, die dieser vor Ort bewirkt,
wobei der Rahmen vom persönlichen Bereich bis in den transnatio-
nalen oder globalen Kontext reichen kann.18 Dem liegt nicht mehr
die Vorstellung eines eindimensionalen Einflusses eines Kulturrau-
mes auf einen anderen zugrunde, sondern die eines komplexen
Systems des dauernden, dynamischen Gebens und Nehmens – der
Begriff Netzwerk ist hier richtungsweisend. Dabei rücken die Träger
des Kulturimports ebenso in den Fokus wie die Aufnahmebereit-
schaft der rezipierenden Gesellschaft, die für eine von außen kom-
mende kulturelle Leistung ein Milieu schafft und diese in ihre Welt
„übersetzt“.19 Das von Bénédicte Savoy und France Nerlich heraus-
gegebene Lexikon „Pariser Lehrjahre“, das in zwei Bänden Lebens-
läufe von Künstlern aus dem deutschsprachigen Raum zusammen-
stellt, die sich zwischen 1796 und 1870 zu Ausbildungszwecken in
Paris aufhielten, ist ein Beispiel für die Umsetzung dieser Ansätze
in die kunsthistorische Forschung.20 Daneben traten jüngst bei-
spielsweise die internationalen Beiträge zur Düsseldorfer und Mün-
chener Malerschule in den Fokus der Forschung, die jeweils große
Gemeinden von Künstlern aus anderen Regionen an sich banden.21
Dies verdeutlicht die enge Verzahnung der unterschiedlichen na-
tionalen Kunstentwicklungen und löst gleichzeitig insbesondere
nationale und regionale Kategorien auf. Insgesamt scheint die
Kunstgeschichte als Wissenschaft, die sich primär materiell fassba-
ren Objekten widmet, besonders geeignet, kulturelle Transferleis-
tungen zu verdeutlichen.
2. KÜNSTLER ISCHE MIGRATION IN DAS RHE IN-MAIN-GEB IET: D IE STRUKTUREN
Beschäftigt man sich näher mit dem Rhein-Main-Gebiet aus histo-
rischer Sicht, so fällt zunächst auf, dass die Bezeichnung der Region
erst etwa hundert Jahre alt ist. Ihre Entstehung spiegelt eine Situa-
tion, in der durch die Industrialisierung die Städte dieser stark pros-
perierenden Region zusammenrückten und sich, auch auf Basis
neuer Verkehrsmöglichkeiten und wirtschaftlicher Notwendigkeiten,
ein immer regerer Austausch entwickelte. Bis heute ist die Rhein-
Main-Region in politischer Hinsicht heterogen, sie umfasst drei Bun-
desländer. Vor der deutschen Einigung im Jahr 1871 war diese Zer-
gliederung noch massiver, das Gebiet zerfiel damals in mehrere un-
terschiedliche Staaten. Zwar hatte Frankfurt, als Messestadt am
Kreuzungspunkt wichtiger Verkehrswege gelegen, schon lange die
Stellung eines regionalen Zentrums inne, aber aus der politischen
Zergliederung und der singulären Position Frankfurts resultierte eine
bis heute spürbare „polyzentrale Struktur der Region, in der sich
viele Städte Individualität und administrative Eigenständigkeit be-
wahren konnten“.22 Intensivere Versuche, das Gebiet auch struktu-
rell zusammenzubinden, fielen dann, vor allem als Antwort auf die
Bedürfnisse des industrialisierten Frankfurts nach einem enger ver-
bundenen Umland, erst in die 1920er Jahre. Damals propagierte
der Frankfurter Oberbürgermeister Ludwig Landmann die Vorstel-
lung von einem Rhein-Mainischen Städtekranz, dessen Zentrum
Frankfurt sein sollte und dessen Peripherie Wiesbaden, Mainz,
Darmstadt und Aschaffenburg darstellten.23 Damit war der Raum
benannt, der bis heute das Rhein-Main-Gebiet als eine der wich-
tigsten europäischen Metropolregionen Deutschlands mit intensiver
wirtschaftlicher Verflechtung und hohem Pendleraufkommen aus-
macht.24
Der historischen Zergliederung entsprechend wiesen die einzel-
nen städtischen Zentren des Rhein-Main-Gebietes auch im Kunst-
bereich sehr unterschiedliche Strukturen auf,25 die sich mehr oder
weniger positiv auf den Zuzug von Künstlern auswirkten. Insgesamt
lässt sich feststellen, dass im betrachteten Zeitraum vor allem Künst-
ler aus dem deutschen Sprachraum in die Region einwanderten –
die berühmteste Ausnahme ist Gustave Courbet (Kat. 1–3, 7), der
sich 1858/59 in Frankfurt aufhielt. Dies scheint typisch für regionale
17
1 . KUNST, RAUM UND MIGRATION: NEUEREKUNSTHISTORISCHE FORSCHUNGSANSÄTZE
Wenn man die Migration von Künstlerinnen und Künstlern in ein
bestimmtes Gebiet bespricht, muss zunächst die Definition der
Grenzen diskutiert werden. Damit begibt man sich in das Feld
kunstgeographischer Forschung, die sich im weitesten Sinn mit
den Beziehungen „zwischen dem Kunstgut und der künstlerischen
Tätigkeit einerseits und einem geographischen Raum andererseits“
beschäftigt.1 Als Wissenschaftszweig ist die Kunstgeographie relativ
jung, erste explizit kunstgeographische Studien entstanden zu Be-
ginn des 20. Jahrhunderts, allerdings spielt der räumliche Aspekt
in der Kunstgeschichtsschreibung von jeher eine Rolle.2 Während
die kunstgeographische Forschung in ihren Anfängen noch von ra-
tionalen Vorgaben des Raumes ausging, etwa nach Verkehrsver-
bindungen, ökonomischen Beziehungen und Auftraggebern fragte,
sich also interdisziplinär öffnete und Kunst und Künstler in einen
historischen und gesellschaftlichen Rahmen stellte, verengte sie
sich vor allem in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahrhun-
derts zusehends: Eine postulierte Einheitlichkeit in der Kunstpro-
duktion einer Region wurde vor allem über die Eigenarten des
jenen Landstrich besiedelnden Volkes erklärt. Innerhalb dieses Den-
kens wurden einzelne migrierende Künstler sogar zu alleinigen Trä-
gern und Übermittlern stilistischer Formulierungen gemacht, wobei
auch ein in der Romantik entstandenes Künstlerbild eine Rolle
spielte, das den Künstler zum Vaganten schlechthin stilisierte.3
Diese auf ethnische oder sogar rassische Gründe setzende und an-
sonsten vor allem stilhistorisch operierende Forschung stellte sich
in der Zeit des Nationalsozialismus bereitwillig in den Dienst der
Blut-und-Boden-Ideologie. Ab den 1970er Jahren und nochmals
verstärkt in den letzten zehn Jahren wurde der Forschungszweig
kritisch aufgearbeitet mit dem Ziel, räumliche Forschung von dem
rechtslastigen ideologischen Ballast zu befreien und neu für die
Kunstgeschichte nutzbar zu machen.4 Da eine die Zeiten überdau-
ernde formale Einheitlichkeit keine Voraussetzung für eine moderne
kunstgeographische Forschung mehr darstellt, lässt sich prinzipiell
jeder Raum auf sein künstlerisches Beziehungsgeflecht hin unter-
suchen, wobei er zwangsläufig dynamisch zu denken ist, sich je
nach Fragestellung in unterschiedliche Unterräume aufgliedert, die
gesetzten Grenzen immer wieder überschreitet und sich zudem
insbesondere der kulturhistorischen Forschung öffnet.5 Dabei spielt
die Vorstellung von Zentrum und Peripherie eine wichtige Rolle.6
Diese geht davon aus, dass künstlerische Neuerungen insbesondere
aufgrund der vorhandenen Infrastrukturen zumeist in Zentren ent-
stehen und von dort in die Peripherie getragen werden. Es lassen
sich einerseits weithin ausstrahlende Zentren feststellen, wie es im
19. Jahrhundert zunächst Rom und dann mehr und mehr Paris für
ganz Europa waren, wie andererseits regionale Zentren, die inner-
halb einer bestimmten Region eine Führungsfunktion übernahmen.
Das Verhältnis von Zentrum und Peripherie ist als komplexe Aus-
tauschbeziehung zu kennzeichnen. Für die Diffusion der Formen
spielt neben der Wanderung von Kunstwerken beziehungsweise
ihrer Reproduktionen – im 19. Jahrhundert zunehmend über Kunst-
zeitschriften, die dann im Laufe des 20. Jahrhunderts in eine breite
Verfügbarkeit der Bilderwelten überging – die Migration von Künst-
lerinnen und Künstlern eine zentrale Rolle.
Hier ist die Schnittstelle zwischen kunstgeographischer For-
schung und Migrationsforschung im Feld der Kunst erreicht. Mi-
gration lässt sich als „die auf einen längerfristigen Aufenthalt an-
gelegte räumliche Verlagerung des Lebensmittelpunktes“7 definie-
ren und grenzt sich in dieser Definition deutlich von der Reise ab,
die zumeist einen kürzeren Zeitraum umfasst und bei der die bis-
herigen Lebensverhältnisse, sowohl in politisch-rechtlicher wie pri-
vater Hinsicht, beibehalten bleiben.8 Dabei hat die historische Mi-
grationsforschung herausgearbeitet, dass private Netzwerke sowohl
für die Informationsvermittlung vor der Zureise als auch für das Zu-
rechtfinden am Zielort für die Migration eine erhebliche Rolle spie-
len.9 Klassischerweise erfolgt die Migration von Künstlern als Ar-
beitsmigration: Sie verändern ihren Aufenthaltsort zumeist, weil
sich damit eine – angenommene – Verbesserung ihrer Arbeits-
oder Ausbildungsbedingungen verbindet oder eine Karrierechance
eröffnet. Als gesuchte Spezialisten werden sie ähnlich wie andere
Experten häufig an einen neuen Wirkungsort berufen10 und zählen
sicherlich zu den privilegierten unter den Migranten, vergleicht
man sie beispielsweise mit saisonal beschäftigten Arbeitskräften.11
Die Entscheidung zur Migration und für einen spezifischen Zielort
gründet sich dann aber, wie auch bei anderen Migranten, auf eine
Vielzahl von Faktoren und ist meistens nicht allein ökonomisch be-
dingt, so kommt beispielsweise auch die Migration aufgrund von
Vertreibung bei Künstlern vor – in Deutschland vor allem nach
1933. In der kunsthistorischen Forschung spielt das Thema künst-
lerischer Mobilität und Migration in den letzten Jahren eine immer
wichtigere Rolle: So wurden Künstlerreisen intensiv beforscht,12
wobei nicht immer explizit zwischen Reise und dauerhafter Orts-
veränderung getrennt wird, was je nach Fragestellung sinnvoll er-
scheint. Auch zum Themenfeld der Migration gab es eine Reihe
von Publikationen und Ausstellungsprojekten, insbesondere weil
sich zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler mit wachsender
16
31
Die Malerei des Franzosen Gustave Courbet markierte für die Frankfurter Kunstszene
Mitte des 19. Jahrhunderts die Auseinandersetzung mit den neuesten Tendenzen der
Moderne. Sein mit dem Schlagwort „Realismus“ belegtes Schaffen konfrontierte das
Publikum mit ungewohnten, eigenwilligen Bildlösungen.
In Frankfurt fanden erste Ausstellungen mit einzelnen Gemälden Courbets 1852, 1854
und im Frühjahr 1858 statt. Der bekennende Sozialist präsentierte wirklichkeitsnahe
Szenen aus dem Alltagsleben der Landbevölkerung und Tagelöhner, großformatige
Gemälde mit der Zurschaustellung der Armut und zwischenmenschlichen Isolation.
An dieser Thematik und an der unakademischen Ausführung mit dunkeltonigem
Kolorit und grober Malweise entzündeten sich heftige öffentliche Diskussionen.
Im August 1858 besuchte Courbet Frankfurt und blieb dort bis Februar 1859. Einige
Frankfurter Künstler wie Karl Peter Burnitz, Victor Müller, Angilbert Göbel, Anton
Burger und Otto Scholderer, die bereits Erfahrungen mit der Schule von Barbizon sowie
mit der Pariser Kunstszene gemacht hatten und teilweise den Künstler schon kannten,
ließen sich motivisch wie maltechnisch von Courbet anregen. Nach einem Zwist mit
dem Landschafts- und Genremaler Jakob Becker über die Ausführung landschaftlicher
Details musste Courbet das vom Städelschen Kunstinstitut zur Verfügung gestellte
Atelier im Deutschherrenhaus räumen.
Courbet thematisierte mit seiner Kunst und seiner Person die Außenseiterrolle des
Künstlers. Sein selbstbewusstes Auftreten und seine in künstlerischen Fragen kompro-
misslose Haltung hinterließen einen tiefen Eindruck unter seiner Anhängerschaft. Ins-
besondere Courbets bedingungsloser Freiheitsdrang ermutigte sie, ihren eigenen Weg
zu gehen: Burger zog nach Kronberg im Taunus, wo er die dortige Malerkolonie mit-
begründete, Müller wechselte in das Kunstzentrum München und Scholderer in die
Metropole London. Und Burnitz, der mit seinen stimmungsvollen Landschaften kei-
nerlei Erfolg hatte und sich ständiger Kritik ausgesetzt sah, hielt unbeirrt an seiner
Kunstauffassung fest. MG
GU S TAV E COURB E T I N F RANK FURT 1 8 5 8 / 5 9
39
2 | GUSTAVE COURBET
Häuser am Wasser, 1865
Öl auf Leinwand, 46 x 56 cm
Bez. l. u.: G. Courbet.
Privatbesitz
38
1 | GUSTAVE COURBET
Die Quelle der Lison, 1864
Öl auf Leinwand, 60,8 x 50 cm
Bez. l. u.: G. Courbet.
Privatbesitz
93
1899 gründete der kunstsinnige Großherzog Ernst Ludwig von Hessen und bei Rhein
die Künstlerkolonie Darmstadt. Angeregt von dem Verleger Alexander Koch, wollte
er seine Residenz zum Zentrum moderner Kunstbestrebungen machen und damit das
Ansehen des Großherzogtums steigern. Er berief junge Künstler nach Darmstadt, deren
Tätigkeit nicht mehr die Trennung von freier und angewandter Kunst prägen sollte.
Vielmehr strebten sie nach der Einheit von Kunst und Leben im Sinne des Gesamtkunst-
werks, indem sich alle Lebensbereiche einem ästhetischen Prinzip unterordnen. Diese
Architekten, Bildhauer, Entwerfer und Graphiker wie Peter Behrens, Josef Maria Olbrich,
Rudolf Bosselt und andere genießen mittlerweile Weltruhm.
Ausgestattet mit einem festen Einkommen und großen künstlerischen Freiheiten hat-
ten die Künstler moderne Entwürfe für handwerkliche Betriebe zu entwickeln, um die
Wirtschaft im Großherzogtum zu fördern. Statt industrieller Massenware sollten funktio-
nale Gegenstände des täglichen Lebens mit ästhetischem Anspruch produziert werden.
Zwei große Ausstellungen rahmten die historische Phase der Künstlerkolonie zwischen
1899 und 1914 ein: „Ein Dokument Deutscher Kunst“ 1901 und „Künstlerkolonie Aus-
stellung Darmstadt“ 1914. Diese verkaufsorientierten Leistungsschauen fanden dank
Kochs Zeitschrift „Deutsche Kunst und Dekoration“ überregional große Beachtung.
Errichtet wurden dauerhafte und temporäre Bauten samt Innenausstattung von der
Wandgestaltung, Möblierung bis hin zur Tafelkultur. Die wichtigsten Gebäude prägen
bis heute das Erscheinungsbild der Mathildenhöhe: Das Ernst-Ludwig-Haus, die Künst-
lerhäuser, der Hochzeitsturm, weitere Architekturen und der Platanenhain dokumen-
tieren das weitsichtige Engagement des Fürsten, dessen Vision als „Welt entwurf“
Aufnahme in die Liste des Weltkulturerbes anstrebt. MG
K ÜN ST L E RKO LON I E DARMSTADT 1 8 9 9 B I S 1 9 1 4
9796
35a–j | PETER BEHRENS (ENTWURF)
Silberwarenfabrik M. J. Rückert, Mainz (Ausführung)
Tafelbesteck Modell „Speisezimmer Behrens“,
Nr. 4800, 1900–1901
Institut Mathildenhöhe, Städtische Kunstsammlung
Darmstadt
d | Dessertgabel
Silber, 16 x 1,5 x 1 cm, Inv. Nr. 175/56 KH
e | Dessertmesser
Silber, Stahlklinge, 17,2 x 1,7 x 1 cm, Inv. Nr. 175/51 KH
f | Kaffeelöffel
Silber, 14 x 2,9 x 1 cm, Inv. Nr. 175/04 KH
g | Spargelheber
Silber, teilweise vergoldet, 24,5 x 10 x 3,2 cm, Inv. Nr. 175/63 KH
h | Soßenlöffel
Silber, 16 x 5,8 x 4,4 cm, Inv. Nr. 175/61 KH
i | Fleischgabel
Silber, 19,5 x 1,5 x 1 cm, Inv. Nr. 175/62 KH
j | Sahnelöffel
Silber, 18,5 x 4 x 1,8 cm, Inv. Nr. 175/64 KH
a | Menügabel
Silber, 21,8 x 2,6 x 0,3 cm, Inv. Nr. 175/18 KH
b | Menümesser
Silber, Stahlklinge, 25 x 2,1 x 1,3 cm, Inv. Nr.
175/07 KH
c | Menülöffel
Silber, 21,6 x 4,3 x 0,3 cm, Inv. Nr. 175/29 KH
163
Spätestens Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich Frankfurt am Main als Handelsplatz
für moderne Kunstobjekte etabliert. Innerhalb der regen Kunstszene nahmen die
Kunsthändler und Galeristen dabei zunehmend die Position überregional agierender
Vermittler ein.
Zu den sich ansiedelnden Kunsthandlungen gehörte auch die von Ludwig Schames.
1895 zunächst am Opernplatz gegründet, verband sich mit der Neueröffnung 1913 als
„Kunstsalon Ludwig Schames“ nicht nur ein Wechsel in die Räumlichkeiten des Hauses
Börsenstraße 2, sondern auch eine verstärkte Hinwendung zur jungen Kunst des Ex-
pressionismus.
Der avantgardistischen Kunst der Moderne verschrieb sich auch die Künstlerin, Kunst-
händlerin und -sammlerin Hanna Bekker vom Rath. Bereits während der Diktatur des
Nationalsozialismus veranstaltete sie in ihrer Berliner Atelierwohnung heimliche Aus -
stellungen verfemter Künstler und scharte in ihrem „Blauen Haus“ in Hofheim am
Taunus Kunst- und Kulturschaffende um sich. 1947 gründete sie das „Frank furter Kunst-
kabinett Hanna Bekker vom Rath“, Kaiserstraße 5, ab 1949 am Börsenplatz ansässig.
In den 1950er und 1960er Jahren unternahm sie darüber hinaus Ausstellungsreisen
mit Werken deutscher Künstler durch Nord- und Südamerika, Südafrika, Indien,
Spanien, Ägypten, Griechenland, Libanon und Marokko.
1947 äußerte Hanna Bekker vom Rath programmatisch: „Mein Ziel: Überbrückung
der durch das Dritte Reich entstandenen Kluft. Heranführung der Jugend an die Kunst
der letzten vierzig Jahre und Einführung in das Schaffen der Gegenwart auf dem Ge-
biet der Malerei, Plastik, Graphik und Werkkunst.“
Als kulturelle Akteure boten die genannten Galeristen bekannteren und unbekannteren
Künstlerinnen und Künstlern eine Plattform und damit einen Anreiz zum (temporären)
Ortswechsel. Durch ihre weitreichenden internationalen Netzwerke prägten sie die
Kunst szene, so auch durch Verkäufe an Museen und Privatsammler. SW
NETZWERKE DER MODERNE –D IE GALER ISTEN LUDWIG SCHAMES UND HANNA BEKKER VOM RATH
169
95 | LOUISE RÖSLER
Frühlingslandschaft mit blauem Zaun, 1952/53
Öl auf Leinwand, 50 x 69 cm
Bez. r. u.: Louise Rösler 52/53
Museum Atelierhaus Rösler-Kröhnke
168
Malerin, Graphikerin
Berlin 8.10.1907 – 25.6.1993 Hamburg
�Königstein im Taunus, 1943 bis 1959
LOU I S E RÖS L ER
Louise Röslers Übersiedlung in die Rhein-Main-Region war den ver-
heerenden Ereignissen des Kriegsjahres 1943 geschuldet. Nach der
Zerstörung ihrer Berliner Wohnung und dem Verlust des Ateliers
und damit eines Großteils ihrer bisherigen künstlerischen Arbeit
wurde sie gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter nach Königstein im
Taunus evakuiert. Trotz der schweren Umstände – seit 1944 galt
ihr Mann, der Maler Walter Kröhnke, in Russland als vermisst – ge-
lang ihr dort ein persönlicher wie künstlerischer Neubeginn. Sie
nahm alte Kontakte wieder auf, so zu dem nun in Hofheim ansäs-
sigen Ernst Wilhelm Nay (>), mit dem sie ebenso wie ihr späterer
Ehemann Mitte der 1920er Jahre gemeinsam bei Karl Hofer an der
Hochschule für bildende Künste in Berlin studiert hatte. Darüber
hinaus knüpfte sie neue Verbindungen, unter anderem zu Ernst
Holzinger, dem Direktor des Städelschen Kunstinstitutes, zu Hans
Mettel, dem Leiter der Städelschule, zur Künstlerkollegin Ida Ker-
kovius (>) sowie zu Hanna Bekker vom Rath. Letztere präsentierte
die Künstlerin mehrfach in ihrer Galerie in Frankfurt am Main:
unter anderem 1950 gemeinsam mit Arbeiten Rolf Cavaels und
1953 zusammen mit Werken von Alexander Calder und Paul Fon-
taine (>). Über die 1953er Schau schrieb Louise Rösler an den
Sammler Hans Lühdorf, den sie durch Nay kennengelernt hatte
und der sie durch kontinuierliche Ankäufe unterstützte: „Die Aus-
stellung war ein voller Erfolg in ideeller Hinsicht. Es wimmelte nur
so von Besuchern. Frau B. [Hanna Bekker vom Rath] sagte, das
hätte sie noch nie erlebt […]. Die Zusammenstellung mit Calder er-
wies sich als sehr günstig, denn sicher verdanke ich ihm sehr viel
den guten Besuch – aber dann blieben die Leute an meinen Klebe-
bildern hängen.“1
Jene als „Klebebilder“ bezeichneten Collagen fertigte Rösler be-
reits seit den 1940er Jahren zunächst nach dem Vorbild Kurt Schwit-
ters, so beispielsweise 1943 eine Arbeit mit dem Titel „Frankfurt“.
Fundstücke wie amerikanisches Bonbonpapier fanden darin Ver-
wendung. Ebenso wie in ihren Gemälden der 1950er Jahre verzich-
tete die Künstlerin hier weitgehend auf einen illusionistischen
Bühnenraum, verdichtete Form und Farbe vielmehr zur bewegt-
flächigen Bildstruktur. Wesentliches Mittel war dabei die Zerlegung
der gesamten Bildfläche in ein dichtes, mosaikartiges Geflecht an
abstrakten Formen und Linien. Motive der Großstadt und der Natur
mochten den äußeren Anlass bieten – so auch das zerstörte Frank-
furt –, Arbeiten wie „Trümmer in der Sonne“ (1947), „Frankfurt in
Trümmern“ (1947/48), „Frühlingsabend mit Trümmern“ (1950) oder
„Frühlingslandschaft mit blauem Zaun“ (Kat. 95) wirken gleichwohl
vordergründig als rhythmisiertes Farb- und Formereignis.
Selbst aus einer Künstlerfamilie stammend, war Louise Rösler
durch ihre Studienzeit an der Privatkunstschule Hans Hofmanns in
München und durch Studienaufenthalte unter anderem in Paris,
Südfrankreich, Spanien und Italien stets bestens mit den Entwick-
lungen der europäischen Kunstszene vertraut, etwa dem italieni-
schen Futurismus. An diese Erfahrungen und künstlerischen Impulse
konnte sie nach dem Zweiten Weltkrieg anknüpfen, ohne sich dem
jeweils aktuellen Zeitgeschmack unterzuordnen.
Bereits 1949 war Louise Rösler an der ersten Ausstellung der
„Zimmergalerie Franck“ in Frankfurt mit graphischen Arbeiten be-
teiligt – jener Galerie, die für die Entwicklung des deutschen Informel
Entscheidendes leisten sollte. Als einzige Frau gehörte die Künstlerin
1953 zu den Gründungsmitgliedern der Frankfurter Sezession. Da-
rüber hinaus war sie Mitglied des Deutschen Künstlerbundes, der
Neuen Rheinischen Sezession sowie zu Beginn der 1950er Jahre Sti-
pendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes. Insbesondere
durch das Engagement Ernst Holzingers gelangten in den 1950er
Jahren im Rahmen der Künstlerförderung Werke in die Sammlung
der Städtischen Galerie Frankfurt am Main. 1959 veranstaltete die
Frankfurter „Galerie F. A. C. Prestel“ eine Einzelausstellung mit Ar-
beiten Louise Röslers. Im selben Jahr kehrte die Künstlerin nach
mehreren vorherigen Besuchen endgültig nach Berlin zurück. SW
Quellen/Literatur: Ausst. Kat. Köln 1979; Ausst. Kat. Berlin 1993; Ausst. Kat. Küh-lungsborn 2007; http://www.anka-kroehnke.de (Zugriff: Juni 2016).
Anmerkungen: 1 Louise Rösler: Brief an Dr. Hans Lühdorf, 1.4.1953, zit. nachAusst. Kat. Köln 1979, S. 11. (Zur Identifizierung des „Kunstfreundes“, vgl. Ausst.Kat. Berlin 1993, S. 14).
Porträt: Louise Rösler, 1953/54
215
119 | HERMANN LISMANN
Wanderer, 1920
Öl auf Pappe, 70,3 x 99,4 cm
Bez. r. u.: H Lismann 9.20.
Kunsthandel Widder, Wien
214
Maler, Graphiker, Zeichner, Kunstschriftsteller
München 4.5.1878 – März 1943 Konzentrationslager Majdanek bei Lublin
�Frankfurt am Main, Januar 1914 bis September 1938, mit Unterbrechung zwischen 1915 bis 1917
HERMANN L I SMANN
Der aus dem gebildeten jüdischen Bürgertum stammende Hermann
Lismann studierte Kunstgeschichte und Philosophie in München
und Lausanne, bevor er sich 1900 zur Malerei entschloss und seine
Ausbildung in der Malschule Heinrich Knirrs sowie bei Franz von
Stuck an der Akademie der Bildenden Künste in München fortsetzte.
Anschließend ließ er sich 1904 in Paris nieder, wo er zu dem Kreis
der sich im Café du Dôme treffenden deutschen Künstler zählte.
Im Januar 1914 siedelte er mit seiner Familie nach Frankfurt am
Main über. Begünstigt wurde jener Ortswechsel möglicherweise
durch die bestehenden Familienbeziehungen – Lismanns Cousins
waren Inhaber der Privatbank Gebrüder Lismann in der Goethestraße.
Der Künstler mietete ein Atelier im Städelschen Kunstinstitut und
konnte sich noch im selben Jahr in einer Einzelausstellung in der
„Galerie F. A. C. Prestel“ präsentieren. Der Erste Weltkrieg unter-
brach diese positiven Entwicklungen – Lismann diente ab 1915 als
Infanterist an der russischen Front, war jedoch ab 1917 als Leiter
der Auslandsabteilung im Ausschuss für deutsche Kriegsgefangene
beim Roten Kreuz wieder in Frankfurt tätig. Das Kriegserlebnis be-
deutete für ihn, so Lismann 1927, „[…] nicht nur vier Jahre Zeitver-
lust; der Zusammenbruch der Nerven- und Körperkräfte erregte bei
mir […] Verwirrung, Versagen der lebendigen, inneren Spannung.
[…] Die Ideale meiner früheren Jugend, die Ideale des wilhelmini-
schen Zeitalters, Bildung und Intellektualismus, waren mir entfrem-
det, und die neuen Begriffe und Ideen, welche sich meiner bemäch-
tigten, mußten auch allmählich in meiner Malerei ihren Ausdruck
finden.“1 In der Folge äußerte sich dies bei Lismann in einer gemä-
ßigt expressionistischen Formensprache (Kat. 119) sowie durch En-
gagement in der 1917 gegründeten „Vereinigung für Neue Kunst“
und als Mitglied des ebenfalls fortschrittlichen Frankfurter Künstler-
bundes. Darüber hinaus stellte er bereits im März 1918 gemeinsam
mit Wilhelm Lehmbruck und Oskar Moll im renommierten Frank-
furter „Kunstsalon Ludwig Schames“ Aquarelle und Zeichnungen
aus; eine Beteiligung an der Ausstellung „Frankfurter Künstler“ am
selben Ort folgte im Dezember. Später distanzierte sich Lismann
von seiner expressionistischen Phase, stellte 1929 jedoch nochmals
in einer Einzelausstellung bei Schames aus.
Schon vor 1918 zählte August Freiherr von der Heydt in Elberfeld
zu den Sammlern seiner Werke, andere rheinische Industrielle waren
wohl bis in die 1920er Jahre seine Mäzene. In Frankfurt gehörte neben
den privaten Auftraggebern die Künstlerhilfe zu Lismanns Käufern, die
die erworbenen Werke der Städtischen Galerie überantwortete.
Die ausgedehnte Reisetätigkeit seiner Ausbildungsjahre setzte
der Künstler auch während der Frankfurter Zeit fort, so durch Auf-
enthalte in Italien, Südfrankreich und Nordspanien.
Neben seinem eigenen künstlerischen Schaffen erteilte Lismann
ab 1923 privaten Kunstunterricht und führte im Auftrag des Volks-
bildungsheimes durch das Städelsche Kunstinstitut und die Städti-
sche Galerie. 1929 erhielt er zudem eine Anstellung als Lehrkraft
für Zeichnen und Maltechnik an der Philosophischen Fakultät der
Universität Frankfurt, in deren Kontext ihm die „Frankfurter Künst-
lerhilfe“ 1930/31 1.200 Reichsmark für „Vorträge über Zeichnen“
überwies.2 Ferner verfasste Lismann eigene Texte – seine kunst-
theoretische Schrift „Wege zur Kunst – Betrachtungen eines Malers“
erschien 1920.
Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 verschlech-
terten sich die Verhältnisse zunehmend. Lismann musste Mitglied-
schaften und Ämter aufgeben und konnte sich nur noch im Jüdi-
schen Kulturbund engagieren. Er zog mit seinem Atelier in die
Neckarstraße und bildete dort in seiner privaten Malschule jüdische
Jugendliche aus. Im Rahmen der Beschlagnahmeaktion „Entartete
Kunst“ 1937 wurden drei seiner Gemälde und vier seiner Graphiken
aus der Städtischen Galerie Frankfurt entfernt.
Im September 1938 emigrierte er nach Frankreich, zunächst
nach Paris, dann nach Tours – Bemühungen, in die USA auszuwan-
dern, scheiterten. Seit Kriegsbeginn mehrfach interniert, floh er
nach Montauban in den unbesetzten Teil Frankreichs. Im Oktober
1942 wurde Lismann zeitweise im Internierungslager Gurs festge-
halten; im März des folgenden Jahres dann über das Durchgangs-
lager Drancy nahe Paris in das Konzentrationslager Majdanek bei
Lublin deportiert und dort ermordet. SW
Literatur: Ausst. Kat Frankfurt 1979/80; Minssen 1983; Ausst. Kat. Frankfurt 2011.
Anmerkungen: 1 Lismann 1927, S. 181. — 2 Vgl. Nachweis über die Verwendungder Mittel der Künstlerhilfe 1930/31, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt.
Porträt: Selbstbildnis, 1919, Verbleib unbekannt
223
122 | PAUL FONTAINE
Ohne Titel, 1964
Öl auf Leinwand, 90,1 x 70,6 cm
Bez. r. u. [eigenhändig?]: Fontaine
Privatsammlung
222
Maler
Worchester/Massachusetts 21.6.1913 – 23.1.1996 Austin/Texas
�Frankfurt am Main, 1945 bis 1953, Darmstadt, 1953 bis 1969
PAUL FONTA INE
Paul Fontaine lebte bereits zwei Jahre in Europa, bevor er 1945
nach Frankfurt am Main kam. In den USA hatte er zunächst an der
Worchester Museum Art School, dann der Yale University Kunst
studiert. Schon bald nach Studienabschluss wurde er zum Militär
eingezogen und als Zeichner nach Italien geschickt, von dort als
Kartenzeichner nach Paris und schließlich als Leiter der graphischen
Abteilung an die US-Hauptverwaltung nach Frankfurt entsandt.
Fontaines Aufgabe bestand in der Erstellung von Plakaten und Bro-
schüren. Seine freie Zeit widmete er seiner eigenen künstlerischen
Entwicklung, malte und suchte Anschluss an die kulturelle Szene.
Hinzu kam, dass sein Aufenthalt in Frankfurt in genau jene Zeit fiel,
in der die Kunst- und Kulturszene nach den Kriegsjahren allmählich
wieder aufzuleben begann. So konnte er das Aufkommen einer neu-
en Kunst unmittelbar miterleben und wurde zum Zeugen einer Ent-
wicklung, die dem Tradierten bewusst eine Orientierung an den
neuesten Strömungen entgegensetzte.
Als treibende Kraft stand hinter Fontaine seine Frau Virginia, die
bereits vor seiner Übersiedlung nach Europa darum bemüht war,
ihren Gatten sowohl über die Entwicklungen in Europa auf dem Lau-
fenden zu halten wie auch seine Arbeiten in der amerikanischen
Kunstszene bekannt zu machen. Beste Voraussetzungen bot Fontaine
nun das nach Kultur hungernde Frankfurt. Auf allen Gebieten suchte
man Anschluss an die aktuellen Entwicklungen. In den Lokalen traten
Jazz-Gruppen auf, wer in den Besitz einer Schallplatte oder einer
neuen Publikation gelangte, stellte sie bei gemeinsamen Leseabenden
vor. Da der vom Nationalsozialismus gepflegte Realismus als verwerf-
lich galt, suchten auch die Künstler, sich mit neuen Ausdrucksformen
von jeglicher Form der Gegenständlichkeit zu lösen. In Anlehnung an
den amerikanischen Abstrakten Expressionismus und den französi-
schen Tachismus begannen sie, das Informel zu entwickeln.
Das Haus der Fontaines wurde zum Treffpunkt von Künstlern,
Schriftstellern und Musikern. Zu den Gästen der Fontaines zählten
ebenso ältere Künstler, die schon vor dem Krieg aktiv gewesen wa-
ren, wie der Bildhauer Ewald Mataré und die am Bauhaus tätige Ida
Kerkovius (>), aber auch junge Vertreter der Avantgarde, wie Willi
Baumeister (>), Hans Hartung und Otto Ritschl. Mit Baumeister war
Fontaine seit 1949 befreundet. Beide vertraten als Mitglieder der
Darmstädter Sezession ähnliche ästhetische Auffassungen, wie Fon-
taines frühe Arbeiten verraten. Nicht nur zeigen Fontaines Arbeiten
dieser Zeit Einflüsse des Stuttgarter Kollegen, Baumeister ermutigte
ihn auch, sich bei Ausstellungen zu beteiligen. So war Fontaine bei
der ersten umfassenden Ausstellung moderner Kunst 1949 in Wies-
baden vertreten. Neben Hans Hartung, Emil Nolde, Erich Heckel
und Karl Schmidt-Rottluff nahmen daran auch Otto Ritschl und Ar-
thur Fauser teil. Letztere gehörten zum engeren Kreis der lokalen
Kunstszene. Weitere wichtige Anlaufpunkte zeitgenössischer Kunst
boten sich Fontaine mit dem Kunstkabinett Hanna Bekker vom
Rath und der Zimmergalerie des Bankangestellten Klaus Franck in
der Böhmerstraße 7 im Frankfurter Westend. Ein Eintrag im Gäste -
buch der Zimmergalerie belegt diesen Kontakt, vor allem aber die
Teilnahme an einer Ausstellung im März 1952. Damit war Fontaine
zeitlich wie räumlich in einem Umfeld verortet, in dem zentrale Ver-
treter des gegenstandslosen Kunst agierten, wie William Gear,
Jacques Hérold, Karl Hartung und die vier Frankfurter Protagonisten
des Informel Karl Otto Götz (>), Otto Greis, Heinz Kreutz und Ber-
nard Schultze (>). Mit der legendären „Quadriga“-Ausstellung im
Dezember des gleichen Jahres feierte die informelle Malerei in
Frankfurt ihren ersten großen Auftritt und wirkte damit als eine Art
Initialzündung der gestischen Kunst in Deutschland.
Aber auch am Kunstgeschehen außerhalb Frankfurts nahm Fon-
taine teil, seine Ausstellungsbeteiligungen reichten von Wiesbaden,
über Gießen, Fulda, Kassel bis nach Hamburg und Berlin. Stationen
im Ausland waren Zürich und Amsterdam. Die rege Ausstellungs-
präsenz setzte er auch fort, nachdem er 1953 von Frankfurt nach
Darmstadt umgezogen war, wo er bis 1969 als künstlerischer Leiter
der amerikanischen Zeitung „Stars and Stripes“ arbeitete.
Der stilistische Umbruch erfolgte gleichwohl noch während sei-
ner Frankfurter Jahre. 1947 markierte die definitive Hinwendung
des Künstlers zur Gegenstandslosigkeit. Es entstanden großforma-
tige informelle Kompositionen in Öl-, Aquarell- und Acrylmalerei,
die er in Galerien und den Amerikahäusern verschiedener Städte
ebenso wie in Museen ausstellte. 1949 bestückte er mit Baumeister
im „Frankfurter Kunstkabinett Hanna Bekker vom Rath“ eine Aus-
stellung, ein weiteres Mal zeigte Fontaine hier 1950 seine Werke
mit denen von Jürg Spiller sowie 1953 mit denen von Alexander Cal-
der und Louise Rösler (>). Insgesamt stellte der Künstler dort sieben
Mal aus, so dass er während seiner Zeit in Deutschland nahezu
einmal pro Jahr bei einer Ausstellung vertreten war. VH-S
Literatur: Ausst. Kat. Frankfurt 1953; Fontaine Chidester 2013.
Porträt: Paul Fontaine, um 1950