Gilles Deleuze Logik Der Sensationen

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DELEUZE • FRANCIS BACON •

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Bild und Text

herausgegeben von

GOTTFRIED BOEHMKARLHEINZ STIERLE

1995

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GILLES DELEUZE

FRANCIS BACON

LOGIK DER SENSATION

AUS DEM FRANZÖSISCHEN VON

JOSEPH VOGL

WILHELM FINK VERLAG

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II

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Titel der französischen Ausgabe:Gilles Deleuze, Francis Bacon — Logique de la sensation

1984 Editions de la Difference, Paris

Übersetzt mit Unterstützung desMinist&e frafflis charü de la Culture

ISBN 3-7705-2952-9© 1995 Wilhelm Fink Verlag, MünchenSatz: Jönsson Satz & Grafik, München

Druck und Bindung: Hofmann-Druck GmbH, Augsburg

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INHALT

Vorwort 7

Das Rund, die Bahn 9

II

Anmerkung über das Verhältnis der alten Malerei zur Figuration 13

III

Die Athletik 15

IV

Der Körper, das Fleisch und der Geist, das Tier-Werden 19

v

Zusammenfassende Anmerkung: Perioden und Aspekte bei Bacon 23

VI

Malerei und Sensation 27

VII

Die Hysterie 32

vH'

Die Kräfte malen 39

IX

Paare und Triptychen 44

X

Anmerkung: Was ist ein Triptychon? 49

XI

Vor dem Malen: das Gemälde... 55

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XII

Das Diagramm 62,

XIIIDie Analogie 69

XIVJeder Maler resümiert die Geschichte der Malerei auf seine Weise... 75

xvBacons Weg 83

XVIAnmerkung über die Farbe 89

XVI I

Auge und Hand 94

Verzeichnis der Bilder in der Reihenfolge ihres Erscheinens im Text 99

Ausführliches Inhaltsverzeichnis Ios

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VORWORT

Jede der folgenden Rubriken betrachtet einen Aspekt von Bacons Gemälden in einerAnordnung, die vom Einfacheren zum Komplexeren reicht. Diese Ordnung aber ist

relativ und gilt nur hinsichtlich einer allgemeinen Logik der Sensation.Es versteht sich von selbst, daß in Wirklichkeit alle Aspekte nebeneinander koexistieren.

Sie konvergieren in der Farbe, in der »Farbempfindung« als dem Gipfelpunkt dieser Logik.Jeder dieser Aspekte kann als Thema für einen bestimmten Abschnitt in der Geschichte derMalerei dienen.

Die zitierten Bilder erscheinen in fortlaufender Folge. Sie sind allesamt wiedergegebenund mit einer Nummer bezeichnet, die auf ihre Reproduktion im zweiten Band verweist.Wir danken Valerie Beston von der Galerie Marlborough für die wertvolle Hilfe, die sie unszuteil werden ließ.

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DAS RUND, DIE BAHN

Ein Rund begrenzt oft den Ort, an dem die Person, d. h. die Figur, sitzt. Sitzt, liegt, kauertoder sonstwas. Dieses Rund, dieses Oval nimmt mehr oder weniger Raum ein: Es kann

die Ränder eines Gemäldes überragen, im Zentrum eines Triptychons liegen usw... Oft wird 3, 4es verdoppelt oder ersetzt durch das Rund des Stuhls, auf dem die Person sitzt, durch das 14, 17Oval des Bettes, auf dem die Person liegt. Es ist in den Punkten verstreut, die einen Teil desKörpers der Person konturieren, oder in den kreisenden Linien, die die Körper umschließen.Aber selbst die beiden Bauern bilden eine Figur nur im Verhältnis zu einer Erde, die fest vom 5Oval eines Topfes eingefaßt ist. Kurz, das Gemälde enthält eine Bahn, eine Art Zirkusarenaals Schauplatz. Es ist dies ein ganz einfaches Verfahren, das in der Isolierung der Figur besteht.Es gibt andere Verfahren zur Isolierung: die Figur in einen Kubus stellen oder eher in ein 6Parallelflach aus Glas oder Eis; sie auf eine Schiene, auf eine langgezogene Stange festkleben, 19, 22gleichsam auf den magnetischen Bogen eines unendlichen Kreises; all diese Mittel — dasRund, den Kubus und die Stange — miteinander kombinieren, wie in jenen ausladendenund geschwungenen Sesseln bei Bacon. Dies sind Orte, Schauplätze. Jedenfalls verbirgt 25Bacon nicht den nahezu rudimentären Charakter dieser Verfahren, trotz der Subtilitätenihrer Kombinationen. Wesentlich ist, daß sie die Figur nicht zur Bewegungslosigkeit nötigen;im Gegenteil, sie müssen eine Art Fortschreiten, eine Art Sondierung der Figur auf demSchauplatz oder auf ihr selbst spürbar machen. Dies ist ein Operationsfeld. Das Verhältnisder Figur zu ihrem isolierenden Ort oder Schauplatz definiert ein Faktum: Tatsache ist...,was stattfindet... Und die derart isolierte Figur wird zu einem Bild, zu einem Ikon.

Es ist nicht nur das Gemälde eine isolierte Realität (ein Faktum), es hat nicht nur dasTriptychon drei isolierte Tafeln, die man keinesfalls im selben Rahmen vereinigen darf — esist vielmehr die Figur selber im Gemälde durch das Rund oder das Parallelflach isoliert.Warum? Bacon sagt es immer wieder: um den figurativen, illustrativen, narrativen Charakterzu bannen, den die Figur notwendig besäße, wäre sie nicht isoliert. Die Malerei kann wederein Modell wiedergeben, noch hat sie eine Geschichte zu erzählen. Folglich stehen ihrgleichsam zwei mögliche Wege zur Verfügung, um dem Figurativen zu entkommen: auf diereine Form hin, durch Abstraktion; oder auf ein reines Figurales hin, durch Extrahieren oderIsolierung. Wenn sich der Maler an die Figur hält, wenn er den zweiten Weg nimmt, so wirder dies tun, um dem Figurativen das »Figurale« entgegenzuhalten'. Die Isolierung der Figur

1 J.-F. Lyotard gebraucht das Wort »Figural« als Substantiv und als Gegensatz zum »Figurativen«; vgl. Discours, Figure,Paris 1986.

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wird die erste Bedingung sein. Das Figurative (die Repräsentation) impliziert nämlich denBezug eines Bildes auf ein Objekt, das es illustrieren soll; sie impliziert aber auch den Bezugeines Bildes zu anderen Bildern in einem Kompositionszusammenhang, der eben jedem Bildsein Objekt verschafft. Die Narration ist das Korrelat zur Illustration. Zwischen zwei Figurenschle.icht sich stets eine Geschichte ein — oder versucht dies wenigstens —, um den illustriertenZusammenhang zu beleben.' Isolierung ist also das einfachste, notwendige, aber nichthinreichende Mittel, um mit der Repräsentation zu brechen, die Narration zu zerschlagen,die Illustration zu verhindern, die Figur zu befreien: sich an das Faktum zu halten.

Natürlich ist das Problem komplizierter: Gibt es nicht einen anderen Typ von Beziehun-gen zwischen Figuren, einen Typ, der nicht narrativ wäre und auf keinerlei Figurationhinauslaufen würde? Verschiedene Figuren, die auf demselben Faktum emporwachsen, einund demselben einzigartigen Faktum zugehören würden, anstatt eine Geschichte zu erzählenund auf unterschiedliche Objekte in einem Figurationszusammenhang zu verweisen? Nicht-narrative Beziehungen zwischen Figuren und nicht-illustrative Beziehungen zwischen den

14, 17 Figuren und dem Faktum? Immer wieder hat Bacon Figurenpaare hergestellt, die keinerlei

5, 9 Geschichte erzählen. Und mehr noch weisen die separaten Tafeln eines Triptychons einen22, 25 intensiven Bezug untereinander auf, wenngleich dieser Bezug nichts Narratives an sich hat.

In aller Bescheidenheit räumt Bacon ein, daß es der klassischen Malerei oft gelungen sei,diesen anderen Typ von Beziehungen zwischen Figuren zu entwerfen, und daß dies wieder-um die Aufgabe der künftigen Malerei sei: »Natürlich -zeigen viele der bedeutendstenGemälde, die je gemacht wurden, eine Reihe von Figuren auf einer Leinwand, und natürlichsehnt sich jeder Maler danach, das auch zu tun. Aber [...] die Geschichte, die sich zwischenzwei Figuren abspielt, [beginnt schon] die Möglichkeit dessen zu vermindern, was man mitder Malerei selbst tun kann, und das ist eine sehr große Schwierigkeit. Doch jeden Momentkann jemand kommen, der begriffen hat, wie mari eine Reihe von Figuren auf der Leinwandunterbringt«. 2 Wie also wird dieser andere Typ von Beziehungen zwischen gepaarten oderunterschiedenen Figuren beschaffen sein? Nennen wir diese neuen Beziehungen matters offact, im Gegensatz zu intelligiblen Relationen (von Objekten oder Ideen). Selbst wenn maneinräumt, daß Bacon dieses Gebiet bereits weitgehend erschlossen hat, so geschah dies unterGesichtspunkten, die komplexer sind als die, wie wir sie gegenwärtig betrachten.

Wir sind immer noch beim bloßen Gesichtspunkt der Isolation. Eine Figur ist isoliert aufder Bahn, auf dem Stuhl, dem Bett oder dem Sessel, im Rund oder Parallelflach. Sie nimmtnur einen Teil des Gemäldes ein. Womit also ist der Rest des Gemäldes gefüllt? Eine gewisseAnzahl von Möglichkeiten ist bereits erledigt oder ohne Interesse für Bacon. Was den Restdes Gemäldes ausfüllt, wird keine Landschaft als Korrelat der Figur sein, kein Grund, ausdem die Form hervortreten würde, kein Informelles, Hell-Dunkel, Dicke des Farbauftrags,auf dem sich Schatten abzeichnen, keine Textur, in der sich Variationen abspielen würden.

1 Wir sind jedoch vorschnell. Es gibt nämlich im frühen Werk Landschaftsfiguren wie den7, 8 Van Gogh von 1957; es gibt äußerst nuancierte Texturen wie Figure in a landscape oder Figure11 study I von 1945; es gibt Dicken und Dichtigkeiten wie in Head II von 1949; und vor allem

gibt es jene Periode von vermutlich zehn Jahren, von der Sylvester sagt, sie sei vom Trüben,vom Dunkel und der Nuance dominiert, bevor Bacon zum Präzisen zurückkommt.' Aber 'xes ist nicht ausgeschlossen, daß das Schicksal Umwege nimmt, die ihm zuwiderzulaufen

1 Vgl. David Sylvester, Gespräche mit Francis Bacon, München 1982 (The brutale of face Interviews with FrancisBacon, London 1987). Die Kritik am »Figurativen« (das »illustrativ« und »narrativ« zugleich ist) zieht sich durchdieses Buch, das wir im folgenden mit der Abkürzung G zitieren werden.

2 G 24-25.3 G 13-14.

Io

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I. DAS RUND, DIE BAHN

scheinen. Denn die Landschaften Bacons sind die Vorbereitung dessen, was später als einZusammenhang von schnellen »unwillkürlichen freien Markierungen« erscheinen wird, diedie Lein'wand schraffieren, insignifikante Striche ohne illustrative oder narrative Funktion:daher die Bedeutung des Grases, der unwiderruflich grasartige Charakter dieser Landschaf-

ten (Landscape 1952, Study of figure in a landscape 1952, Study of a baboon 1953 oder . Two 12, 13figures in the grass 1954). Was die Texturen betrifft, das Dichte, Trübe und Verschwommene, 15, 2so bereiten sie schon die große Technik von lokalen Verwischungen mit Lappen, Handfegerund Bürste vor, in der der dicke Farbauftrag auf einer nicht-figurativen Zone verstrichenwird. Nun gehören aber gerade die beiden Techniken der lokalen Verwischung und desinsignifikanten Strichs zu einem eigenen System, das weder dem der Landschaft noch desInformellen oder des Hintergrunds entspricht (obwohl sie dank ihrer Autonomie fähig sind,als Landschaft oder Hintergrund oder gar dunkel zu »wirken«).

Tatsächlich wird der Rest des Bildes systematisch von großen Flächen leuchtender,gleichmäßiger und unbewegter Farbe eingenommen. Dünn aufgetragen und hart, haben sieeine strukturierende, verräumlichende Funktion. Aber sie liegen nicht unter der Figur, hinteroder jenseits von ihr. Sie liegen strikt daneben oder eher rundherum und werden — ebensowie die Figur selbst — mit und in einem nahen, taktilen oder »haptischen« Blick erfaßt. Esgibt in diesem Stadium kein Tiefen- oder Weitenverhältnis, keine Ungewißheit von Lichtund Schatten, wenn man von der Figur zu den Farbflächen übergeht. Selbst der Schatten,selbst das Schwarz ist nicht dunkel (»ich habe versucht, die Schatten ebenso präsent zumachen wie die Figur«). Wenn die gleichmäßigen Farbflächen als Grund fungieren, sogeschieht dies also dank ihrer strengen Korrelation mit den Figuren, so ist dies die Korrelationvon zwei Sektoren auf derselben gleich nahen Ebene. Diese Korrelation, diese Verbindung istselbst durch den Schauplatz, durch die Bahn oder das Rund, gegeben, der die gemeinsameGrenze beider, ihre Kontur darstellt. Bacon sagt dies in einer sehr wichtigen Erklärung, aufdie wir oft zurückkommen werden. Er unterscheidet in seiner Malerei drei Grundelemente,nämlich die materielle Struktur, das konturierende Rund, das fertige Bild. Wenn man inBegriffen der Bildhauerei denkt, muß man sagen: das Gerüst, der Sockel, der beweglich seinkönnte, die Figur, die mit dem Sockel im Gerüst herumspaziert. Wenn man sie illustrierenmüßte (und in gewisser Hinsicht muß man es, wie in Man with a dog von 1953), so könnte 16man sagen: ein Trottoir, Pfützen, Personen, die aus den Pfützen steigen und ihren »täglichenRundgang« machen'.

Was in diesem System mit der ägyptischen Kunst, mit der byzantinischen Kunst etc. zutun hat, werden wir wiederum erst später untersuchen können. Gegenwärtig zählt vielmehrjene absolute Nähe, jene gemeinsame Präzision der Farbfläche, die als Grund fungiert, undder Figur, die als Form fungiert, und zwar auf derselben nahen Blickebene. Und es ist diesesSystem, diese Koexistenz von zwei nebeneinanderliegenden Sektoren, die den Raum ab-

1 Wir zitieren gleich jetzt den vollständigen Text (G 85): »[...] beim Nachdenken darüber, wie sie als Plastikenaussehen müßten, ist mir plötzlich eingefallen, wie ich sie in der Malerei machen könnte, und zwar viel besser. Eswäre eine Art von dichtgefügtem [engl.: structured] Gemälde, auf dem die Figuren gewissermaßen aus einem Flußvon Fleisch entstünden. Das hört sich an wie ein schrecklich romantischer Einfall, aber ich sehe es sehr formal. —Und was für eine Form würde es haben? — Sie würden wahrscheinlich auf eine Art von Gerüst stehen [engl.:structure]. — Mehrere Figuren? — Ja, und das wäre vermutlich eine Art Gehsteig, herausgehoben aus seiner natura-listischen Umgebung, aus dem die Figuren sich herausbewegten, als ob sie dem Fleisch entstiegen, und zwar Figuren,die, wenn möglich, bestimmte Personen auf ihrem täglichen Rundgang darstellen. Ich hoffe Figuren machen zukönnen, die aus ihrem eigenen Fleisch herauswa.disen, mit Melone und Regenschirm, und ich hoffe, sie zu Figurenzu machen, die so ergreifend sind wie eine Kreuzigung.« Und Bacon fügt hinzu (G 110): »Ich hatte an Plastikenauf einer Art von Gerüst gedacht, einem sehr weiträumigen Gerüst, auf dem die Plastiken hin und her gleiten unddie Leute sogar nach Belieben die Stellung der Plastik verändern können.«

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schließt, die einen absolut geschlossenen und drehbaren Raum bildet, und dies in einem vielhöheren Maße, als wenn man mit dem Trüben, Dunklen oder Undeutlichen arbeiten würde.Darum gibt es so viel Verschwommenes bei Bacon, es gibt sogar schon zwei Arten vonUnschärfe, die alle beide allerdings jenem System hoher Präzision zugehören. Im ersten Fallwird das Verschwommene nicht durch Undeutlichkeit erlangt, sondern im Gegenteil durchdie Operation, die »darin besteht, die Deutlichkeit durch Deutlichkeit zu zerstören«'. So

9 etwa der Mann mit Schweinekopf, Selfportrait von 1973. Oder die Behandlung derZeitungen, zerknüllt oder nicht zerknüllt: Die Druckbuchstaben sind, wie Leiris sagt,deutlich gezeichnet, und gerade ihre mechanische Präzision selbst sperrt sich gegen ihreLesbarkeit.' Im anderen Fall erhält man das Verschwommene durch die Techniken der freienMarkierungen oder des Verwischens, die ebenfalls zu den präzisen Elementen des Systemsgehören (es wird noch weitere Fälle geben).

1 Am Beispiel Tatis, der ebenfalls ein großer Künstler des Flächigen ist, bemerkte Andre Bazin: »Selten sind dieundeutlichen Klangelemente [...]. Im Gegenteil besteht Tatis ganzer Witz darin, die Deutlichkeit mit Deutlichkeitzu zerstören. Die Dialoge sind überhaupt nicht unverständlich, sondern insignifikant, und ihre Insignifikanz wirddurch die Präzision selbst offenbart. Dies gelingt Tati durch die Deformierung der Intensitätsbezüge zwischen denEinstellungen [...] « ( Qu'est-ce que le cinema?, Paris 1975, S. 46).

2 Leiris, »Francis Bacon heute», in: Bacon, Picasso, Masson, Frankfurt/M. 1989, S. 14.

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ANMERKUNG ÜBER DAS VERHÄLTNISDER ALTEN MALEREI ZUR FIGURATION

D ie Malerei muß die Figur dem Figurativen entreißen. Aber Bacon macht zweiGegebenheiten geltend, durch die sich das Verhältnis der alten Malerei zur Figuration

oder Illustration von dem der neuen Malerei unterscheidet. Einerseits hat die Photographiedie illustrative und dokumentarische Funktion übernommen, so daß die moderne Malereidiese Funktion, die noch zur alten gehörte, nicht mehr erfüllen muß. Andererseits war diealte Malerei noch durch gewisse »Möglichkeiten der Religion« bedingt, die der Figurationeinen pikturalen Sinn gaben, während die moderne Malerei ein atheistisches Spiel ist.'

Es ist jedoch nicht gewiß, daß diese beiden Ideen, die auch Malraux aufgegriffen hat,angemessen sind. Denn die Tätigkeiten stehen in Konkurrenz zueinander und begnügensich weniger damit, jeweils die aufgegebene Rolle einer anderen zu erfüllen. Man kann sichkeine Tätigkeit vorstellen, die die von einer höheren Kunst aufgegebene Funktion überneh-men würde. Das Photo und selbst der Schnappschuß erheben einen ganz anderen Anspruchals den der Repräsentation, Illustration oder Erzählung. Und wenn Bacon seinerseits vonder Photographie und dem Verhältnis Photographie/Malerei spricht, so sagt er sehr vielweitreichendere Dinge. Zudem scheint die Verbindung zwischen dem pikturalen Elementund dem religiösen Gefühl in der alten Malerei ihrerseits schlecht definiert durch dieHypothese einer figurativen Funktion, die bloß durch den Glauben geheiligt würde.

Nehmen wir ein extremes Beispiel, das Begräbnis des Grafen Orgdz von El Greco. EineHorizontale teilt das Gemälde in zwei Teile, in einen unteren und einen oberen, in einenirdischen und einen himmlischen. Und im unteren Teil gibt es zwar eine Figuration oderErzählung, die das Begräbnis des Grafen wiedergibt, obwohl bereits alle Koeffizienten derDeformation der Körper — und insbesondere der Längsdehnung — am Werk sind. Obenaber, wo der Graf von Christus empfangen wird, geschieht eine irrsinnige Befreiung, einetotale Entfesselung: Die Figuren richten sich auf und dehnen sich, verfeinern sich maßlos,schrankenlos. Allem Anschein entgegen gibt es keine Geschichte mehr zu erzählen, dieFiguren sind von ihrer repräsentativen Rolle befreit, sie treten unmittelbar in einen Bezugzu einer Ordnung himmlischer Sensationen. Und dies ist es bereits, was eine christlicheMalerei im religiösen Gefühl gefunden hat: einen spezifisch pikturalen Atheismus, in dem

1 Vgl. G 29-30 (Bacon fragt, warum Velasquez so nahe an der »Figuration« bleiben konnte. Und er antwortet, daßeinerseits die Photographie nicht existierte; und daß die Malerei andererseits an ein — wenn auch vages — religiösesGefühl gebunden war).

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man die Idee buchstäblich nehmen konnte, daß Gott nicht dargestellt werden durfte. Undin der Tat reißen sich mit Gott, aber auch mit Christus, mit der Heiligen Jungfrau und auchmit der Hölle die Linien, Farben, Bewegungen von den Ansprüchen der Repräsentation los.Die Figuren richten sich auf oder biegen und verrenken sich, frei von jeder Figuration. Siehaben nichts mehr wiederzugeben oder zu erzählen, da sie sich damit begnügen, in diesemGebiet auf den bestehenden Kode der Kirche zu verweisen. Sie haben nun ihrerseits nurmehrmit himmlischen, höllischen oder irdischen »Sensationen« zu tun. Man wird alles dem Kodeunterwerfen, man wird das religiöse Gefühl mit allen Farben der Welt malen. Man darf nichtsagen, »wenn Gott nicht ist, ist alles erlaubt«. Ganz im Gegenteil. Denn mit Gott ist alleserlaubt. Nicht nur in moralischer Hinsicht, da die Gewalttaten und Schändlichkeiten ja stetseine heilige Rechtfertigung finden. Sondern auch — was viel wichtiger ist — in ästhetischerHinsicht, weil die göttlichen Figuren von einer freien schöpferischen Arbeit beseelt sind, voneiner Phantasie, die sich alles erlaubt. Der Körper Christi wird wahrhaftig von einerteuflischen Inspiration verfolgt, die ihn durch alle »Empfindungsbereiche«, alle »verschiede-nen Sensationsebenen« treibt. Zwei Beispiele noch: der Christus von Giotto, der in einenPapierdrachen am Himmel, ein regelrechtes Flugzeug verwandelt ist und die Stigmata anden Heiligen Franziskus aussendet, während die gestrichelten Linien des Wegs dieserStigmata gleichsam freie Markierungen sind, mit denen der Heilige die Fäden des Drachen-Flugzeugs bedient. Oder die Erschaffung der Tiere bei Tintoretto: Gott ist wie ein Starter,der das Signal für ein Handikaprennen gibt, bei dem die Vögel und die Fische als ersteloslaufen, während der Hund, die Hasen, der Hirsch, die Kuh und das Einhorn warten, bissie an der Reihe sind.

Man kann nicht sagen, daß das religiöse Gefühl die Figuration in der alten Malerei stützte:im Gegenteil, es ermöglichte eine Befreiung der Figuren, ein Auftauchen der Figurenaußerhalb jeder Figuration.Nan kann ebensowenig sagen, daß der Verzicht auf die Figura-tion für die moderne Malerei leichter sei, sofern sie Spiel ist. Im Gegenteil, die moderneMalerei wird heimgesucht, belagert von den Photos und Klischees, die sich auf der Leinwandschon festsetzen, noch bevor der Maler seine Arbeit begonnen hat. Denn es wäre ein Irrtumzu glauben, der Maler arbeite auf einer weißen und unberührten Oberfläche. Virtuell ist dieOberfläche insgesamt bereits von allen Arten von Klischees besetzt, mit denen man wirdbrechen müssenj Und ebendies sagt Bacon, wenn er von der Photographie spricht: Sie istkeine Figuration dessen, was man sieht, sie ist das, was der moderne Mensch sieht.' Sie istnicht einfach gefährlich, weil figurativ, sondern weil sie behauptet, über das Sehen zu herrschenund folglich über die Malerei. Auf diese Weise, mit dem Verzicht auf das religiöse Gefühl,aber belagert von der Photographie, ist es für die moderne Malerei — was immer man auchsagen mag — ungleich schwieriger, mit der Figuration zu brechen, die ihr elendes Reservatzu sein schien. Diese Schwierigkeit wird von der abstrakten Malerei bestätigt: Es bedurfteder hervorragenden Arbeit der abstrakten Malerei, um die moderne Kunst der Figurationzu entreißen. Aber gibt es nicht einen anderen, direkteren und sinnlicheren Weg?

1 G 31. Wir werden auf diesen Punkt zurückkommen müssen, der Bacons Haltung zur Photographie erklärt, Fas-zination und Verachtung zugleich. Was er der Photographie vorwirft, ist jedenfalls alles andere als ihr figurativerCharakter.

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III

DIE ATHLETIK

Kommen wir auf die drei pikturalen Elemente Bacons zurück: die großen gleichmäßigenarbflächen als verräumlichende materielle Struktur; die Figur, die Figuren und ihr

Faktum; der Ort oder Schauplatz, d. h. das Rund, die Bahn oder die Kontur, die diegemeinsame Grenze zwischen Figur und Farbfläche ist. Die Kontur scheint sehr einfach zusein, rund oder oval; Probleme bereitet eher ihre Farbe, und zwar in dem zweifachendynamischen Bezug, in dem sie wahrgenommen wird. Denn die Kontur als Schauplatz istder Ort eines Austausches in beide Richtungen, zwischen der materiellen Struktur und derFigur, zwischen der Figur und der Farbfläche. Die Kontur ist gleichsam eine Membran, dievon einem doppelten Austausch durchlaufen wird. Etwas passiert, in die eine oder in dieandere Richtung. Wenn die Malerei nichts zu erzählen, keine Geschichte zu erzählen hat,so passiert dennoch etwas, das die Funktionsweise der Malerei definiert.

Im Rund ist die Figur auf dem Stuhl sitzend, liegend auf dem Bett: manchmal erscheintsie gar in Erwartung dessen, was passieren wird. Was aber passiert oder passieren wird oderbereits passiert ist, ist kein Theater, keine Vorstellung. Die „Begleiter« von Bacon sind keineZuschauer. Man entdeckt in den Gemälden Bacons sogar die Anstrengung, jeglichenZuschauer und damit jedes Theater zu eliminieren. So hat der Stierkampf von 1969 zweiFassungen: in der ersten enthält die große Farbfläche noch ein offenes Feld, auf dem maneine Menschenmenge wie eine römische Legion beim Zirkusbesuch bemerkt, während die 10zweite Fassung das Feld geschlossen hat und sich nicht mehr mit der Verflechtung der beiden 18Figuren von Stierkämpfer und Stier begnügt, sondern wirklich deren einzigartiges odergemeinsames Faktum trifft, wobei zugleich der malvenfarbige Streifen verschwindet, der dieZuschauer mit dem verband, was noch Aufführung war. Die Three studies oflsabel Rawsthor-ne (1967) zeigen die Figur, wie sie gerade die Tür vor dem Eindringling oder der Besucherin 20schließt, selbst wenn diese ihre eigene Doppelgängerin ist. Man wird sagen, daß es in vielenFällen weiterhin einen Zuschauer, einen Voyeur, einen Photographen, einen Passanten, einen»Begleiter« gibt, der sich von der Figur unterscheidet: insbesondere in den Triptychen, fürdie dies nahezu ein Gesetz ist, aber nicht nur dort. Wir werden jedoch sehen, daß Bacon in 21seinen Gemälden und vor allem in seinen Triptychen eine Zeugenfunktion benötigt, die Teilder Figur ist und nichts mit einem Zuschauer zu tun hat. Ebenso können fingiertePhotographien, die an die Wand gehängt oder auf Schienen gesetzt sind, diese Zeugenrolle 27

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übernehmen. Es sind dies Zeugen nicht im Sinne von Zuschauern, sondern als Bezugsele-ment oder Konstante, hinsichtlich derer sich eine Variation ausmachen läßt. In Wahrheitbesteht das einzige Theater im Warten oder in der Anstrengung, diese aber geschehen nur,wenn es keine Zuschauer mehr gibt. Darin liegt die Ähnlichkeit Bacons mit Kafka: BaconsFigur ist der schamhafte Lange oder der große Schwimmer, der nicht schwimmen konnte,der Hungerkünstler; und die Bahn, der Zirkus, die Plattform ist das Theater von Oklahoma.

23 In dieser Hinsicht erreicht all das bei Bacon seinen Höhepunkt in Painting von 1978: aufeiner Platte festgeklebt, streckt die Figur ihren Körper und ein Bein, um den Türschlüsselmit ihrem Fuß auf der anderen Seite des Bilds herumzudrehen. Man bemerkt, daß sich dieKontur, das Rund, in einem sehr schönen Goldorange gehalten, nicht mehr auf dem Bodenbefindet, sondern gewandert und auf die Tür selbst verlegt wurde, so daß sich die Figur —in einer Neuorganisation des Gemäldes — mit der äußersten Fußspitze aufrecht auf dervertikalen Tür zu erheben scheint.

In dieser Anstrengung zur Eliminierung des Zuschauers beweist die Figur bereits eineeinzigartige Athletik. Sie ist um so einzigartiger, als die Quelle der Bewegung nicht in ihrliegt. Die Bewegung führt eher von der materiellen Struktur, von der Farbfläche zur Figur.In vielen Gemälden wird die gleichmäßige Farbfläche geradezu von einer Bewegung ergrif-fen, durch die sie einen Zylinder bildet: Sie rollt sich um die Kontur, um den Schauplatzzusammen; und sie umwickelt, umfängt die Figur. Die materielle Struktur rollt sich um dieKontur zusammen, um die Figur zu umfangen, die die Bewegung mit all ihren Kräftenbegleitet. Eine äußerste Einsamkeit der Figuren, eine äußerste Einschließung der Körper,die jeden Zuschauer ausschließt: Die Figur wird zur Figur nur durch diese Bewegung, in dersie sich einschließt und durch die sie eingeschlossen wird. »Eine Bleibe, wo Körper immerzusuchen, jeder seinen Verwaiser. [...] Es ist das Innere eines Zylinders mit einem Umfang vonfünfzig Metern und einer Höhe von sechzehn wegen der Harmonie. Licht. Seine Schwäche.

24 Sein Gelb.«' Oder ein unterbrochener Sturz im schwarzen Loch des Zylinders: Das ist dieerste Formel einer lachhaften Athletik mit beißender Komik, bei der die Organe des Körpers

14 Prothesen sind. Oder der Schauplatz, die Kontur werden Turngeräte für die Gymnastik derFigur im Innern der Farbflächen.

Aber die andere Bewegung, die offensichtlich mit der ersten koexistiert, verläuft demge-genüber von der Figur zur materiellen Struktur, zur Farbfläche. Von Anfang an ist die Figurder Körper, und der Körper hat seinen Ort in der Umfassung des Runds. Der Körper erwartetaber nicht nur etwas von der Struktur, er erwartet etwas an sich selbst, er wendet Anstrengungauf sich selbst, um Figur zu werden. Nun geschieht etwas im Körper selbst: Er ist Quelle derBewegung. Das ist nicht mehr das Problem des Schauplatzes, sondern eher des Ereignisses.Wenn es eine Anstrengung, eine intensive Kraftanstrengung gibt, so ist dies keineswegs eineaußerordentliche Anstrengung, als ob es um ein Vorhaben ginge, das die Kräfte des Körpersübersteigt und sich auf einen deutlichen Gegenstand bezieht. Der Körper müht sich oderwartet eben darauf, daß er entkommt. Nicht ich versuche, meinem Körper zu entkommen,vielmehr versucht der Körper, selbst zu entkommen durch... Kurz, ein Spasmus: der Körper

als Plexus und seine Anstrengung oder sein Warten auf einen Spasmus. Vielleicht ist dieseine Annäherung an den Schrecken und die Verworfenheit nach Baconscher Art. Ein

26 Gemälde kann uns als Richtschnur dienen, Figure standing at a washbasin von 1976: ansOval des Waschbeckens gehängt, mit den Händen festgeklammert an den Wasserhähnen,wendet der Figuren-Körper eine reglose intensive Anstrengung auf sich selbst, um ganz undgar durch das Abflußloch zu verschwinden. Joseph Conrad beschreibt eine ähnliche Szene,

1 Samuel Beckett, Der Verwaiser, in: Werke, Frankfurt/M. 1976, Bd. 4, S. 213.

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III. ATHLETIK

in der auch er das Bild der Verworfenheit sah: In einer hermetisch abgeschlossenen Kammerdes Schiffes hört der Nigger vom Narzissus mitten im Sturm die anderen Matrosen, die einwinziges Loch in das Schott bohren konnten, das ihn gefangenhält. Das gleicht einemGemälde Bacons. „...und der infame Nigger stürzte an das Loch, preßte seine Lippen dagegenund wisperte mit halberloschener Stimme: >Hilfe!< Wie ein Verrückter versuchte er durchdie nur einen Zoll breite und drei Zoll lange Öffnung herauszukommen, indem er den Kopfdagegen stemmte. In unserem verwirrten Zustand waren wir durch sein unglaublichesVerhalten wie gelähmt. Es schien nicht möglich, ihn wegzujagen.«' Die geläufige Wendung»sich in ein Mauseloch verkriechen« macht die Schändlichkeit selbst oder das Schicksalalltäglich. Eine hysterische Szene. Die ganze Reihe von Spasmen bei Bacon entspricht diesemTypus, Liebe, Erbrechen, Ausscheidung, stets der Körper, der durch eines seiner Organe zu 29entkommen versucht, um sich mit der Farbfläche, der materiellen Struktur zu vereinigen.Bacon hat oft gesagt, daß im Bereich der Figuren der Schatten genauso viel Gegenwart hattewie der Körper; aber der Schatten erlangt diese Gegenwart nur, weil er sich dem Körper 47entwindet, er ist der Körper, der durch diesen oder jenen auf der Kontur lokalisierten Punktentwichen ist. Und der Schrei, Bacons Schrei, ist die Prozedur, mit der der Körper insgesamt 6durch den Mund entweicht. All die Triebkräfte des Körpers.

Die Schüssel des Waschbeckens ist ein Schauplatz, eine Kontur, eine Wiederaufnahmedes Runds. Hier aber zeigt die neue Stellung des Körpers im Verhältnis zur Kontur, daß wirzu einem komplexeren Gesichtspunkt gelangt sind (selbst wenn dieser Aspekt von Anfangan da ist). Es ist nicht mehr die materielle Struktur, die sich um die Kontur zusammenrollt,um die Figur zu umhüllen, es ist vielmehr die Figur, die durch einen Fluchtpunkt in derKontur hindurch will, um sich in der materiellen Struktur aufzulösen. Das ist die zweiteRichtung des Austausches und die zweite Form der lächerlichen Athletik. Die Konturübernimmt also eine neue Funktion, da sie nicht mehr flach ist, sondern einen Hohlraumentwirft und einen Fluchtpunkt enthält. Bacons Regenschirme sind in dieser Hinsicht dasAnalogon zum Waschbecken. In den beiden Fassungen von Painting, 1946 und 1971, ist 30, 28die Figur im Rund einer Balustrade bequem untergebracht, zugleich aber läßt sie sich vonder Halbkugel des Regenschirms erfassen und scheint darauf zu warten, daß sie ganz undgar über die Spitze des Instruments entkommt: Schon sieht man nur noch ihr abscheulichesLächeln. In den Studies of the human body von 1970 und im Triptych vom Mai/Juni 1974 22, 50ist der flaschengrüne Regenschirm viel stärker als Oberfläche behandelt, die kauernde Figuraber bedient sich seiner zugleich als Balancierstange, Fallschirm, Staubsauger, Abzugsloch,durch das der ganze verkrampfte Körper hindurch will, wobei der Kopf bereits erfaßt ist: dieHerrlichkeit dieser Regenschirme als Konturen, mit einer nach unten ausgezogenen Spitze.In der Literatur wurde diese Anstrengung am besten durch Burroughs nahegebracht, dieAnstrengung des Körpers nämlich, durch eine Spitze oder ein Loch zu entweichen, die Teilseiner selbst oder seiner Umgebung sind: „Sein Körper beginnt sich zusammenzuziehen,verkrampft sich bis unters Kinn. Jede Kontraktion dauert länger. >Uninik schreit der Junge,seine Muskeln sind zum Zerreißen gespannt, der ganze Körper drängt durch den Schwanzhinaus.« 2 Ebenso ist bei Bacon die Lying figure with hypodermic syringe (1963) weniger ein 37festgenagelter Körper, was immer auch Bacon dazu sagen mag, als ein Körper, der durch dieInjektionsspritze hindurchzukommen und durch dieses Loch oder diese fluchtende Spitze,die als Organersatz fungiert, zu entkommen versucht.

1 Joseph Conrad, Der Nigger vom ›Narzissus,, Frankfurt/M. 1991, S. 86-87.2 William S. Burroughs, Naked Lunch, in: Werke, Bd. 1, hg. v. C. Weissner, Frankfurt 1980, S. 388.

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DELEUZE: FRANCIS BACON - LOGIK DER SENSATION

Wenn sich die Bahn oder das Rund im Waschbecken, im Regenschirm fortsetzen, so setzensich der Kubus oder das Parallelflach auch im Spiegel fort. Bacons Spiegel sind alles mögliche,nur keine reflektierende Oberfläche. Der Spiegel ist eine opake, bisweilen schwarze Dichte.

31 Bacon erlebt den Spiegel ganz anders als Lewis Caroll. Der Körper dringt in den Spiegel ein,nimmt darin Platz, er selbst und sein Schatten. Daher die Faszination: Es gibt nichts hinter

47, 32 dem Spiegel, nur in ihm. Der Körper scheint im Spiegel länger, platt, gedehnt zu werden,ganz als ob er sich zusammenzöge, um durch das Loch zu kommen. Notfalls spaltet sich der

35 Kopf mit einem großen dreieckigen Riß, der sich auf beiden Seiten wiederholen und ihnüber den ganzen Spiegel hinweg verteilen wird, wie ein Fettauge auf einer Suppe. In beidenFällen aber, beim Regenschirm oder Waschbecken ebenso wie im Spiegel, ist die Figur nichtmehr bloß isoliert, sie ist deformiert, bald kontrahiert und angesogen, bald gestreckt undgedehnt. Denn die Bewegung ist nicht mehr die der materiellen Struktur, die sich um dieFigur zusammenrollt, sie ist vielmehr die Bewegung der Figur, die zur Struktur hinstrebtund sich äußerstenfalls in den Farbflächen aufzulösen versucht. Die Figur ist nicht nur derisolierte Körper, sondern der deformierte Körper, der entweicht. Was aus der Deformationein Schicksal macht, ist die Tatsache, daß der Körper einen notwendigen Bezug zurmateriellen Struktur besitzt: Diese rollt sich nicht nur um ihn zusammen, er muß sichvielmehr mit ihr vereinigen und sich in ihr auflösen und dazu durch oder in jene Prothesen-Instrumente passieren, die Übergänge und reale, physische, wirksame Zustände darstellen,Sensationen und keineswegs Imaginationen. So daß der Spiegel oder das Waschbecken invielen Fällen ausgemacht werden können; aber selbst dann ist das, was im Spiegel passiert,was im Waschbecken oder unter dem Schirm passieren wird, unmittelbar auf die Figur selbstbeziehbar. Mit der Figur geschieht exakt das, was der Spiegel zeigt, das Waschbeckenankündigt. Die Köpfe sind allesamt für die bevorstehenden Deformationen zugerichtet(daher jene verwischten, ausgebürsteten, zerknitterten Zonen in den Kopfportraits). Und indem Maße, wie die Instrumente auf die Gesamtheit der materiellen Struktur zustreben,müssen sie nicht einmal mehr spezifiziert werden: Die gesamte Struktur übernimmt die Rolleeines virtuellen Spiegels, Schirms oder Waschbeckens, und zwar derart, daß die Deforma-tionen der Instrumente unmittelbar auf die Figur übertragen werden. So etwa das Self-por-

9 trait von 1973, der Mann mit Schweinekopf: Die Deformation geschieht an Ort und Stelle.Ebenso wie sich die Anstrengung des Körpers auf ihn selbst wendet, ist die Deformationstatisch. Der ganze Körper wird von einer intensiven Bewegung durchlaufen. Einer unförmigunförmigen Bewegung, die in jedem Augenblick das reale Bild auf den Körper überträgt,um die Figur zu bilden.

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IV

DER KÖRPER, DAS FLEISCH UND DER GEIST,DAS TIER-WERDEN

D er Körper ist die Figur oder eher das Material der Figur. Man sollte insbesondere nichtdas Material der Figur mit der verräumlichenden materiellen Struktur verwechseln,

die zur anderen Seite gehört. Der Körper ist Figur, nicht Struktur. Umgekehrt ist die Figurals Körper nicht Gesicht und hat nicht einmal ein Gesicht. Sie hat einen Kopf, weil der Kopfwesentlicher Bestandteil des Körpers ist. Sie kann sich sogar auf den Kopf reduzieren. AlsPortraitist ist Bacon Maler von Köpfen, nicht von Gesichtern. Zwischen beiden besteht eingroßer Unterschied. Denn das Gesicht ist eine strukturierte räumliche Organisation, die denKopf überzieht, während der Kopf ein Anhang des Köpers ist, selbst wenn er dessen Spitzedarstellt. Das heißt nicht, daß es ihm an Geist fehlt, es ist dies aber ein Geist, der Körper ist,ein körperlicher und vitaler Hauch, ein Tiergeist, er ist der Tiergeist des Menschen: einSchweine-Geist, ein Büffel-Geist, ein Hunde-Geist, ein Fledermaus-Geist... Als Portraitistverfolgt Bacon also ein ganz besonderes Projekt: das Gesicht auflösen, den Kopf unter demGesicht wiederfinden oder auftauchen lassen.

Die Deformationen, die der Körper durchmacht, sind auch die Tierzüge des Kopfes. Eshandelt sich dabei in keiner Weise um eine Entsprechung zwischen Tierformen undGesichtsformen. Denn das Gesicht hat seine Form verloren, indem es mit den Technikender Verwischung und des Abbürstens behandelt wurde, die es desorganisieren und an seinerStelle einen Kopf auftauchen lassen. Und die Marken oder Züge des Tierischen sind nichtlänger Tierformen, sondern eher Geister, die die verwischten Partien heimsuchen, ern Kopfzerren, den Kopf ohne Gesicht individualisieren und qualifizieren.' Als Bacons Verfahrens-weisen erhalten Verwischung und Striche hier einen besonderen Sinn. Es kommt vor, daßder Menschenkopf durch ein Tier ersetzt wird; dies ist aber nicht das Tier als Form, vielmehrdas Tierals Strich oder Zug, etwa ein zitternder Vogelstrich, der auf der verwischten Partieherumwirbelt, während die fingierten Gesichtsportraits daneben bloß als »Zeuge« dienen(so etwa im Triptychon von 1976). Es kommt vor, daß etwa ein wirklicher Hund als Schattenseines Herrn dargestellt wird; oder umgekehrt der Schatten des Mannes eine autonome undunbestimmte Tierexistenz annimmt. Der Schatten entflieht dem Körper als ein Tier, das inuns wohnt. Anstatt durch formale Korrespondenzen wird die Malerei Bacons durch eine

I Fdlix Guattari hat diese Phänomene der Desorganisation des Gesichts analysiert: die »Merkmale von Gesichthaf-tigkeit« befreien sich und werden ebenfalls Tiermerkmale des Kopfes. Vgl. L' inconscient machinique. Elinzents deschizo-analyse, Paris 1979, S. 75ff.

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DELEUZE: FRANCIS BACON - LOGIK DER SENSATION

Zone von Ununterscheidbarkeit, Unentscheidbarkeit zwischen Mensch und Tier konstituiert.Der Mensch wird Tier, aber er wird es nicht, ohne daß das Tier zugleich Geist wird, Geist

39 des Menschen, physischer Geist des Menschen, der im Spiegel als Eumenide oder Schicksalvorgeführt wird. Dies ist keine Kombination von Formen, vielmehr das gemeinsameFaktum: das gemeinsame Faktum von Mensch und Tier. Und zwar in einem Maße, daß dieisolierteste Figur Bacons bereits ein Figurenpaar ist, der in einem latenten Stierkampf mit

seinem Tier verwachsene Mensch.Diese objektive Ununterscheidbarkeitszone war bereits der ganze Körper, der Körper aber

als Leib oder Fleisch. Sicher hat der Körper auch Knochen, aber die Knochen sind bloßräumliche Struktur. Man hat oft Fleisch und Knochen und sogar »Fleisch von seinemFleisch« und »Bein von seinem Bein« unterschieden. Der Körper tritt nur dann zutage, wenner nicht länger durch die Knochen begrenzt ist, wenn das Fleisch nicht länger die Knochenbedeckt, wenn sie füreinander existeren, aber jedes auf seiner Seite, die Knochen als materielleStruktur des Körpers, das Fleisch als körperliches Material der Figur. Bacon bewundert diejunge Frau von Degas, Nach dem Bad, deren unterbrochene Wirbelsäule aus dem Leib

herauszutreten scheint, während ihr Fleisch um so verletzlicher und raffinierter, akrobati-40 scher ist.' In einem ganz anderen Zusammenhang hat Bacon eine derartige Wirbelsäule für

eine verrenkte Figur mit dem Kopf nach unten gemalt. Diese pikturale Spannung von Fleischund Knochen muß man erreichen. Nun ist es eben das bloße Fleischstück, das dieseSpannung in der Malerei herstellt, unter anderem durch die Pracht der Farben. Das nackteMuskeifleisch ist jener Zustand des Körpers, in dem Leib und Knochenbau einander lokalgegenübertreten, anstatt sich struktural zusammenzusetzen. Ebenso Mund und Zähne, dieaus kleinen Knochen bestehen. Im nackten Fleisch, so könnte man sagen, rutscht der Leib

von den Knochen herab, während die Knochen aus dem Leib herausragen. Dies ist dasEigentümliche bei Bacon, im Unterschied zu Rembrandt, zu Soutine. Wenn es eine»Interpretation« des Körpers bei Bacon gibt, so findet man sie in seiner Neigung, liegendeFiguren zu malen, deren erhobener Arm oder Schenkel gleichsam ein Knochen sind, undzwar derart, daß das eingeschlafene Fleisch von ihnen herabzurutschen scheint. So in der

53 mittleren Tafel des Triptychons von 1968 die beiden schlafenden Zwillinge, die von Zeugen43 mit Tiergeistern flankiert werden; aber auch die Reihe des Schlafenden mit erhobenen

44, 46, 37 Armen, der Schlafenden mit vertikalem Sein und der Schlafenden oder Drogensüchtigenmit aufgerichteten Schenkeln. Weit über den scheinbaren Sadismus hinaus sind die Knochengleichsam Turngeräte (Gerüst), an denen das Fleisch zum Akrobaten wird. Die Athletik desKörpers verlängert sich naturgemäß bis hin zu dieser Akrobatik des Fleisches. Wir werdendie Bedeutung des Sturzes im Werk Bacons sehen. Aber schon in den Kreuzigungen gilt seinInteresse der Herabnahme und dem nach unten gekehrten Kopf, der das Fleisch bloßlegt.

56, 58 Und in den Kreuzigungen von 1962 und 1965 sieht man im Rahmen eines Sitz-Kreuzesoder einer Knochen-Bahn das Fleisch buchstäblich von den Knochen herabsacken. FürBacon wie für Kafka ist die Wirbelsäule nurmehr das Schwert unter der Haut, das ein Henkerin den Körper eines unschuldigen Schlafenden geschoben hat. 2 Es kommt sogar vor, daß ein

Knochen lediglich hinzugefügt wird, mit einem zufällig hingeworfenen Strich und im

nachhinein.Erbarmen mit dem Fleisch! Es gibt keinen Zweifel, das Fleisch ist der höchste Gegenstand

des Erbarmens bei Bacon, sein einziger Gegenstand des Erbarmens, seines angloirischen

1 G 48.2 Vgl. Franz Kafka, Tagebücher, hg. v. H.-G. Koch, M. Müller u. M. Pasley, New York u. Frankfurt/M. 1990, S.

719-720.

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IV. DER KÖRPER, DAS FLEISCH UND DER GEIST

Erbarmens. Und in diesem Punkt ist es wie bei Soutine mit seinem unermeßlichen Mitleidenals Jude. Das Fleisch ist kein totes Gewebe, es hat alle Leiden bewahrt und alle Farben deslebendigen Leibs angenommen. Soviel konvulsivischer Schmerz und Verletzbarkeit, aberauch soviel bezaubernde Erfindung, Farbe, Akrobatik. Bacon sagt nicht »Erbarmen mit denTieren«, sondern eher: jeder Mensch, der leidet, ist bloßes Fleisch. Das Fleisch ist dergemeinsame Raum von Mensch und Tier, ihre Ununterscheidbarkeitszone, es ist jenes»Faktum«, eben jener Zustand, in dem sich der Maler mit den Gegenständen seinesSchreckens oder seines Mitgefühls identifiziert. Der Maler ist gewiß Fleischer, aber er ist indieser Metzgerei wie in einer Kirche, in der das Fleisch selbst der Gekreuzigte ist (Paintingvon 1946). Nur in den Metzgereien ist Bacon ein religiöser Maler. »Ich war schon immersehr berührt von Bildern, die mit Schlachthäusern und Fleisch zu tun hatten. Für michgehören sie sehr stark zu dem ganzen Thema der Kreuzigung. [...] Nun, wir sind ja schließlichselbst Fleisch, potentielle Kadaver. Jedesmal, wenn ich einen Fleischerladen betrete, bin ichin Gedanken überrascht, daß nicht ich anstelle des Tieres dort hänge [...]. « 1 Der RomancierMoritz beschreibt Ende des 18. Jahrhunderts eine Person mit »sonderbaren Empfindungen«:ein äußerstes Empfinden von Verlassenheit, Unbedeutsamkeit, die fast dem Nichts gleicht;der Schrecken einer Hinrichtung, als er der Exekution von vier Männern beiwohnt,»ausgetilgt und zerstückt«; die »auf das Rad« oder die Brüstung »hinaufgewundenen« Stückedieser Menschen; die Gewißheit, daß wir davon eigentümlich betroffen sind, daß wir alledieses hingewundene Fleisch sind und daß der Zuschauer bereits im Schauspiel, eine»bewegliche Fleischmasse« ist; seitdem der lebhafte Gedanke, daß die Tiere selbst menschlichsind oder daß wir Verbrecher oder Vieh sind; und dann jene Faszination durch ein sterbendesTier, »ein Kalb, mit Kopf, Augen, Ohren, Mund, und Nase; [...] und zuweilen vergaß er sichbei dem anhaltenden Betrachten desselben so sehr, daß er wirklich glaubte, auf einenAugenblick die Art des Daseyns eines solchen Wesens empfunden zu haben. — Kurz, wie ihmseyn würde, wenn er z.B. ein Hund, der unter Menschen lebt, oder ein anderes Thier wäre —das beschäftigte von Kindheit auf schon oft seine Gedanken« 2 . Die Seiten von Moritz sindgroßartig. Dies ist kein Zusammenbringen von Mensch und Tier, dies ist keine Ähnlichkeit,sondern eine Identität von Grund auf, eine Ununterscheidbarkeitszone, die tiefer liegt alsjede gefühlvolle Identifizierung: Der leidende Mensch ist Vieh, das leidende Vieh ist Mensch.Das ist die Wirklichkeit des Werdens. elcher revolutionäre Mensch in der Kunst, in derPolitik, in der Religion oder ganz gleich wo hat nicht jenen äußersten Moment empfunden,an dem er nichts als Vieh war und verwantwortlich wurde nicht für die sterbenden Kälber,sondern vor den sterbenden Kälbern?

Kann man aber dasselbe, exakt dasselbe vom Fleisch und vom Kopf sagen, weil diesnämlich die objektive Unentschiedenheitszone von Mensch und Tier Läßt sich objektivsagen, daß der Kopf Fleisch ist (ebenso wie das Fleisch Geist)? Steht der Kopf von allen Teilendes Körpers nicht den Knochen am nächsten? Siehe El Greco und noch Soutine. Es scheintjedoch, daß Bacon den Kopf nicht so erlebt. Der Knochen gehört zum Gesicht, nicht zumKopf. Nach Bacon gibt es keinen Totenkopf. Der Kopf ist eher entbeint als knochig. Er istjedoch keineswegs weich, sondern fest. Der Kopf ist Fleisch, und die Maske selbst ist keineTotenmaske, sie ist ein fester Fleischbrocken, der sich von den Knochen löst: so die Studienzu einem Portrait von William Blake. Bacons eigener Kopf ist Fleisch, das von einem sehr

1 G 25 und 46.2 Jean-Christophe Bailly hat diesen wunderbaren Text von Karl Philipp Moritz (1756-1793) in La legende dispersie.

Anthologie du romantisme allemand (Paris 1976, S. 35-43) mitgeteilt (dt.: Anton Reiser. Ein psychologischer Roman,

in: Karl Philipp Moritz, Die Schriften in dreissig Bänden, hg. v. P. u. U. Nettelbeck, Bd. 16, Nördlingen 1987, S.36-39).

48, 49

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DELEUZE: FRANCIS BACON — LOGIK DER SENSATION

schönen Blick ohne Augenhöhlen beherrscht wird. Und das eben rühmt er an Rembrandt,daß dieser nämlich ein letztes Selbstportrait als ein derartiges Stück Fleisch ohne Augenhöh-len zu malen vermochte.' Im gesamten Werk Bacons durchläuft das Verhältnis Kopf/Fleischeine intensive Skala, auf der es immer inniger wird. Zunächst wird das Fleisch (der Leib aufder einen Seite, Knochen auf der anderen) an den Rand der Bahn oder der Balustrade gesetzt,

30, 28 an der sich die Kopf-Figur aufhält; es ist aber auch der dichte Fleischregen, der den Kopfumgibt, der sein Gesicht unter dem Regenschirm auflöst. Der Schrei, der dem Mund des

45 Papstes entfährt, das Erbarmen in seinen Augen gelten dem Fleisch. Sodann hat das Fleischeinen Kopf, mit dem es das Kreuz flieht und herabgleitet, wie in den beiden vorangehendenKreuzigungen. Dann wiederum werden all die Reihen von Bacons Köpfen ihre Identität mit

51 dem Fleisch behaupten, und unter den schönsten davon gibt es jene, die in den Farben desFleisches, Rot und Blau, gemalt sind. Schließlich ist das Fleisch selbst Kopf, der Kopf ist zur

52 entgrenzten Macht des Fleisches geworden wie im Fragment of a crucifixion von 1950, indem das ganze Fleisch brüllt unter dem Blick eines Hunde-Geistes, der sich über dem Kreuzherabbeugt. Daß Bacon dieses Gemälde nicht mag, liegt an der Einfachheit des sichtbarenVerfahrens: Man braucht nur einen Mund mitten ins Fleisch zu bohren. Freilich muß mandie Affinität des Mundes und des Mundinneren mit dem Fleisch sichtbar machen und jenenPunkt erreichen, an dem der offene Mund genau zum Querschnitt einer aufgeschnittenenArterie oder gar eines Vestenärmels geworden ist, der für die Arterie steht,‘wie im blutigen

61 Paket des Triptychons Sweeny AgonistesJDer Mund erlangt dann jene Macht der Entgren- amen.

zung, die aus der ganzen Fleischmasse einen Kopf ohne Gesicht macht. Er ist kein besonderesOrgan mehr, sondern das Loch, durch das der Körper insgesamt entweicht und das Fleischherabrutscht (hier wird das Verfahren der unwillkürlichen freien Markierungen nötigwerden). Was Bacon den Schrei nennt — im unermeßlichen Mitleid, von dem das Fleischmitgerissen wird.

1 G 59: »Nun, wenn Sie zum Beispiel an das bedeutende Selbstportrait Rembrandts in Aix-en-Provence denken undes analysieren, dann werden Sie entdecken, daß da kaum Augenhöhlen zu sehen sind, daß das Bild fast vollständignichtillustrativ ist.<,

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V

ZUSAMMENFASSENDE ANMERKUNG:

PERIODEN UND ASPEKTE BEI BACON

D er Fleisch-Kopf ist ein Tier-Werden des Menschen. Und in diesem Werden strebt jederKörper danach zu entkommen, und die Figur strebt nach ihrer Vereinigung mit der

materiellen Struktur. Man sieht das bereits in der Anstrengung, die sie auf sich selbst wendet,um durch die Spitze oder das Loch hindurchzukommen; besser noch in dem Zustand, densie annimmt, wenn sie in den Spiegel, auf die Mauer geraten ist. Dennoch löst sie sich nochnicht in der materiellen Struktur auf, sie hat sich noch nicht mit der Farbfläche vereinigt,um darin wirklich zu verschwinden, sich auf der Mauer des geschlossenen Kosmos auszulö-schen, mit einer molekularen Textur zu verschmelzen. So weit wird man gehen müssen,damit eine Gerechtigkeit herrscht, die nur noch Licht und Farbe sein wird, ein Raum, dernur noch Sahara sein wird.' Das heißt, daß das Tier-Werden — was immer seine Bedeutungsein mag — nur ein Abschnitt auf dem Weg zu einem tieferen Unsichtbarwerden ist, in demdie Figur verschwindet.

Der ganze Körper entkommt durch den schreienden Mund. Durch den runden Mund 54, 55des Papstes oder der Amme entkommt der Körper wie durch eine Arterie. Und dennoch istdies nicht das letzte Wort in der Reihe des Mundes nach Bacon. Bacon legt nahe, daß esjenseits des Schreis das Lächeln gibt, das er nicht zu erlangen vermochte, wie er sagt.' Baconist sicher bescheiden; tatsächlich hat er Lächeln gemalt, die zu den schönsten in der Malereigehören. Und die die seltsamste Funktion haben, nämlich das Schwinden des Körpers zugarantieren. Bacon trifft sich mit Lewis Caroll in diesem einzigen Punkt, dem Grinsen derKatze.' Es gibt bereits ein schwindendes, beunruhigendes Lächeln im Kopf des Mannes mitRegenschirm, und gerade zugunsten dieses Lächelns löst sich das Gesicht auf wie unter einer 30Säure, die den Körper verzehrt; und die zweite Version desselben Mannes unterstreicht und 28verstärkt wieder das Lächeln. Mehr noch das spöttische, fast unaushaltbare, unerträglicheGrinsen des Papstes von 1954 oder des Mannes, der auf dem Bett sitzt: Man spürt, daß es 57, 59die Auslöschung des Körpers überleben muß. Die Augen und der Mund sind so deutlich

1 G 56: »[...] irgendwie würde man gerne in einem Portrait eine Sahara der menschlichen Erscheinung verwirklichen— es ähnlich zu machen, aber so, daß es die Weite der Sahara zu haben scheint.«

2 G 52: »[...] ich wollte immer das Lächeln malen, aber es ist mir niemals gelungen.«3 Lewis Carroll, Alice im Wunderland, Leipzig 1990, S. 61: Die Katze »bewerkstelligte ihr Verschwinden, diesmal

sehr langsam. Es begann mit der Schwanzspitze und endete mit dem Grinsen, das noch eine Weile übrig blieb,nachdem der Rest schon weg war.«

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DELEUZE: FRANCIS BACON - LOGIK DER SENSATION

auf die horizontalen Linien des Gemäldes gesetzt, daß das Gesicht schwindet zugunstenräumlicher Koordinaten, in denen allein das beharrliche Grinsen fortbesteht. Wie läßt sichderartiges nennen? Bacon legt nahe, daß dieses Grinsen hysterisch sei.' Ein abscheulichesGrinsen, Verworfenheit des Grinsens. Und wenn man davon träumt, eine Ordnung in ein

60 Triptychon einzuführen, so glauben wir, daß das Triptychon von 1953 diese Ordnungvorgibt, die nicht mit der Abfolge der Tafeln verschmilzt: der schreiende Mund im Zentrum,links das hysterische Grinsen und rechts schließlich der Kopf, der sich neigt und verschwin-det. 2

An diesem äußersten Punkt der kosmischen Auflösung, in einem geschlossenen, aberunbegrenzten Universum, ist offensichtlich, daß die Figur nicht mehr isoliert, in eine Grenze,eine Bahn oder ein Parallelflach gefaßt werden kann: man hat mit anderen Koordinaten zu

54 tun. Schon die Figur des schreienden Papstes befindet sich hinter dicken Streifen, fast denRippen eines Vorhangs mit trüber Transparenz: Der ganze Oberkörper verschwimmt undhält sich nur noch wie ein Abdruck auf einem gestreiften Leichentuch, während der untereTeil des Körpers noch außerhalb des sich weitenden Vorhangs bleibt. Daher der Effektzunehmender Entfernung, als ob der Körper mit der oberen Hälfte nach hinten gezogenwürde. Und über eine ziemlich lange Periode hinweg trifft man dieses Verfahren bei Baconimmer wieder an. Dieselben vertikalen Vorhangstreifen umgeben und schraffieren zum Teil

59 das abscheuliche Grinsen der Study for a portrait, während der Kopf und der Körper nachhinten, zu den horizontalen Rippen des Fensterladens gesogen zu sein scheinen. Man kannalso sagen, daß sich im Verlauf einer ganzen Periode Konventionen behaupten, die den vonuns zu Beginn definierten entgegenstehen. Überall die Herrschaft des Unscharfen undUnbestimmten, die Wirkung eines Grunds, der die Form anzieht, ein dicker Farbauftrag,auf dem sich Schatten abzeichnen, eine nuancierte trübe Textur, Effekte von Annäherungund Entfernung: kurz, eine malerische [i.O.dt.] Bearbeitung, wie Sylvester sagt.' Und diesist es, was Sylvester dazu bringt, drei Perioden in der Malerei Bacons zu unterscheiden: dieerste, die die scharfe Figur und die helle und harte Farbfläche gegeneinander stellt; die zweite,welche die Form »malerisch« auf einem tonalen, vorhangartigen Hintergrund behandelt; diedritte schließlich, die »die zwei gegensätzlichen Konventionen« vereint und zum hellenflächigen Grund zurückkommt, wobei die Effekte von Unschärfe durch Strichelung undAusbürsten lokal von neuem erfunden werden.'

Es ist indessen nicht nur die dritte Periode, die die Synthese der beiden erfindet. Schondie zweite Periode steht weniger im Widerspruch zur ersten, tritt vielmehr in einer stilisti-schen und schöpferischen Einheit nachträglich zu ihr hinzu: Es erscheint eine neue Stellungder Figur, die aber mit den anderen koexistiert. Am einfachsten vereinigt sich die Positionhinter den Vorhängen restlos mit der Position äuf der Bahn, auf der Stange oder imParallelflach bei einer isolierten, festgeklebten, verkrampften, aber ebenso verlassenen,

62 entflohenen, schwindenden, verworrenen Figur: so etwa die Study for crouching nude von16 1952. Und Man with a dog von 1953 griff die Grundelemente der Malerei auf, allerdings in

1 G 49.2 Wir können John Russell hier nicht folgen, der die Ordnung des Triptychons mit der Abfolge der Tafeln von links

nach rechts verwechselt: Er sieht links ein Zeichen von »Soziabilität« und in der Mitte eine öffentliche Rede (FrancisBacon, Paris 1979 [London 1971], S. 92). Selbst wenn das Modell ein Premierminister war, läßt sich kaum erken-nen, wie das beunruhigende Grinsen für soziabel und der Schrei in der Mitte für eine Rede gehalten werden können.

3 Mal ist ein Derivat von »macula«, Fleck (daher malen und Maler). Wölfin benutzt das Wort malerisch, um dasPikturale im Gegensatz zum Linearen oder genauer die Masse im Gegensatz zur Kontur zu bezeichnen. Vgl.Heinrich Wölfin, Kunstgeschichtliche Grundbegriff . Das Problem der Stilentwicklung in der Neueren Kunst, Mün-chen 8 1947, S. 20 ff.

4 G 120-122: die drei von Davin Sylvester unterschiedenen Perioden.

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V. PERIODEN UND ASPEKTE BEI BACON

einem gestörten Zusammenhang, in dem die Figur nur noch ein Schatten, die Pfütze eineungewisse Kontur und das Trottoir eine eingetrübte Oberfläche war. Und gerade das ist dasWesentliche: Es gibt sicher eine Abfolge von Perioden, zugleich aber auch koexistierendeAspekte, und zwar auf Grund der drei gleichzeitigen Elemente der Malerei, die beständiggegenwärtig sind. Das Gerüst oder die materielle Struktur, die positionierte Figur, die Konturals Grenze zwischen beiden werden auch weiterhin das System höchster Präzision konstitu-ieren; und gerade in diesem System entstehen die Störvorgänge, die Phänomene vonUnschärfe, die Effekte von Entfernung und Entschwinden, die um so stärker sind, als sieeine Bewegung ausmachen, die in diesem Zusammenhang selbst präzise ist.

Es wird oder würde vielleicht einen Grund geben, eine vierte, ganz junge Periode zuunterscheiden. Nehmen wir nämlich an, die Figur bestehe nicht mehr bloß aus Komponen-ten des Verschwindens und sie begnüge sich sogar nicht mehr damit, diese Komponente zuprivilegieren oder als Vehikel zu benutzen. Nehmen wir an, die Figur sei tatsächlichverschwunden und habe dabei nur eine undeutliche Spur ihrer früheren Gegenwart zurück-gelassen. Der Farbgrund wird sich wie ein vertikaler Himmel öffnen und zugleich wird ermehr und mehr strukturierende Funktionen übernehmen: Die Konturelemente werden inihm zunehmend Einteilungen, ebene Schnitte und Regionen im Raum bestimmen, die einfreies Gerüst bilden. Gleichzeitig aber wird nun die verschwommene oder verwischte Zone,die die Figur auftauchen ließ, für sich selbst stehen, unabhängig von jeder definierten Form,als eine reine Kraft ohne Gegenstand erscheinen, als Sturmwoge, Wasser- oder Dampfstrahl, 38Zyklonenauge, eine Kraft, die an Turner erinnert in einer zum Dampfschiff gewordenenWelt. So wird etwa alles (insbesondere der schwarze Abschnitt) zur Gegenüberstellung derbeiden benachbarten Blaus — des Strahls und der Fläche — gewendet. Daß wir bisher nur 83, 84, 97einige Fälle einer so neuartigen Gestaltung im Werk Bacons kennen, darf nicht ausschließen,daß es sich um eine entstehende Periode handelt: eine ihr eigene »Abstraktion«, die der Figurnicht bedürfte. Die Figur hat sich aufgelöst, indem sie die Prophezeiung verwirklichte: Duwirst nur noch Sand, Gras, Staub oder Wassertropfen sein..2 Die Landschaft fließt für sichselbst aus dem Vieleck der Darstellung aus und bewahrt dabei die entstellten Elemente einerSphinx, die bereits aus Sand zu bestehen schien. Nun aber scheint der Sand keinerlei Figurmehr zu behalten, so wenig wie das Gras, die Erde oder das Wasser. An der Gelenkstelle derFiguren und dieser neuen leeren Räume: ein strahlender Gebrauch des Pastells. Der Sandwird sogar wieder eine Sphinx zusammensetzen können, allerdings so brüchig und pastell-artig, daß man spürt, wie die Welt der Figuren durch die neue Macht zutiefst bedroht ist.

Wenn man sich an die festgestellten Perioden hält, so läßt sich die Koexistenz all dieserBewegungen schwer denken. Und dennoch ist das Gemälde diese Koexistenz. Nimmt mandie drei Grundelemente — Struktur, Figur und Kontur — als gegeben, so führt eine ersteBewegung (»Spannung«) von der Struktur zur Figur. Die Struktur stellt sich dann als einegleichmäßige Farbfläche dar, die sich allerdings wie ein Zylinder um die Kontur einrollenwird; die Kontur stellt sich dann als ein Isolierendes, Rund, Oval, als Stange oder Systemvon Stangen dar; und die Figur ist in der Kontur isoliert, eine völlig abgeschlossene Welt.Es führt nun aber eine zweite Bewegung, eine zweite Spannung von der Figur zur materiellenStruktur: Die Kontur verändert sich, wird zur Halbkugel des Waschbeckens oder Regen-schirms, zur Dichte des Spiegels und wirkt deformierend; die Figur kontrahiert oder dehntsich, um durch ein Loch oder in den Spiegel zu kommen, in einer Reihe krasser Deforma-tionen erfährt sie ein ungewöhnliches Tier-Werden; sie selbst strebt zur Vereinigung mit der

1 Wir kennen gegenwärtig sechs Gemälde dieser neuen Abstraktion; neben den vier oben zitierten ein Landcape von1978 und, 1982, Water from a running tap.

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DELEUZE: FRANCIS BACON - LOGIK DER SENSATION

Fläche, zur Auflösung in der Struktur, mit einem letzten Lächeln und vermittels der Kontur,die nicht einmal mehr deformierend wirkt, sondern wie ein Vorhang, hinter dem die Figurbis ins Unendliche verblaßt. Diese geschlossenste Welt war also auch die grenzenloseste.Wenn man sich ans Einfachste hält, an die Kontur, die mit einem einfachen Rund beginnt,so bemerkt man die Vielfalt ihrer Funktionen und zugleich die Entfaltung ihrer Form: Sieist zunächst isolierend, letztes Gebiet der Figur; damit aber ist sie bereits der »Verwaiser«oder »Deterritorialisierer«, da sie die Struktur zum Einrollen zwingt und dabei die Figur vonjedem natürlichen Milieu abschneidet; sie ist noch Vehikel, da sie den kleinen Spaziergangder Figur auf dem ihr verbleibenden Gebiet leitet; und sie ist Turngerät, Prothese, weil siedie Athletik der Figur unterstützt, die sich einschließt; sie wirkt sodann deformierend, wenndie Figur durch sie, durch ein Loch, durch eine Spitze hindurchkommt; und sie wird ineinem anderen Sinn wieder zum Turngerät und zur Prothese für die Akrobatik des Fleisches;sie ist schließlich Vorhang, hinter dem sich die Figur auflöst, indem sie sich mit der Strukturvereint; kurz, sie ist Membran, sie ist es immer noch und gewährleistet die Kommunikation

23 zwischen Figur und materieller Struktur in beiden Richtungen. Im Painting von 1978 siehtman das Goldorange der Kontur, die mit all diesen Funktionen auf die Tür schlägt, imBegriff, all diese Formen anzunehmen. Alles verteilt sich in Diastole und Systole, die aufjeder Ebene zurückgeworfen werden. Die Systole, die die Körper zusammendrückt und vonder Struktur zur Figur verläuft; die Diastole, die sie dehnt und auflöst und von der Figur zurStruktur führt. Aber schon in der ersten Bewegung gibt es eine Diastole, wenn der Körperlänger wird, um sich besser abzuschließen; und es gibt eine Systole in der zweiten Bewegung,wenn sich der Körper zusammenzieht, um zu entweichen; und selbst wenn der Körper sichauflöst, bleibt er noch kontrahiert durch die Kräfte, die ihn erfassen, um ihn an dieUmgebung auszuliefern. Die Koexistenz aller Bewegungen im Gemälde ist der Rhythmus.

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VI

MALEREI UND SENSATION

Uis gibt zwei Möglichkeiten, über die Figuration (d. h. über das Illustrative wie das Narrative) hinauszugehen: entweder in Richtung der abstrakten Form oder der Figur.Diesem Weg zur Figur gibt Cezanne einen einfachen Namen: die Sensation. Die Figur istdie auf die Sensation bezogene sinnliche Form; sie wirkt unmittelbar auf das Nervensystem,das Fleisch ist. Während sich die abstrakte Form an das Gehirn adressiert, über das Gehirnwirkt, eher dem Knochenbau verwandt. Sicher hat Cezanne diesen Weg der Sensation inder Malerei nicht erfunden. Aber er hat ihm einen beispiellosen Status eingeräumt. DieSensation ist das Gegenteil des Leichten und Überkommenen, des Klischees, aber auch des»Sensationellen«, des Spontanen... etc. Die Sensation ist mit einer Seite zum Subjekt hingewendet (das Nervensystem, die Vitalbewegung, der »Trieb«, das »Temperament« — derganze Wortschatz, den Cezanne mit dem Naturalismus teilt), mit einer anderen zum Objekt(das »Faktum«, der Schauplatz, das Ereignis). Oder besser: sie hat überhaupt keine Seiten,sie ist unauflösbar beides zugleich, sie ist Auf-der-Welt-Sein, wie die Phänomenologen sagen:Ich werde in der Sensation, und zugleich geschieht etwas durch die Sensation, das eine durchdas andere, das eine im anderen.' Und im äußersten Fall ist es derselbe Körper, der sie gibtund empfängt, Objekt und Subjekt zugleich. Ich als Zuschauer erfahre die Sensation nur,indem ich ins Gemälde hineintrete, indem ich in die Einheit von Empfindendem undEmpfundenem gelange. Das ist Cezannes Lektion über die Impressionisten hinaus: DieSensation ist nicht im »freien« oder körperlosen Spiel von Licht und Farbe (Impressionen),sie ist im Gegenteil im Körper, mag dies auch der Körper eines Apfels sein. Die Farbe ist imKörper, die Sensation ist im Körper und nicht in den Lüften. Die Sensation ist das Gemalte.Was im Gemälde gemalt ist, ist der Körper, und zwar nicht sofern er als Objekt wiederge-geben wird, sondern sofern er erlebt wird als einer, der diese Sensation erfährt (was Lawrencemit Blick auf Cezanne das »Apfelsein des Apfels« nanntet).

Das ist der ganz allgemeine Faden, der Bacon mit Cezanne verbindet: die Sensation malen,oder, wie Bacon mit ganz ähnlichen Worten wie Cezanne sagt, das Faktum festhalten. »[...]es ist eine überaus komplizierte Sache, sich klar zu werden, warum manche Malerei direkt

1 Henri Maldiney, Regard, parole, espace, Paris 1976, S. 136. Phänomenologen wie Maldiney oder Merleau-Pontysahen in Cezanne den Maler schlechthin. Denn sie analysieren die Sensation oder besser »das Empfinden« nichtnur, sofern es die sinnlichen Qualitäten auf ein identifizierbares Objekt bezieht (figuratives Moment), sondernsofern jede Qualität ein Feld konstituiert, das für sich gültig ist und mit anderen interferiert (»pathisches« Moment).Dieser Aspekt der Sensation ist es, den Hegels Phänomenologie kurzschließt und der dennoch die Basis jedermöglichen Ästhetik darstellt. Vgl. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1965, S.244-283; Henri Maldiney, a. a. 0., S. 124-208.

2 D. H. Lawrence, »Introduction to these paintings«, in: Phoenix 1, London 1936, S. 551-584.

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auf das Nervensystem stößt.« 1 Man wird sagen, daß es nur evidente Unterschiede zwischenden beiden Malern gibt: die Welt Cezannes als Landschaft und Stilleben, noch vor denPortraits, die als Landschaften behandelt werden; und die umgekehrte Hierarchie bei Bacon,der Stilleben und Landschaften ihrer führenden Position enthebt.' Die Welt als Natur beiCezanne, die Welt als Artefakt bei Bacon. Sind aber nicht gerade diese allzu evidentenUnterschiede der »Sensation« und dem »Temperament« zuzurechenen, das heißt, schreibensie sich nicht in das ein, was Bacon mit Cezanne verbindet, was ihnen gemeinsam ist ? WennBacon von der Sensation spricht, so meint er zwei Dinge, die Cezanne sehr verwandt sind.In negativer Hinsicht sagt er, die auf die Sensation bezogene Form (Figur) sei das Gegenteilzur Form, die auf ein Objekt bezogen ist und dieses wiedergeben soll (Figuration). Nacheinem Wort Valerys ist die Sensation, was sich unmittelbar, unter Vermeidung des Umwegsoder der Langeweile einer erzählbaren Geschichte überträgt.' Und positiv wiederholt Baconunermüdlich, die Sensation sei das, was von einer »Ordnung« zu einer anderen, von einer»Ebene« zu einer anderen, von einem »Bereich« zu einem anderen übergehe. Darum ist dieSensation Meisterin der Deformationen, Wirkkraft der Deformationen des Körpers. Undin dieser Hinsicht läßt sich an die figurative wie an die abstrakte Malerei derselbe Vorwurfrichten: Sie führen über das Gehirn, sie wirken nicht direkt auf das Nervensystem, siegelangen nicht zur Sensation, sie befreien nicht die Figur, und all das, weil sie auf ein undderselben Ebene stehenbleiben.' Sie können Transformationen der Form vollziehen, siegelangen nicht zu den Deformationen des Körpers. Wir werden bei Gelegenheit noch sehen,worin Bacon Cezanne verwandt ist — sehr viel mehr jedenfalls, als wenn er Schüler Cezannesgewesen wäre.

Was meint Bacon vor allem in seinen Gesprächen, wenn er immer wieder von »Ordnun-gen der Sensation«, »sensitiven Ebenen«, »Empfindungsbereichen« oder »Bewegungssequen-zen« spricht? Man könnte zunächst glauben, daß jeder Ordnung, jeder Ebene oder jedemBereich eine spezifizierte Sensation entspricht: Jede Sensation wäre also ein Term in einerSequenz oder Reihe. So führt uns etwa die Reihe von Rembrandts Selbstportraits inverschiedene Empfindungsbereiche.' Und es ist wahr, daß die Malerei, und ganz besondersdie Bacons, mit Serien arbeitet. Kreuzigungsreihe, Papstreihe, Portrait- und Selbstportrai-treihe, Reihe des Mundes, des schreienden Mundes, des lächelnden Mundes... Viel mehrnoch kann die Reihe simultan sein wie in den Triptychen, die wenigstens drei Ordnungenoder drei Ebenen nebeneinander koexistieren lassen. Und die Reihe kann geschlossen sein,wenn sie eine kontrastierende Komposition aufweist, aber sie kann offen sein, wenn sie überdrei hinaus fortgesetzt oder fortsetzbar ist.' All das ist richtig. Aber dies wäre eben nichtrichtig, gäbe es nicht etwas anderes, das bereits für jedes Bild, für jede Figur, für jede Sensationgilt. Jedes Gemälde, jede Figur ist schon eine Bewegungssequenz oder eine Serie (und nichtnur ein Term in einer Reihe). Jede Sensation befindet sich schon auf unterschiedlichenEbenen, in verschiedenen Ordnungen oder mehreren Bereichen. So daß es nicht mehrereSensationen unterschiedlicher Ordnungen gibt, sondern unterschiedliche Ordnungen einund derselben Sensation. Es kommt der Sensation zu, daß sie eine konstitutive Ebenendif-ferenz, eine Pluralität von konstituierenden Bereichen umhüllt. Jede Sensation und jede

1 G 19.2 G 63-65.3 G 67.4 Alle diese Themen durchziehen die Gespräche.5 G 29 [Übersetzung verändert; d. Ü.].6 G 14-16.

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VI. MALEREI UND SENSATION

Figur ist bereits »akkumulierte«, »geronnene« Sensation wie in einer Figur aus Kalkstein.'Daher der unverbrüchlich synthetische Charakter der Sensation. Man wird demnach fragen,woher dieser synthetische Charakter kommt, durch den jede materielle Sensation mehrereEbenen, mehrere Ordnungen oder Bereiche besitzt. Was sind diese Ebenen, und was machtihre empfindende und empfundene Einheit aus ?

Eine erste Antwort muß offenbar zurückgewiesen werden. Die synthetische materielleEinheit einer Sensation würde durch das repräsentierte Objekt, das bildlich dargestellte Dinghergestellt. Das ist theoretisch unmöglich, da sich die Figur ja der Figuration widersetzt.Aber selbst wenn man — wie Bacon es tut — in praktischer Hinsicht bemerkt, daß gleichwohletwas bildlich dargestellt ist (etwa ein schreiender Papst), so beruht diese sekundäre Figura-tion auf der Neutralisierung jeder primären Figuration. Bacon stellt sich selbst Probleme,die das unvermeidliche Festhalten an einer praktischen Figuration in dem Augenblickbetrifft, an dem die Figur ihre Absicht behauptet, mit dem Figurativen zu brechen. Wirwerden sehen, wie er das Problem löst. Unablässig jedenfalls war Bacon bestrebt, das»Sensationelle« zu eliminieren, d. h. die primäre Figuration dessen, was eine heftige Emp-findung provoziert. Das ist der Sinn der Formulierung: »Ich wollte eher den Schrei als denSchrecken malen.« Wenn er den schreienden Papst malt, so gibt es dabei nichts, wasSchrecken einflößen würde, und der Vorhang vor dem Papst dient nicht nur dazu, ihn zuisolieren, den Blicken zu entziehen, er ist viel mehr noch dazu gedacht, daß er selbst nichtssieht und angesichts des Unsichtbaren schreit: als neutralisierter ist der Schrecken vervielfältigt,weil er aus dem Schrei abgeleitet ist, nicht umgekehrt. Und es ist gewiß nicht leicht, auf denSchrecken oder die primäre Figuration zu verzichten. Man muß sich zuweilen gegen seineeigenen Instinkte wenden, auf seine Erfahrung verzichten. Bacon trägt die ganze GewaltIrlands und die Gewalt des Nazismus, die Gewalt des Krieges in sich. Er durchlebt denSchrecken der Kreuzigungen und vor allem des Kreuzigungsfragments, oder des Fleisch-Kopfes oder des blutigen Koffers. Wenn er aber seine eigenen Gemälde beurteilt, so wendeter sich von all denen ab, die auf diese Weise allzu »sensationell« sind, weil die Figuration,die in ihnen fortwirkt, noch auf sekundäre Weise eine Schreckensszene nachbildet undfolglich eine erzählbare Geschichte von neuem einführt: Selbst die Stierkämpfe sind allzudramatisch. Sobald der Schrecken auftaucht, schleicht sich eine Geschichte ein, hat man denSchrei verfehlt. Und schließlich wird das Maximum an Gewalt in den sitzenden oderkauernden Figuren liegen, die keinerlei Folter oder Brutalität erleiden, denen nichts Sicht-bares geschieht und die um so besser die Macht der Malerei verwirklichen. Denn die Gewalthat zwei ganz verschiedene Bedeutungen: »Von der Gewaltsamkeit der Farbmaterie zu,sprechen hat nichts zu tun mit der des Krieges.« 2 Der Gewalt des Dargestellten (demSensationellen, dem Klischee) steht die Gewalt der Sensation gegenüber. Diese fällt mit ihrerunmittelbaren Einwirkung auf das Nervensystem, den Ebenen, die sie durchläuft, denBereichen, die sie durchquert, zusammen: Selbst Figur, schuldet sie nichts der Natur einesbildlich dargestellten Objekts. Wie bei Artaud: Die Grausamkeit ist nicht, was man dafürhält, und hängt immer weniger vom Dargestellten ab.

Eine zweite Interpretation muß zurückgewiesen werden, die die Ebenen der Sensation,d. h. die Valenzen der Sensation mit einer Ambivalenz des Gefühls verwechseln würde.Sylvester schlägt einmal vor: »Aber glauben Sie nicht — da Sie davon sprechen, in einem Bildverschiedene Empfindungsebenen widerzuspiegeln —, daß Sie, unter anderem, gleichzeitigdie Zuneigung zu einem Menschen und die Feindseligkeit ihm gegenüber ausdrücken — daß

1 G 60 (»Gerinnung von nicht-repräsentativen Zeichen« [Übers. verändert; d. 0.1).2 G 83-84 (und 49: »Ich habe nie versucht zu schockieren«).

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das, was Sie machen, zugleich eine Liebkosung und ein Überfall sein kann?« Worauf Baconantwortet: »Das ist mir zu logisch gedacht. So geht das glaube ich nicht. Ich glaube eher, esgeht um etwas Tiefgründigeres: Wie kann ich, meinen Empfindungen nach, dieses Bild fürmich selbst unmittelbarer lebendig machen ? Das ist alles.« 1 In der Tat hat die psychoanaly-tische Hypothese der Ambivalenz nicht nur den Nachteil, daß sie die Empfindung seitensdes Zuschauers lokalisiert, der das Gemälde betrachtet. Aber selbst wenn man eine Ambi-valenz der Figur an sich selbst annimmt, so würde es sich dabei um Gefühle handeln, diedie Figur im Verhältnis zu dargestellten Dingen, im Verhältnis zu einer erzählten Geschichteverspürte. Nun gibt es bei Bacon keine Gefühle: nichts als Affekte, d. h. »Sensationen« und»Triebe« nach der Formel des Naturalismus. Und die Sensation ist das, was den Trieb zueinem gegebenen Moment bestimmt, genau wie der Trieb der Übergang von einer Sensationzu einer anderen, die Suche nach der »besten« Sensation ist (nicht nach der angenehmsten,sondern nach der, die das Fleisch zu einem bestimmten Augenblick seines Herabsackens,seiner Kontraktion oder seiner Dehnung erfüllt).

Es gäbe eine dritte, interessantere Hypothese. Dies wäre die motorische Hypothese. DieSensationsebenen wären gleichsam Haltepunkte oder Momentaufnahmen der Bewegung,die die Bewegung auf synthetische Weise in ihrer Kontinuität, Geschwindigkeit und Gewaltwieder zusammensetzten: so etwa im synthetischen Kubismus oder im Futurismus oder imAkt von Duchamp. Und es stimmt, daß Bacon fasziniert ist von den Dekompositionen derBewegung bei Muybridge und sich ihrer wie eines Materials bedient. Und es stimmt

63, 33 ebenfalls, daß er seinerseits heftige Bewegungen mit großer Intensität erzielt, wie etwa64, 4 George Dyers Kopfdrehung um 180°, der sich zu Lucian Freud hinwendet. Und noch

allgemeiner sind Bacons Figuren oft mitten aus einem seltsamen Spaziergang herausgegrif-65 fen: Man carrying a child oder der Van Gogh. Das Isolierende der Figur, das Rund oder das

Parallelflach, werden selbst zu Motoren, und Bacon verzichtet nicht auf das Projekt, das einebewegliche Skulptur leichter verwirklichen würde: daß sich nämlich die Kontur oder derSockel entlang des Gerüstes verschieben können, so daß die Figur auf diese Weise einentäglichen »Rundgang« macht.' Aber gerade der Charakter dieses Rundgangs kann unsAufschlüsse über den Status der Bewegung nach Bacon geben. Niemals waren Beckett undBacon einander näher, und es ist dies ein Rundgang nach Art der Spaziergänge von BeckettsPersonen, die sich ebenfalls ruckweise fortbewegen, ohne ihr Rund oder ihr Parallelflach zu

34 verlassen. Das ist der Spaziergang des gelähmten Kinds und seiner Mutter, festgeklammertan den Rand des Geländers, in einem sonderbaren Handikaplauf. Das ist das Herumwirbeln

66, 67 der Feure turning. Das ist die Fahrradfahrt George Dyers, die einem Spaziergang des Heldenbei Moritz sehr ähnlich ist: »das Gesicht wurde auf den kleinen Fleck Erde, den man umsich her sahe, begränzt — [...] das Ende aller Dinge schien ihm in solch eine Spitze hinauszu-laufen«. 3 So daß die Bewegung, selbst wenn sich die Kontur verschiebt, weniger in dieserVerschiebung als in der amöbenhaften Erforschung besteht, der sich die Figur in der Konturwidmet. Die Bewegung erklärt nicht die Sensation, sie erklärt sich im Gegenteil durch dieElastizität der Sensation, durch ihre vis elastica. Nach Becketts oder Kafkas Gesetz gibt esdie Unbewegtheit jenseits der Bewegung; jenseits des Stehens gibt es Sitzen, jenseits des

1 G 41-42 [Übersetzung verändert]. Bacon scheint sich den psychoanalytischen Empfehlungen zu widersetzen, undauf Sylvester, der bei einer anderen Gelegenheit zu ihm sagt: »der Papst ist der Vater«, antwortet er höflich: »Ichweiß nicht genau, was Sie meinen« (G 73). Zwecks einer ausführlicheren psychoanalytischen Interpretation vonBacons Gemälden mag man sich auf Didier Anzieu beziehen (Le corps de l'oeuvre. Essais pychanalytiques sur le travailcre<ateur, Paris 1981, 333-340).

2 G 85 und 110.3 Karl Philipp Moritz, Anton Reiser, a. a. 0., Bd. 16, S. 172.

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VI. MALEREI UND SENSATION

Sitzens Liegen bis hin schließlich zur Auflösung. Der wahre Akrobat ist ein Akrobat derUnbewegtheit im Rund. Die massigen Füße der Figuren befördern oft nicht das Gehen:nahezu Klumpfüße (und die Sessel sehen manchmal wie Schuhe für Klumpfüße aus). Kurz,nicht die Bewegung erklärt die Sensationsebenen, vielmehr erklären die Sensationsebenen,was an der Bewegung fortbesteht. Und in der Tat gilt Bacons Interesse nicht genau derBewegung, obwohl seine Malerei die Bewegung sehr intensiv und heftig macht. Äußersten-falls aber ist sie eine Bewegung auf der Stelle, ein Spasmus, der ein ganz anderes Problem alsProblem Bacons ausweist: die Wirkung unsichtbarer Kräfte auf den Körper (daher dieDeformationen des Körpers, die dieser tieferen Ursache zuzuschreiben sind). Im Triptychonvon 1973 bewegt sich die Parallelverschiebung zwischen zwei Spasmen, zwischen zwei 29Kontraktionsbewegungen, die sich auf der Stelle vollziehen.

Und dann gäbe es noch eine andere, »phänomenologischere« Hypothese. Die Sensations-ebenen wären tatsächlich Empfindungsbereiche, die auf die verschiedenen Sinnesorganeverweisen; aber jede Ebene, jedes Gebiet würde eben auf seine Art auf die anderen verweisen,unabhängig vom dargestellten gemeinsamen Objekt. Zwischen einer Farbe, einem Ge-schmack, einer Berührung, einem Geruch, einem Geräusch, einem Gewicht bestünde eineexistenzielle Kommunikation, die das »pathische« (nicht-repräsentative) Moment der Sen-sation ausmachen würde. Bei Bacon etwa hört man in den Stierkämpfen die Hufe des Tiers,berührt man im Triptychon von 1976 das Schwirren des Vogels, der sich an der Stelle desKopfes einbohrt, und auf allen Darstellungen des Fleisches berührt man es, riecht es, ißt es,wiegt es wie bei Soutine; und das Portrait von Isabel Rawsthorne läßt einen Kopf auftauchen, 68dem Ovale und Striche hinzugefügt sind, um die Augen weit aufzureißen, die Nasenlöcherzu blähen, den Mund zu verlängern, die Haut zu aktivieren, in einer gemeinsamen Betäti-gung aller Sinnesorgane zugleich. Es käme also dem Maler zu, eine Art ursprünglicherEinheit der Sinne sichtbar zu machen und eine multisensible Figur visuell erscheinen zulassen. Diese Operation aber wird nur möglich, wenn die Sensation dieses oder jenes Gebietes(hier die Sehempfindung) in unmittelbarem Kontakt mit einem vitalen Vermögen steht, dasalle Gebiete sprengt und sie durchquert. Dieses Vermögen ist der Rhythmus, der tiefer reichtals der Blick, das Gehör etc. Und der Rhythmus erscheint als Musik, wenn er die auditiveEbene besetzt, als Malerei, wenn er die visuelle Ebene besetzt. Eine nicht-rationale, nicht-zerebrale »Logik der Sinne«, wie Cezanne sagte. Das Äußerste ist also der Bezug desRhythmus zur Sensation, der in jeder Sensation die Ebenen und Bereiche einführt, die siedurchläuft. Und dieser Rhythmus durchquert ein Gemälde, wie er ein Musikstück durch-quert. Diastole und Systole: die Welt, die mich selbst ergreift, indem sie sich um michschließt, das Ich, das sich zur Welt hin öffnet und sie selbst öffnet.' Gerade Cezanne, so sagtman, hat einen vitalen Rhythmus in die Sehempfindung gebracht. Muß man dasselbe vonBacon sagen, mit seiner Koexistenz von Bewegungen, wenn der Farbgrund sich um die Figurschließt und wenn die Figur sich zusammenzieht oder im Gegenteil sich dehnt, um sich mitdem Farbgrund bis hin zum Verschwinden zu vereinigen ? Ist es möglich, daß die artifizielleund geschlossene Welt Bacons von der gleichen vitalen Bewegung zeugt wie die Natur beiCezanne ? Es ist nicht bloß dahingesagt, wenn Bacon erklärt, er sei Pessimist in zerebralerHinsicht, Optimist aber in nervlicher, mit einem Optimismus, der nur an das Leben glaubt!Dasselbe »Temperament« wie Cezanne? Bacons Formel wäre: Pessimist in figurativer Hin-sicht, Optimist aber in figuraler Hinsicht.

1 Henri Maldiney, a. a. 0., S. 147-172: über die Sensation und den Rhythmus, die Systole und die Diastole (unddie Seiten über Cezanne in diesem Zusammenhang).

2 G 82.

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VII

DIE HYSTERIE

D fieser Grund, diese rhythmische Einheit der Sinne kann nur entdeckt werden, indemman den Organismus hinter sich läßt. Die phänomenologische Hypothese ist viel-

leicht unzureichend, weil sie sich nur auf den erlebten Körper beruft. Aber der erlebte Körperist wenig im Verhältnis zu einem tieferen und nahezu unlebbaren Vermögen. Denn dieEinheit des Rhythmus können wir nur da aufsuchen, wo der Rhythmus selbst ins Chaos, indie Nacht eintaucht und wo die Ebenendifferenzen immer wieder mit Gewalt durcheinan-dergeworfen werden.

Jenseits des Organismus, aber auch als Grenze des erlebten Körpers gibt es das, was Artaudentdeckt und benannt hat: den organlosen Körper. »Der Körper ist der Körper Er ist alleinEr braucht keine Organe Der Körper ist nie ein Organismus Die Organismen sind die Feindedes Körpers.«' Der organlose Körper steht weniger den Organen als jener Organisation derOrgane gegenüber, die man Organismus nennt. Er ist ein dichter, ein intensiver Körper. Erwird von einer Welle durchströmt, die gemäß den Variationen ihrer Amplitude im KörperEbenen oder Schwellen einzeichnet. Der Körper hat also keine Organe, sondern Schwellenoder Ebenen. So daß die Sensation nicht qualitativ oder qualifiziert ist, sie hat nur eineintensive Realität, die in ihr keine repräsentativen Gegebenheiten mehr bestimmt, sondernallotrope Variationen. Die Sensation ist Schwingung. Bekanntlich weist das Ei eben jenenZustand des Körpers »vor« der organischen Repräsentation auf: Achsen und Vektoren,Gradienten, Zonen, kinematische Bewegungen und dynamische Tendenzen, bezüglichwelcher die Formen kontingent und unwesentlich sind. »Kein Mund. Keine Zunge. KeineZähne. Kein Kehlkopf. Keine Speiseröhre. Kein Magen. Kein Bauch. Kein Anus.« Eingeradezu nicht-organisches Leben, denn der Organismus ist nicht das Leben, er sperrt es ein.Der Körper ist ganz und gar lebendig und dennoch nicht organisch. Darum gewinnt auchdie Sensation, wenn sie den Körper über den Organismus hinweg trifft, eine exzessive undspasmodische Wendung, sie durchbricht die Schranken der organischen Aktivität. Mittenim Fleisch wird sie unmittelbar auf die Nervenbewegung oder die vitale Emotion geleitet.Man möchte glauben, daß Bacon Artaud in vielen Punkten begegnet: Die Figur ist exaktder organlose Körper (den Organismus zugunsten des Körpers, das Gesicht zugunsten desKopfes auflösen); der organlose Körper ist Fleisch und Nerven; eine Welle durchströmt ihnund zeichnet Ebenen in ihn ein; die Sensation ist gleichsam das Zusammentreffen der Wellemit Kräften, die auf den Körper einwirken, »affektive Athletik«, gehauchter Schrei; wenn sie

1 Antonin Artaud, »Supp6ts et supplications«, in: 84, Nr.5/6, 1948.

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VII. DIE HYSTERIE

derart auf den Körper bezogen ist, bleibt die Sensation nicht länger repräsentativ, sie wirdreal; und die Grausamkeit wird immer weniger an die Darstellung von etwas Schrecklichemgebunden sein, sie wird nur die Einwirkung der Kräfte auf den Körper oder die Sensation(das Gegenteil des Sensationellen) sein. Im Gegensatz zu einer >miserabilistischen( Malerei,die Organstücke malt, hat Bacon unablässig organlose Körper, das intensive Faktum desKörpers gemalt. Die verwischten oder verstrichenen Partien sind bei Bacon neutralisierteTeile des Organismus, die auf ihren Zustand als Zone oder Ebene zurückgeführt wurden:»das menschliche Gesicht hat sein Antlitz noch nicht gefunden...«

Ein mächtiges nicht-organisches Leben: so definierte Worringer die gotische Kunst, »dienordische gotische Linie«.' Sie steht prinzipiell der organischen Repräsentation der klassi-schen Kunst gegenüber. Die klassische Kunst mag figurativ sein in dem Maße, wie sie aufetwas Dargestelltes verweist, aber sie kann abstrakt sein, wenn sie eine geometrische Formder Darstellung, der Repräsentation herausarbeitet. Ganz anders ist die pikturale gotischeLinie, ihre Geometrie und ihre Figur beschaffen. Diese Linie ist zunächst dekorativ, an derOberfläche, sie ist aber eine materielle Dekoration, die keinerlei Form zeichnet, sie ist eineGeometrie, die nicht mehr im Dienst des Wesentlichen und Ewigen steht, eine Geometrie,die auf »Probleme« oder »Akzidenzen« verpflichet wird, Ablation, Adjunktion, Projektion,Überschneidung. Sie ist also eine Linie, die fortwährend ihre Richtung ändert, gebrochen,abgeknickt, abgelenkt, auf sich gewendet, eingerollt oder über ihre natürlichen Grenzenhinaus verlängert, ersterbend in einem »ungeordneten Krampf«: Es gibt freie Markierungen,die die Linie fortsetzen oder unterbrechen und unterhalb oder außerhalb der Repräsentationwirken. Also eine Geometrie, eine vital und tief gewordene Dekoration, vorausgesetzt daßsie nicht mehr organisch ist: Sie erhebt die mechanischen Kräfte zur sinnlichen Anschauung,sie verfährt mittels heftiger Bewegung. Und wenn sie auf das Tier trifft, wenn sie das Tiermalt, so nicht mit dem Entwurf einer Form, sondern im Gegenteil dadurch, daß sie mitihrer Klarheit, mit ihrer nicht-organischen Präzision selbst eine Ununterscheidbarkeitszoneder Formen erzwingt. Darum bezeugt sie auch eine hohe Spiritualität, da sie durch einenspirituellen Willen über das Organische hinaus, auf die Suche nach elementaren Kräftengeführt wird. Nur daß diese Spiritualität die des Körpers ist; der Geist ist der Körper selbst,der organlose Körper... (Die erste Figur Bacons wäre die des gotischen Dekorateurs).

Im Leben gibt es viele zweifelhafte Annäherungen an den organlosen Körper (denAlkohol, die Droge, die Schizophrenie, den Sado-Masochismus etc.). Kann man dielebendige Realität dieses Körpers aber in gewissem Sinne »Hysterie« nennen? Eine Welle mitvariabler Amplitude durchströmt den organlosen Körper; je nach den Variationen ihrerAmplitude zeichnet sie Zonen und Ebenen in ihn ein. Im Zusammentreffen der Welle aufeiner bestimmten Ebene mit äußeren Kräften erscheint eine Sensation. Ein Organ wird alsodurch dieses Zusammentreffen determiniert sein, ein provisorisches Organ allerdings, dasnur solange anhält, wie die Welle und die Krafteinwirkung hindurchgehen, und sichverschieben wird, um sich anderswo festzusetzen. »[...] kein Organ bleibt an seinem Platzoder behält seine Funktion... Geschlechtsorgane können sich an jeder beliebigen Stelleentwickeln... Darmausgänge tun sich auf, entleeren sich und wachsen wieder zu... der ganzeOrganismus ändert in Sekundenbruchteilen Farbe und Konsistenz und kommt nie zurRuhe...«2 Tatsächlich fehlen dem organlosen Körper keine Organe, es fehlt ihm bloß einOrganismus, d. h. jene Organisation der Organe. Der organlose Körper definiert sich alsodurch ein unbestimmtes Organ, während sich der Organismus durch bestimmte Organe

1 Wilhelm Worringer, Formprobleme der Gotik, München 1927, S. 27-54.2 Burroughs, a. a. 0., S. 299.

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DELEUZE: FRANCIS BACON - LOGIK DER SENSATION

definiert: »Wozu eigentlich einen Mund und einen Darmausgang, die ständig Funktions-störungen entwickeln? Warum nicht ein Allzweckloch, das die Nahrung aufnehmen undausscheiden kann? Wir könnten Nase und Mund dichtmachen, den Magen auffüllen undein Luftloch direkt in die Lunge machen, wo es sowieso von Anfang an hingehört hätte...« 1

Wie aber kann man behaupten, es handele sich um eine vielfach verwendbare Schleimhautoder ein unbestimmtes Organ? Gibt es nicht einen Mund und einen Anus, die ganz deutlichvoneinander unterschieden sind und einen Weg oder einen Zeitraum abverlangen, um vomeinen zum anderen zu gelangen ? Gibt es nicht selbst im Fleisch einen ganz deutlichunterschiedenen Mund, den man an seinen Zähnen erkennt und der sich nicht mit anderenOrganen verwechseln läßt? Folgendes muß begriffen werden: Die Welle durchströmt denKörper; auf dieser oder jener Ebene wird sich ein Organ bestimmen, je nach angetroffenerKraft; und dieses Organ wird sich verändern, wenn sich die Kraft selbst ändert oder wennman auf eine andere Ebene gelangt. Kurz, der organlose Körper definiert sich nicht durchdie Abwesenheit von Organen, er definiert sich nicht nur durch die Existenz eines unbe-stimmten Organs, er definiert sich schließlich durch die vorübergehende und provisorischeGegenwart bestimmter Organe. Es ist dies eine Art und Weise, die Zeit ins Gemäldeeinzuführen; und es gibt bei Bacon eine große Kraft der Zeit, die Zeit ist gemalt. DieVariation von Textur und Farbe auf einem Körper, auf einem Kopf oder einem Rücken (wie

47 in den Three studies of the male back) ist wahrhaftig eine zeitliche Variation, die auf eineZehntelsekunde eingestellt ist. Daher die chromatische Behandlung des Körpers, die sichstark von der der Farbflächen unterscheidet: Es wird eine Chronochromatik des Körpers imGegensatz zur Monochromatik der Farbfläche geben. Die Zeit in die Figur bringen — diesist die Kraft des Körpers bei Bacon: der breite Männerrücken als Variation.

Man sieht demnach, worin jede Sensation eine Differenz der Ebene (der Ordnung, desBereichs) impliziert und von einer Ebene zur anderen übergeht. Selbst die phänomenologi-sche Einheit wurde dem nicht gerecht. Anders aber der organlose Körper, wenn man dievollständige Reihe beobachtet: organlos — mit einem mehrwertigen unbestimmten Organ —mit vorübergehenden und vorläufigen Organen. Was auf einer bestimmten Ebene Mundist, wird auf einer anderen Anus, oder auf derselben Ebene unter Einwirkung anderer Kräfte.Nun ist diese vollständige Reihe die hysterische Realität des Körpers. Wenn man sich aufdas »Schaubild« der Hysterie bezieht, wie es sich im 19. Jahrhundert in der Psychiatrie undanderswo ausbildet, so findet man eine gewisse Anzahl von Merkmalen, die Bacons Körperunablässig mit Leben erfüllen. Und zunächst die berühmten Kontrakturen und Paralysen,die Hyperästhesien oder Anästhesien, die assoziiert sind oder einander abwechseln, baldunveränderlich, bald wandernd sind, je nach dem Vorbeiziehen der Nervenbewegung, jenach den Zonen, die sie besetzt oder von denen sie sich zurückzieht. Sodann die Phänomenevon Präzipitation und Vorwegnahme und demgegenüber die Phänomene von Verspätung(Hysteresis), von Nachträglichkeit, je nach den Oszillationen der vorauslaufenden oderverspäteten Welle. Dann der transitorische Charakter der Organbestimmung, je nach deneinwirkenden Kräften. Dann noch die unmittelbare Wirkung dieser Kräfte auf das Nerven-system, als ob der Hysteriker ein Schlafwandler im Wachzustand, ein »Wachwandler« wäre.Schließlich ein ganz spezielles Gefühl vom Innern des Körpers, weil eben der Körperunterhalb des Organismus gefühlt wird, weil transitorische Organe eben unterhalb derOrganisation der feststehenden Organe gefühlt werden. Und mehr noch, dieser organloseKörper und diese transitorischen Organe werden selbst gesehen werden, und zwar inPhänomenen innerer oder äußerer »Autoskopie«: Das ist nicht mehr mein Kopf, aber ich

1 Ebd., S. 430.

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VII. DIE HYSTERIE

fühle mich in einem Kopf, ich sehe und ich sehe mich in einem Kopf; oder ich sehe michnicht im Spiegel, aber ich fühle mich im Körper, den ich sehe, und ich sehe mich in jenemnackten Körper, wenn ich angezogen bin etc.' Gibt es irgendeine Psychose, die nicht dieseshysterische Aufrechtstehen enthält? »Eine unverständliche und ganz aufrechte Haltunginmitten des Ganzen im Geist.« 2

Das gemeinsame Bild der Personen Becketts und der Figuren Bacons — dasselbe Irland:das Rund, das Isolierende, der Verwaiser; die Reihe von Kontrakturen und Paralysen imRund; der kleine Spaziergang des Wachwandlers; die Gegenwart des Zeugen, der noch fühlt,sieht und spricht; die Art und Weise, wie der Körper entweicht, d. h. dem Organismusentkommt... Er entkommt durch den wie ein 0 geöffneten Mund, durch den Anus oderden Bauch oder die Kehle oder durch das Rund des Waschbeckens oder durch die Spitze desRegenschirms.' Gegenwart eines organlosen Körpers unter dem Organismus, Gegenwartvon transitorischen Organen unter der organischen Repräsentation. Als angezogene siehtsich Bacons Figur nackt im Spiegel oder auf der Leinwand. Die Kontrakturen und Hyper-ästhesien werden oft mit verwischten, verschmierten Zonen markiert, die Anästhesien, 69Paralysen mit fehlenden Zonen (wie in einem sehr detaillierten Triptychon von 1972). Und 70, 73vor allem werden wir sehen, daß sich die ganze »Manier« Bacons in einem Vorweg und einemNachträglich abspielt: was passiert, bevor das Gemälde begonnen wird, aber auch wasnachträglich passiert, eine Hysteresis, die jedes Mal die Arbeit abbrechen, den figurativenAblauf unterbrechen und ihn im nachhinein dennoch aufnehmen wird...

Gegenwart, Gegenwart, das ist das erste Wort, das einem vor einem Gemälde Bacons inden Sinn kommt.' Ist diese Gegenwart möglicherweise hysterisch? Der Hysteriker istderjenige, der seine Gegenwart aufzwingt, für den zugleich aber auch die Dinge und Wesengegenwärtig, allzu gegenwärtig sind und der jedem Ding und jedem Wesen diesen Exzeß anGegenwart überträgt. Es gibt also kaum einen Unterschied zwischen dem Hysteriker, demHysterisierten, dem Hysterisierenden. Mit Humor kann Bacon sagen, daß das hysterischeGrinsen, das er auf das Portrait von 1953, auf den Menschenkopf von 1953, auf den Papstvon 1955 malt, vom »Modell« stammt, das »ziemlich nervös, fast hysterisch« war. Das ganzeGemälde ist aber hysterisiert. 5 Und Bacon selbst hysterisierend, wenn er sich in einerVorwegnahme ganz und gar dem Bild überläßt, seinen ganzen Kopf dem Photomatonüberläßt oder eher sich selbst in einem Kopf sieht, der zum Apparat gehört, der in denApparat geraten ist. Und was ist das hysterische Grinsen, wo ist die Abscheulichkeit, dieNiedertracht dieses Grinsens? Die Gegenwart oder das Beharren. Endlose Gegenwart.Beharrlichkeit des Lächeln jenseits des Gesichts und unter dem Gesicht. Beharrlichkeit eines

1 Man kann sich auf ein beliebiges Handbuch des 19. Jahrhunderts über die Hysterie beziehen. Aber vor allem aufeine Studie Paul Solliers, Les phi.nomi.nes d'autoscopie, Paris 1903 (die den Begriff des vigilambule, »Wachwandlers«prägt).

2 Artaud, Die Nervenwaage. Fragmente eines Höllentagebuchs, in: Frühe Schriften, hg. v. B. Mattheus, München 1983,S. 92.

3 Ludovic Janvier hatte in seinem Beckett par lui-mime (Paris 1979) den Einfall, ein Lexikon der wichtigsten Aus-drücke Becketts zu erstellen. Es sind dies operative Begriffe. Man sei insbesondere auf die Artikel »Corps« [Körper],»Espace-Temps« [Zeit-Raum], »Immobilit6 [Unbeweglichkeit], »T6moin« [Zeuge], »Tete« [Kopf], »Voix« [Stim-me] verwiesen. Jeder dieser Artikel erzwingt einen Vergleich mit Bacon. Allerdings stehen sich Beckett und Baconzu nahe, um sich zu kennen. Man sei aber auf Becketts Text über die Malerei Van Veldes verwiesen (Samuel Beckettu. a. [Hgg.], Bram van Velde. Eine Retrospektive, Wabern 1989). Vieles darin würde mit Bacon zusammenpassen:Es geht hier insbesondere um die Abwesenheit von — figurativen und narrativen — Bezügen als einer Grenze derMalerei.

4 Michel Leiris hat diesem Wirken der »Gegenwart« bei Bacon einen schönen Text gewidmet. Vgl. »Ce que m'ontdit les peintures de Francis Bacon«, in: Au verso des images, Paris 1980.

5 G 49.

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Schreis, der den Mund überdauert, Beharrlichkeit eines Körpers, der den Organismusüberdauert, Beharrlichkeit der transitorischen Organe, die die qualifizierten Organe über-dauern. Und die Identität eines Schon-hier und eines Stets-zu-spät in der exzessivenGegenwart. Überall wirkt eine Gegenwart unmittelbar auf das Nervensystem und macht dieInstallierung oder Distanzierung einer Repräsentation unmöglich. Eben das meinte auchSartre, als er sich hysterisch nannte und von der Hysterie Flauberts sprach.'

Um welche Hysterie handelt es sich ? Um Bacon selbst oder um den Maler oder um dieMalerei selbst und um die Malerei allgemein? Freilich ist es einigemaßen riskant, ästhetischePathologie zu betreiben (mit dem Vorteil jedoch, daß dies keine Psychoanalyse ist). Undwarum sollte man das speziell von der Malerei behaupten, während man doch so vieleSchriftsteller oder gar Musiker geltend machen kann (Schumann und die Kontraktur desFingers, das Stimmenhören...)? Wir meinen in der Tat, daß es einen besonderen Bezug derMalerei zur Hysterie gibt. Das ist ganz einfach. Die Malerei unternimmt es unmittelbar, diePräsenzen unterhalb der Repräsentation, hinter der Repräsentation freizusetzen. Das Systemder Farben selbst ist ein System unmittelbarer Einwirkung auf das Nervensystem. Dies istkeine Hysterie des Malers, sondern eine Hysterie der Malerei. Mit der Malerei wird dieHysterie zur Kunst. Oder besser: mit dem Maler wird die Hysterie zur Malerei. Wozu derHysteriker so unfähig ist, nämlich ein wenig Kunst zu betreiben, das tut der Maler. Darummuß man auch sagen, daß der Maler nicht hysterisch ist, im Sinne einer Negation in dernegativen Theologie. Die Niedertracht wird Herrlichkeit, der Schrecken des Lebens wirdganz reines und ganz intensives Leben. »Das Leben ist Schrecknis«, sagte Cezanne, in diesemSchrei aber erhoben sich bereits alle Wonnen der Linie und der Farbe. Der zerebralePessimismus ist es, den die Malerei in einen Optimismus der Nerven umwandelt. DieMalerei ist Hysterie oder verwandelt die Hysterie, weil sie die Gegenwart sichtbar macht,unmittelbar. Mit den Farben und Linien besetzt sie das Auge. Aber das Auge wird von ihrnicht wie ein festes Organ behandelt. Mit der Befreiung der Linien und Farben von derRepräsentation befreit sie gleichzeitig das Auge von seiner Zugehörigkeit zum Organismus,sie befreit es von seinem Charakter als festes und qualifiziertes Organ: Das Auge wird virtuellzum mehrwertigen unbestimmten Organ, das den organlosen Körper, d. h. die Figur, alsreine Gegenwart sieht. Die Malerei setzt uns überall Augen ein: ins Ohr, in den Bauch, indie Lungen (das Gemälde atmet...). Das ist die doppelte Definition der Malerei: Subjektivbesetzt sie unser Auge, das nicht länger organisch ist, um zu einem mehrwertigen undtransitorischen Organ zu werden; objektiv errichtet sie vor uns die Realität eines Körpers,Linien und Farben, die von der organischen Repräsentation befreit sind. Und das einegeschieht durch das andere: Die reine Präsenz des Körpers wird sichtbar werden, währenddas Auge gleichzeitig das für diese Gegenwart bestimmte Organ sein wird.

Um diese grundlegende Hysterie zu bannen, hat die Malerei zwei Mittel: entweder diefigurativen Koordinaten der organischen Repräsentation zu bewahren, auch wenn mit ihnenganz subtil gespielt wird, auch wenn unter oder zwischen diesen Koordinaten die befreitenGegenwarten und die desorganisierten Körper durchgelassen werden. Das ist der Weg dersogenannten klassischen Kunst. Oder sich der abstrakten Form zuzuwenden und einespezifisch pikturale Form zu erfinden (die Malerei in diesem Sinne zu »erwecken«). Von allenKlassikern war Veläsquez zweifellos der klügste, von einer immensen Klugheit: Seineaußerordentlichen Kühnheiten brachte er damit durch, daß er entschieden an den Koordi-

1 Sartresche Themen wie der Exzeß von Existenz (die Baumwurzel im Ekel) oder die Flucht des Körpers oder derWelt (wie durch eine »Abflußloch« in Das Sein und das Nichts, Hamburg 1980) gehören zu einem Schaubild derHysterie.

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VII. DIE HYSTERIE

naten festhielt, daß er seine Rolle als Dokumentarist ganz und gar akzeptierte...' Was machtBacon im Verhältnis zu Veläsquez, als Meister verstanden ? Warum erklärt er seinen Zweifelund seine Unzufriedenheit, wenn er an seine Wiederaufnahme des Portraits von InnozenzX. denkt? In gewisser Weise hat Bacon alle Elemente von Veläsquez hysterisiert. Man brauchtnicht nur die beiden Innozenz X. zu vergleichen, den von Veläsquez und den von Bacon,der ihn in einen schreienden Papst verwandelt. Man muß den Innozenz X. von Veläsquezmit der Gesamtheit von Bacons Gemälden vergleichen. Bei Veläsquez zeichnet der Sesselbereits das Gefängnis des Parallelflachs vor; der schwere Vorhang dahinter drängt sich bereitsnach vorne, und die Manteletta hat das Aussehen von Fleischstücken; ein unlesbares unddennoch deutliches Pergament ist in der Hand, und das aufmerksame feste Auge des Papstessieht bereits ein Unsichtbares sich erheben. Aber all das ist auf befremdliche Weise enthalten,es wird erst geschehen und hat noch nicht die unabweisbare, unvermeidbare Gegenwart derZeitungen bei Bacon, der nahezu tierhaften Sessel, des Vorhangs davor, des rohen Fleischesund des schreienden Mundes angenommen. Mußte man diese Gegenwarten entfesseln, fragtBacon? War es nicht besser, unendlich viel besser bei Veläsquez? Mußte jener Bezug derMalerei zur Hysterie an den hellichten Tag geholt werden, indem man zugleich denfigurativen wie den abstrakten Weg zurückwies? Fragt sich Bacon, während unser Auge vonden beiden Innozenz X. entzückt ist.'

Warum aber wäre dies schließlich kennzeichnend für die Malerei? Kann man von einemhysterischen Wesen der Malerei sprechen, und zwar im Namen einer rein ästhetischenPathologie und unabhängig von jeglicher Psychiatrie, von jeglicher Psychoanalyse? Warumsollte nicht auch die Musik reine Präsenzen freisetzen, freilich in Bezug auf ein Ohr, das zummehrwertigen Organ für Klangkörper wurde? Und warum nicht die Dichtung oder dasTheater, etwa von Artaud oder Beckett? Das Problem ist nicht so schwierig, wie man meint,nämlich das des Wesens jeder Kunst und womöglich ihres pathologischen Wesens. Gewißdurchströmt die Musik unseren Körper bis ins Innerste und setzt uns ein Ohr in den Bauch,in die Lungen... Sie versteht sich auf Welle und Nervosität. Nun zieht sie aber gerade unserenKörper — und die Körper — in ein anderes Element hinein. Sie entledigt die Körper ihrerTrägheit, der Materialität ihrer Gegenwart. Sie entkörpert die Körper. So daß man korrektvon Klangkörper und selbst von einem Ineinander der Körper in der Musik — etwa in einemMotiv — sprechen kann; aber es ist, wie Proust sagte, ein immaterielles und entkörpertesIneinander, in dem »auch nicht der kleinste Rest von undurchlebtem und dem Geiste nichtanverwandeltem Stoff« übrigbleibt.' In gewisser Weise beginnt die Musik dort wo dieMalerei aufhört, und gerade das meint man, wenn man von einer Überlegenheit der Musikspricht. Sie installiert sich auf Fluchtlinien, die den Körper durchqueren, aber ihre Konsi-stenz anderswo finden. Während sich die Malerei oberhalb einrichtet, dort wo der Körperentweicht, aber im Entweichen die Materialität offenbart, die ihn zusammensetzt, die reinePräsenz, aus der er gemacht ist und die er anders nicht offenbaren würde. Kurz, gerade dieMalerei entdeckt die materielle Realität des Körpers, mit ihrem System Linien/Farben undihrem mehrwertigen Organ, dem Auge. » Unser unersättliches und brünstiges Auge«, sagteGauguin. Das Abenteuer der Malerei liegt darin, daß es nur das Auge ist, das die materielleExistenz, die materielle Gegenwart auf sich nehmen konnte: selbst die eines Apfels. Wenndie Musik ihr Klangsystem und ihr mehrwertiges Organ, das Ohr, errichtet, so wendet sie

1 G 29.2 G 35-36.3 Marcel Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurt/M. 2 1979, Bd. 4 (Die Welt der Guermantes), S.

1308.

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sich an etwas ganz anderes als die materielle Realität des Körpers und verleiht den spiritu-ellsten Entitäten einen entkörperten, entmaterialisierten Körper: »Die Paukenschläge desRequiems sind geflügelt, majestätisch, göttlich und können unseren überraschten Ohrennur die Ankunft eines Wesens verkünden, das — um Stendhals eigene Worte aufzugreifen —mit Sicherheit Verbindungen zu einer anderen Welt besitzt.«' Darum ist das pathologischeWesen der Musik nicht die Hysterie, sie setzt sich eher einer galoppierenden Schizophrenieaus. Um die Musik zu hysterisieren, müßte man Farben in sie einführen und ein rudimen-täres oder raffiniertes Koorespondenzsystem zwischen den Klängen und den Farben durch-laufen.

1 Marcel Mord , Le dieu Mozart et le monde des oiseaux, Paris 1971, S. 47.

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VIII

DIE KRÄFTE MALEN

an einem anderen Standpunkt aus verliert die Frage nach der Scheidung der Künste,ihrer jeweiligen Autonomie, ihrer möglichen Hierarchie jegliche Bedeutung. Denn es

gibt eine Gemeinschaft der Künste, ein gemeinsames Problem. In der Kunst und in derMalerei wie in der Musik geht es nicht um Reproduktion oder Erfindung von Formen,sondern um das Einfangen von Kräften. Eben dadurch ist keine Kunst figurativ. Kleesberühmte Formulierung »Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar«'bedeutet nichts anderes. Die Aufgabe der Malerei ist als Versuch definiert, Kräfte sichtbarzu machen, die nicht sichtbar sind. Ebenso bemüht sich die Musik darum, Kräfte hörbar zumachen, die nicht hörbar sind. Das ist eine Selbstverständlichkeit. Die Kraft steht in einemengen Bezug zur Sensation: Eine Kraft muß sich auf einen Körper richten, d. h. auf einenbestimmten Ort der Wellenbewegung, damit es eine Sensation gibt. Wenn aber die Kraftdie Bedingung der Sensation ist, so wird dennoch nicht sie selbst empfunden, da dieSensation etwas ganz anderes »gibt«, und zwar ausgehend von Kräften, die sie bedingen. Wiewird sich die Sensation hinreichend auf sich selbst zurückwenden können, sich entspannenoder kontrahieren können, um in dem, was sie uns gibt, die nicht-gegebenen Kräfteeinzufangen, um die nicht-spürbaren Kräfte spürbar zu machen und bis zu ihren eigenenBedingungen vorzudringen? Auf diese Weise muß die Musik die unhörbaren Kräfte hörbarund die Malerei die unsichtbaren Kräfte sichtbar machen. Manchmal sind es dieselben: dieZeit, die unhörbar und unsichtbar ist — wie läßt sich die Zeit malen oder hörbar machen?Und elementare Kräfte wie der Druck, die Trägheit, das Gewicht, die Anziehungskraft, dieGravitation, die Keimung? Manchmal dagegen scheint die unspürbare Kraft einer Kunsteher zu den »Gegebenheiten« einer anderen Kunst zu gehören: wie etwa lassen sich der Klangoder gar der Schrei malen? (Und umgekehrt Farben hörbar machen?)

Die Maler sind sich dieses Problems sehr bewußt. Schon als allzu fromme Kritiker Milletvorwarfen, daß er Bauern gemalt habe, die ein Offertorium wie einen Sack Kartoffeln trugen,antwortete nämlich Millet, daß das gleiche Gewicht der beiden Objekte wesentlicher wäreals ihre figurative Verschiedenheit. Er als Maler bemühte sich, die Schwerkraft zu malen undnicht das Offertorium oder den Sack Kartoffeln. Und liegt das Genie Cezannes nicht darin,daß er alle Mittel der Malerei dieser Aufgabe untergeordnet hat: die Faltungskraft desGebirges, die Keimkraft des Apfels, die thermische Kraft einer Landschaft etc. sichtbar zumachen? Und Van Gogh, Van Gogh hat sogar unbekannte Kräfte erfunden, die unerhörte

1 Paul Klee, »Schöpferische Konfessionen«, in: Form- und Gestaltlehre, hg. v. J. Spiller, Basel 1971, Bd. 1, S. 76.

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Kraft eines Sonnenblumenkerns. Indessen ist das Problem des Einfangens von Kräften beieiner großen Anzahl von Malern — so bewußt sie dessen sein mögen — mit einem anderen,ebenso wichtigen, aber weniger reinen Problem vermengt. Dieses Problem betrifft dieDekomposition und Rekomposition der Wirkungen: etwa die Dekomposition und Rekompo-sition der Tiefe in der Malerei der Renaissance, die Dekomposition und Rekomposition derFarben im Impressionismus, die Dekomposition und Rekomposition der Bewegung imKubismus. Man bemerkt, wie man von einem Problem zum anderen kommt, da dieBewegung etwa eine Wirkung ist, die auf eine einzige Kraft verweist, durch die siehervorgerufen wird, und zugleich auf eine Vielheit von Elementen, die unter dieser Kraftdekomponierbar und rekomponierbar sind.

Es scheint, daß die Figuren Bacons in der Geschichte der Malerei eine der großartigstenAnworten auf die Frage sind: Wie lassen sich unsichtbare Kräfte sichtbar machen? Dies istsogar die wesentliche Funktion der Figuren. In dieser Hinsicht wird man bemerken, daßBacon gegenüber den Problemen der Wirkungen relativ indifferent bleibt. Nicht daß er siegeringschätzt, aber er mag denken, daß sie im Verlauf einer ganzen Geschichte — derGeschichte der Malerei — hinreichend durch die von ihm bewunderten Maler gemeistertwurden: insbesondere das Problem der Bewegung, der »Wiedergabe« der Bewegung.' Wenndem aber so ist, so liegt darin ein Grund, noch direkter dieses Problem anzugehen, nämlichKräfte sichtbar »wiederzugeben«, die nicht sichtbar sind. Und dies trifft auf alle Reihen von

71, 72 Köpfen bei Bacon und auf die Reihen von Selbstportraits zu; gerade deswegen macht er74, 75 derartige Serien: Die außerordentliche Unruhe dieser Köpfe kommt nicht von einer Bewe-

gung, die durch die Reihe zusammengesetzt werden sollte, sondern eher von Kräften desDrucks, der Ausdehnung, der Kontraktion, der Abplattung, der Streckung, die auf denunbeweglichen Kopf einwirken. Wie Kräfte, denen ein Weltraumreisender im Kosmostrotzt, wenn er reglos in seiner Kapsel sitzt. Als ob die unsichtaren Kräfte aus den verschie-densten Winkeln auf den Kopf einschlügen. Und an dieser Stelle nehmen die verwischten,verstrichenen Partien des Gesichts einen neuen Sinn an, weil sie eben die Zone markieren,an der die Kraft gerade auftrifft. In diesem Sinne liegen Bacons Probleme tatsächlich in derDeformation und nicht in der Transformation. Dies sind zwei ganz verschiedene Kategorien.Die Transformation der Form kann abstrakt oder dynamisch sein. Die Deformation aberbetrifft stets den Körper und ist statisch, sie entsteht an Ort und Stelle; sie ordnet dieBewegung der Kraft unter, aber auch das Abstrakte der Figur. Wenn eine Kraft auf eineverwischte Partie einwirkt, so läßt sie keine abstrakte Form entstehen, und ebensowenigvollzieht sie eine dynamische Kombination sinnlicher Formen: Im Gegenteil, sie macht ausdiesem Bereich eine Ununterscheidbarkeitszone, die mehreren Formen gemeinsam ist, aufkeine davon reduzierbar, und die Kraftlinien, die sie übermittelt, entkommen jeder Formgerade durch ihre Klarheit, durch ihre deformierende Präzision (wie man das im Tier-Wer-den der Figuren sah). Cezanne ist vielleicht der erste, der Deformationen ohne Transforma-tion gemacht hat, indem er die Wahrheit über die Körper gänzlich umdrehte. Auch darinist Bacon Cezanne verwandt: Bei Bacon wie bei Cezanne erhält man die Deformation überdie ruhende Form; und gleichzeitig gerät die ganze materielle Umgebung, die Struktur umso mehr in Bewegung, »die Mauern zucken und verrutschen, Stühle kippen oder bäumen

1 Vgl. John Russell, a. a. 0., S. 123: Duchamp »betrachtete die Fortbewegung als ein bildnerisches Thema undinteressierte sich für die Art und Weise, in der sich ein menschlicher Körper beim Herabsteigen einer Treppe alseine kohärente Struktur konstituiert, selbst wenn sich diese Struktur niemals in einem bestimmten Augenblickoffenbart. Bacons Absicht liegt nicht im Aufzeigen sukzessiver Erscheinungen, sondern in der Überlagerung dieserErscheinungen in Formen, denen man im Leben nicht begegnet. Es gibt in den Three studies of Henri etta Mordeskeine horizontale Bewegung von rechts nach links oder von links nach rechts...«

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VIII. DIE KRÄFTE MALEN

sich ein wenig auf, Kleider kräuseln sich wie brennendes Papier«. 1 Alles steht nun in Bezugzu Kräften, alles ist Kraft. Dies ist es, was die Deformation als Malakt konstituiert: Sie läßtsich weder auf eine Transformation der Form noch auf eine Dekomposition der Elementezurückführen. Und die Deformationen Bacons sind selten erzwungen oder forciert, sie sindkeine Foltern, was immer man sagen mag: Im Gegenteil, sie sind die natürlichsten Haltungeneines Körpers, der sich je nach der bloßen Kraft, die auf ihn einwirkt, umordnet — Lust zuschlafen, sich zu erbrechen, sich umzudrehen, möglichst lange im Sitzen auszuhalten etc.

Man muß den speziellen Fall des Schreis betrachten. Warum kann Bacon im Schrei einender höchsten Gegenstände der Malerei sehen? »Den Schrei malen...« Es geht nicht darum,einem besonders intensiven Klang Farben zu verleihen. Die Musik steht ihrerseits vorderselben Aufgabe, die sicher nicht darin liegt, den Schrei harmonisch zu machen, sondernden Schrei hörbar zu machen im Verhältnis zu den Kräften, die ihn hervorrufen. Ebensowird die Malerei den sichtbaren Schrei — den Mund, der schreit — in Bezug zu seinen Kräftensetzen. Nun lassen sich aber die Kräfte, die den Schrei ausmachen und den Körperverkrampfen, um bis zum Mund als verwischter Zone zu gelangen, keineswegs mit demsichtbaren Schauspiel verwechseln, angesichts dessen man schreit, und ebensowenig mit denzuschreibbaren Sinnesobjekten, deren Einwirkung unseren Schmerz dekomponiert undrekomponiert. Wenn man schreit, so stets heimgesucht von unsichtbaren und unspürbarenKräften, die jedes Schauspiel stören und sogar den Schmerz und die Sensation übersteigen.Was Bacon ausdrückt, wenn er sagt: »eher den Schrei als den Schrecken malen«. Wenn manes in einem Dilemma ausdrücken könnte, so würde man sagen: Entweder male ich denSchrecken, und ich male nicht den Schrei, da ich das Schreckliche figürlich darstelle; oderich male den Schrei, und ich male nicht den sichtbaren Schrecken, ich werde den sichtbarenSchrecken immer weniger malen, da der Schrei gleichsam das Einfangen oder Aufspüreneiner unsichtbaren Kraft ist.' Berg vermochte die Musik des Schreis zu machen, im SchreiMaries, dann im ganz anderen Schrei Lulus; stets aber geschah dies dadurch, daß dieKlangfülle des Schreis auf unhörbare Kräfte bezogen wurde, auf die Kräfte der Erde imhorizontalen Schrei Maries, auf die Kräfte des Himmels im vertikalen Schrei Lulus. Bacongelingt das Malen des Schreis, weil er die Sichtbarkeit des Schreis — den wie einen düsterenSchlund geöffneten Mund — auf unsichtbare Kräfte bezieht, die nur noch die der Zukunftsind. Kafka war es, der davon sprach, die bösen Mächte der Zukunft aufzuspüren, die dieEingänge betasten.' Jeder Schrei enthält sie potentiell. Innozenz X. schreit, aber er schreiteben hinter dem Vorhang, nicht nur wie jemand, der nicht mehr gesehen werden kann,sondern wie einer, der nicht sieht, der nichts mehr zu sehen hat, der nur noch die Funktionhat, jene Kräfte des Unsichtbaren sichtbar zu machen, die ihn schreien machen, jene Mächteder Zukunft. Man drückt dies in der Formulierung »schreien um...« aus. Weder angesichts...,noch wegen... des Todes schreien, sondern um sein Leben etc. schreien, um jene Verkopplungvon Kräften nahezulegen, der spürbaren Kraft des Schreis und der nicht-spürbaren Kraftdessen, was schreien macht.

Dies ist sehr seltsam, aber es ist ein Punkt ungewöhnlicher Vitalität. Wenn Bacon zweiGewalten unterscheidet, die des Schauspiels und die der Sensation, und sagt, daß man aufdie eine zugunsten der anderen verzichten müsse, so ist dies eine Art Glaubenserklärung andas Leben. Die Gespräche enthalten viele Erklärungen dieser Art: Zerebraler Pessimist, sagt

1 D. H. Lawrence, »Introduction to these paintings«, a. a. 0., S. 580.2 Vgl. Bacons Erklärungen über den Schrei, G 35 und 49-52 (freilich bedauert Baccon in diesem letzten Text, daß

seine Schreie noch allzu abstrakt bleiben, weil er glaubt, verfehlt zu haben, »was einen zum Schreien bringt«. Aberes handelt sich dann um Kräfte, nicht ums Schauspiel).

3 Franz Kafka, zit. nach Klaus Wagenbach, Franz Kafka. Eine Biographie seiner Jugend, Bern 1958, S. 169

54, 55

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DELEUZE: FRANCIS BACON - LOGIK DER SENSATION

Bacon von sich selbst, das heißt, er sieht kaum anderes zu malen als Schrecken, die Schreckender Welt. Optimist der Nerven aber, weil die sichtbare Figuration in der Malerei sekundärist und weil sie immer weniger Bedeutung haben wird: Bacon wird sich den Vorwurf machen,allzusehr den Schrecken zu malen, als ob er hinreichen würde, uns vom Figurativenwegzubringen; er bewegt sich mehr und mehr auf eine Figur ohne Schrecken zu. Worin aberist die Tatsache, daß man »eher den Schrei als den Schrecken«, eher die Gewalt der Sensationals die des Schauspiels wählt, ein vitaler Glaubensakt? Sind die unsichtbaren Kräfte, dieMächte der Zukunft nicht bereits da und sehr viel unüberwindlicher als das schlimmsteSchauspiel und gar der schlimmste Schmerz? Ja, in gewisser Weise, wie alles Fleisch bezeugt.In anderer Weise aber nein. Wenn der sichtbare Körper einem Kämpfer gleich den Mächtendes Unsichtbaren trotzt, so gibt er ihnen keine andere Sichtbarkeit als die seinige. Und inebendieser Sichtbarkeit kämpft der Körper aktiv, bejaht er eine Möglichkeit des Triumphes,die er nicht hatte, solange sie im Innern des Schauspiels unsichtbar blieben, das uns unsereKräfte raubte und uns ablenkte. Als ob nun ein Kampf möglich geworden wäre. Der Kampfmit dem Schatten ist der einzig reale Kampf. Wenn die visuelle Sensation der unsichtbarenKraft trotzt, die sie bedingt, dann setzt sie eine Kraft frei, die diese zu besiegen oder zumFreund zu gewinnen vermag. Das Leben schreit um sein Leben, aber gerade der Tod ist nichtmehr jenes Allzu-Sichtbare, das uns ohnmächtig macht, er ist jene unsichtbare Kraft, die imSchrei vom Leben aufgespürt, aufgescheucht und sichtbar gemacht wird. Der Tod wird vomStandpunkt des Lebens aus beurteilt und nicht umgekehrt, wie wir es gerne hätten.' Baconebenso wie Beckett gehören zu jenen Autoren, die im Namen eines höchst intensiven Lebens,für ein noch intensiveres Leben zu sprechen vermögen. Wer an den Tod »glaubt«, ist keinMaler. Ein figurativer >Miserabilismus< geradezu, aber im Dienste einer Figur des erstarken-den Lebens. Man muß Bacon ebenso wie Beckett oder Kafka folgende Ehre erweisen: Siehaben unbändige Figuren entworfen, unbändig in ihrem Beharren, in ihrer Gegenwart, undzwar genau in dem Augenblick, in dem sie das Schreckliche, die Verstümmelung, dieProthese, den Sturz oder das Versagen »repräsentierten«. Sie haben dem Leben eine neueMacht gegeben, die Macht, höchst unmittelbar zu lachen.

Da die sichtbaren Bewegungen der Figuren den unsichtbaren Kräften, die auf sieeinwirken, untergeordnet sind, kann man von den Bewegungen zu den Kräften zurückgehenund die empirische Liste derjenigen erstellen, die Bacon aufspürt und einfängt. Denn obwohlsich Bacon mit einem »Zerstäuber«, einem »Zerhacker« vergleicht, handelt er eher wie einDetektor. Die ersten unsichtbaren Kräfte sind die der Isolation; ihre Träger sind dieFarbflächen, und sie werden sichtbar, wenn sie sich um die Kontur einrollen und die Flächeum die Figur zusammenrollen. Die zweiten sind die Deformationskräfte, die sich des Körpersund des Kopfes der Figur bemächtigen und immer dann sichtbar werden, wenn der Kopfsein Gesicht oder der Körper seinen Organismus abschüttelt. (Bacon vermochte etwa die

77, 53 Abplattungskraft im Schlaf intensiv »wiederzugeben«). Die dritten sind die Auflösungskräf-te, wenn die Figur verblaßt und sich mit der Farbfläche vereinigt: Es ist dann ein seltsamesLächeln, das diese Kräfte sichtbar macht. Es gibt aber noch viele andere Kräfte. Und wasläßt sich zunächst von jener unsichtbaren Paarungskraft sagen, die zwei Körper mit eineraußergewöhnlichen Energie ergreift, von diesen aber sichtbar gemacht wird, indem sie ausihr eine Art Vieleck oder Diagramm freisetzen? Und noch darüber hinaus, welche ist die

1 G 80-81. ',Weil einen das Leben erregt, muß das Gegenteil, der Tod, wie ein Schatten von ihm, einen auch erregen.Vielleicht nicht erregen, aber man ist sich seiner in der gleichen Weise bewußt, wie man das Leben spürt [...] . Imtiefsten Grund ist man seiner Natur nach völlig ohne Hoffnung, und doch besteht das Nervensystem aus optimi-stischem Zeug.« (Und dazu, was Bacon seine »Gier« nach Leben nennt, seine Weigerung, aus dem Spiel eine Wetteauf den Tod zu machen, vgl. G 124-127).

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VIII. DIE KRÄFTE MALEN

mysteriöse Kraft, die nur durch die Triptychen eingefangen oder aufgespürt werden kann?Vereinigungskraft des Ganzen, die dem Licht zukommt, zugleich aber auch Separationskraftder Figuren und Tafeln, eine lichte Separation, die sich nicht mit der vorangehendenIsolation verwechseln läßt. Ist dies das Leben, die Zeit, spürbar und sichtbar gemacht?Zweifach scheint Bacon die Zeit, die Kraft der Zeit sichtbar gemacht zu haben: die Kraft derverändernden Zeit durch die allotrope Variation der Körper — »in einer Zehntelsekunde« —,die zur Deformation gehört; dann die Kraft der ewigen Zeit, die Ewigkeit der Zeit durchjene Vereinigung/Separation, die in den Triptychen herrscht, reines Licht. Die Zeit an sichselbst spürbar machen als gemeinsame Aufgabe des Malers, des Musikers und manchmal desSchriftstellers. Dies ist eine Aufgabe ganz außerhalb von Maß oder Takt.

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IX

PAARE UND TRIPTYCHEN

Es eignet also der Sensation, daß sie unter Einwirkung von Kräften verschiedene Ebenendurchläuft. Es kommt aber auch vor, daß zwei Sensationen gegeneinanderstehen —

wobei jede eine bestimmte Ebene oder Zone einnimmt — und ihre jeweiligen Ebenenmiteinander verbinden. Wir befinden uns nicht mehr im Gebiet der bloßen Schwingung,sondern in dem der Resonanz. Es gibt dann zwei miteinander verkoppelte Figuren. Oder esist eher die Kopplung der Sensationen bestimmend: Man wird sagen, daß es ein einzigesmatter of fact für zwei Figuren und gar ein einziges Figurenpaar für zwei Körper gibt. VonAnbeginn an haben wir gesehen, daß nach Bacon der Maler nicht darauf verzichten konnte,mehrere Figuren zugleich auf das Gemälde zu setzen, obwohl er damit Gefahr läuft, eine»Geschichte« wiedereinzuführen oder einer narrativen Malerei zu verfallen. Die Frage betrifftalso die Möglichkeit, daß zwischen den simultanen Figuren nicht-illustrative und nicht-nar-rative und nicht einmal logische Beziehungen bestehen, die man eben »matters of fact«nennen könnte. Dies ist hier tatsächlich der Fall, wo die Kopplung der Sensationen aufverschiedenen Ebenen das Figurenpaar ergibt (und nicht umgekehrt). Gemalt wird dieSensation. Die Schönheit dieser verschlungenen Figuren. Sie sind nicht miteinander ver-

76 schmolzen, sondern ununterscheidbar gemacht durch die extreme Präzision der Linien, dieim Verhältnis zu den Körpern eine Art Autonomie erlangen: wie in einem Diagramm, dessenLinien nur Sensationen vereinigen würden.' Es gibt eine gemeinsame Figur der beidenKörper oder ein gemeinsames »Faktum« der beiden Figuren, ohne daß man die geringste

41, 2 Geschichte erzählen könnte. Und Bacon hat nicht aufgehört, Figurenpaare zu malen, in der14, 17 »malerischen« Periode ebenso wie in den Werken der Klarheit: zerquetschte Körper, die in

dieselbe Figur gerückt werden, unter dieselbe Paarungskraft gestellt. Weit davon entfernt,dem Isolationsprinzip zu widersprechen, scheint das Figurenpaar aus isolierten Figuren bloßeSonderfälle zu machen. Denn selbst im Fall eines einzigen Körpers oder einer einfachenSensation bilden die verschiedenen Ebenen, die diese Sensation notwendig durchläuft,bereits Sensationskopplungen. Die Schwingung erhält bereits Resonanz. Der Mann unter

30 dem Regenschirm von 1946 etwa ist eine einfache Figur gemäß dem Verlauf der Sensationenvon oben nach unten (das Fleisch über dem Schirm) und von unten nach oben (der vomSchirm erfaßte Kopf). Er ist aber auch ein Figurenpaar, und zwar gemäß der Umklammerungder Sensationen im Kopf und im Fleisch, von der die schrecklich grinsende Grimasse zeugt.

1 G 104-106: »Ich wollte eine Bildgestalt, die diese Empfindung von zwei Menschen auf einem Bett, in einer Artvon sexuellem Akt, verdichtete[...]. Wenn man die Formen betrachtet, sind sie sozusagen extrem ungegenständlich.»

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IX. PAARE UND TRIPTYCHEN

Im äußersten Fall gibt es bei Bacon nur Figurenpaare (die Lying figure in a mirror von 1971 32mag wohl eine einzige sein, sie gilt aber für zwei, sie ist ein regelrechtes Diagramm vonSensationen). Selbst die einfache Figur ist mit ihrem Tier oft gepaart.

Zu Beginn seines Buches über Bacon beruft sich John Russell auf Proust und die minzoireinvolontaire. 1 Dennoch, so scheint es, gibt es keine besonderen Gemeinsamkeiten zwischenProusts Welt und der Bacons (obwohl sich Bacon oft auf das Unwillkürliche beruft).Nichtsdestoweniger hat man den Eindruck, daß Russell Recht hat. Vielleicht deswegen, weilsich Bacon, wenn er den zweifachen Weg einer figurativen Malerei und einer abstraktenMalerei verwirft, in eine analoge Situation wie Proust in der Literatur begibt. Denn Proustwollte keine abstrakte, allzu »willkürliche« Literatur (Philosophie) und ebenso keine figura-tive — illustrative oder narrative — Literatur, die zum Geschichtenerzählen taugt. Woran ersich hielt, was er zutage befördern wollte, war eine Art Figur, die der Figuration entrissenist, frei von jeder figurativen Funktion: eine Figur an sich, etwa die Figur an sich vonCombray. Er sprach selbst von »Wahrheiten, die mit Hilfe von Figuren geschrieben werden«.Und wenn er sich in vielen Fällen dem unwillkürlichen Gedächtnis anvertraute, so deshalb,weil dieses, im Gegensatz zum willkürlichen Gedächtnis, das sich mit der Illustration oderErzählung der Vergangenheit begnügt, jene reine Figur auftauchen lassen konnte.

Wie verfuhr aber das unwillkürliche Gedächtnis bei Proust? Es koppelte zwei Sensationen,die im Körper auf unterschiedlichen Ebenen existierten und sich wie zwei Ringer umklam-merten — die gegenwärtige und die vergangene Sensation —, um etwas auftauchen zu lassen,das nicht auf beide, auf die vergangene wie auf die gegenwärtige, reduzierbar ist: diese Figur.Und es hatte schließlich nur geringe Bedeutung, daß sich die beiden Sensationen in einegegenwärtige und eine vergangene aufteilen, daß es sich also um einen Fall von Gedächtnishandelt. Es gab Fälle, in denen die Sensationskopplung, die Umklammerung der Sensatio-nen keineswegs an das Gedächtnis appellierten: so das Begehren, noch tiefer aber die Kunst,sei es Elstirs Malerei oder Vinteuils Musik. Was zählte, war die Resonanz zweier Sensationen,wenn sie einander umklammerten. Dieser Art waren die Sensationen von Geige und Klavierin der Sonate. »Es war wie nach der Erschaffung der Welt, als gäbe es noch nichts als diesebeiden auf Erden, oder vielmehr wie in einer für alles andere verschlossenen, aus der Logikeines Schöpfers erbauten, in der nur diese beiden sein würden, der Welt dieser Sonate.« Dasist die Figur der Sonate oder das Auftauchen dieser Sonate als Figur. Ebenso beim Septett,in dem zwei Motive heftig miteinander rivalisieren und jedes davon durch eine Sensationdefiniert wird, das eine als spiritueller »Appell«, das andere als »Schmerz«, »neuralgischerAnfall« im Körper. Wir beschäftigen uns nicht mehr mit dem Unterschied Musik/Malerei.Was zählt, ist die Tatsache, daß zwei Sensationen sich wie »Ringer« paaren und ein»Körper-an-Körper von Energien« bilden, selbst wenn dies ein körperloses Ineinander ist,dem ein unaussprechliches Wesen entsteigt, eine Resonanz, eine Epiphanie, die sich in dergeschlossenen Welt erhebt.' Das Einkerkern von Dingen und Personen beherrschte Proustganz gut: und zwar, wie er sagte, um deren Farben einzufangen (Combray in einer Teetasse,Albertine in einem Zimmer).

In einer seltsamen Passage erklärt der Portraitist Bacon, daß er keine Verstorbenen malenmag, ebensowenig Leute, die er nicht kennt (da sie kein Fleisch und Blut haben); unddiejenigen, die er kennt, mag er ebenfalls nicht unter den Augen haben. Er bevorzugt eingegenwärtiges Photo oder eine frische Erinnerung oder besser die Sensation eines gegenwär-tigen Photos und die einer frischen Erinnerung: Was aus dem Malakt eine Art »Zurückrufen

1 John Russell, a. a. 0., S. 30.2 Proust, a. a. 0., Bd. 1 (In Swanns Welt), S. 464; Bd. 8 (Die Gefangene), S. 3099 (Übersetzung verändert; d. Ü.).

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ins Gedächtnis« macht.' Tatsächlich aber handelt es sich kaum um Gedächtnis (noch wenigerals bei Proust). Was zählt, ist die Verklammerung der beiden Sensationen und die Resonanz,die sie daraus gewinnen. Wie die Ringkämpfer, deren Bewegung Muybridge photographischzerlegte. Nicht daß alle Dinge im Krieg, im Kampf miteinander stünden, wie man es vomStandpunkt eines figurativen Pessimismus aus glauben könnte. Der Kampf oder die Um-klammerung kommen vielmehr durch die Paarung verschiedenartiger Sensationen in zweiKörpern zustande, nicht umgekehrt. So daß der Kampf auch die variable Figur zweier Körperist, die ineinander verschlungen schlafen, oder die die Begierde vereinigt oder die Malereiwiderhallen läßt. Schlaf, Begierde, Kunst: Orte der Umklammerung und der Resonanz, Ortedes Kampfes.

Die Paarung, die Resonanz ist nicht die einzige Entfaltung der komplexen Sensation. Inden Triptychen erscheinen häufig Figurenpaare, insbesondere auf der mittleren Tafel. Unddennoch begreifen wir schnell, daß uns die Sensationskopplung, so wichtig sie sein mag,keinerlei Mittel an die Hand gibt zu erahnen, was ein Triptychon ist, welche seine Funktionist und vor allem welche Bezüge es zwischen seinen drei Teilen gibt. Das Triptychon ist sicherdie Form, in der sich am prägnantesten die folgende Forderung stellt: Es muß einen Bezugzwischen den getrennten Teilen geben, dieser Bezug aber darf weder logisch noch narrativsein. Das Triptychon impliziert keinerlei Progression und erzählt keinerlei Geschichte. Esmuß also seinerseits ein gemeinsames Faktum für die verschiedenen Figuren verkörpern. Esmuß ein »matter of fact« freisetzen. Nur kann die vorangehende Lösung der P aarbildunghier keine Geltung beanspruchen. Denn im Triptychon sind und bleiben die Figurengetrennt. Sie müssen getrennt bleiben und haben keine Resonanz. Es gibt also zwei Artenvon nicht-narrativen Relationen, zwei Arten von »matters of fact« oder gemeinsamen Fakten:die des Figurenpaars und die der als Teile eines Triptychons getrennten Figuren. Wie aberkönnten derartige Figuren ein gemeinsames Faktum haben?

Dieselbe Frage läßt sich außerhalb der Triptychen stellen. Bacon bewundert die Badendenvon Cezanne, weil mehrere Figuren auf der Leinwand vereint und dennoch nicht in eine»Geschichte« gefaßt sind.' Diese Figuren sind getrennt, keineswegs gepaart: Ihre Vereinigungauf demselben Bild muß also ein gemeinsames Faktum anderer Art als die Sensationskopp-

79 lung implizieren. Nehmen wir ein Gemälde wie Man and child von 1963: Die beidenFiguren — des auf seinem Stuhl sitzenden und verrenkten Mannes und des starren undstehenden Mädchens — werden getrennt gehalten durch einen ganzen Bezirk der Farbfläche,die einen Winkel zwischen den beiden bildet. Russell sagt treffend: »Ist dieses Mädchen beiseinem Vater in Ungnade gefallen, der ihm nicht verzeihen wird? Ist sie die Hüterin diesesMannes, jene Frau, die ihm mit verschränkten Armen entgegentritt, während er sich aufseinem Stuhl krümmt und in eine andere Richtung schaut? Ist sie eine seltsame Erscheinung,ein Ungeheuer in Menschengestalt, das wiedergekehrt ist, um ihn heimzusuchen, oder ister eine aufs Podest gehobene Figur, ein Richter, der gleich seinen Urteilsspruch fällen wird?« 3

Und jedes Mal verwirft er die Hypothese, die eine Erzählung in das Gemälde hereinbringenwürde. »Wir werden es niemals wissen und dürften sogar nicht hoffen, es zu wünschen.«Sicher läßt sich sagen, daß das Gemälde die Möglichkeit all dieser Hypothesen oderErzählungen gleichzeitig ist. Aber nur deshalb, weil es selbst außerhalb jeglicher Erzählungsteht. Hier liegt also ein Fall vor, in dem das »matter of fact« keine Sensationskopplung seinkann und der Trennung der Figuren — die doch auf dem Gemälde vereint sind — gerecht

1 G 39-41.2 G 65.3 John Russell, a. a. 0., 121.

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IX. PAARE UND TRIPTYCHEN

werden muß. Das Mädchen scheint eine »Zeugen«-Funktion zu besitzen. Dieser Zeuge abermeint, wie wir gesehen haben, keinen Beobachter oder Zuschauer/Voyeuer (obwohl er diesvom Standpunkt einer gleichwohl fortbestehenden Figuration auch sein mag). In einertieferen Schicht zeigt der Zeuge nur eine Konstante an, ein Maß oder einen Takt, bezüglichdessen man eine Variation ermittelt. Darum ist das Mädchen starr wie ein Pflock und scheintmit seinem Klumpfuß den Takt zu schlagen, während der Mann von einer doppeltenVariation erfaßt wird, als ob er auf einem verstellbaren Stuhl sitzen würde, der ihn hebt undsenkt, von zwei Sensationsebenen erfaßt, die er in beide Richtungen durchläuft. Selbst diePersonen Becketts benötigen Zeugen, um die intimen allotropen Variationen ihrer Körperabzumessen und um in ihren Kopf zu sehen (»Hörst du mir zu? Sieht mich jemand an? Hörtmir jemand zu? Hat jemand die geringste Sorge um mich?«). Und bei Bacon wie bei Beckettkann sich der Zeuge auf das Rund der Bahn, auf einen Photoapparat oder eine Kamera, auf 27ein Erinnerungsphoto reduzieren. Für die Variations-Figur ist aber eine Zeugen-Figur nötig.Und sicher kann die doppelte Variation, die in beide Richtungen verläuft, dieselbe Figuraffizieren, sie kann sich aber selbstverständlich auf die beiden Figuren verteilen. Und derZeuge seinerseits kann zwei Zeugen, mehrere Zeugen sein (in jedem Fall aber ist dieInterpretation des Zeugen als Voyeur oder Zuschauer unzureichend und bloß figurativ).

Das Problem besteht also bereits unabhängig von den Triptychen, gerade in den Tripty-chen aber stellt es sich — mit der Trennung der Tafeln — im Reinzustand. Man hätte danndrei Rhythmen, einen »aktiven« mit anwachsender Variation oder Verstärkung, einen»passiven« mit abnehmender Variation oder Eliminierung und schießlich den »Zeugen«. DerRhythmus würde nicht länger an eine Figur gebunden sein und von ihr abhängen: DerRhythmus würde selbst Figur werden, die Figur konstituieren. Genau das sagte Olivier Messiaenhinsichtlich der Musik, als er den aktiven Rhythmus, den passiven Rhythmus und denZeugen-Rhythmus unterschied und zeigte, daß sie nicht mehr auf rhythmisierte Personenverwiesen, sondern selbst rhythmische Personen konstituierten. »Ebenso wie es auf einerTheaterbühne, wenn drei Schauspieler anwesend sind, vorkommt, daß einer der dreihandelt, der zweite die Handlung des ersten zu spüren bekommt und der unbeweglichedritte der Sache beiwohnt...«' Wir können also eine Hypothese über die Natur des Tripty-chons, sein Gesetz oder seine Ordnung aufstellen. Daß das Triptychon traditionellerweiseeine mobile oder Möbel-Malerei ist, daß die Seitenflügel des Triptychons oft Beobachter,Betende oder Schutzheilige enthalten haben, all das kommt Bacon gelegen, der seineGemälde als verschiebbare konzipiert und bevorzugt feststehende Zeugen darauf malt. Wieaber gibt er dem Triptychon eine derartige Aktualität zurück, wie vollzieht er eine völligeNeuschöpfung des Triptychons? Mehr als ein Möbel, macht er aus ihm das Äquivalent derSätze oder der Parts eines Musikstücks. Das Triptychon wäre die Verteilung dreier Grund-rhythmen. Es gibt eine zirkuläre — und weniger lineare — Organisation des Triptychons.

Die Hypothese würde es erlauben, den Triptychen einen privilegierten Platz im WerkBacons zuzuweisen. Die Sensation malen, die wesentlich Rhythmus ist... In der einfachenSensation aber hängt der Rhythmus noch von der Figur ab, er präsentiert sich als Schwingung,die den organlosen Körper durchläuft, er ist der Vektor der Sensation, das, was sie von einerEbene zur anderen treibt. In der Sensationskopplung befreit sich der Rhythmus bereits, weiler die unterschiedlichen Ebenen verschiedener Sensationen gegeneinanderstellt und verei-nigt: Er ist nun Resonanz, verschmilzt aber noch mit den melodischen Linien, Punkten undKontrapunkten eines Figurenpaars; er ist das Diagramm des Figurenpaars. Mit dem Tripty-

1 Zum wesentlichen Begriff der »rhythmischen Person« vgl. die Analyse von Messiaen in Claude Samuel, Entretiensavec Olivier Messiaen, Paris 1967, S. 70-74; und Antoine Golea, Rencontres avec Olivier Messiaen, Paris 1960.

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DELEUZE: FRANCIS BACON - LOGIK DER SENSATION

chon schließlich erreicht der Rhythmus eine außergewöhnliche Amplitude in einer erzwun-genen Bewegung, die ihm Autonomie verleiht und in uns den Eindruck von Zeit entstehenläßt: Die Grenzen der Sensation werden in alle Richtungen gesprengt und überstiegen; dieFiguren werden emporgehoben oder in die Luft geschleudert, auf luftige Turngeräte gesetzt,von denen sie plötzlich herabfallen. Zugleich aber entsteht in diesem immobilen Sturz dasseltsamste Phänomen von Rekomposition und Neuverteilung, denn der Rhythmus wirdselbst Sensation, er selbst wird Figur gemäß seinen eigenen, voneinander getrennten Rich-tungen, aktiv, passiv und Zeuge... Messiaen suchte sich Vorläufer in Stravinsky und Beetho-ven. Bacon könnte sich Vorläufer in Rembrandt (und in Soutine, mit ganz anderen Mitteln)suchen. Denn bei Rembrandt gibt es in den Stilleben und Genreszenen, aber auch in denPortraits, zunächst das Zittern, die Schwingung: Die Kontur steht im Dienst der Schwin-gung. Aber es gibt auch die Resonanzen, die von den Schichten übereinanderliegenderSensationen herrühren. Und mehr noch, es gibt das, was Claudel beschrieb, jene Amplitudedes Lichts, einen immensen »stabilen und unbewegten Hintergrund«, der einen eigenartigenEffekt annehmen, die extreme Aufteilung der Figuren gewährleisten wird, jene Verteilungin aktive, passive und Zeugen, wie in der Nachtwache (oder in jenem Stilleben, in welchemdie Gläser auf fester Ebene »halb sphärische Zeugen« sind, während die geschälte Zitroneund die perlmutterne Muschel ihre beiden Spiralen gegeneinandersetzen). 1

1 Paul Claudel, »Einführung in die holländische Malerei«, in: Gesammelte Werke, Bd. 5 (Kritische Schriften), hg. v. E.M. Landau, Heidelberg u. a. 1958, S. 315-322.

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ANMERKUNG:WAS IST EIN TRIPTYCHON ?

M an muß die Hypothese verifizieren: Gibt es eine Ordnung in den Triptychen, undbesteht diese Ordnung in der Verteilung dreier Grundrhythmen, von denen der eine

der Zeuge oder das Taktmaß der anderen wäre? Da aber diese Ordnung, wenn sie existiert,viele Variablen miteinander kombiniert, so kann man darauf gefaßt sein, daß sie sehrverschiedenartige Gesichtspunkte aufweist. Nur eine empirische Untersuchung quer durchdie Triptychen kann hier Antwort geben.

Wir sehen zunächst, daß es viele explizite Zeugen in den Triptychen gibt: 1962 die beidenAngst einflößenden Personen der linken Tafel; 1965 die zwei am Tisch sitzenden kleinen 56Alten der rechten Tafel und die nackte Frau auf der linken; 1968 die beiden »Begleiter«, der 58eine nackt, der andere angezogen, links und rechts; 1970 der Beobachter auf der linken und 53der Photograph auf der rechten Seite; 1974 der Schnappschuß-Photograph rechts; 1976 die 17, 78beiden fingierten Portraits rechts und links... Wir sehen aber auch, daß es sich wesentlich 27komplizierter verhält. Denn die Zeugenfunktion mag in figurativer Hinsicht auf einebeliebige Person verweisen, da stets eine Figuration — wenn auch sekundär — fortbesteht. Ausdiesem Grund aber kann eben dieselbe Zeugenfunktion in figuraler Hinsicht auf eine ganzandere Person verweisen. Der Zeuge im zweiten Sinn wird nicht derselbe wie der Zeuge imersten Sinn sein. Mehr noch, der tiefere Zeuge — im zweiten Sinn — wird nicht derjenigesein, der beobachtet und sieht, sondern im Gegenteil derjenige, der den oberflächlichenZeugen im ersten Sinn sieht: Es wird also einen regelrechten Austausch der Zeugenfunktionim Triptychon gegeben haben. Und der tiefere Zeuge, der figurale Zeuge wird derjenige sein,der nicht sieht, der nicht in der Lage ist zu sehen. Er wird sich durch ein ganz anderesMerkmal als Zeuge definieren: durch seine Horizontalität, durch seine nahezu konstanteEbene. Denn gerade die Horizontale definiert einen in sich selbst umkehrbaren Rhythmus,also ohne Anwachsen oder Abnehmen, ohne Erhöhung oder Verminderung: Das ist derZeugen-Rhythmus, während die beiden anderen, vertikalen Rhythmen nur jeweils imVerhälnis zum anderen umkehrbar sind, wobei der eine die rückläufige Bewegung desanderen darstellt:

1 Zu diesen Begriffen des umkehrbaren oder nicht-umkehrbaren Rhythmus und ferner des vergrößerten oder ver-minderten Werts mag man sich auf Messiaen (a.a.O.) beziehen. Daß sich dieselben Probleme in der Malerei stellen,insbesondere unter dem Aspekt der Farbe, ist nicht erstaunlich: Paul Klee hat dies in seiner praktischen Arbeit alsMaler ebenso wie in seinen theoretischen Texten gezeigt.

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In den Triptychen wird man also den Zeugen-Rhythmus mit konstantem Wert auf derHorizontalen suchen. Diese Horizontale kann mehrere Figuren aufweisen. Zunächst die desflachen hysterischen Grinsens: nicht nur, wie wir gesehen haben, auf dem Kopf-Triptychon

60 von 1953 (linke Tafel), sondern bereits auf dem Triptychon der Ungeheuer von 194480 (mittlere Tafel), wo der Kopf mit verbundenen Augen keineswegs ein Kopf ist, der sich zum

Zubeißen anschickt, sondern ein abscheulicher Kopf, der grinst, entsprechend einer hori-zontalen Deformation des Mundes. Die Horizontale kann auch gemäß einer Parallelver-

29 schiebung verwirklicht werden, wie im Triptychon von 1973: Eine horizontale Verschiebungim Zentrum läßt uns vom Spasmus auf der rechten Seite zum Spasmus auf der linkenkommen (auch hier sieht man, daß die Reihenfolge, wenn es eine gibt, nicht notwendig vonlinks nach rechts verläuft). Die Horizontale kann weiter durch einen liegenden Körper

56, 82 verwirklicht werden, wie in der Mitteltafel von 1962, in der Mitteltafel von 1964, in der58, 25 linken Tafel von 1965, in der Mitteltafel von 1966 etc.: die ganze Abplattungskraft der

Schläfer. Oder durch mehrere liegende, gepaarte Körper, einem horizontalen Diagramm61 entsprechend, wie die zweimal zwei Liegenden auf Sweeny Agonists, links und rechts, oder

14, 17 die beiden Liegenden in den Mitteltafeln der Triptychen von 1970. Gerade in diesem Sinnegreifen die Triptychen die Figurenpaare auf. Das ist nun das erste Komplexitätselement, dasaber gerade durch seine Komplexität ein Gesetz des Triptychons bezeugt: Eine Zeugenfunk-tion läßt sich zunächst auf sichtbare Personen nieder, verläßt sie aber, um in einer tieferenSchicht einen Rhythmus zu affizieren, der Person geworden ist, einen umkehrbaren oderzeugenhaften Rhythmus gemäß der Horizontalen. (Es kommt vor, daß Bacon auf derselbenTafel zwei Zeugen vereint, die sichtbare Person und die rhythmische Person, wie links im

58, 61 Triptychon von 1965 oder rechts in Sweeny Agonists.)Nun erscheint ein zweites Komplexitätselement. Denn in dem Maße, wie die Zeugen-

funktion im Gemälde zirkuliert, in dem Maße, wie der sichtbare Zeuge dem rhythmischenZeugen weicht, geschehen zwei Dinge. Einerseits war der rhythmische Zeuge nicht unmit-telbar Zeuge; er wird es nur, wenn die Funktion vorüberzieht und ihm geschieht; vorheraber befand er sich auf der Seite des aktiven oder passiven Rhythmus. Darum besitzen dieliegenden Personen der Triptychen oft noch einen ergreifenden Rest von Aktivität oderPassivität, der bewirkt, daß sie sich der Horizontalen anpassen, aber nicht ohne eine Schwereoder eine Lebhaftigkeit, eine Entspannung oder Kontraktion zu bewahren, die anderswoherrühren: So ist etwa in Sweeny Agonists das linke Figurenpaar passiv und auf dem Rückenliegend, während das rechts noch belebt, nahezu wirbelnd ist; oder öfter noch ist es ein unddasselbe Figurenpaar, das einen aktiven und einen passiven Körper enthält, ein Teil der Figurragt über den Horizont hinaus (der Kopf, der Hintern...). Andererseits aber wird umgekehrtder sichtbare Zeuge — der nicht länger Zeuge ist — frei für andere Funktionen; er gerät folglichin einen aktiven oder passiven Rhythmus, er verbindet sich mit dem einen oder anderen,während er zugleich kein Zeuge mehr ist. So scheinen sich etwa die sichtbaren Zeugen des

56 Triptychons von 1962 wie Vampire aufzurichten, der eine aber passiv und seine Hüftenhaltend, um nicht zu fallen, der andere aktiv und schon im Begriff davonzufliegen; oder in

17 einem Triptychon von 1970 der sichtbare Zeuge auf der linken und der auf der rechten Seite.Es gibt also im Triptychon eine große Mobilität, eine große Zirkulation. Die rhythmischenZeugen sind gleichsam aktive oder passive Figuren, die soeben ihre konstante Ebenegefunden haben oder sie noch suchen, während die sichtbaren Zeugen im Begriff sind, sichemporzuschwingen oder zu fallen, passiv oder aktiv zu werden.

Ein drittes Komplexitätselement betrifft sodann die beiden anderen Rhythmen, denaktiven und den passiven. Worin bestehen diese beiden Bedeutungen der vertikalen Varia-tion? Wie verteilen sich die beiden Rhythmen, die man gegeneinanderhalten kann? Es gibt

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X. ANMERKUNG: WAS IST EIN TRIPTYCHON?

einfache Fälle, in denen es sich um einen Gegensatz Abstieg/Aufsiieg handelt: Das Triptychonder Ungeheuer von 1944 setzt auf beide Seiten des Kopfes mit dem horizontalen Grinsen 80einen Kopf, der nach unten geht und dessen Haare herabhängen, und einen umgekehrtenKopf, dessen schreiender Mund nach oben gestreckt ist; aber auch in den Studies of the human 17

body von 1970 werden die beiden Liegenden der Mitte flankiert von einer Gestalt zur Linken,die aus ihrem Schatten heraufzusteigen scheint, und von einer Gestalt zur Rechten, die insich selbst und in eine Pfütze herabzusinken scheint. Aber dies entspricht schon dembesonderen Fall eines anderen Gegensatzes Diastole/Systole: Hier ist es die Kontraktion, diesich einer Art Ausdehnung, Expansion oder Herabsteigen/Ausfließen entgegenstellt. DieCrucifixion von 1965 stellt das Herabsteigen/Ausfließen des gekreuzigten Fleisches auf der 58Mitteltafel und die extreme Kontraktion des Nazihenkers gegeneinander; oder die Threefigures in a room von 1964 stellen die Dehnung des Mannes auf dem Bidet links und die 82Verrenkung auf dem Hocker des Mannes rechts gegeneinander. Oder vielleicht sind es dieThree studies of the male back von 1970, die mit den Linien und Farben am subtilsten den 47Gegensatz eines breiten, rosigen und entspannten Rückens links und eines roten und blauenkontrahierten Rückens rechts zeigen, während das Blau im Zentrum sich auf einer konstan-ten Ebene festzusetzen und sogar den dunklen Spiegel zu bedecken scheint, um dieZeugenfunktion zu markieren. Der Gegensatz kann aber auch ganz anders und überraschendausfallen: Es ist der Gegensatz zwischen Nacktem und Bekleidetem, den man auf der linkenund auf der rechten Seite eines Triptychon von 1970 findet, den man aber schon links und 14rechts bei den beiden sichtbaren Zeugen auf dem Triptychon von 1968 vorfand; und noch 53subtiler stellt das Triptychon von Lucien Freud von 1966 die entblößte Schulter links – mit 25kontrahiertem Kopf– und die bedeckte Schulter rechts – mit entspanntem oder erschlafftemKopf – gegeneinander. Gibt es nicht schließlich einen weiteren Gegensatz, der selbst dasNackte und das Bekleidete einschließen würde? Das wäre der Gegensatz Vermehrung/Verminderung. Denn es kann dabei eine außerordentliche Subtilität in der Wahl von etwasgeben, das man hinzufügt oder wegnimmt: Man dringt tiefer in das Gebiet der Werte unddes Rhythmus ein, sofern das, was man hinzufügt oder abzieht, nicht eine Quantität, einVieles oder ein Teil davon ist, sondern Werte, die durch ihre Präzision oder ihre »Kürze«definiert sind. Es kann insbesondere geschehen, daß der hinzugefügte Wert ein wie zufällighingeworfener Pinselstrich ist, wie Bacon derartiges mag. Vielleicht aber liegt das schlagend-ste und erregendste Beispiel im Triptychon von 1972 vor: Wenn der Zeuge in der Mitte 70durch die Liegenden und durch das klar bestimmte malvenfarbene Oval geliefert wird, sosieht man auf der linken Figur einen verminderten Torso, da ihm ein ganzer Teil fehlt,während rechts der Torso dabei ist, sich zu vervollständigen, sich bereits eine Hälftehinzugefügt hat. Ganz anders aber ist es bei den Beinen: Links ist ein Bein bereits vollständig,während sich das andere erst abzeichnet; und rechts das Umgekehrte: ein Bein ist bereitsamputiert, während das andere ausfließt. Und entsprecherid erhält das malvenfarbene Ovalin der Mitte einen anderen Status und ist links eine rosa Pfütze geworden, die neben demStuhl liegen bleibt, und rechts zu einem rosa Ausfluß, der vom Bein ausgeht. Auf diese Weisedienen die Verstümmelungen und Prothesen bei Bacon einem regelrechten Spiel vonweggenommenen oder hinzugefügten Werten. Es ist gleichsam ein Ensemble von hysteri-schen »Schlaf-« und »Wachzuständen«, die diverse Partien des Körpers affizieren. Es ist abervor allem eines der zutiefst musikalischen Gemälde Bacons.

Wenn man hier an eine große Komplikation rührt, so deswegen, weil diese verschiedenenGegensätze einander nicht entsprechen und ihre Terme nicht koinzidieren. Daraus resultierteine Freiheit in der Kombination. Keine Liste kann abgeschlossen werden. Denn Aufstieg/Abstieg, Kontraktion/Dehnung, Systole/Diastole nn—Man nicht gleichsetzen: So ist das

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DELEUZE: FRANCIS BACON - LOGIK DER SENSATION

Ausfließen zwar ein Abstieg und ebenso eine Dehnung und Expansion, es gibt aber imAusfließen eine Kontraktion wie beim Mann am Waschbecken und beim Mann auf dem

29 Bidet im Triptychon von 1973. Muß man jedoch einen Gegensatz zwischen der lokalenDilatation des Anus und der lokalen Kontraktion des Halses aufrechterhalten? Oder ergibtsich der Gegensatz zwischen zwei distinkten Kontraktionen, mit einem Übergang von dereinen zur anderen im Triptychon? Alles kann nebeneinander bestehen, und der Gegensatzkann variieren oder sich gar verkehren je nach eingenommenem Standpunkt, d.h. je nachberücksichtigtem Wert. Insbesondere im Fall der sogenannten geschlossenen Serien kommtes vor, daß sich der Gegensatz fast auf die Richtung im Raum reduziert. Im äußersten Fallzählt in den beiden Rhythmen, die einen Gegensatz bilden können, die Tatsache, daß jederdavon die »rückläufige Bewegung« des anderen ist, während ein gemeinsamer und konstan-ter Wert im Zeugen-Rhythmus erscheint, der in sich selbst umkehrbar ist. Diese Relativitätdes Triptychons ist jedoch nicht ausreichend. Wenn wir nämlich den Eindruck haben, daßeiner der zum Gegensatz fähigen Rhythmen »aktiv« ist, der andere »passiv«, wodurch wirddann dieser Eindruck begründet, selbst wenn wir diese beiden Terme von einem ganzvariablen Standpunkt aus zuweisen, der sich innerhalb desselben Gemäldes je nach berück-sichtigem Teil verändert?

Nun, was in jedem Fall die Zuschreibung leitet, scheint dieses Mal recht einfach zu sein.Das Primat wird bei Bacon dem Abstieg eingeräumt. Seltsamerweise ist es das Aktive, dasabsteigt und fällt. Das Aktive ist der Sturz, es ist aber nicht zwangsläufig ein Abstieg im Raum,als Ausdehnung. Es ist der Abstieg als Vorübergehen der Sensation, und zwar als eine in derSensation enthaltene Ebenendifferenz. Die meisten Autoren, die sich diesem Problem derIntensität in der Sensation ausgesetzt haben, scheinen auf dieselbe Antwort gestoßen zu sein:Die Intensitätsdifferenz wird in einem Sturz erfahren. Daher die Idee eines Kampfesflir denSturz. »Ihre Hände, hoch über den Köpfen, verflochten sich >unwillkürlich<. Und als sie sichverflochten hatten, unterlagen sie einem Zug nach unten, einem raschen und heftigen. Beide,mit geneigten Köpfen, schauten eine Weile ihre Hände an. Und unvermutet fielen sie hin,man wußte eigentlich nicht, wer wen hingeworfen hatte, es sah aus, als hätten die Händesie umgeworfen.«' Wie bei Bacon: Das Fleisch rutscht von den Knochen herab, der Körpersackt von den aufgerichteten Armen oder Schenkeln herab. Die Sensation entfaltet sich imSturz, im Fall von einer Ebene zur anderen. Die Idee einer positiven, aktiven Realität ist hierwesentlich.

Warum kann die Ebenendifferenz nicht in der anderen Richtung, als ein Aufstieg erfahrenwerden? Das rührt daher, daß der Sturz keinesfalls thermodynamisch interpretiert werdendarf, als ob nämlich eine Entropie entstünde, eine Tendenz zur Angleichung an die untersteEbene. Im Gegenteil, der Sturz ist da, um die Ebenendifferenz als solche zu bekräftigen. JedeSpannung wird in einem Sturz erfahren. Kant hat das Prinzip der Intensität herausgestellt,als er sie als eine im Augenblick apprehendierte Größe definierte: Er schloß daraus, daß diein dieser Größe enthaltene Vielheit nur durch Annäherung an die Negation = 0 dargestelltwerden konnte.' Selbst wenn also die Sensation einer übergeordneten oder höheren Ebenezustrebt, so kann sie uns dies nur durch die Annäherung dieser höheren Ebene an Null, d.h.durch einen Sturz spüren lassen. Wie immer die Sensation beschaffen sein mag, ihre intensiveRealität ist die eines Abstiegs in eine mehr oder weniger große »Tiefe« und nicht die einesAufstiegs. Die Sensation ist untrennbar mit dem Sturz verbunden, der ihre innerste Bewe-gung oder ihr »clinamen« bildet. Diese Idee von Sturz impliziert keinerlei Kontext von Not,

1 Gombrowicz, Pornographie, München u. a. 1984, S. 129.2 Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, «Antizipationen der Wahrnehmung«.

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X. ANMERKUNG: WAS IST EIN TRIPTYCHON?

Scheitern oder Leiden, obwohl sie durch einen derartigen Kontext am leichtesten illustriertwerden kann. Ebenso aber wie sich die Gewalt einer Empfindung nicht mit der Gewalt einerdargestellten Szene verwechseln läßt, läßt sich der immer tiefere Sturz in einer Sensationnicht mit einem im Raum dargestellten Sturz verwechseln, es sei denn aus Bequemlichkeitund auf humoristische Weise. Der Sturz ist das Lebendigste an der Sensation, das, worin dieSensation als lebendig erfahren wird. So daß der intensive Sturz mit einem räumlichenAbstieg, aber auch mit einem Aufsteigen zusammenfallen kann. Er kann mit einer Diastole,einer Dehnung oder einem Schwinden zusammenfallen, ebenso aber mit einer Kontraktionoder einer Systole. Er kann mit einer Verminderung, aber auch mit einer Vermehrungzusammenfallen. Kurz, Sturz ist alles, was sich entwickelt (es gibt Entwicklungen, die sichdurch Verminderungen herstellen). Der Sturz ist exakt der aktive Rhythmus.' Es wirddemnach möglich, daß man in jedem Gemälde (vermittels der Sensation) bestimmt, was fürden Sturz steht. Man bestimmt damit den aktiven Rhythmus, der von einem Bild zumanderen variiert. Und das Merkmal, das den Gegensatz dazu ermöglicht und im Bildgegenwärtig ist, wird die Rolle eines passiven Rhythmus haben.

Wir können also jene Gesetze des Triptychons resümieren, die seine Notwendigkeit alsKoexistenz von drei Tafeln begründen: 1. die Unterscheidung von drei Rhythmen oder dreirhythmischen Figuren; 2. die Existenz eines Zeugen-Rhythmus mit der Zirkulation desZeugen im Bild (sichtbarer Zeuge und rhythmischer Zeuge); 3. die Bestimmung des aktivenund des passiven Rhythmus mit allen Variationen je nach ausgewähltem Merkmal, um denaktiven Rhythmus zu repräsentieren. Diese Gesetze haben nichts mit einer anwendbarenbewußten Formel zu tun; sie gehören zu jener irrationalen Logik oder zu jener Logik derSensation, die die Malerei konstituiert. Sie sind weder einfach noch willkürlich. Sie lassensich nicht mit einer Abfolge von links nach rechts verwechseln. Sie schreiben dem Zentrumkeine eindeutige Rolle zu. Die Konstanten, die sie implizieren, ändern sich mit jedem Fall.Sie errichten sich zwischen äußerst variablen Termen, und zwar unter dem Gesichtspunktihrer Natur und ihrer Relationen zugleich. Bacons Gemälde werden so sehr von Bewegungendurchlaufen, daß das Gesetz der Triptychen nur eine Bewegung von Bewegungen oder einkomplexer Zustand von Kräften sein kann, sofern sich die Bewegung stets von Kräftenableitet, die auf den Körper einwirken. Gerade die letzte Frage aber, die uns verbleibt, beziehtsich darauf, welche Kräfte dem Triptychon entsprechen. Wenn diese Gesetze diejenigen sind,die wird gerade bestimmt haben, welchen Kräften entsprechen sie dann?

Erstens gab es in den einfachen Gemälden eine doppelte Bewegung, nämlich von derStruktur zur Figur und von der Figur zur Struktur: Isolations-, Deformations- und Auflö-sungskräfte. Zweitens aber gibt es eine Bewegung zwischen den Figuren selbst: Paarungs-kräfte, die auf ihren Ebenen die Phänomene von Isolation, Deformation und Auflösungwiederholen. Schließlich gibt es einen dritten Typ von Bewegungen und Kräften, und geradehier spielt das Triptychon herein: Es kann seinerseits die Paarung als Phänomen wiederholen,verfährt aber mit anderen Kräften und induziert andere Bewegungen. Einerseits ist es nichtmehr die Figur, die sich mit der Struktur oder dem Farbgrund vereinigt, es sind vielmehrdie Beziehungen zwischen Figuren, die gewaltsam auf die Farbfläche projiziert, von dereinheitlichen Farbe oder vom grellen Licht aufgenommen werden; so daß in vielen Fällendie Figuren Trapezkünstlern ähneln, deren Milieu nur noch Licht und Farbe ist. Man begreift

1 Sartre hat in seiner Analyse Flauberts die volle Bedeutung der Episode des Sturzes gezeigt, und zwar vorn Standpunkteines »hysterischen Engagements» aus, aber er gibt ihm einen allzu negativen Sinn, obwohl er zugesteht, daß sichder Sturz auf lange Sicht in ein aktives und positives Projekt einfügt (Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert1821 -1857, Bd. 4, Reinbek 1978).

14, 22

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deshalb, daß die Triptychen diese lichte oder farbige Lebhaftigkeit benötigen und sich seltenmit einer globalen »malerischen« Behandlung vereinbaren lasen: Das Kopf-Triptychon von

60 1953 wäre eine dieser seltenen Ausnahmen. Wenn aber andererseits die Einheit des Lichtsoder der Farbe unmittelbar die Beziehungen zwischen den Figuren und des Farbgrundsaufgreift, so resultiert daraus ebenso, daß die Figuren ein Maximum an Trennung im Licht,in der Farbe erreichen: Eine Kraft der Trennung, der Sonderung ergreift sie, die sich sehrvon der vorangehenden Isolationkraft unterscheidet.

Und dies ist das Prinzip der Triptychen: das Maximum an Einheit von Licht und Farbefür das Maximum an Sonderung der Figuren. Dies war die Lektion Rembrandts: Dierhythmischen Personen werden durch das Licht erzeugt.' Darum durchquert der Körper derFiguren drei Ebenen von Kräften, die im Triptychon kulminieren. Es gibt zunächst dasFaktum der Figur, wenn der Körper den Isolations-, Deformations- und Auflösungskräftenunterliegt. Dann ein erstes »matter of fact«, wenn zwei Figuren auf dasselbe Faktumverpflichtet werden, das heißt, wenn der Körper von der Paarungskraft, von der melodischenKraft heimgesucht wird. Dann schließlich das Triptychon: Es ist die Trennung der Körperim universalen Licht, und der universalen Farbe, die zum gemeinsamen Faktum der Figurenwird, zu ihrem rhythmischen Sein, zum zweiten »matter of fact« oder zur Vereinigung, dietrennt. Eine Vereinigung trennt die Figuren, trennt die Farben — nämlich das Licht. Die

24 Figuren-Wesen trennen sich, indem sie ins schwarze Licht fallen. Die großflächig aufgetra-genen Farben trennen sich, indem sie ins weiße Licht fallen. Alles wird sphärisch in diesenTriptychen aus Licht, die Trennung selbst ist in den Lüften. Die Zeit liegt nicht mehr in derChromatik der Körper, sie ist in eine monochromatische Ewigkeit übergegangen. Einimmenser Zeit-Raum vereinigt alle Dinge, indem er allerdings zwischen sie die En tfernungeneiner Sahara, die Zeitalter eines Äon einführt: das Triptychon und seine getrennten Tafeln.Das Triptychon ist in diesem Sinne tatsächlich eine Art und Weise, das »Staffeleibild« zuüberbieten; die drei Gemälde bleiben getrennt, sind aber nicht isoliert; der Rahmen oder dieRänder eines Gemäldes verweisen nicht mehr auf die eingrenzende Einheit eines jeden,sondern auf die distributive Einheit der drei. Und schließlich gibt es bei Bacon nurTriptychen: Selbst die isolierten Gemälde sind — mehr oder weniger sichtbar — Triptychen.

1 Claudel sprach mit Blick auf Rembrandts Nachtwache vom »Zerfall, der durch das Licht in eine Gruppe getragenwird« (vgl. die Tagebuchnotiz, zitiert in den Anmerkungen des Herausgebers zur »Introduction ä la peinture hol-landaise«, in: cEuvres en prose, hg. v. J. Petit und Ch. Galperine, Paris 1965, S. 1429).

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XI

VOR DEM MALEN: DAS GEMÄLDE...

Es ist ein Irrtum zu glauben, der Maler stehe vor einer weißen Oberfläche. Der Glaubeans Figurative rührt von diesem Irrtum her: Wenn nämlich der Maler vor einer weißen

Fläche stünde, könnte er darauf ein äußeres Objekt reproduzieren, das als Modell fungiert.Dem ist aber nicht so. Der Maler hat viele Dinge im Kopf oder um sich oder im Atelier.Nun ist all das, was er im Kopf oder um sich hat, schon in der Leinwand, mehr oder wenigervirtuell, mehr oder weniger aktuell, bevor er seine Arbeit beginnt. All das ist auf der Leinwandgegenwärtig, als aktuelle oder virtuelle Bilder. So daß der Maler keine weiße Fläche zu füllenhat, er müßte sie vielmehr leeren, räumen, reinigen. Er malt also nicht, um auf der Leinwandein Objekt zu reproduzieren, das als Modell fungiert, er malt auf bereits vorhandene Bilder,um ein Gemälde zu produzieren, dessen Funktionsweise die Bezüge zwischen Modell undKopie verkehren wird. Kurz, es müssen all jene »Gegebenheiten« definiert werden, die bereitsauf der Leinwand sind, bevor die Arbeit des Malers beginnt. Und es muß definiert werden,welche von diesen Gegebenheiten ein Hindernis, welche eine Hilfe oder die Effekte einervorbereitenden Arbeit sind.

An erster Stelle gibt es figurative Gegebenheiten. Die Figuration existiert, das ist ein Faktum,sie geht sogar der Malerei voraus. Wir werden von Photos umstellt, die Illustrationen, vonZeitungen, die Erzählungen sind, von Kinobildern, von Fernsehbildern. Es gibt psychischeKlischees ebenso wie physische, vorgefertigte Wahrnehmungen, Erinnerungen, Phantas-men. Hierin liegt für den Maler eine sehr wichtige Erfahrung: Eine ganze Kategorie vonDingen, die man »Klischees« nennen kann, besetzt bereits die Leinwand vor dem Beginn.Das ist dramatisch. Es scheint, daß Cezanne diese Erfahrung tatsächlich bis zum höchstenPunkt durchlaufen hat: Es gibt immer schon Klischees auf der Leinwand, und wenn sichder Maler damit begnügt, das Klischee zu transformieren, es zu deformieren oder zuzurich-ten, es in alle Richtungen zu zerreiben, so ist dies noch eine allzu intellekuelle, eine allzuabstrakte Reaktion, die das Klischee aus seiner Asche wiedererstehen läßt, den Maler nochim Element des Klischees festhält oder ihm keinen anderen Trost als die Parodie spendet.D.H. Lawrence hat einige glänzende Seiten über diese stets neue Erfahrung bei Cezannegeschrieben: »Nach einem verzweifelten Kampf von 40 Jahren gelang es ihm also — ganz undgar — einen Apfel zu erkennen; und — nicht ganz so perfekt — eine oder zwei Vasen. Das waralles, was er erreichte./ Es sieht nach wenig aus, und er starb verbittert. Es zählt aber der ersteSchritt, und Cezannes Apfel ist eine große Sache, wichtiger als Platons Idee. [...] Wenn sichCezanne mit seinem eigenen barocken Klischee abgefunden hätte, wäre seine Zeichnungden klassischen Normen im höchsten Maße gerecht geworden, und kein einziger Kritiker

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hätte ein Wort darüber verloren. Wenn aber seine Zeichnung den klassischen Normengerecht wurde, so erschien sie ihm völlig minderwertig. Sie war ein Klischee. Er stürzte sichauf sie, trieb Form und Inhalt aus ihr heraus, und wenn sie so zugerichtet war, daß nichtsmehr daran stimmte, und er sich daran erschöpft hatte, so ließ er von ihr ab; traurig, weilsie immer noch nicht das war, was er wollte. Und hier erscheint das komische Element inCezannes Bildern. Seine Wut gegen das Klischee ließ ihn das Klischee zuweilen zur Parodieverzerren, wie man es auf Gemälden wie Le Pacha und La Femme sieht. [...] Er wollte etwasausdrücken, bevor er es aber vermochte, mußte er das Hydra-köpfige Klischee bekämpfen,dessen letzten Kopf er niemals abtrennen konnte. Der Kampf gegen das Klischee ist dasAuffälligste an seinen Bildern. In dichten Wolken erhebt sich der Staub der Schlacht, unddie Splitter stieben nach allen Seiten. Und es sind dieser Schlachtenstaub und das Umher-fliegen dieser Splitter, die durch seine Nachahmer so eifrig imitiert wurden. [...] Aber ichbin überzeugt davon, daß das, was Cezanne selbst wollte, die Darstellung war. Er wollte einelebensgetreue Darstellung. Nur wollte er sie noch getreuer. Und wenn man einmal diePhotographie hat, so ist es eine ganz, ganz schwierige Sache, die Darstellung noch getreuerzu machen. [...] Trotz seiner Anstrengungen blieben die Frauen für ihn ein bekanntes,vorgefertigtes Klischee-Objekt, und er konnte sich nicht von der Begriffsbesessenheitbefreien, um eine intuitive Erkenntnis zu bekommen. Ausgenommen bei seiner Frau — undbei dieser entdeckte er schließlich das Apfelsein. [...] Bei den Männern wich Cezanne oftaus, indem er auf die Kleidung insistierte, auf diese steifen Jacken mit dicken Faltenwürfen,diese Hüte, diese Kittel, diese Vorhänge. [...] Wo Cezanne manchmal dem Klischee ganzund gar entrann und eine völlig intuitive Interpretation von wirklichen Gegenständen gab,sind seine Stilleben. [...] Und hier ist er unnachahmlich. Seine Nachahmer imitieren seinewie Blech gefalteten Tischdecken usw. — die unwirklichen Teile seiner Bilder —, aber sieimitieren nicht die Töpfe und Äpfel, weil es ihnen nicht gelingt. Es ist das wirkliche Apfelsein,und das läßt sich nicht nachahmen. Jeder muß es selbst von neuem und anders erschaffen:neu und anders. Wenn es >wie< Cezanne aussieht, ist es nichts wert.«'

Klischees, Klischees! Man kann nicht sagen, daß sich die Lage seit Cezanne gebessert hat.Es fand nicht nur eine Vervielfältigung von Bildern aller Art um uns und in unseren Köpfenstatt, vielmehr erzeugen sogar die Reaktionen gegen die Klischees Klischees. So hat nichtzuletzt gerade die abstrakte Malerei ihre Klischees produziert, »all diese Röhren undWellenbewegungen sind selbst einfältig genug und ganz schön sentimental« 2 . All dieKopisten haben stets das Klischee wiedererweckt, Klischees selbst von dem, was sich vonihnen befreit hat. Der Kampf gegen die Klischees ist eine schreckliche Angelegenheit. WieLawrence sagt, ist es schon viel, wenn man bei einem Apfel und ein oder zwei Vasenerfolgreich war und gewonnen hat. Die Japaner wußten das, ein. ganzen Leben reicht kaumaus für einen einzigen Grashalm. Darum üben die großen Maler eine große Strengegegenüber ihrem Werk. Soviele Leute halten ein Photo für ein Kunstwerk, ein Plagiat fürein Wagnis, eine Parodie für ein Lachen oder schlimmer noch eine armselige Trouvaille füreine Schöpfung. Die großen Maler aber wissen, daß es nicht ausreicht, das Klischee zuverstümmeln, zuzurichten, zu parodieren, um ein wahres Lachen, eine wahre Deformationzu erreichen. Bacon übt gegen sich selbst dieselbe Strenge wie Cezanne, und wie Cezanneverliert er viele Gemälde, gibt sie auf, wirft sie weg, sobald der Feind von neuem erscheint.Er urteilt: die Serie der Kreuzigungen? Allzu sensationell, allzu sensationell, um empfundenzu werden. Selbst die Stierkämpfe, allzu dramatisch. Die Reihe der Päpste? »Ich habe ganz

1 D. H. Lawrence, »Introduction to these Paintings«, a. a. 0., S. 569-580.2 D. H. Lawrence, Lady Chatterley, Reinbek 1973, S. 265.

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XI. VOR DEM MALEN: DAS GEMÄLDE...

ohne Erfolg versucht, gewisse Wiedergaben« des Papstes von Veläsquez zu schaffen, »— ent-stellte Wiedergaben. Ich bedaure diese Versuche, denn meiner Meinung nach waren sie sehralbern./ Sie bedauern es?/ Schon, weil ich denke, daß diese Aufgabe, so wie sie war, ein fürallemal gelöst worden ist...« 1 Was darf nach Bacon von Bacon bleiben? Vielleicht einigeReihen von Köpfen, ein oder zwei ätherische Triptychen und ein breiter Männerrücken.Kaum mehr als ein Apfel und ein oder zwei Vasen.

Man sieht, wie sich Bacons Problem im Verhältnis zur Photographie stellt. Er ist in derTat fasziniert von den Photos (er umgibt sich mit Photos, er macht Portraits nach den Photosdes Modells, und auch indem er sich ganz anderer Photos bedient; er studiert alte Gemäldenach Photos; und was ihn selbst betrifft, so hat er jene außergewöhnliche Hingabe anPhotos...) Und gleichzeitig gesteht er dem Photo keinerlei ästhetischen Wert zu (er bevorzugtjene, die überhaupt keine Ambition in dieser Hinsicht besitzen, wie die von Muybridge, sagter; er magvor allem die Radiographien oder medizinischen Tafeln, oder die Automatenbilderfür die Reihe von Köpfen; und für seine eigene Liebe zur Photographie, für seine Ergüsse inder Photographie empfindet er eine gewisse Abneigung...) Wie läßt sich diese Haltungerklären? So sind die figurativen Gegebenheiten viel komplexer, als man zunächst glaubenmochte. Sie sind sicher Mittel zum Sehen: als solche sind sie illustrative oder narrativeReproduktionen, Repräsentationen (Photos, Zeitungen). Man wird aber schon bemerken,daß sie auf zwei Arten wirken können, durch Ähnlichkeit oder durch Konvention, durchAnalogie oder durch Kode. Und wie immer sie auch agieren, sie sind selbst etwas, sieexistieren an sich: Sie sind nicht bloß Mittel zum Sehen, sie selbst werden gesehen, undschließlich sieht man nichts als sie.' Das Photo »macht« die Person oder die Landschaft, undzwar in dem Sinne, wie man sagt, die Zeitung mache das Ereignis (und sich nicht damitbegnügt, es zu berichten). Was wir sehen, was wir wahrnehmen, sind Photos. Das größteInteresse der Photographie liegt darin, uns die »Wahrheit« von unwahrscheinlichen, gefälsch-ten Bildern aufzuzwingen. Und Bacon beabsichtigt nicht, gegen diese Bewegung zu reagie-ren, er gibt sich ihr vielmehr hin, nicht ohne Genuß. Wie die Trugbilder des Lukrez scheinenihm die Photos Lüfte und Zeitalter — von weit her kommend — zu durchqueren, um jedesZimmer oder jedes Hirn zu füllen. Er wirft also den Photos nicht bloß ihren figurativenCharakter vor, d.h. daß sie etwas repräsentieren, da er sehr empfänglich ist für den Aspekt,unter dem sie selbst etwas sind, sich dem Blick aufdrängen und das Auge insgesamtbevormunden. Sie können also ästhetische Ansprüche geltend machen und mit der Malereirivalisieren: Bacon glaubt kaum daran, weil er meint, das Photo versuche, die Sensation aufeiner einzigen Ebene zu erdrücken, und bleibe unfähig, die konstitutive Ebenendifferenz indie Sensation einzuführen.' Würde das Photo aber dahin gelangen, wie in den KinobildernEisensteins oder in den photographischen Bildern Muybridges, so geschähe dies nur durchdie Transformation des Klischees oder, wie Lawrence sagte, die Zurichtung des Bildes. Daswürde keine Deformation herstellen, wie die Kunst sie erzeugt (außer in Wunderwerken wiebei Eisenstein). Kurz, wenn das Photo nicht mehr bloß figurativ ist, so bleibt es figurativ alsGegebenheit, als »gesehenes Ding« — das Gegenteil der Malerei.

Darum hegt Bacon trotz all seiner Hingabe eine tiefe Feindseligkeit gegen die Photogra-phie. Viele moderne oder zeitgenössische Maler haben das Photo in den schöpferischenProzeß der Malerei integriert. Sie machten das direkt oder indirekt, einmal weil sie der

1 G 36 (und Bacons Mißbilligung all seiner Gemälde, die noch eine figurative Gewalt enthalten).2 G 31 ff.3 G 59 (John Russell hat Bacon Haltung zur Photopraphie in seinem Kapitel über das »das tausendarmige Bild«

treffend analysiert).

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Photographie eine gewisse künstlerische Macht zuerkannten, einmal weil sie — noch einfa-cher — glaubten, das Klischee durch eine pikturale Transformation ausgehend vom Photobannen zu können: Nun überrascht es, daß Bacon seinerseits in der Gesamtheit dieserVerfahren nur unvollständige Lösungen sieht: Zu keinem Augenblick integriert er das Photoin den Schaffensprozeß. Er begnügt sich damit, manchmal etwas zu malen, das wie ein Photoim Verhältnis zur Figur funktioniert und folglich eine Zeugenrolle übernimmt; oder in zweiFällen einen Photoapparat zu malen, der bald einem urgeschichtlichen Tier, bald einemschweren Gewehr ähnelt (wie Mareys Gewehr zum Zerlegen der Bewegung). Bacons ganzeHaltung ist nun — nach der leichtfertigen Hingabe — ein Zurückweisen der Photographie.Denn das Photo war gerade für ihn um so faszinierender, als es bereits das ganze Gemäldebesetzte, bevor sich der Maler an die Arbeit machte. Folglich wird man das Photo nichtdadurch hinter sich lassen, den Klischees nicht dadurch entkommen, daß man das Klischeetransformiert. Die größte Transformation des Klischees wird keinen Malakt ergeben, sie wirdnicht die geringste pikturale Deformation herstellen. Besser wäre es, sich den Klischeesanheimzugeben, sie alle zusammenzurufen, sie zu akkumulieren, sie zu vervielfachen alsebenso viele pikturale Gegebenheiten: zunächst der »Wille, den Willen zu verlieren«. 2 Undnur wenn man da — durch Ablehnung — herauskommt, kann die Arbeit beginnen.

Bacon behauptet nicht, er könnte universale Lösungen vorgeben. Es ist nur der von ihmmit Blick auf die Photographie gewiesene Weg. Aber es sieht so aus, daß sich scheinbar sehrunterschiedliche Gegebenheiten ebenfalls im Vorfeld des Gemäldes manifestieren und Baconeine analoge praktische Haltung nahelegen. So geht es etwa in den Gesprächen ebenso oftum den Zufall wie um das Photo. Und ähnlich wie über die Photographie spricht Baconvom Zufall: Er nimmt eine sehr komplexe sentimentale — auch hier hingebungsvolle —Haltung ein, aus der er aber sehr präzise Regeln für seine Ablehnung und sein Handelngewinnt. Er spricht mit seinen Freunden oft vom Zufall, er scheint sich aber nur schwerverständlich machen zu können. Denn er teilt dieses Gebiet in zwei Teile, von denen dereine noch ins Präpikturale verwiesen ist, der andere aber zum Malakt gehört. Wenn mannämlich eine Leinwand vor der Arbeit des Malers betrachtet, so scheinen alle Stellen einanderzu entsprechen, alle gleich »wahrscheinlich« zu sein. Und wenn sie einander nicht entspre-chen, so in dem Maße, wie die Leinwand eine determinierte Oberfläche mit Rändern undeinem Zentrum ist. Dies aber vor allem in Abhängigkeit dessen, was der Maler tun will undim Kopf hat: Die eine oder andere Stelle wird im Verhältnis zu diesem oder jenem Projektprivilegiert. Der Maler hat eine mehr oder weniger präzise Idee dessen, was er tun will, unddiese präpikturale Idee genügt, um die Wahrscheinlichkeiten ungleich zu machen. Es gibtalso auf der Leinwand eine regelrechte Ordnung von gleichen und ungleichen Wahrscheinlich-keiten. Und ich kann zu malen beginnen, wenn die ungleiche Wahrscheinlichkeit fast zurGewißheit wird. Wie aber läßt es sich im Augenblick, da ich begonnen habe, anstellen, daßdas, was ich male, kein Klischee ist? Man wird schnell »freie Markierungen« innerhalb desgemalten Bildes machen müssen, um die entstehende Figuration in ihm zu zerstören undder Figur eine Chance zu geben, die das Unwahrscheinliche selbst ist. Diese Markierungensind akzidentell, »zufällig«; aber man bemerkt, daß selbst das Wort »Zufall« überhaupt keineWahrscheinlichkeiten mehr bezeichnet, es bezeichnet nun einen Typ von Auswahl oder

1 Am Beispiel von Gerard Fromanger hat Foucault mehrere Typen von Beziehungen zwischen Photographie undMalerei analysiert (»La peinture photogenique«, in: Michel Foucault, Dits et icrits 1954-1988, hg. v. D. Defert undF. Ewald, Paris 1994, Bd. 2, S. 707-715). Die interessantesten Fälle — wie Fromanger — sind diejenigen, in denender Maler das Photo oder die Wirkung des Photos unabhängig von jeglichem ästhetischen Wert integriert.

2 G 16.

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XI. VOR DEM MALEN: DAS GEMÄLDE...

Handlung ohne Wahrscheinlichkeit.' Diese Markierungen können nicht-repräsentativ ge-nannt werden, eben weil sie vom zufälligen Akt abhängen und nichts ausdrücken, was dasvisuelle Bild betrifft: Sie betreffen nur die Hand des Malers. Darum aber gelten sie nur fürden Gebrauch und Wiedergebrauch durch die Hand des Malers, der sich ihrer bedienenwird, um das visuelle Bild dem entstehenden Klischee zu entreißen, um sich selbst von derentstehenden Illustration und Erzählung loszureißen. Er wird sich der manuellen Markie-rungen bedienen, um die Figur aus dem visuellen Bild hervortreten zu lassen. Von Anfangbis Ende wird das Akzindentelle, der Zufall in diesem zweiten Sinne Akt, Auswahl, einbestimmter Typ von Akt oder Auswahl sein. Nach Bacon ist der Zufall nicht von einerGebrauchsmöglichkeit zu trennen. Es ist der manipulierte Zufall, im Unterschied zu denvorgestellten oder gesehenen Wahrscheinlichkeiten.

Pius Servien hatte eine äußerst interessante Theorie vorgelegt, in der er zwei Gebieteauseinanderhalten wollte, die normalerweise verwechselt werden: die Wahrscheinlichkeiten,die Gegebenheiten sind, Gegenstand einer möglichen Wissenschaft, und die Würfel betref-fen, bevor diese geworfen sind; und den Zufall, der dagegen einen nicht wissenschaftlichenund noch nicht ästhetischen Auswahltyp bezeichnet.' Es liegt hier eine originelle Konzeptionvor, die auf den ersten Blick die Bacons zu sein scheint und ihn von anderen jüngeren Malernunterscheidet, die sich auf den Zufall oder allgemeiner die Kunst als Spiel berufen haben.Denn zunächst ändert sich alles, je nachdem ob das geltend gemachte Spiel dem kombina-torischen Typ (Schach) oder dem »ad-hoc«-Typ (Roulette ohne Spielsystem) entspricht. FürBacon handelt es sich ums Roulette; und es passiert ihm, daß er auf mehreren Tischenzugleich spielt, etwa auf drei Tischen, genau wie er vor den drei Tafeln eines Triptychonssteht? Gerade das aber konstituiert eine Gesamtheit von visuellen Gegebenheiten im Sinneder Wahrscheinlichkeit, denen sich Bacon um so eher anheimgeben kann, als sie präpikturalsind, einen präpikturalen Zustand des Gemäldes ausdrücken und nicht in den Malaktintegriert sein werden. Dagegen ist die zufällige Wahl bei jedem Zug eher nicht-piktural,a-piktural: Sie wird piktural werden, sie wird sich in den Malakt integrieren, und zwar indem Maße, wie sie aus manuellen Markierungen besteht, die das visuelle Ensemble vonneuem ausrichten und die unwahrscheinliche Figur aus der Gesamtheit der figurativen Wahr-scheinlichkeiten gewinnen werden. Wir glauben, daß diese empfundene Unterscheidungzwischen dem Zufall und den Wahrscheinlichkeiten bei Bacon eine große Bedeutung hat.Sie erklärt die Masse von Mißverständnissen, durch die Bacon denen gegenübergestellt wird,die mit ihm über den Zufall sprechen, oder die ihn in die Nähe anderer Maler bringen. Sokonfrontiert man ihn etwa mit Duchamp, der drei Fäden auf das gemalte Bild fallen ließund sie dort festklebte, wohin sie gefallen waren: Für Bacon aber liegt hierin nur eineGesamtheit von präpikturalen Gegebenheiten im Sinne der Wahrscheinlichkeit, die nichtzum Malakt gehören. Oder — ein weiteres Beispiel — man fragt Bacon, ob irgend jemand,die Putzfrau etwa, zufällige Markierungen machen kann oder nicht. Und hier lautet diekomplexe Antwort: Ja, die Putzfrau kann das von Rechts wegen und in abstrakter Hinsichttun, eben weil dies ein nicht-pikturaler, a-pikturaler Akt ist; aber sie kann es nicht de facto

1 Das Thema der zufälligen oder akzidentiellen Markierungen erscheint beständig in den Gesprächen; vgl. vor allemG 52-60.

2 Vgl. Pius Servien, insbesondere Hasard et probabiliti, Paris 1949. Im Rahmen seiner Unterscheidung zwischen einer»Sprache der Wissenschaften« und einer »lyrischen Sprache« stellte der Autor die Wahrscheinlichkeit als Wissen-schaftsobjekt und den Zufall als Modus einer Wahl gegeneinander, die weder wissenschaftlich noch ästhetisch war(zufällig eine Blume wählen, d. h. eine Blume, die weder in ihrer Art »spezifiziert« noch »die schönste« ist).

3 G 52-53. (Genau gesagt macht Bacon aus dem Roulette nicht einen Handlungstyp; vgl. seine Überlegungen zuNicolas de Stadl und dem russischen Roulette, G 124-126).

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tun, weil sie diesen Zufall nicht zu gebrauchen, zu manipulieren vermag.' Nun wird aberder Zufall in der Manipulation, d.h. in der Reaktion der manuellen Markierungen auf dasvisuelle Ensemble, piktural, oder es integriert sich in den Malakt. Daher die Hartnäckigkeit,mit der Bacon — ungeachtet des Unverständnisses seiner Gesprächspartner — daran erinnert,daß es Glück nur als »manipuliertes«, Zufall nur als gebrauchten gibt.'

Kurz, Bacon mag gegenüber den Klischees und gegenüber den Wahrscheinlichkeitendieselbe Haltung einnehmen: eine leichtfertige, fast hysterische Hingabe, da er aus dieserHingabe eine List, eine Falle macht. Die Klischees und Wahrscheinlichkeiten sind auf derLeinwand, sie füllen sie aus, sie müssen sie ausfüllen, bevor die Arbeit des Malers beginnt.Und die leichtfertige Hingabe besteht darin, daß der Maler selbst in die Leinwand eindringenmuß, bevor er beginnt. Die Leinwand ist bereits so überfüllt, daß der Maler in die Leinwandeindringen muß. Er dringt auf diese Weise ins Klischee, in die Wahrscheinlichkeit ein. Erdringt in sie ein, eben weil er weiß, was er machen will. Was ihn aber rettet, ist die Tatsache,daß er nicht weiß, wie ihm das gelingen soll, er weiß nicht, wie sich machen läßt, was er machen

Es wird ihm nur gelingen, wenn er die Leinwand verläßt. Das Problem des Malersbesteht nicht im Zugang zur Leinwand, da er in ihr bereits ist (präpikturale Aufgabe),sondern darin, aus ihr herauszukommen und dadurch aus dem Klischee, aus der Wahrschein-lichkeit herauszukommen (pikturale Aufgabe). Die zufälligen manuellen Markierungenwerden ihm eine Chance geben. Keine Gewißheit, die noch ein Maximum an Wahrschein-lichkeit wäre; denn die manuellen Markierungen können sehr wohl ergebnislos bleiben unddas Gemälde definitiv verderben. Wenn aber eine Chance besteht, so deshalb, weil jeneMarkierungen derart funktionieren, daß sie das präpikturale visuelle Ensemble aus seinemfigurativen Zustand herausreißen, um die zuletzt pikturale Figur zu konstituieren.

Man kann gegen das Klischee nur mit viel List, Wiederholung und Vorsicht ankämpfen:eine stets neue Aufgabe für jedes Bild, für jeden Augenblick eines jeden Bildes. Dies ist derWeg zur Figur. Denn in abstrakter Hinsicht ist es leicht, Figurales und Figuratives gegen-einanderzustellen. Fortwährend aber stößt man sich an einem faktischen Einwand: Die Figurist noch figurativ, sie stellt noch jemanden dar, einen schreienden Mann, einen grinsendenMann, einen sitzenden Mann, sie erzählt noch etwas, selbst wenn das eine surrealistischeErzählung ist, Kopf-Regenschirm-Fleisch, brüllendes Fleisch... Wir können nun sagen, daßder Gegensatz der Figur zum Figurativen sich in einem sehr komplexen inneren Verhältnisherstellt und doch praktisch durch dieses Verhältnis nicht beeinträchtigt und nicht einmalabgemildert wird. Es gibt ein erstes, präpikturales Figuratives: Es befindet sich auf demGemälde und im Kopf des Malers, es befindet sich in dem, was der Maler machen will, bevorer beginnt, in Klischees und Wahrscheinlichkeiten. Und dieses erste Figurative läßt sich nichtvollständig eliminieren, immer behält man etwas von ihm zurück.' Es gibt aber ein zweitesFiguratives: das nämlich, das der Maler nun als Resultat der Figur, als Wirkung des Malaktserhält. Denn die reine Präsenz der Figur ist tatsächlich die Wiederherstellung einer Reprä-sentation, die Neuschöpfung einer Figuration (»ein sitzender Mann, ein schreiender oder

1 G 99-100.2 Bacon ruft in Erinnerung, daß seine besten Freunde das, was er »Glück« oder »Zufall« nennt, anfechten (G 100-

102).3 G 104: »ich weiß, was ich will, aber nicht, wie ich es hinkriegen kann« (und G 13: » [ich weiß nicht] , wie die Form

zustande gebracht werden soll«).4 G 128: »als wir uns über die Möglichkeit unterhielten, die Erscheinung aus etwas herzustellen, das nicht Abbildung

ist, bin ich ein wenig zu weit gegangen. Trotz des theoretischen Verlangens nach einem Bild, das aus irrationalenMarkierungen aufgebaut ist, spielt doch die Abbildung unvermeidlicherweise herein bei bestimmten Teilen desKopfes und des Gesichts. Wenn man sie wegließe, machte man nur eine abstrakte Skizze...« [Übersetzung verändert;d. Ü.].

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XI. VOR DEM MALEN: DAS GEMÄLDE...

lächelnder Papst...«). Was man der ersten Figuration, dem Photo vorwarf, war nicht, daß eszu »treu«, sondern zu wenig treu war, wie Lawrence sagte. Und diese beiden Figurationen,die trotz allem bewahrte und die wiedergefundene Figuration, die falsche getreue und diewahre, haben keineswegs dieselbe Natur. Zwischen beiden entsteht ein Sprung auf der Stelle,eine Deformation auf der Stelle, das Auftauchen der Figur auf der Stelle, der pikturale Akt.Zwischen dem, was der Maler machen will, und dem, was er tut, gab es notwendigerweiseein Wie, ein »Wie läßt sich das machen«. Ein wahrscheinliches visuelles Ensemble (ersteFiguration) wurde desorganisiert, deformiert durch freie manuelle Striche, die — von neuem indas Ensemble injiziert — die unwahrscheinliche visuelle Figur (zweite Figuration) herstellenwerden. Der Malakt ist die Einheit dieser freien manuellen Striche und ihrer Reaktion, ihrerwiederholten Injektion in das visuelle Ensemble. Im Anschluß an diese Striche ähnelt diewiedergefundene, neu erschaffene Figuration nicht der Ausgangsfiguration. Daher diegleichbleibende Formel Bacons: ähnlich machen, aber mit zufälligen und unähnlichenMitteln.'

So daß der Malakt stets aufgeschoben ist, fortwährend zwischen einem Zuvor und Danachoszilliert: Hysterie des Malens... Alles ist bereits auf der Leinwand, auch der Maler selbst,bevor die Malerei beginnt. Darum ist die Arbeit des Malers aufgeschoben und kann nurdanach, nachträglich kommen: eine Arbeit der Hand, aus der die Figur vor die Augen tretenwird...

1 G 107-109.

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XII

DAS DIAGRAMM

M an hört nicht genug auf das, was die Maler sagen. Sie sagen, der Maler sei schon inder Leinwand. Er begegnet dort allen figurativen und probabilitären Gegebenheiten,

die die Leinwand okkupieren, prä-okkupieren. Es gibt auf der Leinwand einen Kampfzwischen dem Maler und diesen Gegebenheiten. Es gibt folglich eine vorbereitende Arbeit,die ganz und gar zur Malerei gehört und dennoch dem Malakt vorausgeht. Diese vorberei-tende Arbeit kann über Skizzen verlaufen, aber nicht notwendigerweise, und selbst dieSkizzen ersetzen sie nicht (wie viele zeitgenössische Maler fertigt Bacon keine Skizzen an).Diese vorbereitende Arbeit ist unsichtbar und still und dennoch sehr intensiv. So daß derMalakt als ein Nachträgliches (»Hysteresis«) im Verhältnis zu dieser Arbeit auftaucht.

Worin besteht der Malakt? Bacon definiert ihn folgendermaßen: zufällige Markierungensetzen (Linien-Züge); einzelne Stellen oder Zonen säubern, ausbürsten oder verwischen(Farb-Flecke); Farbe aus verschiedenen Winkeln und mit unterschiedlicher Geschwindigkeithinwerfen. Nun setzt dieser Akt, setzen diese Akte voraus, daß es auf der Leinwand (wie imKopf des Malers) bereits mehr oder weniger virtuelle, mehr oder weniger aktuelle figurativeGegebenheiten gibt. Genau diese Gegebenheiten sind es, die durch den Malakt unkenntlichgemacht oder gesäubert, ausgebürstet, verwischt oder überdeckt werden. Beispielsweise einMund: man verlängert ihn, man läßt ihn von einem bis zum anderen Ende des Kopfesreichen. Beispielsweise der Kopf: Man verwischt eine Partie mit einer Bürste, einemHandbesen, einem Schwamm oder einem Lappen. Bacon nennt dies ein Diagramm: als obman mit einem Mal eine Sahara, eine Saharazone einfügen würde; als ob man auf ihm eineNashornhaut, wie unter dem Mikroskop gesehen, ausspannen würde; als ob man zwei Teiledes Kopfes mit einem Ozean auseinanderreißen würde; als ob man die Maßeinheit änderteund die figurativen Einheiten durch mikrometrische oder — umgekehrt — kosmischeEinheiten ersetzte.' Eine Sahara, eine Nashornhaut — das ist das plötzlich aufgespannte

1 Hier der äußerst wichtige Text Bacons (G 56): »[S]ehr oft sind die unabsichtlich gesetzten Markierungen vielanregender als andere, und in solchen Augenblicken fühlt man, daß jetzt alles geschehen kann. — Sie fühlen es,während Sie diese Zeichen setzen? — Nein, die Markierungen sind gemacht, und man überprüft sie dann, wie manes bei den Kurven eines Diagramms tun würde. Und in diesem Diagramm sind die verschiedensten Möglichkeitenenthalten. Das ist schwer zu formulieren; ich drücke mich schlecht aus. Sehen Sie, wenn Sie zum Beispiel an einPortrait denken, da hat man einmal den Mund an eine bestimmte Stelle gesetzt, aber plötzlich merkt man, wennman sich das als ein Diagramm vorstellt, daß der Mund auch quer über das Geseicht verschoben werden könnte.Und irgendwie würde man in einem Portrait eine Sahara der menschlichen Erscheinung verwirklichen — es ähnlichzu machen, aber so, daß es die Weite der Sahara zu haben scheint« [Übersetzung verändert; d. Ü.] . In einer anderenPassage erklärt Bacon, er betrachte, wenn er ein Portrait macht, oft Photos, die nichts mit dem Modell zu tunhaben: so etwa ein Nashornphoto wegen der Textur der Haut (G 33).

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XII. DAS DIAGRAMM

Diagramm. Wie eine auf der Leinwand, in die figurativen und probabilitären Gegebenheitenhereingebrochene Katastrophe.

Wie das Auftauchen einer anderen Welt. Denn diese Marken, diese Striche sind irrational,unwillkürlich, zufällig, frei, planlos. Sie sind nicht-repräsentativ, nicht-illustrativ, nicht-nar-rativ. Sie sind aber ebensowenig signifikativ oder signifikant: Sie sind asignifikante Striche.Sie sind Empfindungsmarken, allerdings von verworrenen Empfindungen (die verworrenenEmpfindungen, die man bei der Geburt mitbringt, sagte Czanne). Und vor allem sind siemanuelle Striche. Hier arbeitet der Maler mit Lappen, Handbesen, Bürste oder Schwamm;hier wirft er Farbe mit der Hand hin.' Als ob die Hand unabhängig würde und in den Dienstanderer Kräfte träte, Markierungen zeichnete, die nicht mehr von unserem Willen oderunserem Blick abhängen. Diese nahezu blinden Markierungen bezeugen also das Eindringeneiner anderen Welt in die visuelle Welt der Figuration. Sie entziehen also zu einem Teil dasGemälde der optischen Organisation, durch die es bereits beherrscht und im voraus figurativwurde. Die Hand des Malers ist dazwischengetreten, um ihre eigene Abhängigkeit abzu-schütteln und die souveräne optische Organisation aufzubrechen: Man sieht nichts mehr,wie in einer Katastrophe, wie in einem Chaos.

Hierin liegt der Malakt oder der Wendepunkt des Gemäldes. Denn auf zwei Weisen kanndas Gemälde scheitern, einmal visuell und einmal manuell: Man kann in die figurativenGegebenheiten und die optische Organisation der Repräsentation verstrickt bleiben; mankann aber auch das Diagramm verfehlen, es verderben und derart überladen, daß man esoperationsunfähig macht (dies ist eine weitere Weise, im Figurativen zu verharren, man wirddas Klischee verstümmelt und zugerichtet haben). 2 Das Diagramm ist also die operativeGesamtheit der Linien und Zonen, der asignifikanten und nicht-repräsentativen Striche undFlecke. Und die Operation des Diagramms, seine Funktion, sagt Bacon, liegt in der»Suggestion«. Oder sie liegt, strenger noch, in der Einführung von »faktischen Möglichkei-ten«: eine Sprache, die der Wittgensteins nahekommt.' Die Striche und Flecke müssen mitder Figuration um so mehr brechen, als sie dazu bestimmt sind, uns die Figur zu geben.Darum sind sie selbst nicht genug, sie müssen »verwendet« werden: Sie entwerfen faktischeMöglichkeiten, bilden aber noch kein Faktum (das pikturale Faktum). Um sich ins Faktischezu verwandeln, um sich als Figur zu entwickeln, müssen sie sich wieder ins visuelle Ensembleinjizieren; eben dann aber wird das visuelle Ensemble unter Einwirkung dieser Markierungennicht mehr das der optischen Organisation sein, es wird dem Auge ein anderes Vermögenverleihen und zugleich ein Objekt, das nicht mehr figurativ sein wird.

Das Diagramm ist die operative Gesamtheit der Striche und Flecken, Linien und Zonen.So etwa das Diagramm Van Goghs: Es ist die Gesamtheit der geraden und gekrümmtenSchraffuren, die den Boden anheben und absenken, die Bäume verdrehen, den Himmelerzittern lassen und von 1888 an eine besondere Intensität gewinnen. Man kann nicht nurdie Diagramme differenzieren, sondern das Diagramm eines Malers datieren, weil es stetseinen Augenblick gibt, an dem es der Maler unmittelbarer angeht. Das Diagramm ist zwarein Chaos,-aber auch der Keim von Ordnung und Rhythmus. Es ist ein gewaltsames Chaosim Verhältnis zu den figurativen Gegebenheiten, aber ein Keim von Rhythmus im Verhältniszur neuen Ordnung der Malerei: Es enthüllt »tieferliegende Empfindungsschichten«, sagt

1 G 92.2 G 91: zur Möglichkeit, daß die unwillkürlichen Markierungen nichts ergeben und das Gemälde verderben, eine

Art »Sumpf«.3 G 56: »Und in diesem Diagramm sind die verschiedensten Möglichkeiten enthalten...« Wittgenstein berief sich

auf eine diagrammatische Form, um in der Logik die »faktischen Möglichkeiten« auszudrücken.

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DELEUZE: FRANCIS BACON - LOGIK DER SENSATION

Bacon.' Das Diagramm beendet die vorbereitende Arbeit und leitet den Malakt ein. Es gibtkeinen Maler, der nicht diese Erfahrung von Chaos/Keim machte, wo er nichts mehr siehtund zu versinken droht: Zusammenbruch der visuellen Koordinaten. Das ist keine psycho-logische Erfahrung, sondern eine spezifisch pikturale Erfahrung, obwohl sie einen großenEinfluß auf das psychische Leben des Malers haben kann. Der Maler begegnet hier dengrößten Gefahren für sein Werk und für sich selbst. Dies ist eine Art von stets wiederkeh-render Erfahrung bei den verschiedensten Malern: der »Abgrund« oder die »Katastrophe«bei Cezanne und die Aussicht, daß dieser Abgrund dem Rhythmus weicht; das »Chaos« beiPaul Klee, der verlorene »graue Punkt« und die Aussicht, daß dieser graue Punkt »über sichselbst hinausspringt« und sinnliche Dimensionen eröffnet... 2 Unter allen Künsten ist dieMalerei sicher die einzige, die notwendig, »hysterisch« ihre eigene Katastrophe integriert undsich folglich als eine Flucht nach vorne konstituiert. In den anderen Künsten ist dieKatastrophe nur beigeordnet. Der Maler aber durchlebt die Katastrophe, umklammert dasChaos und versucht, aus ihm herauszukommen. Die Maler unterscheiden sich darin, wiesie dieses nicht-figurative Chaos umklammern, und auch in ihrer Einschätzung der künfti-gen piktuaralen Ordnung, des Verhältnisses dieser Ordnung zu jenem Chaos. Man könntein dieser Hinsicht vielleicht drei große Wege unterscheiden: Jeder davon faßt selbst ganzverschiedene Maler zusammen, legt aber eine »moderne« Funktion der Malerei fest oderdrückt aus, was die Malerei dem »modernen Menschen« antragen will (warum heute nochMalerei?).

Die Abstraktion wäre einer dieser Wege. Ein Weg allerdings, der den Abgrund oder dasChaos und auch das Manuelle auf ein Minimum reduziert: Sie bietet uns eine Askese, einspirituelles Heil. In einer intensiven spirituellen Anstrengung erhebt sie sich über diefigurativen Gegebenheiten, sie macht aber auch aus dem Chaos einen bloßen Graben, denman überschreiten muß, um abstrakte und signifikante Formen zu entdecken. MondriansQuadrat verläßt das Figurative (Landschaft) und überspringt das Chaos. Von diesem Sprungbewahrt es eine Art Schwingung. Ein derartiges Abstraktes wird wesentlich gesehen. Manmöchte von der abstrakten Malerei sagen, was Peguy von der kantischen Moral sagte: Siehabe saubere Hände, aber keine Hände. Denn die abstrakten Formen gehören zu einemneuen, rein optischen Raum, der sich nicht einmal mehr manuelle oder taktile Elementeunterordnen muß. Von den bloß geometrischen Formen unterscheiden sie sich allerdingsdurch die »Spannung«: Die Spannung ist das, was die manuelle Bewegung ins Visuellehineinnimmt, eine Bewegung, die die Form und die sie bestimmenden unsichtbaren Kräftebeschreibt. Dadurch wird die Form zu einer spezifisch visuellen Transformation. Derabstrakte optische Raum benötigt also keine taktilen Konnotationen mehr, die noch dieklassische Repräsentation organisierte. Daraus folgt aber, daß die abstrakte Malerei wenigerein Diagramm als einen symbolischen Kode entwickelt, den großen formalen Oppositionenfolgend. Sie hat das Diagramm durch einen Kode ersetzt. Dieser Kode ist »digital«, nicht imSinne von manuell, sondern im Sinne eines abzählenden Fingers. Die »digits« sind nämlichdie Einheiten, die die einander entgegengesetzten Terme visuell zusammenfassen. So etwanach Kandinsky: vertikal-weiß-Aktivität, horizontal-schwarz-Trägheit... Daher die Konzep-tion der binären Wahl, die der Zufallswahl entgegensteht. Die abstrakte Malerei hat dieErarbeitung eines derartigen pikturalen Kodes im eigentlichen Sinne sehr weit vorangetrie-ben (das »plastische Alphabet« von Herbin, in dem sich die Verteilung der Formen undFarben nach den Buchstaben eines Worts herstellen kann). Der Kode ist mit der Antwort

1 G 58.2 Henri Maldiney vergleicht in dieser Hinsicht Cdzanne und Klee (a. a. 0., S. 149-151).

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auf die Frage nach der Malerei heute betraut: Was kann den Menschen vor dem »Abgrund«,d. h. vor dem äußeren Getöse und dem manuellen Chaos retten? Dem handlosen Menschender Zukunft einen spirituellen Zustand erschließen. Ihm einen reinen und inneren optischenRaum zurückgeben, der vielleicht ausschließlich aus Horizontalen und Vertikalen besteht.»Der moderne Mensch sucht Ruhe, weil er durch das Draußen betäubt ist...«' Die Handreduziert sich auf den Finger, der auf eine innere optische Klaviatur drückt.

Ein zweiter Weg, den man oft abstrakten Expressionismus oder informelle Kunst genannthat, bietet eine ganz andere, diametral entgegengesetzte Antwort. Diesmal erreichen Ab-grund und Chaos einen höchsten Grad. Das Diagramm verschmilzt — fast wie eine Karte,die so groß wäre wie das Land — mit der Totalität des Gemäldes, und das ganze Gemälde istDiagramm. Die optische Geometrie zerfällt zugunsten einer manuellen, auschließlichmanuellen Linie. Das Auge folgt nur mit Mühe. Denn die unvergleichliche Entdeckungdieser Malerei besteht in einer Linie (und in einem Farbfleck), die keine Kontur ergibt, nichtsbegrenzt, weder innen noch außen, weder konkav noch konvex ist: die Linie bei Pollock,der Fleck bei Morris Louis. Dies ist der nordische Fleck, die »gotische Linie«: Die Linie reichtnicht von einem Punkt zu einem anderen, sie verläuft vielmehr zwischen den Punkten,wechselt fortwährend die Richtung und erreicht eine Potenz, die größer ist als 1, wobei sieder ganzen Oberfläche gleichkommt. Man begreift, daß unter diesem Gesichtspunkt dieAbstraktion figurativ blieb, da ihre Linie noch eine Kontur begrenzte. Wenn man nachVorläufern dieses neuen Wegs, dieses radikalen Ausgangs aus dem Figurativen sucht, so wirdman sie immer dort finden, wo ein großer alter Maler nicht länger die Dinge malte, um»zwischen den Dingen zu malen«. 2 Mehr noch gewinnen die letzten Aquarelle Turners nichtnur schon alle Kräfte des Impressionismus, sondern die Potenz einer explosiven undkonturlosen Linie, die aus der Malerei selbst eine Katastrophe ohnegleichen macht (anstattdie Katastrophe romantisch zu illustrieren). Ist das übrigens nicht eine der großartigstenKonstanten der Malerei, die auf diese Weise ausgewählt, isoliert wird? Bei Kandinsky gab esneben abstrakten geometrischen Linien konturlose nomadische Linien; und bei Mondriansetzte die ungleiche Dicke der beiden Seiten des Quadrats eine konturlose virtuelle Diagonalefrei. Mit Pollock aber vollenden dieser Linienzug und dieser Farbfleck ihre Funktion: nichtmehr die Transformation der Form, sondern eine Dekomposition der Materie, die uns ihreLineamente und ihre Körnungen liefert. Die Malerei wird also zur gleichen Zeit eineKatastrophen-Malerei und eine Diagramm-Malerei. Diesmal findet der moderne Menschden Rhythmus in größter Nähe zur Katastrophe, in der absoluten Nähe: Man sieht, wie sehrsich die Antwort auf die Frage nach einer »modernen« Funktion der Malerei von der Antwortder Abstraktion unterscheidet. Diesmal wird das Unendliche nicht mehr durch einen nachinnen gerichteten Blick, sondern durch die Extension einer manuellen Potenz geliefert, die»all-over«, von einem zum anderen Ende des Gemäldes reicht.

In der Einheit von Katastrophe und Diagramm entdeckt der Mensch den Rhythmus alsMaterie und Material. Die Instrumente des Malers sind nicht mehr Pinsel und Staffelei, diedie Unterordnung der Hand noch in die Ansprüche einer optischen Organisation überset-

1 Diese Tendenz zur Eliminierung des Manuellen war in der Malerei stets gegenwärtig, in dem Sinne nämlich, wieman von einem Werk sagt: »man spürt darin die Hand nicht mehr...« Henri Focillon analysiert diese Tendenz, eine»asketische Genügsamkeit«, die in der abstrakten Malerei kulminiert: Lob der Hand, Bern 1958, S. 38-39. Manspürt aber, wie Focillon sagt, die Hand dennoch. Um einen echten Mondrian von einem falschen zu unterscheiden,stützte sich Georg Schmidt auf die Überschneidung der beiden schwarzen Seiten eines Quadrats oder auf dieAnordnung der Farbschichten an den rechten Winkeln (in: Mondrian, Reunion des musees nationaux, S. 148).

2 Vgl. den berühmten Text von Ehe Faure über Veläsquez, Histoire de l'art, Paris 1988, Bd. 4 (L'art moderne 1), S.167-177.

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1 Zu diesen neuen blinden Räumen vgl. die Analysen von Christian Bonnefoi zu Ryman oder von Yves-Alain Boiszu Bonnefoi (Macula. Peinture et philosophie, Nr. 3-4 und 5-6).

2 Zunächst hat Clement Greenberg (Art and Cultur. CriticalEssays, Boston 1961), dann Michael Fried (»Trois peintresarnericains«, in: Peindre. Revue d'Estheti que, 1976) die Räume von Pollock, Morris Lewis, Newman, Noland etc.analysiert und sie durch eine »strenge Optizität« definiert. Und sicher geht es den Kritikern um den Bruch mit denaußer-ästhetischen Kriterien, auf die sich Harold Rosenberg berief, als er den Namen Action Painting prägte. Sieerinnerten daran, daß Pollocks Werke, so »modern« sie sein mögen, vor allem Gemälde waren und als solcheformalen Kriterien unterliegen. Die Frage aber lautet, ob die Optizität das richtige Kriterium für diese Werke ist.Fried scheint Zweifel daran zu haben, über die er allzu schnell hinweggeht (vgl. S. 283-287). Und der Ausdruck»action painting« mag sich als ästhetisch gerechtfertigt herausstellen.

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zen. Seine Hand befreit sich und benutzt Stöcke, Schwämme, Lappen und Spritzen: ActionPainting, »rasender Tanz« des Malers um das Gemälde oder besser im Gemälde, das nichtmehr auf die Staffelei gespannt, sondern ungespannt auf den Boden genagelt ist. Denn esgab einen Schwenk des Horizonts zum Boden: Der optische Horizont hat sich gänzlich zumtaktilen Boden verkehrt. Das Diagramm drückt mit einem Zug die ganze Malerei aus, d. h.die optische Katastrophe und den manuellen Rhythmus. Und die aktuelle Evolution desabstrakten Expressionismus vollendet diesen Prozeß, indem sie verwirklicht, was bei Pollocknoch bloß eine Metapher war: 1. Extension des Diagramms auf die räumliche und zeitlicheGesamtheit des Gemäldes (Verschiebung des »Zuvor« und »Danach«); 2. Aufgabe jedervisuellen Souveränität und sogar aller visuellen Kontrolle auf dem entstehenden Bild(Blindheit des Malers); 3. Erzeugung von Linien, die »mehr« als Linien sind, von Flächen,die »mehr« als Flächen sind, oder umgekehrt von Volumina, die »weniger« als Volumina sind(die ebenen Skulpturen von Carl Andre, die Fasern von Ryman, die Blättchen bei Barre, dieSchichten von Bonnefoi)

Um so seltsamer ist es, daß die amerikanischen Kritiker, die die Analyse dieses abstraktenExpressionismus so weit vorangetrieben haben, ihn durch die Erschaffung eines reinoptischen, ausschließlich optischen Raums definiert haben, der dem »modernen Menschen«eigentümlich sei. Dies scheint uns ein Streit um Wörter, eine Zweideutigkeit der Wörter zusein. Sie meinen nämlich, daß der pikturale Raum all seine imaginären taktilen Referentenverloren hat, die es ermöglichten, daß man Tiefen und Konturen, Formen und Hintergrundin der dreidimensionalen klassischen Repräsentation sehen konnte. Aber diese taktilenReferenten der klassischen Darstellung drückten eine relative Unterordnung der Hand unterdas Auge, des Manuellen unter das Visuelle aus. Wohingegen die abstrakten Expressionistenmit der Befreiung des Raums, den man (zu Unrecht) für rein optisch hält, de facto nichtsanderes tun, als einen ausschließlich manuellen Raum sichtbar zu machen, der durch die»Ebenheit« der Leinwand, die »Undurchdringlichkeit« des Gemäldes, das »Gestische« derFarbe definiert ist und sich dem Auge als eine absolut fremde Macht aufdrängt, bei der eskeinerlei Ruhe findet.' Dies sind keine taktilen Referenten des Blicks mehr, darum aber, weiles der manuelle Raum des Gesehenen, eine gegen das Auge gewendete Gewalt ist. Imäußersten Fall erzeugte die abstrakte Malerei einen rein optischen Raum und beseitigte dietaktilen Referenten zugunsten eines geistigen Auges: Sie strich die Aufgabe, die das Auge inder klassischen Malerei noch hatte, nämlich der Hand zu befehlen. Action Painting abermacht etwas ganz anderes: Es verkehrt die klassische Unterordnung, es ordnet das Auge derHand unter, es zwingt dem Auge die Hand auf, es ersetzt den Horizont durch einen Boden.

Eine der weitreichendsten Tendenzen der modernen Malerei ist die Tendenz zum Verzichtauf die Staffelei. Denn die Staffelei war ein entscheidendes Element nicht nur in derAufrechterhaltung eines figurativen Scheins, nicht nur im Verhältnis von Maler und Natur(die Motivsuche), sondern auch für die Begrenzung (Rahmen und Ränder) und für dieinnere Organisation des Gemäldes (Tiefe, Perspektive...). Heute zählt aber weniger die

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Tatsache — hat der Maler noch eine Staffelei? — als die Tendenz und die verschiedenen Arten,in denen sich die Tendenz verwirklicht. In einer Abstraktion vom Typ Mondrians ist dasGemälde kein Organismus und keine isolierte Organisation mehr, sondern zur Einteilungseiner eigenen Oberfläche geworden, die ihre Relationen zu den Einteilungen des »Zimmers«erschaffen muß, wo es Platz finden wird: In diesem Sinne ist die Malerei Mondrianskeineswegs dekorativ, sondern architektonisch, und verläßt die Staffelei, um Wandmalereizu werden. Auf ganz andere Weise verwerfen Pollock und andere ausdrücklich die Staffelei:Hier geschieht dies durch die Herstellung von »all-over«-Bildern, im Wiederfinden desGeheimnisses der gotischen Linie (im Sinne Worringers), durch die Restaurierung einerganzen Welt von gleichen Wahrscheinlichkeiten, durch den Entwurf von Linien, die voneinem Ende des Gemäldes zum anderen reichen und außerhalb des Rahmens beginnen undweiterführen, und dadurch, daß man der Symmetrie und dem organischen Zentrum dieMacht einer mechanischen Wiederholung entgegenstellt, die bis zur Anschauung getriebenwird. Dies ist keine Staffeleimalerei mehr, sondern eine Malerei auf ebener Erde (die wahrenPferde' haben keinen anderen Horizont als den Boden)? In Wahrheit aber gibt es vieleMöglichkeiten, von der Staffelei loszukommen: Die Triptychonform Bacons ist eine davon,die sich von den beiden vorangehenden sehr stark unterscheidet; und was bei Bacon für dieTriptychen gilt, trifft auch auf jedes unabhängige Bild zu, das in einem seiner Gesichtspunktestets als Triptychon komponiert ist. Im Triptychon haben die Ränder jedes der dreiGemälde — wie wir gesehen haben — nicht länger isolierende Funktion, während sie weiterhintrennen und teilen: Es gibt eine Trennungs-Vereinigung, die die technische Lösung Baconsdarstellt und in der Tat die Gesamtheit seiner Verfahren in ihrer Differenz zu denen derAbstraktion und des Informellen einsetzt. Drei Arten einer Rückkehr zum »Gotischen«?

Entscheidend ist freilich die Frage, warum sich Bacon weder auf den einen noch auf denanderen der vorangehenden Wege eingelassen hat. Die Strenge seiner Reaktionen soll keineVerurteilung bedeuten, sondern eher ausdrücken, was Bacon nicht paßt, warum er persön-lich weder den einen noch den anderen dieser Wege einschlägt. Einerseits wird er nicht voneiner Malerei angezogen, die das unwillkürliche Diagramm durch einen spirituellen visuellenKode zu ersetzen versucht (selbst wenn hierin eine exemplarische Haltung des Künstlersliegt). Der Kode ist zwangsläufig zerebral, und es fehlt ihm die Sensation, die wesentlicheRealität des Sturzes, d. h. die unmittelbare Einwirkung auf das Nervensystem. Kandinskydefinierte die abstrakte Malerei durch die »Spannung«; nach Bacon aber fehlt gerade dieSpannung der abstrakten Malerei am stärksten: Indem sie die Spannung ins Innere deroptischen Form verlegt, neutralisiert sie sie. Und schließlich läuft der Kode — eben alsabstrakter — Gefahr, eine bloße symbolische Kodierung des Figurativen zu sein.' Andererseitsist Bacon ebensowenig vom abstrakten Expressionismus angezogen, von der Macht und demGeheimnis der konturlosen Linie. Und zwar deswegen, weil das Diagramm das ganze Bildeingenommen hat, wie er sagt, und weil seine Wucherung eine regelrechte »Schlamperei«ergibt. Alle gewaltsamen Mittel des Action Painting, Stock, Bürste, Besen, Lappen und selbst

1 Unübersetzbares Wortspiel mit dem gemeinsamen Stamm von chevalet (Staffelei) und cheval (Pferd); A.d.Ü.2 Greenberg hat mit großem Nachdruck die Bedeutung dieses Verzichts auf die Staffelei insbesondere bei Pollock

unterstrichen: Er stellt bei dieser Gelegenheit das Thema des »Gotischen« heraus, scheint ihm aber nicht die volleBedeutung dieses Wortes zu geben, die es in bezug auf die Analysen Worringers annehmen kann (ein Gemälde vonPollock heißt ausgerechnet Gothic), und Greenberg scheint keine andere Alternative als »Staffeleimalerei« oder»Wandmalerei» (was unserer Meinung nach eher dem Fall Mondrians entspricht) zu kennen. Vgl. Macula, Nr. 2,»Dossier Jackson Pollock«.

3 Bacon wirft der Abstraktion oft vor, daß sie »auf einer Ebene« verharrt und die »Spannung« verfehlt (G 61). VonMarcel Duchamp wird Bacon sagen, er bewundere ihn mehr für seine Haltung als für seine Malerei; denn seineMalerei scheint Bacon eine Symbolik oder eine »Kurzschrift« der Figuration zu sein (G 107).

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Konditorspritze, entfesseln sich in einer Katastrophenmalerei: Hier ist die Sensation zwargetroffen, verbleibt aber in einem unwiderruflich verworrenen Zustand. Bacon wird unab-lässig von der absoluten Notwendigkeit sprechen, das Diagramm an seiner Wucherung zuhindern, von der Notwendigkeit, es auf gewissen Bezirken des Gemäldes und zu gewissenAugenblicken des Malakts zu erhalten: Er glaubt, daß auf dem Gebiet des irrationalen Strichsund der konturlosen Linie Michaux weiter geht als Pollock, eben weil er eine Beherrschungdes Diagramms bewahrt!

Die Kontur retten — es gibt für Bacon nichts Wichtigeres. Eine Linie, die nichts begrenzt,hat dennoch selbst eine Kontur: Blake zumindest wußte dies.' Das Diagramm darf also nichtdas ganze Gemälde anfressen und muß räumlich und zeitlich begrenzt bleiben. Es mußoperativ und kontrolliert bleiben. Seine Mittel dürfen sich nicht entfesseln und die zwangs-läufige Katastrophe darf nicht alles überschwemmen. Das Diagramm ist eine faktischeMöglichkeit, sie ist nicht das Faktum selbst. Nicht alle figurativen Gegebenheiten dürfenverschwinden; und vor allem muß eine neue Figuration, die der Figur, aus dem Diagrammhervortreten und die Sensation ins Klare und Präzise führen. Der Katastrophe entrinnen...Selbst wenn man mit einem nachträglich hingeworfenen Pinselstrich aufhört, ist das wie einlokaler »Peitschenhieb«, der uns herausbringt, anstatt uns hineinzutreiben.' Kann man sagen,daß wenigstens die »malerische« Periode das Diagramm auf das ganze Gemälde ausdehnte?Wurde nicht die ganze Fläche des Bildes durch grasartige Striche oder mit Variationen einesdunklen Farbflecks schraffiert, die als Vorhang fungieren? Selbst dann aber wirkten diePräzision der Sensation, die Klarheit der Figur, die Strenge der Kontur weiterhin unter demFleck oder den Strichen fort, die sie nicht auslöschten, sondern ihnen eher ein Vermögender Schwingung und Entgrenzung verliehen (der lachende oder schreiende Mund). Und diespätere Periode Bacons kehrt zu einer lokalen Begrenzung der planlosen Striche und derverwischten Zonen zurück. Bacon verfolgt also einen dritten Weg, der weder optisch ist wiedie abstrakte Malerei noch manuell wie das Action Painting.

1 G 96: »Ich hasse die schlampige Machart so mancher Mitteleuropäischer Malerei. Das ist einer der Gründe, warumich den Abstrakten Expressionismus überhaupt nicht mag.» Und G 62: »Ich halte Michaux für einen sehr, sehrintelligenten und bewußten Künstler [...]. Und ich bin auch der Meinung, daß er die besten >tachistes< oder freienMarken geschaffen hat, die je gemacht wurden. Ich denke, er ist in diesem Punkt, bei den spontanen Gesten, vielbesser als Jackson Pollock« [Übersetzung verändert; d. Ü.].

2 Vgl. Gregory Bateson, Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und epistemologische Perspek-

tiven, Frankfurt/M. 1981, S. 60-66 (»Warum haben Dinge Konturen?«): Was Blake verrückt machte, verrückt vorWut oder Zorn, war die Tatsache, daß man ihn für verrückt hielt; aber auch einige Künstler, »die Bilder malten,als hätten die Dinge keine Konturen. Er nannte sie >die Schule der Schmierfinken».

3 G 96: »[...] Sie würden ja nie ein Bild beenden, indem Sie plötzlich etwas darauf werfen würden. Oder doch? — 0ja. In dem neulich entstandenen Triptychon erscheint auf der Schulter des Mannes, der sich in ein Waschbeckenerbricht, so ein Peitschenhieb aus weißer Farbe, — das geht in diese Richtung. Ich habe das im allerletzten Augenblickgemacht und einfach stehenlassen.»

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XIII

DIE ANALOGIE

El s gäbe also eine gemäßigte Anwendung des Diagramms, eine Art Mittelweg, auf demIdas Diagramm nicht auf den Status eines Kodes reduziert ist und sich ebensowenig über

das ganze Gemälde hinweg ausbreitet. Den Kode ebenso wie das Durcheinander ver-meiden... Muß man nun von Weisheit oder Klassizismus sprechen? Es fällt indessen schwerzu glauben, daß C&anne einen Mittelweg nahm. Er erfand vielmehr einen Sonderweg, dersich von den beiden vorangehenden unterscheidet. Wenige Maler haben mit ähnlicherIntensität die Erfahrung des Chaos und der Katastrophe gemacht, indem er allerdings darumkämpfte, es zu begrenzen und um jeden Preis zu kontrollieren. Chaos und Katastrophe sindder Zusammenbruch aller figurativen Gegebenheiten, also bereits ein Kampf, der Kampfgegen das Klischee, die vorbereitende Arbeit (die um so notwendiger ist, als wir nicht mehr»unschuldig« sind). Und aus dem Chaos gehen zunächst die »hartnäckige Geometrie«, die»geologischen Linien« hervor; und diese Geometrie oder Geologie muß ihrerseits selbstdurch die Katastrophe hindurchgehen, damit die Farben aufsteigen, damit die Erde zurSonne aufsteigt.' Es ist also ein verzeitlichtes Diagramm mit zwei Momenten. Das Dia-gramm aber vereint diese beiden Moment unverbrüchlich: Die Geometrie ist dabei »Gerüst«und die Farbe Sensation, »Farbempfindung«. Das Diagramm ist exakt das, was C&anneMotiv nennt. Denn das Motiv besteht aus zwei Dingen, aus Sensation und Gerüst. Es istderen Verflechtung. Eine Sensation oder ein Blickpunkt reichen nicht hin, um ein Motiv zuergeben: Selbst als Farbempfindung ist die Sensation ephemer und verworren, es mangeltihr an Dauer und Klarheit (daher die Kritik am Impressionismus). Das Gerüst aber genügtnoch weniger: Es ist abstrakt. Die Geometrie konkret oder zur empfundenen machen undzugleich der Sensation Dauer und Klarheit verleihen. 2 Es wird dann etwas aus dem Motiv

1 Vgl. den berühmten Text von Joachim Gasquet in Gespräche mit Ceianne, hg. v. M. Doran, Zürich 1982, S.140-143. (Die Vorbehalte des Herausgebers gegen den Wert des Textes von Gasquet erscheinen uns unbegründet;Maldiney scheint recht zu haben, wenn er diesen Text zum Zentrum seines Kommentars über Cezanne macht.)

2 Die zwei Vorwürfe, die Cezanne den Impressionisten macht, lauten, daß sie allgemein durch ihre Behandlung derFarbe bei einem verworrenen Zustand der Sensation stehenbleiben und daß noch die besten — wie Monet — beieinem ephemeren Zustand verweilen: » J.1 ich habe aus dem Impressionismus etwas Festes und Beständiges machenwollen, wie die Kunst der Museen. [...] in die Flucht aller Dinge, in diese Bilder Monets muß man jetzt eineFestigkeit bringen, ein Gerüst« (Gespräche mit azanne, a. a. 0., S. 151). Die Festigkeit oder Dauer, die Cezannereklamiert, müssen hinsichtlich des pikturalen Materials, der Struktur des Bildes, der Behandlung der Farbenverstanden werden und zugleich hinsichtlich der klaren Verfassung, zu der die Sensation befördert wurde. So ergibtetwa ein Blickpunkt kein Motiv, weil ihm die notwendige Festigkeit und Dauer fehlt (»ich habe hier sehr schöne

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oder Diagramm herauskommen. Oder besser: diese Operation, die die Geometrie auf dasSinnliche und die Sensation auf die Dauer und Klarheit bezieht, ist bereits all das, Ausgangund Ausweg. Daher zwei Fragen: Wodurch wird dieser Bezug im Motiv oder im Diagrammermöglicht (faktische Möglichkeit)? Und wie wird dieser Bezug im Ausgang aus demDiagramm konstituiert (das Faktum selbst)?

Die erste Frage betrifft die Anwendung. Wenn nämlich die Geometrie nicht Malerei ist,so gibt es spezifisch pikturale Anwendungen der Geometrie. Eine dieser Anwendungennannten wir »digital«, und zwar nicht im unmittelbaren Verweis auf die Hand, sondern imVerweis auf die Basiseinheiten eines Kodes. Noch einmal: diese Basiseinheiten oder elemen-taren visuellen Formen sind sehr wohl ästhetisch und nicht mathematisch, in dem Maßenämlich, wie sie die manuelle Bewegung, die sie erzeugt, vollständig verinnerlicht haben.Sie bilden jedenfalls einen Kode der Malerei und machen aus der Malerei einen Kode. Schonin diesem Sinne, mit einer Nähe zur abstrakten Malerei, muß der Satz Serusiers verstandenwerden: »Die Synthese besteht darin, alle Formen in die kleine Zahl von Formen einzubrin-gen, die wir zu denken fähig sind, Geraden, einige Winkel, Kreis- und Ellipsenbogen.« DieSynthese ist also eine Analytik der Elemente. Wenn dagegen Cezanne den Maler auffordert,die Natur »nach Zylinder, Kugel und Kegel« zu behandeln, »das Ganze in die richtigePerspektive zu bringen«, so hat man den Eindruck, daß die abstrakten Maler Unrecht hätten,darin einen Segen zu sehen: nicht nur weil Cezanne den Akzent — mit Ausnahme desWürfels — auf die Volumina setzt, sondern vor allem weil er eine ganz andere Verwendungder Geometrie als die eines Kodes der Malerei vorschlägt.' Der Zylinder ist jenes Ofenrohr(aus den Händen des Blechschmieds hervorgegangen) oder jener Mann (dessen Arme nichtzählen...). Einer aktuellen Terminologie folgend könnte man sagen, daß Cezanne einenanalogen Gebrauch der Geometrie macht und keinen digitalen. Das Diagramm oder dasMotiv wären analog, während der Kode digital ist.

Die »analoge Sprache«, so sagt man, entstamme der rechten Gehirnhälfte — oder besser:dem Nervensystem —, die »digitale Sprache« aber der linken. Die analoge Sprache wäre einerelationale Sprache, die die Ausdrucksbewegungen, para-sprachlichen Zeichen, die Atem-züge und Schreie etc. umfaßt. Es läßt sich die Frage stellen, ob dies eine Sprache imeigentlichen Sinne sei. Es besteht aber kein Zweifel, daß Artauds Theater etwa die Schreiebzw. Atemzüge zum Status einer Sprache erhoben hat. Allgemeiner noch erhebt die Malereidie Farben und Linien zum Status einer Sprache, und dies ist eine analoge Sprache. Mankann sich sogar fragen, ob nicht die Malerei stets die analoge Sprache schlechthin gewesensei. Wenn man von einer analogen Sprache bei den Tieren spricht, so berücksichtigt mannicht deren etwaige Gesänge, die einem anderen Gebiet entstammen, sondern denkt imwesentlichen an die Schreie, an die wechselnden Farben und die Linien (Haltungen,Posituren). Unsere erste Versuchung jedoch, nämlich das Digitale durch das Konventionelleund das Analoge durch Gleichartigkeit oder Ähnlichkeit zu definieren, ist offensichtlichschlecht begründet. Ein Schrei ähnelt dem von ihm Signalisierten ebensowenig wie ein Wort

Aussichten, doch bilden sie nicht eigentlich Motive«; Paul Cezanne, Briefe, Erlenbach-Zürich u. a. 1938, S. 238).Man findet bei Bacon den gleichen Anspruch auf Dauer und Klarheit, die er seinerseits nicht mehr dem Impres-sionismus, sondern dem abstrakten Expressionismus gegenüberstellt. Und diese »Möglichkeit des Überdauerns«verknüpft er zunächst mit dem Material: Man stelle sich »eine Sphinx aus Bubblegum« vor... (G 59). Bacon glaubtinsbesondere, daß die Ölmalerei ein Medium langer Dauer und hoher Klarheit zugleich ist. Aber die Fähigkeitzum Überdauern hängt auch vom Gerüst oder Tragwerk und von der besonderen Behandlung der Farben ab.

1 Vgl. Gespräche mit C/z,anne, a. a. 0., S. 150; und 215-217: der Text, in dem Maurice Denis Serusier zitiert, allerdingsum ihn gerade Cezanne gegenüberzustellen.

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XIII. DIE ANALOGIE

dem, was es bezeichnet. Man definiert dann das Analoge durch eine gewisse »Evidenz«, durcheine gewisse Gegenwart, die sich unmittelbar aufdrängt, während das Digitale gelernt werdenmuß. Aber das ist kaum besser, denn auch das Analoge verlangt einen Lernprozeß, selbst beiden Tieren, obwohl dieses Lernen nicht vom gleichen Typ wie die Aneignung des Digitalenist. Die Existenz der Malerei würde hinreichen, die Notwendigkeit eines sehr langwierigenLernprozesses zu bestätigen, damit das Analoge Sprache wird. Die Frage ist also nicht voneiner festen Theorie her entscheidbar, sie muß vielmehr Gegenstand praktischer Untersu-chungen sein (von denen der Status der Malerei abhängt).

Man kann sich also nicht damit begnügen zu behaupten, die analoge Sprache arbeite mitÄhnlichkeit, die digitale aber mit Kode, Konvention und Kombination konventionellerEinheiten. Denn mit einem Kode lassen sich zumindest drei Dinge bewerkstelligen. Mankann eine intrinsische Kombination von abstrakten Elementen herstellen. Man kannebenfalls eine Kombination herstellen, die eine »Botschaft« oder einen »Bericht« ergeben,also in einem isomorphen Bezug zu einer referentiellen Gesamtheit stehen wird. Man kannschließlich die extrinsischen Elemente derart kombinieren, daß sie auf autonome Weise vonden intrinsischen Elementen des Kodes reproduziert werden (so etwa in einem mit Com-puter verfertigten Portrait und in all den Fällen, in denen man von einer »Kurzschrift derfigurativen Gegebenheiten« wird sprechen können). Es scheint somit, daß ein digitaler Kodemanche Formen von Gleichartigkeit oder Analogie abdeckt: die Analogie durch Isomorphieoder die Analogie über hergestellte Ähnlichkeit.

Wenn aber umgekehrt die Analogie unabhängig von jeglichem Kode ist, so kann mannoch zwei Formen unterscheiden, je nachdem ob die Ähnlichkeit produktiv oder produziertist. Die Ähnlichkeit ist produktiv, wenn die Verhältnisse zwischen Elementen eines Dingsunmittelbar in die Verhältnisse zwischen Elementen eines anderen Dings eingehen, dasfolglich das Bild des ersten sein wird: so etwa bei einem Photo, das Lichtverhältnisse festhält.Daß diese Verhältnisse über genügend Spielraum verfügen, so daß das Bild große Differenzenzum Ausgangsobjekt aufweisen kann, verschlägt nicht folgendes: daß man nämlich dieseDifferenzen nur durch nachlassende Ähnlichkeit erhält, sei es, daß sie in ihrem Vollzugdekomponiert, sei es, daß sie in ihrem Resultat transformiert wird. Die Analogie ist hier alsofigurativ und die Ähnlichkeit bleibt prinzipiell ursprünglich. Das Photo kann dieser Grenzenicht entkommen, trotz all seiner Ambitionen. Demgegenüber spricht man von einerproduzierten Ähnlichkeit, wenn sie mit einem Mal als das Resultat aller anderen Verhältnis-se — deren Reproduktion sie gerade nicht übernommen hat — erscheint: Die Ähnlichkeittaucht dann als das unerwartete Produkt unähnlicher Mittel auf. Dies war bereits bei einerder Kode-Analogien der Fall, als nämlich der Kode eine Ähnlichkeit in Abhängigkeit vonseinen eigenen inneren Elementen wiederherstellte. In diesem Fall aber geschah das nur, weildie zu reproduzierenden Verhältnisse selbst kodiert waren. Während nun, wo jeder Kodefehlt, die zu reproduzierenden Verhältnisse unmittelbar durch ganz andere Verhältnissehervorgebracht werden: verähnlichen durch unähnliche Mittel. In diesem letzten Analogie-typ ist die sinnliche Ähnlichkeit eine produzierte, sie ist es aber nicht auf symbolische Weise,d. h. über den Umweg des Kodes, sondern statt dessen »auf sinnliche Weise«, über dieSensation. Da es bei diesem letzten, herausragenden Typ weder primäre Ähnlichkeit nocheinen vorausgehenden Kode gibt, muß man für ihn den Namen einer ästhetischen — zugleichnicht-figurativen und nicht-kodifizierten — Analogie reservieren.

In seiner großen semiotischen Theorie definiert Peirce zunächst die Ikons durch Gleich-artigkeit und die Symbole durch eine konventionelle Regel. Er räumt aber ein, daß diekonventionellen Symbole Ikons enthalten (auf Grund von Phänomenen der Isomorphie),und daß die reinen Ikons bei weitem die qualitative Gleichartigkeit übersteigen und

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DELEUZE: FRANCIS BACON - LOGIK DER SENSATION

»Diagramme« enthalten.' Was aber ein analoges Diagramm im Gegensatz zu einem digitalenoder symbolischen Kode ist, bleibt schwer zu erklären. Heute kann man sich auf dasKlangbeispiel der Synthesizer beziehen. Die analogen Synthesizer sind »modulatorisch«: Siebringen heterogene Elemente in unmittelbare Konnexion, sie führen zwischen diese Ele-mente eine an sich unbegrenzte Konnexionsmöglichkeit ein, und zwar in einem Präsenzfeldoder auf einer begrenzten Ebene, deren Momente allesamt aktuell und sinnlich wahrnehm-bar sind. Während die digitalen Synthesizer »integriert« sind: Ihre Operation verläuft übereine Kodifizierung, über eine Homogenisierung und Binarisierung der Daten, die sich aufeiner unterschiedenen, von Rechts wegen unendlichen Ebene vollzieht und deren sinnlichWahrnehmbares nur das Resultat von Konversion/Übersetzung sein wird. Ein zweiterUnterschied erscheint auf der Ebene der Filter: Der Filter hat vor allem die Funktion, dieBasisfarbe eines Klangs zu modifizieren, die Klangfarbe zu bilden oder variieren zu lassen;die digitalen Filter aber vollziehen eine additive Synthese der kodifizierten elementarenFormative, während der analoge Filter meist mit Subtraktion von Frequenzen arbeitet(»Hochpaß«, »Tiefpaß« etc.), so daß von einem Filter zum anderen intensive Subtraktionenaddiert werden, d. h., eine Addition von Subtraktionen die Modulation und die sinnlicheBewegung als Sturz konstituiert.' Kurz, vielleicht ist gerade der Begriff von Modulationüberhaupt (und nicht von Gleichartigkeit) dazu angetan, uns die Natur der analogen Spracheoder des Diagramms begreiflich zu machen.

Die Malerei ist die analoge Kunst schlechthin. Sie ist sogar die Form, unter der dieAnalogie Sprache wird, eine eigene Sprache findet: im Durchgang durch ein Diagramm.Demzufolge stellt die abstrakte Malerei ein ganz besonderes Problem. Sicherlich arbeitet dieabstrakte Malerei mit Kode und Programm: Sie impliziert Operationen der Homogenisie-rung und Binarisierung, die für einen digitalen Kode konstitutiv sind. Es trifft sich aber, daßdie Abstrakten oft große Maler sind, d. h. keinen Kode auf die Malerei anwenden, der ihräußerlich wäre: Im Gegenteil, sie erarbeiten einen im eigentlichen Sinne pikturalen Kode.Dies ist folglich ein paradoxaler Kode, da er sich der Analogie nicht entgegenstellt, sondernsie statt dessen zum Gegenstand nimmt, er ist der digitale Ausdruck des Analogen alssolchen.' Die Analogie wird einen Kode und nicht ein Diagramm durchlaufen. Das ist einStatus, der ans Unmögliche rührt. Und auf andere Weise rührt die informelle Kunst ebenfallsans Unmögliche: Indem sie das Diagramm über das ganze Gemälde hinweg ausdehnt,nimmt sie es als den analogen Strom selbst, anstatt den Strom das Diagramm durchlaufenzu lassen. Hier verhält es sich so, als ob sich das Diagramm nur auf sich selbst bezöge undnicht mehr zum Gebrauch oder zur Behandlung diente. Es überschreitet sich nicht mehr ineinem Kode, sondern geht in einem Durcheinander auf.

Der »Mittelweg« dagegen bedient sich des Diagramms zur Bildung einer analogenSprache. Mit Cezanne gewinnt er seine ganze Unabhängigkeit. Er heißt Mittelweg nur von

1 In seiner Theorie des Zeichens legt Peirce der analogen Funktion und dem Begriff des Diagramms große Bedeutungbei. Nichtsdestoweniger reduziert er das Diagramm auf eine Gleichartigkeit von Relationen. Vgl. Charles S. Peirce,Semiotische Schriften, hg. v. Ch. Kloesel und H. Pape, 3 Bde., Frankfurt/M. 1986-1993.

2 Wir entnehmen die vorangehende Analyse Richard Pinhas, Synthese analogique, synthese digitale (erscheint dem-nächst).

3 Bei Bateson findet man eine sehr interessante Hypothese über die Sprache der Delphine (Ökologie des Geistes, a. a.0., S. 476-477). Nachdem er analoge Sprache, die sich auf Relationen gründet, und digitale oder vokale Sprache,die sich auf konventionelle Zeichen gründet, unterschieden hat, stößt Bateson auf das Problem der Delphine.Aufgrund ihrer Anpassung ans Meer mußten diese auf die kinästhetischen und Gesichtszeichen verzichten, die dieanaloge Sprache der Säugetiere kennzeichnen; sie blieben nichtsdestoweniger zu den analogen Funktionen verur-teilt, befanden sich aber in der Situation, sie »vokalisieren«, sie als solche kodifizieren zu müssen. Das gleicht einwenig der Situation des abstrakten Malers.

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XIII. DIE ANALOGIE

einem sehr äußerlichen Standpunkt aus, da er ebenso wie die anderen eine grundlegendeErfindung und eine Zerstörung der figurativen Koordinaten impliziert. Tatsächlich hat dieMalerei als analoge Sprache drei Dimensionen: die Ebenen, die Konnexion oder Verbindungder Ebenen (und zunächst der vertikalen und der horizontalen Ebene), die die Perspektiveersetzen; die Farbe, die Modulation der Farbe, die die Valeurverhältnisse, das Hell-Dunkelund den Kontrast von Schatten und Licht zu beseitigen suchen; der Körper, die Masse unddie Deklination der Körper, die den Organismus übersteigen und das VerhältnisForm/Grund außer Kraft setzen. Es gibt hier eine dreifache Befreiung, des Körpers, derEbenen und der Farbe (die Farbe wird nämlich nicht nur durch die Kontur, sondern auchdurch den Kontrast der Valeurs gezähmt). Nun kann eben diese Befreiung nur im Durchgangdurch die Katastrophe geschehen, d. h. durch das Diagramm und sein unwillkürlichesHereinbrechen: Die Körper sind im Ungleichgewicht, in einem Zustand beständigenSturzes; die Ebenen fallen aufeinander; die Farben verfallen selbst in Konfusion undbegrenzen keinen Gegenstand mehr. Damit der Bruch mit der figurativen Ähnlichkeit nichtdie Katastrophe vermehrt, damit man zur Herstellung einer tieferen Ähnlichkeit gelangt,müssen die Ebenen — ausgehend vom Diagramm — ihre Verbindung garantieren; muß dieMasse der Körper das Ungleichgewicht in eine Deformation integrieren (die weder Trans-formation noch Dekomposition, sondern Schauplatz einer Kraft ist); muß vor allem dieModulation ihre wahre Bedeutung und ihre technische Formel als Analogiegesetz findenund als kontinuierliche variable Gußform wirken, die nicht bloß der Hell-Dunkel-Model-lierung gegenübertritt, sondern eine neue Modellierung durch die Farbe erfindet. Undvielleicht ist diese Modulation der und durch die Farbe die Hauptoperation bei Cezanne.Indem sie die Valeurverhältnisse durch ein Nebeneinander von Farbtönen ersetzt, die in derSpektralfolge dicht aneinanderliegen, wird sie eine doppelte Bewegung von Ausdehnungund Kontraktion definieren: eine Ausdehnung, in der sich die Ebenen — und zunächst diehorizontale und die vertikale Ebene — miteinander verbinden und gar in der Tiefe zusam-menschließen; und gleichzeitig eine Kontraktion, durch die all das auf den Körper, auf dieMasse umgelenkt wird, und zwar in Abhängigkeit von einem Punkt des Ungleichgewichtsoder des Sturzes.' In einem derartigen System wird die Geometrie sinnlich, werden dieSensationen zugleich klar und dauerhaft: Man hat die Sensation »verwirklicht«, sagt Cezan-ne. Oder man ist, nach Bacons Formulierung, von der faktischen Möglichkeit zum Faktum,vom Diagramm zum Gemälde gelangt.

In welchem Sinne ist Bacon Anhänger Cezannes, und in welchem Sinne hat er nichts mitihm zu tun? Das Ausmaß der Unterschiede ist evident. Die Tiefe, in der sich die Verbindungder Ebenen herstellt, ist nicht mehr die große Tiefe Cezannes, sondern eine »seichte« oder»oberflächliche« Tiefe, die vom Postkubismus Picassos und Braques ererbt wurde (und dieman übrigens auch im abstrakten Expressionismus findet). 2 Diesen Typ von Tiefe erhältBacon sei es durch die Verbindung der vertikalen und horizontalen Ebenen in seinen Werkenvon radikaler Präzision, sei es durch ihre Verschmelzung wie in der malerischen [i. 0. dt.]

1 Zu all diesen Punkten vgl. Gespräche mit Ci‘zanne, a. a. 0. (und hinsichtlich der Farbe vor allem die Texte vonRiviere und Schnerb, S. 110-118). In einem schönen Artikel hat Lawrence Gowing (»Cezanne, la logique dessensations organis&s«, in: Macula, Nr. 3-4) die Modulation der Farbe analysiert, die C&Lanne selbst als ein Har-moniegesetz präsentierte. Diese Modulation kann zusammen mit anderen Verwendungsweisen der Farbe bestehen,gewinnt aber seit 1900 eine besondere Bedeutung bei C&anne. Obwohl sie Gowing in die Nähe eines »konven-tionellen Kodes« oder eines »metaphorischen Systems« rückt, ist sie viel eher ein Analogiegesetz. Chevreul benutzteden Ausdruck »Harmonie von Analoga«.

2 Marc Chenetier, Greenbergs (französischer) Übersetzer schlägt zur Übersetzung von »shallow depth« profondeurmaigre (seichte Tiefe) vor, einen ozeanographischen Ausdruck, der die Untiefen benennt (Macula, Nr. 2, S. 50).

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DELEUZE: FRANCIS BACON - LOGIK DER SENSATION

Periode, in der sich etwa die Vertikalen des Vorhangs und die Horizontalen des Fensterladensüberschneiden. Ebenso durchläuft die Behandlung der Farbe nicht nur die flachen, kolo-rierten und modulierten Flecken (flache Stellen), die die Körper umgeben, sondern auch diegroßen Flächen oder gleichmäßigen Farbschichten, die Achsen, Strukturen oder Gerüstesenkrecht zu den Körpern implizieren: Die ganze Modulation ändert sich in ihrem Wesen.'Schließlich ist die Deformation der Körper sehr verschiedenartig, sofern, wie wir gesehenhaben, in der offenen Welt Cezannes (Natur) und in der geschlossenen Welt Bacons nichtdieselben Kräfte auf diese Körper einwirken.

Worin aber Bacon Anhänger Cezannes bleibt, ist das extreme Vorantreiben der Malereials analoger Sprache. Gewiß hat selbst die Verteilung der Rhythmen in den Triptychen nichtsmit einem Kode zu tun. Der konische Schrei, der sich mit den Vertikalen zusammenschließt,das gestreckte dreieckige Grinsen, das mit den Horizontalen zusammengeht, sind die wahren»Motive« dieser Malerei. Sie ist insgesamt aber Schrei und Lächeln, d. h. analog. Die Analogiefindet ihr höchstes Gesetz in der Behandlung der Farben. Und diese Behandlung steht denValeurverhältnissen, den Verhältnissen von Licht und Schatten, des Hell-Dunkel gegenüber:Ihre Konsequenz liegt sogar darin, daß sie Schwarz und Weiß befreit, aus ihnen Farbenmacht, so daß der schwarze Schatten reale Gegenwart gewinnt und das weiße Licht einediffuse intensive Klarheit auf allen Frequenzbereichen. Aber der »Kolorismus« steht nichtder Modellierung und nicht einmal der gezeichneten Kontur entgegen. Die Kontur kannsogar eine gesonderte Existenz gewinnen und zur gemeinsamen Grenze des Gerüsts und desMasse-Körpers werden, da diese nicht mehr in einem Verhältnis von Form und Hintergrundstehen, sondern in einem Verhältnis von Koexistenz oder Nähe, das durch die Farbemoduliert ist. Und durch die Membran der Kontur hindurch vollzieht sich eine doppelteBewegung, die Bewegung einer ebenen Ausdehnung hin zum Gerüst und die Bewegungeiner voluminösen Kontraktion hin zum Körper. Darum waren die drei Elemente Baconsdie Struktur oder das Gerüst, die Figur und die Kontur, die ihre effektive Konvergenz in derFarbe finden. Das Diagramm, Träger der analogen Sprache, wirkt nicht als Kode, sondernals Modulator. Das Diagramm und seine unwillkürliche manuelle Ordnung werden demAufbrechen aller figurativen Koordinaten gedient haben; gerade dadurch aber (wenn esoperativ ist) definiert es faktische Möglichkeiten, indem es die Linien für das Gerüst unddie Farben für die Modulation befreit. Linien und Farben können dann die Figur oder dasFaktum bilden, d. h. die neue Ähnlichkeit im visuellen Ensemble erzeugen, in dem dasDiagramm wirken, sich verwirklichen muß.

1 Dies wäre eine zweiter gemeinsamer Punkt zwischen Bacon und dem abstrakten Expressionismus. Aber schon beiCzanne bemerkte Gowing, daß die Farbflecken »nicht nur Volumina implizieren, sondern auch Achsen, Gerüste,die senkrecht zu den chromatischen Progressionen stehen« — ein regelrechter »vertikaler Gerüstbau«, der freilichvirtuell bleibt (Macula, Nr. 3-4, S. 95).

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XIV

JEDER MALER RESÜMIERT DIE GESCHICHTEDER MALEREI AUF SEINE WEISE...

Ruhm den Ägyptern. »Ich habe mich nie von den großen europäischen Bildern derVergangenheit absetzen können, und mit europäisch meine ich auch Ägypten, selbst

wenn mir die Geographen widersprechen.«' Kann man die ägyptische Gestaltungsweise zumAusgangspunkt der abendländischen Malerei nehmen? Eher als Malerei ist dies eine Gestal-tung im Basrelief. Riegl hat sie folgendermaßen definiert: 1. Das Basrelief verfügt denstrengsten Zusammenschluß von Auge und Hand, weil sein Element die ebene Fläche ist;diese erlaubt dem Auge ein Vorgehen nach der Art des Tastsinns, mehr noch, sie überträgt,sie verschreibt dem Auge eine taktile oder besser haptische Funktion; sie gewährleistet alsoim ägyptischen »Kunstwollen« die Vereinigung zweier Sinne, des Tastsinns und des Gesichts-sinns, als Boden und Horizont. — 2. Diese haptische Funktion wird durch einen frontalenBlick und eine Nahsicht übernommen, da Form und Hintergrund sich auf dieser selbenEbene der Oberfläche befinden, gleich nah zueinander und zu uns selbst. — 3. Form undHintergrund werden durch die Kontur als deren gemeinsame Grenze getrennt und vereintzugleich. — 4. Und die Form als Wesen, als geschlossene Einheit, die dem Zufall, derVeränderung, der Deformation und dem Zerfall entzogen ist, wird durch die geradlinigeoder regelmäßig gebogene Kontur isoliert; das Wesen gewinnt eine formale und lineareGegenwart, die den Strom der Existenz und der Repräsentation beherrscht. — 5. Dasägyptische Basrelief wird also von einer Geometrie der Ebene, der Linie und des Wesensgeprägt, einer Geometrie, die sich aber gleichermaßen des Volumens bemächtigen wird,indem sie den Kubus des Grabmals mit einer Pyramide überdeckt, d. h. eine Figur errichtet,die uns nur die einheitliche Oberfläche von gleichschenkeligen Dreiecken mit klar begrenz-ten Seiten darbietet. — 6. Und auf diese Weise erhalten nicht nur der Mensch und die Weltihr ebenes oder lineares Wesen, sondern auch das Tier, auch das Pflanzenreich, Lotos undSphinx, die zur perfekten geometrischen Form emporsteigen und deren Geheimnis selbstim Wesen liegt.'

1 Zit. nach John Russell, a. a. 0., S. 99.2 Vgl. Alois Riegl, Die spätrömische Kunstindustrie, Wien 1901, S. 51 ff. Das Haptische — vom griechischen Verb

hapto (berühren) bezeichnet keine äußerliche Relation des Auges zum Tastsinn, sondern eine »Möglichkeit desBlicks«, den Typ eines Blicks, der sich von der Optik unterscheidet: Die ägyptische Kunst wird mit dem Blickabgetastet, sie wurde ersonnen, um aus der Nähe angesehen zu werden, und »in der Raumzone der Nähe erfährtder Blick, der wie der Tastsinn verfährt, am selben Ort die Gegenwart von Form und Grund«, wie Maldiney sagt(a. a. 0., S. 195).

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DELEUZE: FRANCIS BACON - LOGIK DER SENSATION

Viele Dinge machen aus Bacon einen Ägypter, über die Jahrhunderte hinweg. Diegleichmäßigen Farbflächen, die Kontur, die Form und der Hintergrund als zwei gleicher-maßen nahe Sektoren auf derselben Ebene, die extreme Nähe der Figur (Gegenwart), dasSystem der Klarheit. Bacon erweist Ägypten die Ehre der Sphinx und erklärt seine Liebe fürdie ägyptische Plastik: Wie Rodin hält er die Dauerhaftigkeit, das Wesen oder die Ewigkeitfür das erste Merkmal des Kunstwerks (eben das, was dem Photo fehlt). Und im Gedankenan seine eigene Malerei sagt er etwas Seltsames: daß ihn nämlich die Plastik sehr stark verlockthat, er zugleich aber dessen gewahr wurde, daß ihm gerade in der Malerei gelang, was er vonder Plastik erwartete.' An welche Art von Bildhauerei dachte er nun? An eine Plastik, diejene drei pikturalen Elemente aufgegriffen hätte: das Hintergrund-Gerüst, die Form-Figurund die Grenz-Kontur. Er präzisiert, daß die Figur mit ihrer Kontur die Fähigkeit hättehaben müssen, auf dem Gerüst entlangzugleiten. Aber selbst unter Berücksichtigung dieserBeweglichkeit läßt sich bemerken, daß Bacon an eine Plastik vom Typ des Basreliefs denkt,d. h. an etwas zwischen Skulptur und Malerei. So groß indessen Bacons Nähe zu Ägypten

81 sein mag, wie läßt sich dann erklären, daß seine Sphinx verwischt und »malerisch« behandelt

ist?Nicht mehr Bacon, sondern die gesamte Geschichte der abendländischen Malerei steht

hier zweifellos auf dem Spiel. Wenn man diese abendländische Malerei zu definierenversucht, so kann man einen ersten Anhaltspunkt im Christentum finden. Denn dasChristentum hat die Form — oder besser: die Figur — einer grundlegenden Deformationunterworfen. In dem Maße, wie Gott Fleisch wurde, sich kreuzigen ließ, herabstieg, wiedergen Himmel fuhr etc., waren Form und Figur nicht mehr exakt auf das Wesen bezogen,sondern auf sein prinzipielles Gegenteil, auf das Ereignis und sogar auf das Unbeständige,das Zufällige. Im Christentum liegt ein Keim jenes unerschütterlichen Atheismus, der dieMalerei nähren wird; leicht kann der Maler gleichgültig sein gegen den religiösen Gegen-stand, den er doch darstellen soll. Nichts hindert ihn zu bemerken, daß die Form in ihremnun wesentlichen Verhältnis zum Akzidentellen vielleicht nicht mehr die eines Gottes amKreuz, sondern viel einfacher die einer »Serviette oder eines Tischtuches« ist, die verrutschtsind, einer »Messerscheide, die herunterfällt, eines Laibs Brot, der sich wie von selber inScheiben aufteilt, eines umgestürzten Kelches, aller möglichen Vasen oder durcheinander-gebrachten Früchte und schiefstehenden Teller« 2 . Und all das kann auf Christus selbst oderannähernd auf ihn übertragen werden: Hier ist er nun, der von den Zufällen bedrängte undgar ersetzte Christus. Die moderne Malerei beginnt, als sich der Mensch selbst nicht mehrganz als Wesenheit, sondern eher als ein Akzidentelles sah. Es gibt stets einen Sturz, eineGefahr des Sturzes; die Form beginnt das Akzidentelle auszusagen, nicht das Wesen. Claudelhat Recht, wenn er in Rembrandt und in der holländischen Schule einen Gipfel dieserBewegung sieht, aber gerade dadurch gehört sie auf herausragende Weise zur abendländi-schen Malerei. Und eben weil Ägypten die Form in den Dienst des Wesens gestellt hat,

1 G 85, 110.2 Claudel, a. a. 0., S. 318 (und S. 314: »Nirgendwo [...] hat man vor einem Gemälde Rembrandts den Eindruck

des Dauernden und Endgültigen: um eine überaus flüchtige Verwirklichung handelt es sich, um eine Erscheinung,um ein wunderbares Wiedereinfangen des Vergangenen: für einen Augenblick hebt sich der Vorhang, um gleichwieder zu fallen«). John Russell zitiert einen Text von Leiris, der Bacon sehr beeindruckt hat: »Für Baudelaire wärekeine Schönheit ohne Mitwirkung von etwas Zufälligem denkbar. [...] Schön wird nur sein, was die Existenz eineridealen, überirdischen, harmonischen, logischen Ordnung nahelegt, die aber im selben Zug gleichsam den Makeleines Sündenfalls, den Gifttropfen, ein Gran von Inkohärenz, das Sandkorn enthält, das jedes System aus demGleichgewicht bringt« (S. 88-89).

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DELEUZE: FRANCIS BACON - LOGIK DER SENSATION

affiziert, so komplex es auch sein mag, weil eine berührbare Kontur die Individuation deroptischen Form über die visuellen Variationen und die Verschiedenheit der Blickpunktehinweg gewährleisten muß.' Kurz, das Auge, das seine haptische Funktion aufgegeben hatund optisch geworden ist, hat sich das Taktile als ein sekundäres Vermögen untergeordnet(und auch hier muß in dieser »Organisation« ein außergewöhnlicher Zusammenhang vonspezifisch pikturalen Erfindungen gesehen werden).

Wenn aber eine Evolution stattfindet, oder besser Einbrüche, die die organische Reprä-sentation aus dem Gleichgewicht werfen, so kann dies nur in eine der beiden folgendenRichtungen geschehen. Entweder die Exposition eines reinen optischen Raums, der sich vonseinen Verweisen auf eine Taktilität, und sei sie auch untergeordnet, befreit (Wölfflin sprichtin diesem Sinne von einer Tendenz in der Entwicklung der Kunst, »sich der bloßen optischenErscheinung zu überlassen« . Oder demgegenüber das Aufzwingen [imposition] eines gewalt-samen manuellen Raums, der revoltiert und die Herrschaft abschüttelt: wie in einem»Gekritzel«, bei dem die Hand in den Dienst eines »fremden, gebieterischen Willens« zutreten scheint, um sich auf unabhängige Weise auszudrücken. Diese beiden entgegengesetz-ten Richtungen scheinen sich tatsächlich in der byzantinischen Kunst oder in der barbari-schen oder gotischen Kunst zu verkörpern. Die byzantinische Kunst vollzieht nämlich einenSturz der griechischen Kunst, indem sie dem Grund eine Aktivität verleiht, die bewirkt, daßman nicht mehr weiß, wo er endet oder wo die Formen beginnen. Denn die Ebene, die ineiner Kuppel, einem Gewölbe oder einem Bogen eingeschlossen ist und dank der von ihrgeschaffenen Distanz zum Zuschauer zum Hintergrund wurde, ist der aktive Träger ungreif-barer Formen, die mehr und mehr vom Wechsel zwischen Hell und Dunkel, vom reinoptischen Spiel des Lichtes und des Schattens abhängen. Die taktilen Referenzen sind getilgt,und selbst die Kontur ist keine Grenze mehr und resultiert aus Schatten und Licht, ausschwarzen Zonen und weißen Oberflächen. Auf Grund eines analogen Prinzips wird dieMalerei viel später — im 17. Jahrhundert — die Rhythmen von Licht und Schatten entwickeln,die die Unversehrtheit einer plastischen Form nicht mehr respektieren, sondern eher eineaus dem Hintergrund hervorgegangene optische Form auftauchen lassen werden. ImUnterschied zur klassischen Repräsentation braucht die Fernsicht nicht mehr ihre Distanznach dieser oder jener Partie zu variieren und nicht mehr durch eine Nahsicht bestätigt zuwerden, die die taktilen Zusammenhänge festhält, sondern behauptet sich als einzige für dieGesamtheit des Gemäldes. Der Tastsinn wird nicht mehr auf das Auge verpflichtet; und esdrängen sich nicht nur undeutliche Zonen auf— selbst wenn die Form des Objekts beleuchtetist, kommuniziert ihre Helligkeit vielmehr unmittelbar mit dem Schatten, dem Dunkel unddem Hintergrund, und zwar in einem inneren, spezifisch optischen Bezug. Das Akzidentelleverändert also seinen Status, und anstatt seine Gesetze im »natürlichen« Organischen zufinden, erfährt es eine spirituelle Himmelfahrt, eine »Gnade« oder ein »Wunder« in derUnabhängigkeit des Lichts (und der Farbe): als ob die klassische Organisation zugunsteneiner Komposition wiche. Nicht mehr das Wesen erscheint, vielmehr wird die Erscheinungzum Wesen und zum Gesetz: Die Dinge erheben sich, steigen auf ins Licht. Die Form läßtsich nicht mehr von einer Transformation, von einer Transfiguration trennen, die vom

1 Wölfin hat insbesondere diesen Aspekt des optisch-taktilen Raums oder der »klassischen« Welt des 16. Jahrhun-derts analysiert: Licht und Schatten und Farben mögen ein sehr komplexes Spiel eingehen, sie bleiben dennochder plastischen Form untergeordnet, die ihre Unversehrtheit bewahrt. Man muß das 17. Jahrhundert abwarten,um der Befreiung des Schattens und des Lichts in einem rein optischen Raum beizuwohnen. Vgl. KunstgeschichtlicheGrundbegriffe, a. a. 0., vor allem Kapitel 1 und 5; ein besonders schlagendes Beispiel ist mit dem Vergleich zweierKirchen-Innenbilder — von Neefs und de Witte — gegeben (S. 229-230).

2 Wölfin, a. a. 0., S. 48.

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XIV. JEDER MALER RESÜMIERT DIE GESCHICHTE DER MALEREI...

Dunkel zum Hellen, vom Schatten zum Licht eine Art Verbindung mit »selbständigeremLeben«, eine einzigartige Tonalität etabliert. Was aber ist eine Komposition im Unterschiedzu einer Organisation? Eine Komposition ist die Organisation selbst, sofern diese allerdingsin Zerfall begriffen ist (Claudel gab genau dies hinsichtlich des Lichts zu bedenken). DieLebewesen zerfallen, indem sie ans Licht aufsteigen, und der Kaiser von Byzanz hatte nichtUnrecht, als er sich anschickte, seine Künstler zu verfolgen und auseinanderzujagen. Selbstdie abstrakte Malerei wird sich in ihrem extremen Versuch zur Begründung eines optischenTransformationsraums somit auf zersetzende Faktoren stützen, auf Verhältnisse von Valeurs,von Licht und Schatten, Hell und Dunkel und dabei über das 17. Jahrhundert hinweg einenGedanken aus Byzanz unverfälscht wiederfinden: einen optischen Kode...

Auf ganz andere Weise löst die barbarische oder gotische Kunst (im weiten SinneWorringers) ebenfalls die organische Repräsentation auf. Man bewegt sich nicht mehr inRichtung auf eine reine Optik; im Gegenteil, man gibt dem Tastsinn seine bloße Aktivitätzurück, man überträgt ihn wieder der Hand, man verleiht ihm eine Geschwindigkeit, eineGewalt und ein Leben, dem das Auge kaum folgen kann. Worringer hat jene »nordischeLinie« beschrieben, die entweder ins Unendliche strebt und dabei fortwährend die Richtungändert, beständig gebrochen, geknickt wird und sich in sich selbst verliert, oder in sich selbstwiederkehrt, und zwar in einer heftigen, peripheren oder wirbelnden Bewegung. Diebarbarische Kunst übersteigt die organische Repräsentation auf zwei Arten, sei es durch dieMasse des bewegten Körpers, sei es durch die Geschwindigkeit und die Richtungsänderungder ebenen Linie. Worringer fand die Formel zu dieser frenetischen Linie: Sie ist Leben,allerdings das seltsamste und intensivste Leben, eine anorganische Vitalität. Sie ist einAbstraktum, allerdings ein expressionistisches Abstraktum.' Sie widersetzt sich also demorganischen Leben der klassischen Repräsentation, aber auch der geometrischen Linie desägyptischen Wesens, und ebenso dem optischen Raum der Lichterscheinung. Es gibt hierweder Form noch Grund in irgendeinem Sinne, weil die Linie und die Ebene zur Anglei-chung ihrer Vermögen tendieren: In fortwährender Brechung wird die Linie mehr als eineLinie und zugleich die Ebene weniger als eine Fläche. Was die Kontur betrifft, so wird keinedavon durch die Linie begrenzt, die Linie ist nie die Kontur von etwas, weil sie entwederdurch die unendliche Bewegung fortgerissen wird, oder weil nur sie allein — gleich einemBandornament — eine Kontur besitzt, als die Grenze der Bewegung der inneren Masse. Undmag diese gotische Linie auch tierhaft oder gar anthropomorph sein, so ist sie es nicht indem Sinne, daß sie zu Formen zurückfinden würde, sondern weil sie Merkmale enthält,Züge des Körpers oder Kopfes, Züge des Tiers oder des Menschen, die ihr einen intensivenRealismus verleihen. Dies ist ein Realismus der Deformation, im Gegenzug zum Idealismusder Transformation; und die Merkmalszüge bilden keine Unschärfezonen der Form wie imHell-Dunkel, sondern Ununterscheidbarkeitszonen der Linie, sofern sie verschiedenenTieren, dem Menschen und dem Tier und der reinen Abstraktion gemeinsam ist (Schlange,Bart, Band). Wenn hier eine Geometrie vorliegt, so ist dies eine Geometrie, die sich deutlichvon der Geometrie Ägyptens oder Griechenlands unterscheidet, sie ist eine operativeGeometrie des Strichs und des Zufälligen. Der Zufall ist überall, und die Linie begegnetfortwährend Hindernissen, die sie zwingen, die Richtung zu ändern und sich durch diese

1 Worringer, Abstraktion und Einfühlung, a. a. 0., S. 151 (Worringer schöpft das Wort »Expressionismus«, wie DoraVallier in ihrem Vorwort zur französischen Ausgabe zeigt: Abstraction et Einfühlung, Paris 1978, S. 19). Und inFormprobleme der Gotik insistierte Worringer auf die beiden Bewegungen, die sich der organischen klassischenSymmetrie widersetzen: die unendliche Bewegtheit der anorganischen Linie, die peripherale und heftige Bewegungdes Rads oder Turbine (a. a. 0., S. 36-38).

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Veränderungen zu stärken. Dies ist ein manueller Raum aus aktiven manuellen Strichen, derseine Wirkung durch manuelle Zusammensetzungen entfaltet anstatt einen lichten Zerfall zuvollziehen. Noch bei Michelangelo findet man eine Macht, die sich unmittelbar von diesemmanuellen Raum ableitet: eben die Art und Weise, mit der der Körper den Organismusübersteigt oder bersten läßt. Als ob die Organismen in einer Wirbel- oder Schlangenbewe-gung gefangen wären, die ihnen denselben »Körper« verleiht oder sie in einem einzigen»Faktum« vereint, unabhängig von jedem figurativen oder narrativen Bezug. Claudel kannvon einer Malerei mit Maurerkelle sprechen, bei der der manipulierte Körper in einemGewölbe oder Kranzgesims wie auf einem Teppich, einer Girlande, einem Band angebrachtwird, wo er seine kleinen »Kunststücke« vollführt.' Gleichsam als Vergeltung eines reinenmanuellen Raums; wenn nämlich die beurteilenden Augen noch einen Zirkel besitzen,vermochte die arbeitende Hand sich von ihm zu befreien.'

Man hätte indessen Unrecht, die beiden Tendenzen — in Richtung auf einen reinenoptischen Raum und auf einen reinen manuellen Raum hin — gegeneinanderzustellen, alsob sie unvereinbar wären. Gemeinsam ist ihnen zumindest, daß sie den optisch-taktilenRaum der sogenannten klassischen Repräsentation auflösen; sie können darum in neue undkomplexe Kombinationen oder Korrelationen eintreten. Wenn sich etwa das Licht befreitund von den Formen unabhängig wird, so strebt die gekrümmte Form ihrerseits dazu, sichin ebene Striche zu zerlegen, die die Richtung ändern, oder sogar in Striche, die im Innerender Masse verstreut sind.' So daß man nicht mehr weiß, ob es das optische Licht ist, das dieZufälle der Form, oder der manuelle Strich, der die Zufälle des Lichts bestimmt: Man mußnur einen Rembrandt verkehrt herum und aus der Nähe betrachten, um die manuelle Linieals die Kehrseite des optischen Lichts zu entdecken. Man könnte sagen, daß der optischeRaum selbst neue taktile Werte (und ebenso umgekehrt) freigesetzt hat. Und die Dinge liegennoch komplizierter, wenn man an das Problem der Farbe denkt.

In der Tat scheint zunächst die Farbe nicht weniger als das Licht zu einer reinen optischenWelt zu gehören und zugleich ihre Unabhängigkeit gegenüber der Form zu gewinnen. DieFarbe beginnt ebenso wie das Licht die Form zu beherrschen, anstatt sich auf sie zu beziehen.In diesem Sinne kann Wölfflin sagen, daß es in einem optischen Raum, in dem die Konturenmehr und mehr indifferent werden, von geringer Bedeutung ist, ob die Farbe zu uns sprichtoder bloß die »Helligkeiten und Dunkelheiten«. So einfach aber ist das nicht. Denn dieFarbe selbst ist in zwei sehr verschiedenen Verhältnissen enthalten: in den Valeurverhältnissen,die auf den Kontrast von Schwarz und Weiß gründen und einen Farbton als dunkel oderhell, gesättigt oder verdünnt definieren; und in den Tonalitätsverhältnissen, die sich auf dasSpektrum, auf den Gegensatz von Gelb und Blau oder Grün und Rot gründen und diesenoder jenen Farbton als warm oder kalt definieren.' Gewiß vermischen sich diese beiden

1 Claudel, a. a. 0., S. 309.2 Vgl. Giorgio Vasari, Michelagnolo Buonarotti, hg. v. E Schottmüller, Straßburg 1928.3 In seiner Definition des reinen optischen Raums bei Rembrandt zeigt Wölfflin die Bedeutung des geraden Strichs

und der gebrochenen Linie, die die Kurve ersetzen; und bei den Portraitisten rührt der Ausdruck nicht mehr vonder Kontur, sondern von Strichen her, die im Innern der Form verstreut sind (S. 25-26, 36-38). All das aber führtWölfflin zur Festellung, daß der optische Raum nicht mit den taktilen Zusammenhängen der Form und der Konturbricht, ohne neue taktile Werte, insbesondere die des Gewichts, freizusetzen (»Je mehr sich die Aufmerksamkeitvon der plastischen Form als solcher zurückzieht, um so lebhafter regt sich das Interesse für die Oberfläche derDinge: wie sich die Körper anfühlen. Das Fleisch ist bei Rembrandt deutlich als ein weicher Stoff kenntlich gemacht,dem Druck nachgebend«; S. 38).

4 Der kalte oder warme Ton einer Farbe ist dem Wesen nach relativ (was nicht subjektiv meint). Er hängt von derNachbarschaft ab, und eine Farbe kann stets »erwärmt« oder »abgekühlt« werden. Und Grün und Rot sind nichtselbst warm oder kalt: Denn das Grün ist der Idealpunkt der Mischung aus warmem Gelb und kaltem Blau, unddas Rot dagegen ist weder blau noch gelb, so daß man die warmen und kalten Töne in ihrem Auseinandertreten

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Skalen der Farbe unaufhörlich, und gewiß bilden ihre Kombinationen kraftvolle Akte derMalerei. So begnügt sich etwa das byzantinische Mosaik nicht damit, einen Widerhallzwischen den schwarzen Zonen und weißen Oberflächen, dem gesättigten Ton einerSchmalte und demselben transparenten Ton eines Marmors in einer Modulation des Lichtsherzustellen; es bringt auch seine vier reinen Töne als Goldgelb, Rot, Blau und Grün in einerModulation der Farbe ins Spiel: Es erfindet den Kolorismus ebenso wie den Luminismus.'Die Malerei des 17. Jahrhunderts verfolgt zugleich die Befreiung des Lichts und dieEmanzipation der Farbe im Verhältnis zur berührbaren Form. Und Cezanne läßt beideSysteme oft nebeneinander bestehen, das eine durch einen Lokalton, Schatten und Licht,Hell-Dunkel-Modellierung, das andere durch die Sequenz der Töne nach der Ordnung desSpektrums, eine reine Modulation der Farbe, die zur Selbstgenügsamkeit neigt! Aber selbstwenn die beiden Arten von Relationen sich zusammensetzen, kann man nicht schließen,daß sie darum — an das Sehen gerichtet — einzig und allein einem optischen Raum dienen.Wenn es stimmt, daß die Valeurverhältnisse, die Modellierung im Hell-Dunkel oder dieModulation des Lichts die rein optische Funktion eines in die Ferne gerichteten Blicksverlangen, so erschafft die Modulation der Farbe dagegen wiederum eine spezifisch haptischeFunktion, in der das Nebeneinander der reinen Töne, die auf der ebenen Fläche nach undnach angeordnet werden, eine Progression und eine Regression um einen Kulminations-punkt der Nahsicht herum bildet. Die Farbe wird also keineswegs auf dieselbe Weise imLicht gewonnen, wie das Licht in der Farbe erreicht wird (»durch den Gegensatz der warmenund kalten Farbtöne geschieht es, daß die Farben, über die ein Maler verfügt, Licht undSchatten darzustellen vermögen, und zwar ohne daß ihnen eine absolute Leuchtkraftinnewohnt«). 3

Ist dies nicht bereits der große Unterschied zwischen Newton und Goethe hinsichtlicheiner Farbenlehre? Man wird nur dann von einem optischen Raum sprechen können, wenndas Auge eine Funktion übernimmt, die selbst optisch ist, und zwar auf Grund vonvorherrschenden oder gar ausschließlichen Valeurverhältnissen. Wenn dagegen die Tonali-tätsverhältnisse wie bei Turner, Monet oder Cezanne zum Ausschluß der Valeurverhältnissetendieren, so wird man von einem haptischen Raum und einer haptischen Funktion desAuges sprechen, in der der ebene Charakter der Oberfläche die Volumina nur durch dieverschiedenen, auf ihr verteilten Farben erzeugt. Gibt es nicht zwei ganz verschiedene Graus,das optische Grau aus Schwarz-Weiß und das haptische Grau aus Grün-Rot? Dies ist keinmanueller Raum mehr, der dem optischen Raum des Blicks gegenübertritt, und ebensowenig

ausgehend vom Grün und in ihrem Vereinigungstreben zum Rot hin — durch »strebende Steigerung« — darstellenkann. Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Zur Farbenlehre, in: Werke, hg. v. E. Trunz, München 1982 9 , Bd. 13, S.499.

1 Zu den Tonalitätsverhältnissen in der byzantinischen Kunst vgl. Andre Grabar, La peinture byzantine, Paris 1979,und Maldiney, a. a. 0., S. 241-246.

2 Lawrence Gowing (a. a. 0., S. 87-90) analysiert zahlreiche Beispiele dieser Farbsequenzen. Er zeigt aber auch, wiedieses System der Modulation mit anderen koexistieren konnte, und zwar bezüglich desselben Motivs: So arbeitetetwa beim Paysan assis die Aquarellversion mit Sequenz und Graduierung (Blau/Gelb/Rosa), während die Versionin Öl mit Licht und Lokalton arbeitet; oder die beiden Portraits einer Dame mit Jacke, von denen das eine »inseiner Masse aus Licht und Schatten modelliert ist«, während das andere am Hell-Dunkel festhält, die Voluminaaber durch die Sequenz Rosa/Gelb/Smaragdgrün/Kobaltblau wiedergibt. Vgl. S. 88 und 93, einschließlich derReproduktionen.

3 Riviere und Schnerb, in: Gespräche mit Clzanne, a. a. 0., S. 114 (und S. 249: »eine vom Warmen zum Kaltengehende Farbenfolge«, »eine sehr hohe Farbskala«). Wenn wir auf die byzantinische Kunst zurückkommen, soimpliziert die Tatsache, daß sie eine Modulation der Farben mit einem Rhythmus der Valeurs kombiniert, einenRaum, der nicht allein optischer Natur ist; der »Kolorismus« scheint uns — im Gegensatz zu Riegl — unreduzierbarhaptischer Natur zu sein.

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ein taktiler Raum, der sich mit dem optischen verbindet. Nun rivalisiert vielmehr einhaptischer Raum im Blick selbst mit dem optischen Raum. Dieser definierte sich durch denGegensatz von Hell und Dunkel, Licht und Schatten; jener aber durch den relativenGegensatz von Warm und Kalt und durch die korrespondierende, exzentrische oder kon-zentrische, expansive oder kontrahierende Bewegung (während Hell und Dunkel eher einen»Drang« nach Bewegung an den Tag legen).' Daraus ergeben sich noch weitere Gegensätze:So sehr sich die optische Hell-Dunkel-Modellierung von einer äußeren taktilen Gußformunterscheiden mag, so wirkt sie doch noch als eine Gußform, die nach innen gestülpt wurdeund in der das Licht die Masse auf ungleiche Weise durchdringt. Es gibt sogar eine ansOptische geknüpfte Intimität, die gerade von den Koloristen im Hell-Dunkel schwerertragen wird, nämlich die Idee eines »Häuslichen« oder gar einer »Gemütlichkeit«, diewomöglich die ganze Welt erfaßt. So daß die Licht- oder Valeurmalerei noch so sehr mit derFiguration, die aus einem optisch-taktilen Raum resultierte, brechen mag — sie hält noch aneinem gefährlichen Bezug zu einer möglichen Erzählung fest (man stellt figürlich dar, wasman berühren zu können glaubt, aber man erzählt, was man sieht, ein Geschehen, das sichim Licht abzuspielen scheint oder das man im Schatten vermutet). Und die Art, wie derLuminismus dieser Gefahr des Erzählens entkommt, liegt in seiner Zuflucht bei einem reinenKode von Schwarz und Weiß, der den inneren Raum zur Abstraktion erhebt. Während derKolorismus die analoge Sprache der Malerei ist: Wenn es noch ein Abgießen der Form durchdie Farbe gibt, so geschieht dies nicht mehr durch eine Gußform — und sei sie auchinwendig —, sondern durch eine zeitliche, variable und kontinuierliche Gußform, auf dieeinzig der Name Modulation im strengen Sinne paßt.' Es gibt ebensowenig Innen wie Außen,sondern nur eine kontinuierliche Verräumlichung, die verräumlichende Energie der Farbe.So daß der Kolorismus — obwohl er die Abstraktion vermeidet — die Figuration und dieErzählung gleichermaßen bannt, um sich einem pikturalen »Faktum« im Reinzustandunendlich anzunähern, bei dem es nichts mehr zu erzählen gibt. Dieses Faktum ist dieKonstitution oder Rekonstitution einer haptischen Funktion des Blicks. Man könnte sagen,daß sich ein neues Ägypten erhebt, das einzig aus und durch Farbe besteht, ein Ägypten des

Akzidentellen, wobei das Zufällige selbst dauerhaft geworden ist.

1 Schwarz und Weiß, Dunkel und Hell präsentieren eine kontrahierende oder expansive Bewegung, die analog zurBewegung von Kalt und Warm ist. Aber selbst Kandinsky gesteht an den Stellen, an denen er zwischen einemPrimat der Töne und einem Primat der Valeurs schwankt, den Valeurs Hell/Dunkel nur eine »statische und erstarrte«Bewegung zu (Über das Geistige in der Kunst, Bern 19596 , S. 88).

2 Buffon hat hinsichtlich der Probleme der Reproduktion des Lebens den Ausdruck einer inneren Gußform vorge-schlagen, wobei er den paradoxalen Charakter dieses Begriffs unterstrich, da die Gußform hier »die Masse durch-dringen« soll (Histoire naturelle des animaux, in: euvres compliles, Bd. 3, Paris 1774, S. 48ff). Und bei Buffonselbst steht diese innere Gußform in einem Bezug zur Newtonschen Konzeption des Lichts. Hinsichtlich destechnologischen Unterschieds zwischen Abguß und Modulation mag man sich auf die kürzlich erschienenen Ana-lysen Simondons beziehen: In der Modulation »gibt es niemals eine Pause zum Herausnehmen aus der Gußform,weil die Zirkulation des Energieträgers einem permanenten Herausnehmen aus der Form entspricht; ein Modulatorist eine kontinuierliche zeitliche Gußform... Abgießen ist eine definitive Modulation, Modulieren ist ein kontinu-ierliches und beständig variables Abgießen« (Eindividu et sa genAse physico-biologiqu. L'individuation ä la lumii ,re desnoti ons de forme et d'information, Paris 1964, S. 41-42).

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D ie Art, wie ein großer Maler seinerseits die Geschichte der Malerei rekapituliert, istniemals eklektisch. Sie entspricht nicht unmittelbar den Perioden dieses Malers,

obwohl die Perioden einen indirekten Bezug zu ihr aufweisen. Sie entspricht nicht einmalisolierbaren Aspekten auf einem Gemälde. Sie wäre eher wie ein Raum, der von der Einheitein und derselben einfachen Geste durchlaufen wird. Die historische Rekapitulation bestehtin Haltepunkten und Passagen, die eine freie Sequenz entnehmen oder nachschöpfen.

Man könnte sagen, daß Bacon zunächst Ägypter ist. Das ist sein erster Haltepunkt. EinGemälde Bacons ist zunächst eine ägyptische Darstellung: Die Form und der Grund, allebeide durch die Kontur aufeinander bezogen, liegen auf derselben haptischen und nahenBlickebene. — Aber schon schleicht sich ein wichtiger Unterschied in die ägyptische Weltein, wie eine erste Katastrophe: Die Form fällt, ist untrennbar von einem Sturz. Die Formist nicht mehr Wesen, sie ist Akzidens geworden, der Mensch ist ein Zufälliges. Der Zufallführt ein Zwischen in die Ebenen ein, in dem der Sturz geschieht. Als ob der Grund einwenig in den Hintergrund zurückwiche und die Form ein wenig nach vorne, in einenVordergrund spränge. Jedoch ist dieser qualitative Unterschied in quantitativer Hinsichtnicht groß: Keine Perspektive, sondern eine »seichte« Tiefe trennt Hintergrund und Vorder-grund.

Das genügt jedoch, damit die schöne Einheit der haptischen Welt doppelt aufgebrochenerscheint. Die Kontur ist nicht länger die gemeinsame Grenze von Form und Grund aufderselben Ebene (das Rund, die Bahn). Sie wird zum Würfel oder seinen Analoga; und vorallem wird sie im Würfel zur organischen Kontur der Form, zur Gußform. Dies ist also dieGeburt der optisch-taktilen Welt: Im Vordergrund wird die Form als berührbare gesehenund verdankt ihre Klarheit dieser Berührbarkeit (die Figuration leitet sich als Konsequenzdaraus ab). Diese Repräsentation affiziert auch den Grund, sofern er sich — im Hintergrund —um die Form einrollt, und zwar durch einen Zusammenhang, der selbst wiederum taktil ist.Auf der anderen Seite aber zieht der Grund im Hintergrund die Form an. Und hier suchtsich eine reine optische Welt zu befreien, während gleichzeitig die Form ihren taktilenCharakter verliert. Bald verleiht das Licht der Form eine bloß optische und sphärische,zersetzende Klarheit, bald reißt im Gegenteil der »malerische« Schatten, die Eindunkelungder Farben die Form mit sich und löst sie auf, schneidet sie von allen taktilen Zusammen-hängen ab. Die Gefahr liegt nicht mehr genau in der Figuration, sondern in der Erzählung(was geschieht? was wird geschehen? oder was ist geschehen?).

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Figuration und Erzählung sind bloß Effekte, die aber als solche im Gemälde um soaufdringlicher werden. Gerade sie müssen gebannt werden. Aber auch die optisch-taktileWelt und die reine optische Welt sind keine Haltepunkte für Bacon. Im Gegenteil, erdurchquert sie, er stürzt oder stört sie. Das Diagramm bricht wie eine Störzone, eineverwischte Zone herein, die die optischen Koordinaten und die taktilen Zusammenhängezugleich auflösen muß. Dennoch könnte man glauben, daß das Diagramm im wesentlichenoptisch bleibt, ob es nun zum Weiß hin tendiert, oder um so mehr, wenn es zum Schwarzhin tendiert und mit Schatten oder Dunkelstellen spielt wie in der malerischen Periode.Unablässig aber beklagt Bacon im Hell-Dunkel eine fatale »Intimität«, eine »gemütlicheAtmosphäre«, während die von ihm erhoffte Malerei das Bild »vom Interieur und von derhäuslichen Umgebung« abziehen soll; und wenn er auf die malerische Behandlung verzichtet,so auf Grund der Ambiguität dieser Verknüpfung.' Denn selbst abgedunkelt oder zumSchwarz hin tendierend bildet das Diagramm keine relative Unschärfezone, die noch optischwäre, sondern eine absolute Zone von Ununterscheidbarkeit oder objektiver Nicht-Bestim-mung, die dem Blick eine manuelle Macht als fremde Macht entgegensetzt und aufzwingt.Das Diagramm ist niemals optischer Effekt, sondern entfesselte manuelle Macht. Es ist einefrenetische Zone, in der die Hand nicht mehr vom Auge geführt wird und sich dem Blickals ein anderer Wille aufzwingt, der sich ebensogut als Zufall, Akzidentelles, Automatismus,Unwillkürliches darstellt. Es ist eine Katastrophe, und zwar eine Katastrophe, die vielgravierender ist als die vorangehende. Die optische und die optisch-taktile Welt sindweggefegt, verwischt. Wenn es noch ein Auge gibt, so ist es das »Auge« eines Zyklons wiebei Turner, das viel häufiger zum Hellen als zum Dunklen tendiert und eine Ruhe und einInnehalten bezeichnet, die mit der höchsten Unruhe der Materie zusammengehen. Undfreilich ist das Diagramm sehr wohl ein Halte- oder Ruhepunkt in Bacons Gemälden, einHalt aber, der dem Grün und dem Rot näher steht als dem Schwarz oder Weiß, d. h. einRuhepol, der von der größten Unruhe umschlossen wird oder umgekehrt selbst das aufge-wühlteste Leben umschließt.

Wenn man sagt, das Diagramm sei seinerseits ein Haltepunkt im Gemälde, so heißt dasnicht, daß es das Gemälde vollendet oder konstituiert, ganz im Gegenteil. Es ist eineZwischenstation. Wir haben in diesem Sinne gesehen, daß das Diagramm lokal begrenztbleiben mußte, anstatt nach expressionistischer Art das ganze Gemälde einzunehmen, unddaß etwas aus dem Diagramm hervorgehen mußte. Und selbst in der malerischen Periodenimmt das Diagramm das Ganze nur scheinbar ein: Es bleibt tatsächlich lokal begrenzt,nicht mehr an der Oberfläche, sondern in der Tiefe. Wenn nämlich der Vorhang die ganzeOberfläche schraffiert, so scheint er vor die Figur zu treten, wenn man aber bis zum unterenRand geht, so bemerkt man, daß er tatsächlich zwischen die beiden Ebenen, in das Zwischender Ebenen fällt: Er besetzt oder erfüllt die seichte Tiefe und bleibt in diesem Sinne lokalbegrenzt. Das Diagramm hat also stets Effekte, die es übersteigen. Als entfesselte manuelleMacht löst das Diagramm die optische Welt auf, muß aber gleichzeitig wieder in das visuelleEnsemble injiziert werden, in das es eine spezifisch haptische Welt und eine haptischeFunktion des Auges einführt. Die Farbe und die Verhältnisse der Farbe konstituieren einehaptische Welt und einen haptischen Sinn, und zwar in Abhängigkeit von Warm und Kalt,Expansion und Kontraktion. Und sicher hängt die Farbe, die die Figur modelliert und sichüber die Flächen hinweg ausbreitet, nicht vom Diagramm ab; sie durchläuft aber dasDiagramm und geht aus ihm hervor. Das Diagramm wirkt als Modulator und als gemein-samer Punkt von Warm und Kalt, Expansionen und Kontraktionen. Überall im Bild wird

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der haptische Sinn der Farbe durch das Diagramm und sein manuelles Eindringen ermög-licht worden sein.

Das Licht ist Zeit, der Raum aber Farbe. Koloristen nennt man die Maler, die Valeurver-hältnisse durch Tonverhältnisse ersetzen und nicht nur die Form, sondern auch Schattenund Licht und Zeit durch diese reinen Verhältnisse der Farbe »wiedergeben« wollen. Sicherhandelt es sich um keine bessere Lösung, sondern um eine Tendenz, die die Malereidurchzieht und in ihr charakteristische Meisterwerke hinterläßt, die sich von den charakte-ristischen Werken anderer Tendenzen unterscheiden. Die Koloristen werden Schwarz undWeiß, Hell und Dunkel sehr gut verwenden können; aber sie behandeln eben Hell undDunkel, Weiß und Schwarz als Farben und stellen Tonverhältnisse zwischen ihnen her.'»Kolorismus« — das sind nicht nur Farben, die in ein Verhältnis zueinander treten (wie injeder Malerei, die dieses Namens würdig ist); das ist die Farbe, die als variables Verhältnis,als Differentialquotient entdeckt wird, von dem der ganze Rest abhängt. Die Formel derKoloristen lautet: Wenn ihr die Farbe bis hin zu ihren reinen inneren Verhältnissen treibt(warm/kalt, Expansion/Kontraktion), so habt ihr alles. Wenn die Farbe vollendet ist, d. h.die für sich selbst entfalteten Verhältnisse der Farbe, dann habt ihr alles, Form und Grund,Licht und Schatten, Hell und Dunkel. Die Klarheit ist nicht mehr die der berührbaren Formoder des optischen Lichts, sondern der unvergleichliche Glanz, der aus den Komplementär-farben resultiert.' Der Kolorismus will einen besonderen Sinn des Sehens freisetzen: einhaptisches Sehen der Raum-Farbe, im Unterschied zum optischen Sehen des Zeit-Lichts.Gegen die newtonsche Konzeption der optischen Farbe hat Goethe die ersten Grundsätzeeines derartigen haptischen Sehens herausgestellt. Und die praktischen Regeln des Koloris-mus: Verzicht auf den Lokalton, Aneinanderreihung von Farbkontrasten, die nicht ineinan-der übergehen, das Streben jeder Farbe nach Totalität durch Appell an die Komplementär-farbe, der Durchgang durch die Farben mit ihren Zwischenfarben oder Übergängen, dasVerbot von Mischfarben mit Ausnahme zur Gewinnung eines »gebrochenen« Tons, dieGegenüberstellung zweier Komplementärfarben oder zweier ähnlicher Farben, von denendie eine gebrochen, die andere rein ist, die Erzeugung des Lichts und gar der Zeit durch dieunbegrenzte Aktivität der Farbe, die durch die Farbe gewonnene Klarheit... 3 Die Meister-

1 Vincent van Gogh, Sämtliche Briefe, Berlin u.a. 1965-1968, Bd. 5, S. 257: »Kurz und gut, Schwarz und Weiß sindebenfalls Farben, denn in vielen Fällen kann man sie als Farben ansehen« (Brief an Bernard vom Juni 1888).

2 Van Gogh, Brief an Theo (Sämtliche Briefe, a. a. 0., Bd. 3, S. 251): »Wenn die Komplementärfarben in gleichenWerten genommen werden, [...] so kommt, wenn man sie nebeneinandersetzt, eine derart heftige Intensität zu-stande, daß das menschliche Auge den Anblick kaum erträgt.« Eines der Hauptinteressen des Briefwechsels vonVan Gogh liegt darin, daß Van Gogh nach einem langen Weg über das Hell-Dunkel, über Schwarz und Weiß eineArt Initiationserlebnis der Farbe hat.

3 Vgl. Riviere und Schnerb, in: Gespräche mit C6zanne, a. a. 0., S. 115: »Die ganze Malweise Cezannes wird durchdieses chromatische Konzept der Modellierung bestimmt. [...] Wenn er es vermied, zwei Töne mit einem einfachenPinselstrich zu verschmelzen, so deshalb, weil er die Modellierung als vom Warmen zum Kalten gehende Farbfolgeverstand und sein ganzes Interesse darin lag, jede dieser Farben genau zu bestimmen; eine davon durch eine Mi-schung von benachbarten Farben zu ersetzen wäre ihm kunstlos vorgekommen. [..J Die Modellierung durch dieFarbe, die ja schließlich seine Sprache war, zwingt dazu, eine sehr hohe Farbskala zu gebrauchen, um die Gegensätzebis in den Halbton beobachten zu können und um weiße Lichter und schwarze Schatten zu vermeiden.« Imvorangehenden Brief an Theo legt Van Gogh die Prinzipien des Kolorismus dar, die er eher auf Delacroix als aufdie Impressionisten zurückführt (er sieht in Delacroix einen Gegensatz, aber auch ein Analogon zu Rembrandt:Was Rembrandt für das Licht ist, ist Delacroix für die Farbe). Und neben den reinen, durch die Primär- undKomplementärfarben definierten Töne legt Van Gogh die gebrochenen Töne dar: »[...] wenn man zwei Komple-mentärfarben zu ungleichen Teilen mischt, zerstören sie einander nur teilweise, und man erhält einen gebrochenenTon, der eine Variation von Grau ist. Daher lassen sich durch das Nebeneinandersetzen von Komplementärfarben,von denen eine rein, die andere gebrochen ist, neue Kontraste erzielen. [...] Wenn schließlich zwei ähnliche Farbennebeneinanderstehen, die eine unvermischt, die andere gebrochen, zum Beispiel reines Blau und Blaugrau, so ergibtsich eine andere Art von Gegensatz, der durch die Analogie gemildert wird. [...] Um seine Farben zu erhöhen und

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werke der Malerei entstehen oft durch Kombination ihrer eigenen Tendenzen, linear-taktil,luministisch, koloristisch, ebenso aber durch deren Differenzierung und Entgegensetzung.Alles ist visuell in der Malerei, aber das Sehen hat zumindest zwei Bedeutungen. DerKolorismus will mit seinen eigenen Mitteln dem Sehen nur jenen haptischen Sinn zurück-geben, auf den es verzichten mußte, seitdem sich die Ebenen des alten Ägypten voneinandergetrennt und entfernt hatten. Das Vokabular des Kolorismus — nicht nur Kalt und Warm,

sondern auch »touche«, »vifi, »saisir sur le »tirer au clair« 1 etc. — bezeugt diesen haptischenSinn des Auges (ein Sehen, das, wie Van Gogh sagt, so beschaffen ist, »daß jeder, der Augen

hat, damit klar sehen kann«).Die Modulation durch reine distinkte Farbkontraste und der Ordnung des Spektrums

entsprechend war Cezannes eigene Erfindung, um den haptischen Sinn der Farbe zuerhalten. Aber außer der Gefahr einer Wiederherstellung des Kodes mußte die Modulationzwei Forderungen Rechnung tragen: der Forderung nach einer Homogenität des Grunds undnach einem sphärischen Gerüst, das senkrecht zur chromatischen Progression steht; und derForderung nach einer singulären oder spezifischen Form, die durch die Größe der Fleckenin Frage gestellt schien.' Darum fand sich der Kolorismus mit diesem doppelten Problemkonfrontiert, nämlich bis zu jenen großen homogenen Farbflächen zu kommen, Flächen,aus denen das Gerüst bestehen sollte, und zugleich variierende, singuläre, verwirrende,unbekannte Formen zu erfinden, die tatsächlich das Volumen eines Körpers sind. Trotz seinerVorbehalte hat Georges Duthuit grundlegend jene Komplementarität des »vereinigendenSehens« und der singularisierten Wahrnehmung aufgezeigt, wie sie bei Gauguin oder VanGogh erscheinen.' Leuchtende Farbfläche und konturierte, »abgeteilte« Figur nehmen einejapanische oder byzantinische oder gar primitive Kunst wieder auf: la belle Angde... Man

wird sagen, daß sich mit dem Ausbruch in diese beiden Richtungen die Modulation verliert,die Farbe all ihre Modulation verliert. Daher die Strenge, mit der Cezanne über Gauguinurteilt; dies trifft aber nur dann zu, wenn Grund und Form, Fläche und Figur nichtmiteinander kommunizieren können, als ob sich die Singularität des Körpers von einemeinförmigen, indifferenten und abstrakten ebenen Bezirk abheben würden. 4 In Wirklichkeit

glauben wir, daß die Modulation, die sich im strengen Sinn vom Kolorismus nicht trennenläßt, eine völlig neue Bedeutung und Funktion findet, die sich von Cezannes Modulationunterscheidet. Man sucht jede Möglichkeit zur Kodifikation zu bannen, wie Van Gogh esausspricht, als er sich rühmt, »eigenmächtiger Kolorist« zu sein.' Einerseits faßt der leuchtendeTon der Farbflächen — so einförmig er sein mag — die Farbe als Übergang oder Tendenz auf,

in Einklang zu bringen, verwendet er [Delacroix] gleichzeitig sowohl den Gegensatz der Komplementärfarben alsauch den Zusammenklang der analogen Farben, anders ausgedrückt: die Wiederholung eines lebhaften Tons durchdenselben gebrochenen Ton« (Sämtliche Briefe, a. a. 0., Bd. 3, S. 251-252).

1 Vg. frz. touche : Farbkontrast, Pinselstrich, Taste; vif leuchtend, lebhaft, heftig; saisir sur le vif nach der Naturmalen, wörtlich: aus dem Lebendigen greifen; tirer au clair. aufhellen, wörtlich: ins Helle ziehen; A.d.Ü.

2 Vgl. die Analyse von Gowing, a. a. 0.3 Georges Duthuit, Le feu des signes, Genf 1962, S. 189: »Indem die Malerei die Verstreuung der Farbtöne, die sich

in unserem Blick wiederherstellen sollen, auf große Farbflächen zurückführt, die ihnen eine freiere Zirkulationermöglichen, tendiert sie zu einer Befreiung vom Impressionismus. Das stets neue Bild erschafft sich viel eher inunserem Blick, als daß es sich in ihm bloß von neuem zusammensetzt: Die Form wird dabei um so besser ihreunerwartete Kraft, die Linie ihre wesentliche Deutlichkeit garantieren können...«

4 Cezanne warf Gauguin vor, er habe ihm seine »kleine Sensation« gestohlen und dabei allerdings das Problem des»Übergangs der Töne« verkannt. Ebenso hat man Van Gogh oft die Trägheit des Grunds auf manchen Gemäldenvorgeworfen (vgl. den äußerst interessanten Text von Jean Paris, Miroirs de Rembrandt; le sommeil de Vermeer; lesoleil de Van Gogh; Espaces de Cizanne, Paris 1973, S. 135-136).

5 Brief an Theo (Sämtliche Briefe, a. a. 0., Bd. 4, S. 117): »Um es [das Bild] zu beenden, werde ich jetzt dereigenmächtige Kolorist sein.«

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XV. BACONS WEG

und zwar mit sehr feinen Unterschieden in der Sättigung und weniger mit Unterschiedenin den Valeurs (etwa die Art und Weise, wie Gelb oder Blau danach streben, sich zum Rotzu erhöhen; und selbst bei völliger Homogenität gibt es einen »identischen« oder virtuellen»Übergang«). Andererseits wird das Volumen des Körpers durch einen oder mehreregebrochene Töne wiedergegeben werden, die einen anderen Typ von Übergang bilden, in demdie Farbe zu brennen und aus dem Feuer hervorzugehen scheint. Indem er die Komplemen-tärfarben in einem kritischen Verhältnis mischt, setzt der gebrochene Ton die Farbe einerHitze oder einem Brand aus, die mit der Keramik wetteifern. Einer von Van GoghsBriefträgern Roulin entfaltet in gleichmäßigem Farbton ein Blau, das zum Weiß hin geht,während das Fleisch des Gesichts mit gebrochenen Tönen behandelt wird — »Gelb, Grün,Violett, Rosa, Rot«.' (Was die Möglichkeit betrifft, daß das Fleisch oder der Körper mitdemselben gebrochenen Ton behandelt werden, so wäre dies vielleicht eine der ErfindungenGauguins, eine Offenbarung auf Martinique oder Tahiti.) Das Problem der Modulation istalso ein Problem des Übergangs der gleichmäßigen leuchtenden Farbe, des Übergangs dergebrochenen Töne und des nicht-indifferenten Verhältnisses zwischen diesen beiden Über-gängen oder Bewegungen. Man wirft Cezanne vor, er habe das Gerüst ebenso wie das Fleischverfehlt. Es wird keineswegs die Modulation Cezannes verkannt, vielmehr endeckt derKolorismus eine andere Modulation. Daraus folgt eine Veränderung von Cezannes Hierar-chie: Während die Modulation bei ihm insbesondere auf die Landschaften und Stillebenpaßte, wechselt der Primat nun zum Portrait unter diesem neuen Aspekt, der Maler wirdwieder Portraitist. 2 Denn das Fleisch verlangt die gebrochenen Töne, und das Portrait istgeeignet, einen Widerhall zwischen den gebrochenen Tönen und dem leuchtenden Ton wiezwischen dem voluminösen Körper des Kopfes und dem einförmigen Grund der gleich-mäßigen Farbfläche herzustellen. Das »moderne Portrait« wäre Farbe und gebrochene Töne,im Unterschied zum alten Portrait, das aus Licht und verfließenden Tönen besteht.

Bacon ist einer der größten Koloristen seit Van Gogh und Gauguin. In den Gesprächenhat die schneidende Berufung auf das »Helle« als Eigenschaft der Farbe den Charakter einesManifests. Bei ihm ergeben die gebrochenen Töne den Körper der Figur und die leuchtendenoder reinen Töne das Gerüst der Farbflächen. Kalkmilch und glänzender Stahl, sagt Bacon.'Das ganze Problem der Modulation liegt im Verhältnis zwischen den beiden, zwischen jenerFleischmaterie und jenen großen einheitlichen Flächenteilen. Die Farbe existiert nicht alsverfließende, sondern in jenen beiden Modi der Klarheit: die Flächen aus leuchtender Farbe,die Ströme aus gebrochenen Tönen. Flächen und Ströme: diese ergeben den Körper oder dieFigur, jene das Gerüst oder den gleichmäßigen Farbgrund. So daß die Zeit selbst zweifachaus der Farbe zu resultieren scheint: als vorübergehende Zeit, und zwar in der chromatischenVariation der gebrochenen Töne, aus denen das Fleisch zusammengesetzt ist; als Ewigkeitder Zeit, d. h. noch als Ewigkeit des Übergangs in sich, und zwar in der Monochromie der

1 Van Gogh, Brief an Bernard, Anfang August 1888, Sämtliche Briefe, a. a. 0., Bd. 5, S. 278 (und Bd. 4, S. 117:»statt der nichtssagenden Wand des schäbigen Zimmers male ich das Unendliche, ich mache einen einfachenHintergrund von sattestem, eindringlichstem Blau«). Und Gauguin, Brief an Schuffenecker, 8. Oktober 1888: »Ichhabe ein Portrait von mir gemalt für Vincent. [...1 Die Farbe ist völlig unnatürlich. Denken Sie etwa an in großemFeuer gebrannte Töpfe. Alles Rot, alles Violett ist durch feurige Blitze zerrissen, ein Hochofen, der einem die Augenblendet, Sitz der Seelenkämpfe des Malers. Das Ganze auf einem chromfarbenen Hintergrund, der mit kindlichenBlumensträußen übersät ist: Das Zimmer des reinen, unberührten Mädchens« (Paul Gauguin, Briefe, hg. v. M.Malingue, Berlin 1960, S. 84-85). La belle Angele von Gauguin weist eine Formel auf, die auch bei Bacon wieder-kehren wird: die Farbfläche, die mit einem Rund umschlossene Kopf-Figur und sogar das Zeugen-Objekt...

2 Van Gogh, Brief an seine Schwester, 1890, (Sämtliche Briefe, a. a. 0., Bd. 5, S. 80: »Am leidenschaftlichsten — viel,viel mehr als alles Übrige meines Handwerks — fesselt mich das Portrait, das moderne Portrait.«

3 G 114.

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DELEUZE: FRANCIS BACON - LOGIK DER SENSATION

Farbfläche. Und sicher enthält diese Behandlung der Farbe ihrerseits ihre eigenen Gefahren,ihre mögliche Katastrophe, ohne die es keine Malerei gäbe. Wie wir gesehen haben, bestehteine erste Gefahr dann, wenn der Grund indifferent, träge, mit einer abstrakten understarrten Leuchtkraft versehen bleibt; eine weitere Gefahr aber noch dann, wenn die Figurihre gebrochenen Töne durcheinandergeraten, ineinander verfließen und der Klarheitentkommen läßt, um einem Grau-in-Grau zu verfallen.' Diese Ambiguität, an der Gauguinso sehr gelitten hat, findet man in der malerischen Periode Bacons: Die gebrochenen Tönescheinen nur noch ein Gemisch oder ein Verfließen zu ergeben, die das ganze Gemäldeverdunkeln. In Wirklichkeit aber verhält es sich ganz und gar nicht so; der dunkle Vorhangfällt, allerdings um die seichte Tiefe auszufüllen, die die beiden Ebenen — den Vordergrundder Figur und den Hintergrund der Farbfläche — sondert, um also das harmonische Verhältnisder beiden zu induzieren, die ihre jeweilige Klarheit prinzipiell bewahren. Immerhin streiftedie malerische Periode die Gefahr zumindest im optischen Effekt, den sie erneut einführte.Darum wird Bacon diese Periode verlassen, und er wird auf eine Weise, die noch an Gauguinerinnert (war nicht er es, der diesen neuen Typ von Tiefe erfand?), die seichte Tiefe für sichselbst gelten und alle möglichen Verhältnisse zwischen den beiden Ebenen in dem damitkonstituierten haptischen Raum induzieren lassen.

1 Nach der Kritik von Huysmans gibt es bei Gauguin vor allem zu Beginn »grindige und taube Farben«, aus denener nur mit Mühe loskommt. In der malerischen Periode stößt Bacon auf dasselbe Problem. Auch dem anderenProblem — des trägen Grunds — begegnet Bacon; es ist sogar der Grund dafür, daß er meist auf Acryl verzichtet.Das Öl führt ein Eigenleben, während man im voraus weiß, wie sich die Acrylfarbe verhalten wird (vgl. G 99).

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XVI

ANMERKUNG ÜBER DIE FARBE

ir haben gesehen, daß die drei Grundelemente von Bacons Malerei das Gerüst oderdie Struktur, die Figur und die Kontur waren. Und sicher markieren gerade oder

krummlinige Striche bereits eine Kontur, die dem Gerüst oder der Figur eignet und wiedereine Art taktiler Gußform einzuführen scheint (man machte dies bereits Gauguin und VanGogh zum Vorwurf). Einerseits aber bestätigen diese Linien nur unterschiedliche Modali-täten der Farbe; andererseits gibt es eine dritte Kontur, die weder dem Gerüst noch der Figurzukommt, sondern den Status eines autonomen Elements, einer Oberfläche oder einesVolumens als Linie erlangt: nämlich das Rund, die Bahn, die Pfütze oder der Sockel, dasBett, die Matratze, der Sessel, die nun die gemeinsame Grenze von Figur und Gerüst aufeiner nahe anliegenden Ebene markiert, die vermutlich dieselbe oder fast dieselbe ist. Zwarsind dies also drei verschiedene Elemente. Nun konvergieren aber alle drei auf die Farbe hin,in der Farbe. Und die Modulation, d. h. die Verhältnisse der Farbe erklären zugleich dieEinheit des Gesamtzusammenhangs, die Verteilung eines jeden Elements und die Art undWeise, wie jedes davon in den anderen wirkt.

Nehmen wir ein Beispiel, das Marc Le Bot analysierte: Figure standing at a washbasin von 261976 »ist gleichsam ein Wrack, das von einem Fluß aus Ockerfarbe angeschwemmt wurde,mit kreisenden Wirbeln und einem roten Riff, dessen doppelter räumlicher Effekt zweifellosdarin besteht, die unbegrenzte Expansion der Farbe lokal einzuengen und für einen Augen-blick einzuschnüren, so daß sie von hier aus von neuem anhebt und sich beschleunigt. DerRaum von Bacons Bildern wird auf diese Weise von weiten Farbströmen durchquert. Wennder Raum dabei einer Masse vergleichbar ist, die in ihrer Monochromie homogen und flüssig,aber von Klippen unterbrochen ist, so kann das Regime der Zeichen hier nicht von einerGeometrie des festen Maßes abhängig sein. Es unterliegt in diesem Bild einer Dynamik, dieden Blick vom hellen Ocker zum Rot gleiten läßt. Aus diesem Grund mag hier einRichtungspfeil eingezeichnet sein...«' Die Aufteilung läßt sich recht gut erkennen: Es gibtdie große ockerfarbene und monochrome Rückfläche als Grund und Gerüst. Es gibt dieKontur als autonome Potenz (das Riff): das Purpurrot der Matratze oder des Polsters, aufdem die Figur steht, ein Purpur, das mit dem Schwarz des Punktes zusammengehört und inKontrast zum Weiß der zerknüllten Zeitung steht. Es gibt schließlich die Figur als einen

1 Marc Le Bot, Espaces, in: LArc, Nr. 73 (»Francis Bacon«).

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Strom aus gebrochenen Tönen, Ocker, Rot und Blau. Aber es gibt noch weitere Elemente:zunächst den schwarzen Fensterladen, der die Ockerfläche zu zerschneiden scheint; unddann das Waschbecken, das selbst in einem gebrochenen bläulichen Ton gehalten ist; unddas lange gekrümmte, weiße und mit ockerfarbenen manuellen Flecken markierte Rohr, dasdie Matratze, die Figur und das Waschbecken umschließt und ebenso die Farbflächeschneidet. Man erkennt die Funktion dieser sekundären und dennoch unerläßlichen Ele-mente. Das Waschbecken ist gleichsam eine zweite autonome Kontur, die für den Kopf derFigur genau das darstellt, was die erste für den Fuß war. Und das Rohr selbst ist eine dritteautonome Kontur, deren oberer Ast die Farbfläche in zwei Teile teilt. Was den Fensterladenbetrifft, so ist seine Rolle um so wichtiger, als er — nach dem von Bacon bevorzugtenVerfahren — zwischen der Farbfläche und der Figur herabfällt, und zwar derart, daß er dieseichte Tiefe, die sie trennte, füllt und das Ganze auf ein und dieselbe Ebene bezieht. Diesist eine ausgiebige Kommunikation von Farben: Die gebrochenen Töne der Figur nehmenden reinen Ton des Farbgrunds auf, aber auch den reinen Ton des roten Polsters, und fügenbläuliche Töne hinzu, die im Widerhall mit dem des Waschbeckens stehen, einem gebro-chenen Blau, das im Kontrast zum reinen Rot steht.

Daher eine erste Frage: Welches ist der Modus der Rückfläche oder des Farbgrunds,welches ist die Modalität der Farbe in dieser Fläche, und wie wird die Farbfläche zum Gerüstoder zur Struktur? Nimmt man das besonders bedeutsame Beispiel der Triptychen, so siehtman, wie sich große monochrome und leuchtende, orange, rote, ockerfarbene, goldgelbe,grüne, violette, rosa Farbflächen ausdehnen. Wenn nun zu Beginn die Modulation noch

80 durch Valeurdifferenzen erreicht werden konnte (wie in den Three studies for figures at thebase of crucifixion von 1944), so wird schnell deutlich, daß sie nur in inneren Variationen anIntensität oder Sättigung bestehen darf, und daß diese Vartiationen selbst je nach denNachbarschaftsverhältnissen dieser oder jener Zone der Farbfläche wechseln. Diese Nach-barschaftsverhältnisse sind auf mehrere Arten bestimmt: Einmal hat die Farbfläche selbstklare Abschnitte mit einer anderen Intensität oder gar einer anderen Farbe. Freilich findetman dieses Verfahren kaum in den Triptychen, es taucht aber oft in den einfachen Gemälden

30, 45 auf, wie in Painting von 1946 und Pope IV' II (violette Abschnitte im grünen Farbgrund).Einanderes Mal ist die Farbfläche — nach einem in den Triptychen oft angewendetenVerfahren — durch eine große krummlinige Kontur begrenzt und gleichsam umschlossen,auf sich selbst verwiesen, durch eine Kontur, die zumindest den unteren Teil des Gemäldesbesetzt und eine horizontale Ebene konstituiert, welche sich mit der vertikalen Farbflächein der seichten Tiefe vereinigt; und eben weil sie selbst nur die äußere Grenze von anderen,engeren Konturen ist, gehört diese große Kontur in gewisser Weise noch zum Farbgrund.

56 So sieht man etwa in den Three studies für a crucifixion von 1962, wie die große orange53 Kontur die rote Farbfläche in Schach hält; in Two figures lying an a bed with attendants ist

die violette Fläche in der großen roten Kontur enthalten. Wieder ein anderes Mal ist dieFarbfläche nur von einer dünnen weißen Stange unterbrochen, die sie ganz durchquert, wie

22 auf den drei Teilen des wunderbaren rosa Triptychons von 1970; und teilweise trifft das auchauf den Mann am Waschbecken zu, bei dem die ockerfarbene Fläche von einer weißen Stangeals Seitenast der Kontur durchquert wird. Und schließlich kommt es oft genug vor, daß dieFarbfläche einen Streifen oder ein Band mit einer anderen Farbe enthält: Dies ist bei derrechten Tafel von 1962 der Fall, die einen vertikalen grünen Streifen aufweist, aber auch

10 beim ersten Stierkampf, auf dem die orange Fläche durch einen violetten Streifen unterstri-chen wird (der im zweiten Stierkampf durch eine weiße Stange ersetzt ist), und auf den

50 beiden äußeren Tafeln eines Triptychons von 1974, auf denen ein blauer Streifen die grüneFläche horizontal durchquert.

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XVI. ANMERKUNG ÜBER DIE FARBE

Die reinste pikturale Situation erscheint zweifellos dann, wenn die Farbfläche wederunterteilt, noch begrenzt und nicht einmal unterbrochen ist, sondern das ganze Gemäldebedeckt und entweder eine mittlere Kontur umschließt (etwa das grüne Bett, das von derorangen Fläche in den Studies of the human body von 1970 umschlossen wird) oder sogar 17von allen Seiten eine kleine Kontur umgibt (im Zentrum des Triptychons von 1970): Unter 22diesen Bedingungen nämlich wird das Gemälde wahrhaft sphärisch und erreicht einMaximum an Licht wie die Ewigkeit einer monochromen Zeit, »Chromochronie«. Aber derFall des Streifens, der die Farbfläche durchquert, ist dabei nicht weniger interessant undbedeutend, manifestiert er doch unmittelbar die Art und Weise, wie ein homogenes Farbfeldsubtile innere Variationen in Abhängigkeit von einer Nachbarschaft aufweist (dieselbeStruktur Feld/Streifen findet sich bei manchen abstrakten Expressionisten wie Newman);für die Farbfläche selbst ergibt sich daraus eine Art zeitlicher oder sukzessiver Wahrnehmung.Und es gilt als eine allgemeine Regel selbst für die anderen Fälle, wenn die Nachbarschaftdurch die Linie einer großen, einer mittleren oder kleinen Kontur garantiert wird: DasTriptychon wird um so sphärischer sein, je kleiner oder enger begrenzt die Kontur sein wird,wie in der Arbeit von 1970, in der das blaue Rund und die ockerfarbenen Geräte an einem 14Himmel aufgehängt scheinen; aber selbst dann ist die Farbfläche Gegenstand einer zeitlichenWahrnehmung, die sich zur Ewigkeit einer Form der Zeit erhebt. In diesem Sinne also wirddie einheitliche Fläche, d. h. die Farbe zur Struktur oder zum Gerüst: Sie enthält in ihremInnern eine oder mehrere Nachbarschaftszonen, die bewirken, daß eine Art Kontur (diegrößte) oder ein Aspekt der Kontur zu ihr gehören. Das Gerüst kann dann in der Verbindungder Farbfläche mit der horizontalen Ebene, die durch eine große Kontur definiert ist,bestehen, was eine aktive Präsenz der seichten Tiefe impliziert. Es kann aber auch in einemSystem von linearen Geräten bestehen, die die Figur in der Fläche aufhängen, wobei jedeTiefe negiert ist (1970). Oder es kann schließlich in der Wirkung eines ganz besonderenAbschnitts der Fläche bestehen, den wir noch nicht betrachtet haben: Es kommt nämlichvor, daß die Farbfläche einen schwarzen Abschnitt enthält, der einmal klar lokal begrenzt ist(Pope Ar H von 1960, Three studies for a crucifixion 1962, Portrait of George Dyer staring into 45, 56a mirror 1967, Triptych 1972, Portrait of a man walking down steps 1972), einanderes Mal 31, 70, 64überbordend (Triptych 1973) oder total ist und den ganzen Farbgrund konstituiert (Three 29studies from the human body 1967). Der schwarze Abschnitt wirkt aber nicht wie andere 24mögliche Abschnitte: Er übernimmt die Rolle, die dem Vorhang oder dem Verfließendenin der malerischen Periode zugekommen war, er bewirkt, daß sich der Farbgrund nach vorneprojiziert, er affirmiert oder negiert nicht mehr die seichte Tiefe, er füllt sie auf angemesseneWeise aus. Man erkennt dies insbesondere im Portrait von George Dyer. In einem einzigenFall, der Crucifixion von 1965, ist der schwarze Abschnitt gegenüber der Farbfläche zurück- 58gesetzt, und dies zeigt, daß Bacon diese neue Formel des Schwarz nicht mit einem Schlaggewonnen hat.

Wenn wir uns dem anderen Term, der Figur, zuwenden, so sehen wir uns nun denFarbströmen in Form von gebrochenen 'Tönen gegenüber. Oder besser: die gebrochenenTöne bilden das Fleisch der Figur. Als solche treten sie auf dreifache Weise in Gegensatz zuden monochromen Rückflächen: Der gebrochene Ton tritt einem Ton gegenüber, dermöglicherweise derselbe, allerdings leuchtend, rein oder voll ist; als unkonturierter tritt erder Farbfläche gegenüber; und schließlich ist er polychrom (außer im bemerkenswerten Falleines Triptych von 1974, auf dem das Fleisch mit einem einzigen gebrochenen grünen Ton 78behandelt ist, der im Widerhall mit dem reinen Grün eines Streifens steht). Wenn derFarbStrom polychrom ist, so bemerken wir, daß dabei das Blau und das Rot oft dominieren,die eben die dominanten Töne des Fleisches sind. Dennoch gilt dies nicht nur für das Fleisch,

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DELEUZE: FRANCIS BACON - LOGIK DER SENSATION

sondern auch für die Körper und die Köpfe der Portraits: so etwa im großen Männerrücken47, 51 von 1970 oder im Portrait von Miss Belcher, 1959, mit seinem Rot und seinem Bläulich auf

grünem Grund. Und vor allem verliert der Strom in den Kopfportraits seinen allzu mühelostragischen oder figurativen Aspekt, den er noch im Fleisch der Kreuzigungen besaß, und

71, 72 nimmt statt dessen eine Reihe von dynamischen figuralen Valeurs an. Darum kommen auch74, 75 bei vielen Kopfportraits zu dem dominanten Blau-Rot andere domininante Farben, insbe-

sondere Ockertöne, hinzu. In jedem Fall erklärt die Affinität des Körpers oder des Leibs zumFleisch die Behandlung der Figur mit gebrochenen Tönen. Die anderen Elemente der Figur,Kleidung und Schatten, erfahren nämlich eine davon verschiedene Behandlung: Die zer-knitterte Kleidung kann Valeurs von Hell und Dunkel, Schatten und Licht beibehalten;dagegen wird aber der Schatten selbst, der Schatten der Figur mit einem reinen und

14 leuchtenden Ton behandelt werden (so etwa der schöne blaue Schatten des Triptych von1970). Sofern also der reiche Strom von gebrochenen Tönen den Körper der Figur model-liert, erkennt man, daß die Farbe in ein ganz anderes als das oben dargestellte Regime eintritt.

47 Erstens zeichnet der Strom millimetergenaue Variationen des Körpers als Inhalt der Zeit,während sich die monochromen Rückflächen oder Farbebenen zu einer Art Ewigkeit alsForm der Zeit erhoben. Zweitens und vor allem weicht die Struktur-Farbe der Kraft-Farbe:Denn jede dominierende Farbe, jeder gebrochene Ton zeigt die unmittelbare Einwirkungeiner Kraft auf die entsprechende Zone des Körpers oder Kopfes an, er macht unmittelbareine Kraft sichtbar. Schließlich definierte sich die innere Variation der Farbfläche inAbhängigkeit von einer Nachbarschaftszone, die, wie wir gesehen haben, auf verschiedeneWeise gewonnen wurde (etwa die Nachbarschaft eines Streifens). Der Farbstrom aber stehtin einem Nachbarschaftsverhältnis zum Diagramm als Anwendungspunkt oder betroffenerOrt aller Kräfte. Und diese Nachbarschaft kann sicher räumlich sein wie in dem Fall, in demdas Diagramm im Körper oder im Kopf lokalisiert ist, sie kann aber auch topologisch seinund sich über Distanz hinweg herstellen, und zwar in dem Fall, in dem das Diagramm

42 anderswo situiert oder verstreut ist (so etwa im Portrait of Isabel Rawsthorne in a street in Soho1967).

Bleibt die Kontur. Wir kennen ihr Vermögen zur Vervielfältigung, da es eine große Konturgeben kann (zum Beispiel einen Teppich), die eine mittlere Kontur umschließt (einen Stuhl),die wiederum eine kleine Kontur umgibt (ein Rund). Oder die drei Konturen der Feurestanding at a washbasin. Man könnte sagen, daß in all diesen Fällen die Farbe ihre alteoptisch-taktile Funktion wiederfindet und sich der geschlossenen Linie unterordnet. Beson-ders die großen Konturen weisen eine gekrümmte oder abgewinkelte Linie auf, die kenn-zeichnen soll, wie sich eine horizontale Ebene von der vertikalen Ebene mit dem Minimuman Tiefe abhebt. Die Farbe ist jedoch nur scheinbar der Linie untergeordnet. Gerade weildie Kontur hier nicht die der Figur ist, sondern sich in einem autonomen Element desGemäldes verwirklicht, wird dieses Element durch die Farbe bestimmt, und zwar derart, daßsich die Linie von ihr ableitet und nicht umgekehrt. Wiederum also ist es die Farbe, aus dersich Linie und Kontur ergeben; und viele großen Konturen etwa werden als Teppiche

79, 25 gearbeitet sein (Man and child 1963, Three studies for Portrait of Lucian Freud 1966, Portrait31 of George Dyer staring into a mirror 1968 etc.). Man könnte von einem dekorativen Regime

der Farbe sprechen. Dieses dritte Regime läßt sich noch besser in der Existenz der kleinenKontur erkennen, in der sich die Figur aufrichtet und die bezaubernden Farben entfalten

70 kann: im Triptych von 1972 etwa das vollendete malvenfarbene Oval auf der Mitteltafel, das23 links und rechts Raum für eine unbestimmte rosa Pfütze läßt; oder im Painting von 1978

das orange-goldene Oval, das auf der Tür erstrahlt. In derartigen Konturen begegnet maneiner Funktion, die in der alten Malerei den Aureolen zukam. Obwohl sie nun in einer

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XVI. ANMERKUNG ÜBER DIE FARBE

profanen Verwendung um den Fuß der Figur gelegt wird, bewahrt die Aureole dennoch ihreFunktion eines auf die Figur konzentrierten Reflektors, eines farbigen Druckpunkts, der dasGleichgewicht der Figur sichert und den Übergang von einem Regime der Farbe zu einemanderen herstellt.'

Der Kolorismus (Modulation) besteht nicht nur in den Verhältnissen von Warm undKalt, Expansion und Kontraktion, die je nach betrachteter Farbe variieren. Er besteht auchin den Farbregimen, den Bezügen zwischen diesen Regimen, dem Zusammenklang zwischenreinen und gebrochenen Tönen. Was man haptisches Sehen nennt, ist eben dieser Sinn fürFarben. Dieser Sinn, dieses Sehen betrifft um so mehr die Totalität, als die drei Elemente derMalerei — Gerüst, Figur und Kontur — in der Farbe kommunizieren und konvergieren. Mankann die Frage stellen, ob er eine Art höheren »guten Geschmacks« impliziert, wie MichaelFried dies hinsichtlich mancher Koloristen tut: Kann der Geschmack eine potentielleschöpferische Kraft sein und nicht ein bloßer Schiedsrichter für die Mode?' Verdankt Bacondiesen Geschmack seiner Vergangenheit als Dekorateur? Es könnte scheinen, daß sichBacons guter Geschmack souverän im Gerüst und im Regime der Farbflächen auswirkt.Ebenso aber wie die Figuren manchmal Formen und Farben besitzen, die ihnen ein Aussehenvon Monstern geben, machen die Konturen selbst zuweilen den Eindruck »schlechtenGeschmacks«, als ob sich Bacons Ironie mit Vorliebe gegen die Dekoration wenden würde.Vor allem wenn die große Kontur als ein Teppich dargestellt wird, kann man in ihm stetsein besonders häßliches Muster erkennen. Am Beispiel von Man and child geht Russell soweit 79zu sagen: »Der Teppich selbst gehört zu einer scheußlichen Sorte; da ich Bacon ein oder zweiMal alleine in einer Straße wie der Tottenham Court Road gehen sah, weiß ich, mit welchemstarren und resignierten Blick er diese Art von Schaufenstern mustert (es gibt in seinerWohnung keinen Teppich).« 3 Die äußere Erscheinung selbst jedoch verweist nur auf dieFiguration. Schon die Figuren scheinen nur unter dem Gesichtspunkt einer fortbestehendenFiguration Monster zu sein, sind es aber nicht mehr, sobald man sie in »figuraler« Hinsichtbetrachtet, da sie dann die natürlichste Haltung offenbaren, und zwar in Abhängigkeit vonder alltäglichen Aufgabe, die sie erfüllen, und von den augenblicklichen Kräften, denen sieausgesetzt sind. Ebenso verliert der scheußlichste Teppich diesen Charakter, wenn man ihn»figural« auffaßt, d. h. in der Funktion, die er bezüglich der Farbe ausübt: Denn mit seinerroten Maserung und seinen blauen Zonen dekomponiert der Teppich von Man and childhorizontal die vertikale violette Farbfläche und leitet uns von deren reinen Ton zu dengebrochenen Tönen der Figur. Dies ist eine Kontur-Farbe, die mehr den Seerosen als einemschlechten Teppich verwandt ist. Es gibt sehr wohl einen schöpferischen Geschmack in derFarbe, in den verschiedenen Farbregimen, die einen spezifisch visuellen Tastsinn oder einenhaptischen Sinn des Blicks konstituieren.

1 Jean Paris leistet in L'espace et le regard (Paris 1965, S. 69 ff.) eine interessante Analyse der Aureole und demGesichtspunkt des Raums, des Lichts und der Farbe. Er untersucht auch die Pfeile als Raumverktoren im Falle desHeiligen Sebastian, der Heiligen Ursula etc. Man kann annehmen, daß die rein anzeigenden Pfeile bei Bacon dasletzte Residuum dieser heiligen Pfeile sind, ein wenig wie die kreisenden Zirkel für die Figurenpaare Reste vonAureolen sind.

2 Michael Fried, »Trois peintres americains«, a. a. 0., S. 308-309.3 Russell, a. a. 0., S. 121

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XVII

AUGE UND HAND

D ie beiden Definitionen der Malerei — durch die Linie und die Farbe, durch den Strichund den Fleck — decken sich nicht genau, da die eine visuell, die andere aber manuell

ist. Um das Verhältnis zwischen Auge und Hand und die Valeurs zu qualifizieren, die diesesVerhältnis durchläuft, genügt es sicher nicht zu sagen, das Auge urteile und die Händewirken. Das Verhältnis von Hand und Auge ist unendlich viel reicher und durchläuftdynamische Spannungen, logische Umkehrungen, organische Austauschprozesse und Erset-zungen (Focillons berühmter Text Lob der Hand scheint dem nicht Rechnung zu tragen).Der Pinsel und die Staffelei mögen eine Unterordnung der Hand allgemein ausdrücken,niemals aber hat sich ein Maler mit dem Pinsel begnügt. Man müßte mehrere Aspekte inden Werten der Hand unterscheiden: das Digitale, das Taktile, das eigentlich Manuelle unddas Haptische. Das Digitale scheint das Maximum an Unterordnung der Hand unter dasAuge zu markieren: Das Sehen geschah im Innern, und die Hand ist auf den Finger reduziert,d. h. interveniert nur, um die entsprechenden Einheiten für reine visuelle Formen zu finden.Je mehr die Hand auf diese Weise untergeordnet ist, desto mehr entwickelt der Blick einen»idealen« optischen Raum und sucht seine Formen nach einem optischen Kode zu erfassen.Dieser optische Raum aber weist wenigstens in seinen Anfängen noch manuelle Referentenauf, mit denen er sich zusammenschließt: Man wird derartige virtuelle Referenten wie dieTiefe, die Kontur, die Modellierung etc. taktil nennen. Diese lockere Unterordnung derHand unter das Auge kann ihrerseits einem regelrechten Ungehorsam der Hand weichen:Das Gemälde bleibt eine visuelle Realität, dem Blick aber drängt sich ein formloser Raumund eine ruhelose Bewegung auf, denen er nur mit Mühe folgen kann und die das Optischeauflösen. Man wird das derart verkehrte Verhältnis manuell nennen. Schließlich wird manvom Haptischen immer dann sprechen, wenn weder eine enge Unterordnung in dem einenoder anderen Sinn noch eine lockere Unterordnung oder virtuelle Verbindung bestehenwerden, sondern wenn der Blick selbst eine Tastfunktion in sich entdecken wird, die ihmeignet und nur zu ihm gehört, unterschieden von seiner optischen Funktion.' Man könntedann sagen, daß der Maler mit seinen Augen malt, allerdings nur sofern er mit seinen Augenberührt. Und sicher kann diese haptische Funktion ihre Vollendung unmittelbar und miteinem Schlag erhalten, und zwar in antiken Formen, deren Geheimnis wir verloren haben

1 Das Wort »haptisch« wird von Riegl (in der zweiten Auflage der Spätrömischen Kunstindustrie, 1927, postum) alsAntwort auf manche Kritiker geschaffen. Es erschien nicht in der ersten Auflage (1901), die sich mit dem Wort»taktisch« begnügte.

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XVII. AUGE UND HAND

(ägyptische Kunst). Sie kann sich aber auch im modernen Auge von neuem erschaffen,ausgehend von der manuellen Gewalt und dem manuellen Ungehorsam.

Gehen wir vom optisch-taktilen Raum und von der Figuration aus. Nicht daß diese beidenMerkmale dasselbe wären; die Figuration oder der figurative Schein sind vielmehr gleichsamdie Konsequenz dieses Raums. Und nach Bacon muß dieser Raum auf die eine oder andereWeise dasein: Man hat keine Wahl (er wird zumindest virtuell oder im Kopf des Malersdasein... und die Figuration wird dasein, als schon bestehende oder vorgefertigte). Nun brichtaber das manuelle »Diagramm« eiligst mit diesem Raum und seinen Konsequenzen, jenesDiagramm, das einzig aus widerspenstigen Strichen und Flecken besteht. Und es muß etwassichtbar aus dem Diagramm hervorgehen. Im wesentlichen lautet das Gesetz des Diagrammsnach Bacon folgendermaßen: Man geht von einer figurativen Form aus, ein Diagramminterveniert, um sie zu verwirren, und es muß daraus eine Form ganz anderer Naturhervorgehen, Figur genannt.

Bacon zitiert zunächst zwei Fälle.' In Painting von 1946 versuchte er einen »Vogeldarzustellen, der auf einem Feld niedergeht«, die aufgezeichneten Striche aber haben 30plötzlich eine Art Unabhängigkeit gewonnen und »etwas ganz anderes« nahegelegt, denMann mit Regenschirm. Und in den Kopfportraits sucht der Maler die organische Ähnlich-keit, aber es kommt vor, daß »die Art, wie sich die Farbe von einer Kontur in die anderehineinbewegte« eine tiefere Ähnlichkeit freisetzt, in der man keine Organe mehr, nichtAugen, Nase oder Mund ausmachen kann. Eben weil das Diagramm keine kodierte Formelist, müssen uns diese beiden extremen Formen die Möglichkeit bieten, die komplementärenDimensionen des Verfahrens freizulegen.

Man könnte glauben, daß uns das Diagramm von einer Form zu einer anderen führt, etwavon einer Vogel-Form zu einer Regenschirm-Form, und in diesem Sinne als ein Agens derTransformation wirkt. Dies ist aber nicht in den Portraits der Fall, in denen man nur voneinem zum anderen Rand derselben Form gelangt. Und selbst bezüglich Painting sagt Baconausdrücklich, daß man nicht von einer Form zu einer anderen kommt. Denn der Vogelexistiert vor allem in der Intention des Malers und weicht der Gesamtheit des wirklichausgeführten Gemäldes oder, wenn man will, der Reihe Schirm — Mann darunter — Fleischdarüber. Das Diagramm liegt übrigens nicht auf der Ebene des Schirms, sondern in derverwischten Zone, tiefer, ein wenig links, und kommuniziert mit dem Ganzen über dieschwarze Rückfläche: Hier ist der Brennpunkt des Gemäldes, der Punkt der Nahsicht, ausdem die ganze Reihe als Serie von zufälligen Ereignissen hervorgeht, »von denen das eineauf das andere klettert« . 2 Wenn man vom Vogel als intentionale figurative Form ausgeht, soerkennt man, daß das, was dieser Form im Gemälde entspricht und wahrhaft analog ist,nicht die Schirm-Form darstellt (die nur eine Analogie über Figuration oder Ähnlichkeitdefinieren würde), sondern die Serie oder die figurale Gesamtheit, die die spezifischästhetische Analogie bildet: die Arme des Fleischstücks, die sich als Analoga von Flügelnerheben, die Ränder des Schirms, die herabhängen oder sich schließen, der Mund desMannes als ein mit Zähnen besetzter Schnabel. Der Vogel wurde nicht durch eine andereForm ersetzt, sondern durch ganz verschiedene Bezüge, die die Gesamtheit einer Figur als

1 G 9-13.2 G 12 [Übersetzung verändert; d.Ü.l. Bacon fügt hinzu: »[...1 dann machte ich diese Gegenstände, ich machte sie

nach und nach. Ich denke also nicht, daß der Vogel den Regenschirm hervorgerufen hat, er rief plötzlich das ganzeBild hervor.« Dieser Text scheint dunkel zu sein, weil Bacon sich auf zwei widersprüchliche Ideen gleichzeitig beruft,auf die Idee einer graduellen Reihe und die einer mit einem Schlag gegebenen Gesamtheit. Beide aber sind triftig.Er meint jedenfalls, daß es kein Verhältnis von Form zu Form (Vogel/Schirm) gibt, sondern ein Verhältnis zwischeneiner Ausgangsintention und einer ganzen Serie oder einem ganzen GesamtzusamMenhang als Endpunkt.

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DELEUZE: FRANCIS BACON - LOGIK DER SENSATION

ästhetisches Analogon des Vogels erzeugen (Bezüge zwischen den Armen des Fleischstücks,Rändern des Schirms, Mund des Mannes). Das Zufalls-Diagramm hat die intentionalefigurative Form, den Vogel, verwischt: Es zwingt informelle Flecke und Striche auf, die nurals Merkmalszüge von Vogel- und Tiersein fungieren. Und aus diesen nicht-figurativenZügen tritt wie aus einer Pfütze die erlangte Gesamtheit hervor, die über die Figurationhinaus, die dieser Gesamtheit ihrerseits zukommt, von jenen Zügen zur Potenz einer reinenFigur erhoben wird. Das Diagramm wurde also wirksam, indem es eine Zone von Unun-terscheidbarkeit oder objektiver Unbestimmbarkeit zwischen zwei Formen erzwungen hat,von denen die eine schon nicht mehr, die andere noch nicht war: Es zerstört die Figurationder einen und neutralisiert die der anderen. Und zwischen den beiden erzwingt es die Figurin ihren originalen Beziehungen. Es gibt zwar eine Formveränderung, die Formveränderungist aber Deformation, d. h. Erschaffung von originalen Beziehungen, die die Form ersetzen:das rieselnde Fleisch, der schnappende Schirm, der sich zähnende Mund. Wie es in einem

Lied heißt: /' m changing my shape, I feel like an accident. Das Diagramm hat im gesamten

Gemälde informelle Kräfte eingeführt oder verteilt, mit denen die deformierten Partien

notwendig in Beziehung stehen oder denen sie eben als »Schauplätze« dienen.Man erkennt also, wie all das im Innern derselben Form geschehen kann (zweiter Fall).

Bei einem Kopf etwa geht man von der intentionalen oder skizzierten Form aus. Manverwischt sie Kontur für Kontur, wie ein sich ausbreitendes Grau. Dieses Grau aber ist nichtdas Undifferenzierte von Weiß und Schwarz, sondern das kolorierte Grau oder besser daskolorierende Grau, aus dem neue Beziehungen (gebrochene Töne) hervorgehen werden, diesich von den Ähnlichkeitsbeziehungen gänzlich unterscheiden. Und diese neuen Verhältnissevon gebrochenen Tönen ergeben eine tiefere Ähnlichkeit, eine nicht-figurative Ähnlichkeitfür dieselbe Form, d. h., ein ausschließlich figurales Bild.' Daher Bacons Programm: dieÄhnlichkeit mit nicht-ähnlichen Mitteln erzeugen. Und wenn Bacon eine sehr allgemeineFormel zu beschwören versucht, mit der sich das Diagramm und seine verwirrende,verwischende Wirkung ausdrücken läßt, so kann er eine lineare Formel ebenso wie einekoloristische, eine Strich-Formel ebenso wie eine Fleck-Formel, eine Distanz-Formel ebensowie eine Farbformel vorschlagen.' Man wird die figurativen Linien verwirren, indem mansie verlängert, indem man sie schraffiert, d. h. indem man zwischen sie neue Entfernungen,neue Beziehungen einführt, aus denen die nicht-figurative Ähnlichkeit hervorgehen wird:»plötzlich merkt man, wenn man sich das als ein Diagramm vorstellt, daß der Mund auchquer über das Gesicht verschoben werden könnte.« Es gibt eine diagrammatische Linie, dieLinie der Distanz-Wüste, und ebenso einen diagrammatischen Fleck, den Fleck des Farb-Graus, und beide vereinigen sich im selben Malakt, beim Malen der Welt in Sahara-Grau(»irgendwie würde man gerne in einem Portrait eine Sahara der menschlichen Erscheinungverwirklichen — es ähnlich machen, aber so, daß es die Weite der Sahara zu haben scheint«).

Immer aber gilt Bacons Forderung: Das Diagramm muß im Raum und in der Zeitbegrenzt bleiben, es darf sich nicht über das ganze Gemälde hin ausbreiten, das wäre eineverpfuschte Arbeit (man verfiele einem Grau der Indifferenz und einer »Sumpf«-Linie,

1 Die Mischung von Komplementärfarben ergibt Grau; aber der »gebrochene« Ton, die ungleiche Mischung, bewahrtdie spürbare Heterogenität oder die Spannung der Farben. Die Farbe des Gesichts wird sowohl Rot als auch Grünetc. sein. Das Grau als Potenz der gebrochenen Farbe ist ganz verschieden vom Grau als Produkt aus Schwarz undWeiß. Es ist ein haptisches, kein optisches Grau. Gewiß kann man die Farbe mit dem optischen Grau brechen,allerdings sehr viel weniger leicht als mit der Komplementärfarbe: Man gibt sich nämlich bereits vor, was infragesteht, und verliert die Heterogenität der Spannung oder die millimetergenaue Präzision der Mischung.

2 G 56.

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XVII. AUGE UND HAND

weniger einer Wüstenlinie).' Da es nämlich selbst eine Katastrophe ist, darf das Diagrammkeine Katastrophe bereiten. Da es selbst eine verwischte Zone ist, darf es nicht das Gemäldeverwischen. Da es Mischung ist, darf es nicht die Farben vermischen, sondern bloß die Tönebrechen. Kurz, da es manuell ist, muß es in das visuelle Ensemble reinjiziert werden, wo esKonsequenzen entfaltet, die es übersteigen. Das Wesentliche am Diagramm liegt darin, daßes dafür gemacht ist, daß etwas aus ihm hervorgeht, und es mißlingt, wenn nichts aus ihmhervorgeht. Und was aus dem Diagramm hervorgeht, nämlich die Figur, tut dies zugleichgraduell und mit einem Schlag, wie in Painting, wo das Ganze mit einem Schlag gegebenist, gleichzeitig mit der Serie, die graduell konstruiert ist. Wenn man nämlich das Gemäldein seiner Realität betrachtet, so markiert die Heterogenität des Diagramms und des visuellenEnsembles zwar eine wesensmäßige Differenz oder einen Sprung, als ob man ein erstes Malvom optischen Auge zur Hand springen würde und ein zweites Mal von der Hand zumAuge. Wenn man aber das Gemälde in seinem Prozeß betrachtet, so gibt es eher einekontinuierliche Injektion des manuellen Diagramms in das visuelle Ensemble, »langsamesDurchsickern«, »Verdichtung«, »Entwicklung«, als ob man graduell von der Hand zumhaptischen Auge, vom manuellen Diagramm zum haptischen Sehen gelangen würde.'

Dieser Übergang aber — abrupt oder zerlegbar — ist der große Moment im Malakt. Dennhier entdeckt die Malerei am Grund ihrer selbst und auf ihre Weise das Problem einer reinenLogik: von der faktischen Möglichkeit zum Faktum gelangen.' Denn das Diagramm warnur eine faktische Möglichkeit, während das Gemälde durch die Vergegenwärtigung einesganz besonderen Faktums existiert, das manpikturales Faktum nennen wird. Vielleicht eignetsich in der Kunstgeschichte Michelangelo am besten, uns mit aller Evidenz die Existenz einesderartigen Faktums faßbar zu machen. Von »Faktum« wird man zunächst sprechen, wennmehrere Formen tatsächlich — unauflösbar — in ein und dieselbe Figur gefaßt, in eine ArtSchlangenlinie genommen werden, und zwar als ebenso viele Zufälle, die um so notwendigerwären und aufeinander klettern würden. 4 So etwa die Heilige Familie: Die Formen könnendann figurativ sein und die Personen noch narrative Beziehungen besitzen, alle dieseVerbindungen verschwinden zugunsten eines »matter of fact«, eines spezifisch pikturalen(oder skulpturalen) Verbunds, der keine Geschichte mehr erzählt und nichts als seine eigeneBewegung repräsentiert und scheinbar willkürliche Elemente in einem einzigen kontinuier-lichen Guß gerinnen läßt.' Gewiß gibt es noch eine organische Repräsentation, in einertieferen Schicht aber wohnt man einer Offenbarung des Körpers unterhalb des Organismusbei, die die Organismen und ihre Elemente bersten oder anschwellen läßt, ihnen einenSpasmus aufzwingt, sie mit Kräften verknüpft, sei es mit einer inneren Kraft, die sieemporhebt, sei es mit äußeren Kräften, die sie durchqueren, sei es mit der ewigen Kraft einerZeit, die sich nicht ändert, sei es mit den variablen Kräften einer verrinnenden Zeit: einFleischstück, ein breiter Männerrücken — Michelangelo ist es, von dem Bacon dieseInspiration hat. Und dann hat man noch den Eindruck, daß der Körper besonders manie-

1 G 13 (und 91-92, 96): »Dann, am nächsten Tag, habe ich versucht, das weiterzutreiben, es noch klarer herauszu-arbeiten, noch näher heranzugehen, und ich habe dabei das Bild vollständig verloren.«

2 G 58, 60, 102 (diese Markierungen, »die auf der Leinwand entstanden sind, [haben] sich zu diesen eigentümlichenFormen entwickelt«).

3 G 12. Das Diagramm ist nur eine »faktische Möglichkeit«. Eine Logik der Malerei begegnet hier Begriffen, dieanalog zu denen bei Wittgenstein sind.

4 Dies war Bacons Formulierung (G 12) (»one continuous accident mounting an the top of another« The brutalityoffact, a. a. 0., S. 11).

5 In einem kurzen Text über Michelangelo hat Luciano Bellosi sehr klar gezeigt, wie Michelangelo das narrativereligiöse Faktum zugunsten eines spezifisch pikturalen oder skulpturalen Faktums zerstörte; vgl. Michel-Auge pein-tre, Paris 1971.

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DELEUZE: FRANCIS BACON - LOGIK DER SENSATION

rierte Haltungen einnimmt oder sich unter der Anstrengung, unter Schmerz und Angstkrümmt. Aber dies stimmt nur, wenn man wieder eine Geschichte oder eine Figurationhereinholt: In Wahrheit sind dies in figuraler Hinsicht die natürlichsten Haltungen, wie wirsie »zwischen« zwei Geschichten einnehmen, oder wenn wir alleine sind, einer Kraftausgesetzt, die uns erfaßt. Mit Michelangelo und dem Manierismus entstehen die Figur oderdas pikturale Faktum im Reinzustand und werden keiner anderen Rechtfertigung mehrbedürfen als einer »scharfen und schneidenden, funkelnden Polychromie, einer Metallklingegleich«. Nun ist alles aufgehellt und ins Klare gewendet, eine Klarheit, die die der Konturund gar des Lichts übertrifft. Die Wörter, derer Leiris sich für Bacon bedient — die Hand,der Pinselstrich, das Ergreifen, das Fassen' — evozieren jene unmittelbare manuelle Aktivität,die die Möglichkeit des Faktums entwerfen: Man wird ein Faktum in flagranti fassen, wieman »nach der Natur malen«, »aus dem Leben greifen« wird. Das Faktum selbst aber, jenesder Hand entstammende pikturale Faktum, ist die Bildung eines dritten Auges, eineshaptischen Auges, eines haptischen Sehens des Auges, jene neue Klarheit. Als ob die Dualitätdes Taktilen und des Optischen visuell überholt würde auf jene haptische Funktion hin, dieaus dem Diagramm hervorgegangen ist.

1 Vgl. A. d. Ü. Kap. 15, S. 86, Anm. 1.

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VERZEICHNIS DER BILDER IN DER REIHENFOLGEIHRES ERSCHEINENS IM TEXT

Kapitel I

3 Study for portrait of Lucian Freud (sideways), 1971. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm.Privatsammlung, Brüssel.

4 Portrait of George Dyer talking, 1966. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Privatsamm-lung, New York.

14 Triptych. 1970. Öl auf Leinwand, jede Tafel 198 x 147,5 cm. National Gallery ofAustralia, Canberra.

17 Triptych, Studies of the human body, 1970. Öl auf Leinwand, jede Tafel 198 x 147,5cm. Sammlung Jacques Hachuel, New York.

5 Two men working in a field, 1971. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Privatsammlung,Japan.

6 Head VI, 1949. Öl auf Leinwand, 93 x 77 cm. The Arts Council of Great Britain,London.

19 Triptych, Three studies of Lucian Freud, 1969. Öl auf Leinwand, jede Tafel 198 x 147,5cm. Privatsammlung, Rom.

22 Triptych, Studies of the human body, 1970. Öl auf Leinwand, jede Tafel 198 x 147,5cm. Sammlung Marlborough International Fine Art.

25 Triptych, Three studies for portrait of Lucian Freud, 1966. Öl auf Leinwand, jede Tafel198 x 147,5 cm. Sammlung Marlborough International Fine Art.

1 Study for a Portrait of Van Gogh II, 1957. Öl auf Leinwand, 198 x 142 cm. SammlungEdwin Janss, Thousand Oaks, Kalifornien.

7 Figure in a landscape, 1945. Öl und Pastell auf Leinwand, 145 x 128 cm. The TateGallery, London.

8 Figure study I, 1945-46. Öl auf Leinwand, 123 x 105,5 cm. Privatsammlung, Großbri-tannien.

11 Head II, 1949. Öl auf Leinwand, 80,5 x 65 cm. Ulster Museum, Belfast.12 Landscape, 1952. Öl auf Leinwand, 139,5 x 198,5 cm. Museo Brera, Mailand.13 Study of a figure in a landscape, 1952. Öl auf Leinwand, 198 x 137 cm. The Phillips

Collection, Washington, D.C.15 Study of a baboon, 1953. Öl auf Leinwand, 198 x 137 cm. Museum of Modern Art,

New York.2 Two figures in the grass, 1954. Öl auf Leinwand, 152 x 117 cm. Privatsammlung, Paris.

16 Man with a Dog, 1953. Öl auf Leinwand, 152,5 x 118 cm. Albright-Knox Art Gallery,Buffalo (Schenkung von Seymour H. Knox).

9 Self-Portrait, 1973. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Privatsammlung, New York.

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VERZEICHNIS DER BILDER

Kapitel III

10 Study for bullfight No 1, 1969. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Privatsammlung.18 Second version of »Study for bullfight No 1«, 1969. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm.

Sammlung Jerome L. Stern, New York.20 Three studies of Isabel Rawsthorne, 1967. Öl auf Leinwand, 119,5 x 152,5 cm.

Nationalgalerie, Berlin.21 Study of nude with figure in a mirror, 1969. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm.

Privatsammlung.27 Triptych, 1976. Öl und Pastell auf Leinwand, jede Tafel 198 x 147,5 cm. Privatsamm-

lung, Frankreich.23 Painting, 1978. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Privatsammlung, Monte Carlo.24 Three studies from the human body, 1967. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm.

Privatsammlung.26 Figure standing at a washbasin, 1976. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Museo de

Arte Contemporaneo de Caracas.29 Triptych, may-june 1973. Öl auf Leinwand, jede Tafel 198 x 147,5 cm. Sammlung Saul

Sternberg, New York.47 Triptych, Three studies of the male back, 1970. Öl auf Leinwand, jede Tafel 198 x 147,5

cm. Kunsthaus, Zürich.30 Painting, 1946. Öl auf Leinwand, 198 x 132 cm. Museum of Modern Art, New York.28 Second version of »Painting« 1946, 1971. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Wallraf-

Richartz Museum, Sammlung Ludwig.50 Triptych, may-june 1974. Öl auf Leinwand, jede Tafel 198 x 147,5 cm. Nachlaß des

Künstlers.37 Lying figure with hypodermic syringe, 1963. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm.

Privatsammlung, Schweiz.31 Portrait of George Dyer staring into a mirror, 1967. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm.

Privatsammlung, Caracas.32 Lying figure in a mirror, 1971. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Museo de Bellas

Artes, Bilbao.35 Portait of George Dyer in a mirror, 1968. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Sammlung

Thyssen-Bornemisza, Lugano.

Kapitel IV

36 Two studies of George Dyer with a Dog, 1968. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm.Privatsammlung, Rom.

39 Seated figure, 1974. Öl und Pastell auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Sammlung Gilbertde Botton.

40 Three figures and portrait, 1975. Öl und Pastell auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. TheTate Gallery, London.

53 Triptych, Two figures lying an a bed with attendants, 1968. Öl auf Leinwand, jede Tafel198 x 147,5 cm. Privatsammlung, New York.

43 Lying figure, 1959. Öl auf Leinwand, 198 x 142 cm. Kunstsammlung Nordrhein-West-falen, Düsseldorf.

44 Reclining woman, 1961. Öl und Collage auf Leinwand, 198,5 x 141,5 cm. The TateGallery, London.

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VERZEICHNIS DER BILDER

46 Lying figure, 1969. Öl und Pastell auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Privatsammlung,Montreal.

56 Triptych, Three studies for a crucifixion, 1962. Öl auf Leinwand, jede Tafel 198 x 145cm. The Solomon R. Guggenheim Museum, New York.

58 Triptych, Crucifixion, 1965. Öl auf Leinwand, jede Tafel 198 x 147,5 cm. StaatsgalerieModerner Kunst, München.

48 Study for portrait II (after the life mask of William Blake), 1955. Öl auf Leinwand, 61x 51 cm. The Tate Gallery, London.

49 Study for portrait III (after the life mask of William Blake), 1955. Öl auf Leinwand, 61x 51 cm. Privatsammlung.

45 Pope No II, 1960. Öl auf Leinwand, 152,5 x 119,5 cm. Privatsammlung, Schweiz.51 Miss Muriel Belcher, 1959. Öl auf Leinwand, 74 x 67,5 cm. Sammlung Gilbert Halbers,

Paris.52 Fragment of a crucifixion, 1950. Öl und Watte auf Leinwand, 140 x 108,5 cm. Stedelijk

Van Abbemuseum, Eindhoven.61 Triptych inspired by T. S. poem »SweenyAgonists«, 1967. Öl auf Leinwand, jede

Tafel 198 x 147,5 cm. The Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Washington,D.C.

Kapitel V

54 Study after Velazquez' portrait of Pope Innocent X, 1953. Öl auf Leinwand, 153 x 118cm. Des Moisnes Art Center, Iowa.

55 Study for the nurse in the film Battleship Potemkin, 1957. Öl auf Leinwand, 198 x 142cm. Städelsches Kunstinstitut und Städtische Galerie, Frankfurt/M.

57 Pope, 1954. Öl auf Leinwand, 152,5 x 116,5 cm. Privatsammlung, Schweiz.59 Study for a portrait, 1953. Öl auf Leinwand, 152,5 x 118 cm. Kunsthalle, Hamburg.60 Triptych, Three studies of the human head, 1953. Öl auf Leinwand, jede Tafel 61 x 51

cm. Privatsammlung, Schweiz.62 Study for crouching nude, 1952. Öl auf Leinwand, 198 x 137 cm:Detroit Institute of

Arts.38 Jet of water, 1979. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Privatsammlung.83 Sand dune, 1981. Öl und Pastell auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Privatsammlung.84 A piece of Watte land, 1982. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Nachlaß des Künstlers.97 Sand dune, 1981. Öl und Pastell auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Sammlung Ernst

Beyeler, Basel.90 Oedipus and the Sphinx after Ingres, 1983. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm.

Privatsammlung, Kalifornien.

Kapitel VI

63 Portrait of George Dyer and Lucian Freud, 1967. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm(durch Brand zerstört).

33 Portrait of George dyer staring at blind cord, 1966. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm.Sammlung Maestri, Parma.

64 Portrait of a man walking down steps, 1972. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm.Privatsammlung, London.

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VERZEICHNIS DER BILDER

65 Man carrying a child, 1956. Öl auf Leinwand, 198 x 142 cm. Privatsammlung.34 After Muybridge — woman emptying bowl of water, and paralytic child on all fours,

1965. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Stedelijk Museum, Amsterdam.66 Figure turning, 1962. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Privatsammlung, New York.67 Portrait of George Dyer riding a bicycle, 1966. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm.

Sammlung Jerome L. Stern, New York.68 Study of Isabel Rawsthorne, 1966. Öl auf Leinwand, 35,5 x 30,5 cm. Sammlung Michel

Leiris, Paris.

Kapitel VII

69 Two studies for a portrait of George Dyer, 1968. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm.Sammlung Sara Hilden Tampere, Finnland.

70 Triptych, august 1972. Öl auf Leinwand, jede Tafel 198 x 147,5 cm. The Tate Gallery,London.

73 Triptych, Three portraits, 1973. Öl auf Leinwand, jede Tafel 198 x 147,5 cm. Privat-sammlung, San Francisco.

Kapitel VIII

71 Triptych, Three studies for a self-portrait, 1967. Öl auf Leinwand, jede Tafel 35,5 x 30,5cm. Privatsammlung.

72 Triptych, Three studien of Isabel Rawsthorne, 1968. Öl auf Leinwand, jede Tafel 35,5x 30,5 cm. Sammlung Mrs. Susan Lloyd, Nassau.

74 Triptych, Three studies for a portrait of George Dyer (on lightground), 1974. Öl aufLeinwand, jede Tafel 35,5 x 30,5 cm. Privatsammlung.

75 Four studies for a self-portrait, 1967. Öl auf Leinwand, 91,5 x 33 cm. Museo Brera,Mailand.

77 Sleeping figure, 1974. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Sammlung A. Carter Pottash.

Kapitel IX

76 Triptych, Three studies of figures on bed, 1972. Öl auf Leinwand, jede Tafel 198 x 147,5cm. Privatsammlung, San Francisco.

41 Two figures, 1953. Öl auf Leinwand, 152 x 116,5 cm. Privatsammlung, England.79 Man and child, 1963. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Sammlung Mac Crory

Corporation, New York.

Kapitel X

78 Triptych, march 1974. Öl und Pastell auf Leinwand, jede Tafel 198 x 147,5 cm.Privatsammlung, Madrid.

80 Triptych, Three studies for figures at the bare of crucifixion, 1944. Öl und Pastell aufLeinwand, jede Tafel 94 x 74 cm. The Tate Gallery, London.

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VERZEICHNIS DER BILDER

82 Triptych, Three figures in a room, 1964. Öl auf Leinwand, jede Tafel 198 x 147,5 cm.Musee National d'Art Moderne, Centre Georges Pompidou, Paris.

Kapitel XIV

81 Sphinx, 1954. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Museo Brera, Mailand.

Kapitel XVI

42 Portrait of Isabel Rawsthorne in a street in Soho, 1967. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5cm. Nationalgalerie, Berlin.

Diese zweite (französische) Auflage enthält neben den neuen, in Kapitel V zitiertenAbbildungen (83, 84, 97, 90) folgende Bilder:

85 Study from the human body, 1983. Öl und Pastell auf Leinwand, 198 x 147,5 cm.Menil's Foundation, Houston.

86 Study from the human body, figure in mouvement, 1982. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5cm. Sammlung Marlborough International Fine Art.

87 Study of the human body from a drawing by Ingres, 1982. Öl und Pastell auf Leinwand,198 x 147,5 cm. Nachlaß des Künstlers.

88 Study of human body, 1982. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Musee National d'ArtModerne, Centre Georges Pompidou, Paris.

89 Statue and figures in a street, 1983. Öl unf Pastell auf Leinwand, 198 x 147,5 cm.Nachlaß des Künstlers.

91 Study of man talking, 1981. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Privatsammlung,Schweiz.

92 Sphinx-portrait of Muriel Belcher, 1979. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Museumfür Moderne Kunst, Tokio.

93 Triptych, studies from the human body, 1979. Öl auf Leinwand, jede Tafel 198 x 147,5cm. Privatsammlung.

94 Carcase of meat and bird of prey, 1980. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Privatsamm-lung.

95 Study for a self portrait, 1982. Öl auf Leinwand, 198 x 147,5 cm. Privatsammlung,New York.

96 Triptych, 1983. Öl und Pastell auf Leinwand, jede Tafel 198 x 147,5 cm. SammlungMarlborough International Fine Art.

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AUSFÜHRLICHES INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort 7

I — Das Rund, die Bahn 9

Das Rund und seine Entsprechungen 9 — Unterscheidung der Figur vom Figurativen 9 —Das Faktum 10 — Die Frage der »matters of fact« 10 — Die drei Elemente der Malerei: Struktur,Figur und Kontur II — Rolle der Farbflächen

II — Anmerkung über das Verhältnis der alten Malerei zur Figuration 13

Die Malerei, die Religion und das Photo 13 — Zwei Verkehrungen 13

III — Die Athletik 15

Erste Bewegung: von der Struktur zur Figur 15 — Isolierung 15 — Athletik 16 — ZweiteBewegung: von der Figur zur Struktur 16 — Der Körper entkommt: das Abscheuliche 17 —Die Kontraktion, die Auflösung: Waschbecken, Regenschirme und Spiegel 18

IV — Der Körper, das Fleisch und der Geist, das Tier-Werden 19

Mensch und Tier 19 — Die Ununterscheidbarkeitszone 19 — Leib und Knochen: das Fleischrutscht von den Knochen herab 20 - Das Erbarmen 20 - Kopf, Gesicht und Fleisch 21

V — Zusammenfassende Anmerkung: Perioden und Aspekte bei Bacon 23

Vom Schrei zum Grinsen: die Auflösung 23 — Die drei aufeinanderfolgenden Perioden beiBacon 24 — Die Koexistenz aller Bewegungen 24 — Die Funktionen der Kontur 25

VI — Malerei und Sensation 27

Cezanne und die Sensation 27 — Die Sensationsebenen 28 — Das Figurative und die Gewalt29 — Die Verschiebung, der Spaziergang 3o — Die phänomenologische Einheit der Sinne:Sensation und Rhythmus 31

VII — Die Hysterie 32

Der organlose Körper: Artaud 32 — Die gotische Linie Worringers 33 — Was »Ebenendiffe-renz« in der Sensation bedeutet 33 — Die Schwingung 34 — Hysterie und Gegenwart 35 —Bacons Zweifel 36 — Die Hysterie, die Malerei und das Auge 37

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AUSFÜHRLICHES INHALTSVERZEICHNIS

VIII — Die Kräfte malen 39

Das Unsichtbare wiedergeben: Problem der Malerei 39 — Die Deformation, weder Transfor-mation noch Dekomposition 4o — Der Schrei 41 — Liebe zum Leben bei Bacon 41 —Aufzählung der Kräfte 42

IX — Paare und Triptychen 44

Figurenpaare 44 — Der Kampf und die Sensationskopplung 45 — Die Resonanz 45 —Rhythmische Figuren 46 — Die Amplitude und die drei Rhythmen 47 — Zwei Arten von»matters of fact« 47

X — Anmerkung: Was ist ein Triptychon? 49

Der Zeuge 49 — Der aktive und der passive Zeuge 5o — Der Sturz: aktive Wirklichkeit derEbenendifferenz 5o — Das Licht, Vereinigung und Trennung 53

XI — Vor dem Malen: das Gemälde... 55

Cezanne und der Kampf gegen das Klischee 55 — Bacon und die Photos 56 — Bacon und dieWahrscheinlichkeiten 58 — Theorie des Zufalls: die zufälligen Striche 59 — Das Visuelle unddas Manuelle 6o — Status des Figurativen 6o

XII — Das Diagramm 62

Das Diagramm im Sinne Bacons (Striche und Flecke) 62 — Sein manueller Charakter 63 —Die Malerei und die Erfahrung der Katastrophe 63 — Abstrakte Malerei, Kode und optischerRaum 64 — Action painting, Diagramm und manueller Raum 65 — Was Bacon an beidenMöglichkeiten nicht paßt 67

XIII — Die Analogie 69

Cezanne: das Motiv als Diagramm 69 — Das Analoge und das Digitale 7o — Malerei undAnalogie 71 — Der paradoxe Status der abstrakten Malerei 72 — Die analoge Sprache beiCezanne und bei Bacon: Ebene, Farbe und Masse 72 — Modulieren 73 — Die wiedergefundeneÄhnlichkeit 74

XIV — Jeder Maler resümiert die Geschichte der Malerei auf seine Weise... 75

Ägypten und die haptische Darstellung 75 — Wesen und Akzidentelles 76 — Die organischeRepräsentation und die optisch-taktile Welt 77 — Die byzantinische Kunst: eine reineoptische Welt? 78 — Die gotische Kunst und das Manuelle 79 — Das Licht und die Farbe, dasOptische und das Haptische 8o

XV — Bacons Weg 83

Die haptische Welt und ihre Wandlungen 83 — Der Kolorismus 85 — Eine neue Modulation86 — von Van Gogh und Gauguin zu Bacon 86 — Die beiden Aspekte der Farbe: derleuchtende und der gebrochene Ton 87

XVI — Anmerkung über die Farbe 89

Die Farbe und die drei Elemente der Malerei 89 — Die Struktur-Farbe: Der Farbgrund und

roh

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AUSFÜHRLICHES INHALTSVERZEICHNIS

seine Abschnitte 90 — Rolle des Schwarz 91 — Die Kraft-Farbe: die Figuren, die Ströme undgebrochenen Töne 91 — Die Köpfe und die Schatten 92 — Die Kontur-Farbe 92 — Malereiund Geschmack: guter und schlechter Geschmack 93

XVII — Auge und Hand 94

Digital, taktil, manuell und haptisch 94 — Die Praxis des Diagramms 95 — »Ganz verschie-dene« Bezüge 95 — Michelangelo: das pikturale Faktum 97

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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Deleuze, Gilles:Francis Bacon - Logik der Sensation / Gilles Deleuze. Aus demFranz. von Joseph Vogel. - München : Fink.

(Bild und Text)Einheitssacht.: Francis Bacon - logique de la sensation <dt.>

ISBN 3-7705-2952-9

2 (1995)

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11IEN

+AM120651604

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Die Sensation malen - was Cäzanne für dieMalerei reklamierte, wird zum Leitfaden, andem entlang Gilles Deleuze das Werk FrancisBacons durchquert. Er folgt den Arbeiten diesesgroßen Außenseiters moderner Kunst auf ihremWeg zwischen Figuration und Abstraktion undholt dabei jene bildnerische Erregung ein, mitder das Sichtbare an das Unsichtbare, dieGestalt an das Gestaltlose, das Feste an seineigenes Werden rührt: Figuren ohne Figura-tives, Szenen ohne Darsteller und Zuschauer,die Körper in ihrem athletischen Krampf.In strukturalen Analysen und ästhetischerReflexion, in kunsthistorischen und philoso-phischen Exkursen entfaltet Deleuze die exzen-trische Erfahrung und die Logik dieser Malerei,die den Affekt materialisiert und dem Sehenselbst eine psycho-somatische Intensitätabnötigt.Dieser Essay von Gilles Deleuze vermeidet einephilosophische Entmündigung der Kunst ebensowie einen bloßen Nachvollzug von Bild-gehalten oder eine ideengeschichtliche Inter-pretation. Er ist vielmehr eine Hommage an dasWerk dieses — 1992 gestorbenen — Malersund darüber hinaus das seltene Manifest einerglücklichen Konstellation zwischen Philosophieund Malerei. In enger Korrespondenz zu denBildern Bacons (die im Beiband wiederge-geben sind) führt er philosophisches Argumentund ästhetisches Experiment zusammen undbietet eine umfassende Darstellung dieserkünstlerischen Arbeit und zugleich eineEinführung in wesentliche Themen derDeleuzeschen Philosophie.Gilles Deleuze provoziert eine Begegnung, inder sich die Arbeit des Begriffs und die MalereiBacons wechselseitig ergänzen und illustrierenund ihren Koinzidenzpunkt - den Augenblickdes Schöpferischen - hervortreiben.

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GillesDifferenz und WiederholungAus dem Französischen von Joseph Vogl408 Seiten, Franz. Broschur3-7705-2730-5

Das Buch von Deleuze sollte man aufschlagenwie man die Türen eines Theaters aufstößt,wenn das Rampenlicht aufleuchtet und derVorhang sich hebt. Zitierte Autoren undunzählige Anspielungen — das sind diePersonen. Sie sagen ihren Text auf (den Text,den sie anderswo, in anderen Büchern, aufanderen Bühnen anders gesprochen haben,der hier aber gespielt wird; das ist die sorg-fältige und listenreiche Technik der „Collage").Jeder hat seine Rolle (und häufig treten sie zudritt auf, der Komiker, der Tragiker, derDramatiker: Peguy, Kierkegaard, Nietzsche;Aristoteles — ja, ja der Komiker! —, Platon,Duns Scotus; Hegel — ja auch er! —, Hölderlinund wiederum Nietzsche).Halten wir jede dieser Wandlungen fest, dieDeleuze in der guten alten Stube der Philo-sophie anrichtet: aus dem. gesundenMenschenverstand wird Gegenorthodoxie;aus dem Gemeinsinn extreme Spannung undZuspitzung; aus der Beschwörung des Irrtumsdie Faszination durch die Dummheit; aus demKlaren und Deutlichen das Deutlich-Dunkle.Halten wir vor allem jene große Umwertungdes Lichtes fest: das Denken ist nicht mehr einoffener Blick auf Formen, die in ihrer Identitäthell und klar umrissen sind; das Denken istGeste, Sprung, Tanz, äußerstes Abseits,gespannte Dunkelheit. Es ist das Ende derPhilosophie (jener der Repräsentation). Incipitphilosophia (jene der Differenz).Das Buch von Deleuze ist das wundersameTheater, in dem die ständig neuen Diffe-renzen, die wir sind, die wir machen,zwischen denen wir herumirren, gespieltwerden. Es ist seit langem das beispielloseste,das differenteste Buch, es ist das Buch, dasdie Differenzen, die uns durchkreuzen undzerstreuen, am besten wiederholt. Theater desJetzt.

Michel Foucault in „Le Nouvel Observateur"