Gewalt und Gehorsam - ciando

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Andreas Ploeger Gewalt und Gehorsam Die Dominanz des Machterlebens der Deutschen unter Hitler Ein Buch gegen den Krieg Mit einem Geleitwort von Gerd Rudolf

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Andreas Ploeger

Gewalt und Gehorsam Die Dominanz des Machterlebens der Deutschen unter HitlerEin Buch gegen den Krieg

Mit einem Geleitwort von Gerd Rudolf

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Andreas Ploeger

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Andreas Ploeger

Die Dominanz des Machterlebens der Deutschen unter Hitler

Ein Buch gegen den Krieg

Unter Mitarbeit vonMechthild Neises und Ewelina Koutsonas (geb. Plura)

Mit einem Geleitwort von Gerd Rudolf

Mit 23 Abbildungen

Gewalt und Gehorsam

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Univ.-Prof. Dr. med. Dipl.-Psychol. Andreas PloegerLemierser Berg 11952074 AachenE-Mail: [email protected]

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Lektorat: Sonja Steinert, StuttgartUmschlagabbildung: mauritius images/JT Vintage © www.mauritius-images.com; mauritius images/Germany Images David Crossland/Alamy © www.mauritius-images.com; Love the wind © www.fo-tolia.deSatz: abavo GmbH, Buchloe Druck und Einband: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten/Allgäu

Auch als E-Book erhältlich: ISBN 978-3-7945-9069-8

ISBN 978-3-7945-3237-7

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Den Opfern

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»Es zeigte sich, wozu Menschen fähig sind, wenn ihnen unbegrenzte Macht über andere Menschen eingeräumt wird.«

Marcel Reich-Ranicki

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Geleitwort VIIVII

Geleitwort

Die Frage, wie die alles umgreifende Machtstruktur des NS-Systems entstehen, große Teile der deutschen Bevölkerung einbinden und schließlich Millionen von Menschenleben vernichten konnte, hat – nach einer eher sprachlosen Nachkriegs-zeit – einige Jahrzehnte lang Historiker, Politiker und Zeitzeugen intensiv beschäf-tigt und dabei heftige Kontroversen ausgelöst. Dabei ging es auch um die Frage der moralischen Verantwortung und Schuld der unmittelbar Beteiligten bzw. der Deutschen generell, nicht zuletzt aber um die Frage, wie ein solches Geschehen für alle Zeiten verhindert werden könne.

Als die Debatte sich zu erschöpfen begann und von Einzelnen deren Beendigung gefordert wurde, erklangen weitere Stimmen. Es waren Berichte über Frauen und Männer des Widerstandes, die erkennen ließen, dass es neben Tätern, Opfern und Mitläufern Einzelne gab, die sehr viel wagten, um sich dem System entgegenzu-stellen, und dabei häufig mit ihrem Leben bezahlten.

Andreas Ploeger hat, ähnlich wie andere seiner Zeitgenossen, vergleichsweise spät in seinem Leben begonnen, sich öffentlich mit diesem Thema auseinander-zusetzen. Allerdings war er bereits ein akademisches Berufsleben lang mit sozial-psychologischen Themen beschäftigt und insbesondere mit der Frage, wie Men-schen Katastrophen bewältigen können. So betreute er zum Beispiel die Bergleute von Lengede und die Opfer der Flugzeugentführung von Mogadischu. Ähnlich wie andere Kriegstraumatisierte stieß er erst im fortgeschrittenen Lebensalter auf die eigenen Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend, die durch die NS-Jugend-organisationen und durch den Einsatz als – fast möchte man sagen – »Kinder-soldat« geprägt waren. Er war kein Spross einer mächtigen Familie, die ihm Schutz geben konnte; er war kein Opfer politischer oder rassistischer Verfolgung und kein Widerstandskämpfer. Er war, wie er in »Kanonenfutter« (2011) beschreibt, ein durchschnittlicher Jugendlicher, der unvermeidlich die Stufen der staatlich ver-ordneten Jugendorganisationen durchlief und schließlich gegen Kriegsende an die Front geschickt wurde, wo er eher zufällig überlebt hat, während ringsum seine Altersgenossen zu Tode kamen.

In diesem Buch versucht Ploeger seine persönliche Lebensfrage (»Wie konnte das alles geschehen?«) mit wissenschaftlichen und speziell sozialpsychologischen Mitteln zu beantworten. Er sucht damit nach Erklärungen für die immer noch schwer verständliche Tatsache, dass eine breite Mehrheit der deutschen Bevöl-kerung einer kleinen, aber rasch expandierenden politischen Gruppe die Macht überließ und diese daraus ein destruktives System entwickeln konnte, das seine Feindbilder in Teilen der eigenen Bevölkerung, dann in benachbarten Völkern und schließlich im Rest der Welt suchte, ehe es unter dem militärischen Druck der alliierten Gegner zusammenbrach.

Der Autor fasst seine zentrale Hypothese in der Formel »Dominanz des Macht-erlebens« zusammen. Ausführlich und anhand einer umfangreichen Material-sammlung von sprachlichen »Parolen«, d. h. geschriebenen, gesprochenen oder gesungenen Machtworten, zeigt er auf, wie sich im sozialen Miteinander des Alltags

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und im politischen Raum eine spezifische Struktur der Machtausübung entwickelt. Durch Indoktrination und Denunziation schuf sie ein Klima zwischen Angst und Heilserwartungen, ein Denken in Oben-Unten- und Freund-Feind-Schemata und klischeehaft kontrastierenden Rollenmustern von Frauen und Männern. Die totalitäre Struktur konnte sich ohne demokratische Kontrolle und ohne ethische Bedenken bis zu einem Zivilisationsbruch steigern. Dieses Geschehen endete für unendlich viele Menschen, die dem System ausgeliefert waren, tödlich, und für viele Opfer traumatisierend, während die Überlebenden, vor die Alternative »Opfer oder Täter« gestellt, sich dem Thema lange verweigerten.

Das Ausmaß der nicht bewältigten Emotionen dieses Themas scheint die menschliche Rationalität zu überfordern, sodass der Versuch, plausible Erklärungs-hypothesen für das Geschehen zu bilden, lange unbefriedigend blieb. Der Autor, der in vorausgegangenen Schriften seine persönlichen Erfahrungen einbezogen hatte, versucht in dem vorliegenden Buch, das Geschehen in einer großen ratio-nalen Anstrengung zu interpretieren. Sein erklärtes Ziel ist die Prävention: Durch das Verständlichwerden der historischen Entwicklung, auch in ihrem Bezug zur Erziehung und zur Sozialisation, soll möglichen Wiederholungen des Geschehens entgegengewirkt werden. Darin folgt er einem Motiv, das Historiker seit der Auf-klärung bewegt: aus der Geschichte lernen zu können.

Die gegenwärtig erfolgende Explosion fundamentalistischer Gewalt im Nahen Osten, die nach Europa hineindrängt und auch hier zunehmend Resonanz findet, macht deutlich, wie aktuell dieses scheinbar historisch zurückliegende Thema für uns heute ist und wie wichtig es für die Zukunft sein wird, soziodynamisch zu verstehen, was unter bestimmten inneren und äußeren Bedingungen in einer Ge-sellschaft an destruktiven Entwicklungen, an Feindseligkeit und Todesbereitschaft bei bisher scheinbar unauffälligen Einzelpersonen ebenso wie in großen Kollektiven aufbrechen kann. Wenn diese Hintergründe und ihr Zusammenspiel verstanden werden können, besteht auch eine Chance, den bedrohlichen Entwicklungen künf-tig Einhalt zu gebieten.

Univ.-Professor Dr. med. Gerd RudolfDirektor emer. der Psychotherapeutisch-psychosomatischen

Universitätsklinik HeidelbergOrdinarius für Psychotherapie und Psychosomatik

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Warum dieses Buch? IX IX

Warum dieses Buch?

Der Beweggrund der Deutschen, einem radikalen, aggressiven, besessenen Fanati-ker namens Hitler bis an die Grenze ihrer eigenen Vernichtung im Krieg zu folgen, obwohl er sie diktatorisch entmündigte und ihnen seine persönliche Ideologie mit tödlicher Gewalt aufoktroyierte, blieb bisher ungeklärt.

Dieses Buch ist der Versuch einer Klärung. Sie geht aus von einem Charakte-ristikum deutscher Wesensart, sie sei »Dominanz des Machterlebens« genannt. Diese entsteht unter einer autoritären Erziehung und Sozialisation in Kindheit und Jugend. Daher sind eine tolerante Erziehung und eine von Verstehen und Akzep-tanz getragene Sozialisation zu fordern. Diese werden beschrieben als ein Weg zur Vorbeugung von Diktatur und Krieg.

Ausführlich wird dargestellt, in welchem Umfang die Hitler-Diktatur durch Re-pression, Gewalt und Androhung des Todes die individuelle Neigung zur Dominanz des Machterlebens stimulierte und so in den Kollektiven der diversen Lebensbe-reiche das Streben nach Macht und die Unterwerfungsbereitschaft gleichermaßen mobilisierte.

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VorwortXX

Vorwort

Die Beschäftigung mit dem Staat, der sich ganz harmlos »Drittes Reich« nannte, ruft eine Welt zurück, die menschlichem Leben nicht zugehörig erscheint. Denn es zeigt sich die Entfesselung von Gewalten, die in der Geschichte im Umgang zwischen Menschen oder Menschengruppen zwar bekannt sind. Doch das wohl Einmalige der Terror-Diktatur »Drittes Reich« ist eine historisch niemals dagewe-sene noch jemals erfahrene, noch für möglich gehaltene Exazerbation menschlicher Aggression. Es geht um die totale Entbindung des Vernichtens von der Moral, um die Ignoranz menschlichen Lebens, um die Auslöschung jeder Tötungshemmung, um die Teilung der Menschheit in »lebenswert« und »lebensunwert«, um den Er-satz von Überzeugung durch Indoktrination, von individuellem Handeln durch kollektives Agieren, von persönlicher Verantwortung durch zwingende Hörigkeit und des Respekts vor dem Leben durch industrielles Massenmorden. Es ging um Unschuldige, um die zigmillionenfache Erniedrigung von Menschen als Trägern ethischer Werte, um eine Mobilisierung aggressiver Destruktion gegen Völker und Menschengruppen und um eine mentale Entwertung und vitale Auslöschung von Menschen als Repräsentanten persönlicher Existenz. Der Mensch wurde nicht mehr als individuelles Wesen mit seinen Bedürfnissen und Gefühlen, mit eigener Meinungsbildung und zielorientiertem Streben nach Sinn und Wert, sondern als Träger einer Doktrin gefordert, die ihm per Macht und Gewalt übergestülpt wurde.

All dies funktionierte durch die institutionelle Organisation der Entindividuali-sierung von Menschen, die sich nicht mehr von ihren persönlichen Verpflichtun-gen, ihrem Gewissen und ihren Prinzipien leiten lassen sollten. Ihre Lenkung kam nun von außen, der staatlich-ideologischen Direktive und der Mobilisierung eines Gefühlslebens, das nun nicht mehr eigenen Neigungen und Bedürfnissen, sondern den vorgegebenen Zielrichtungen folgen sollte und musste. Die Nähe zwischen Menschen sollte nicht mehr durch Übereinstimmung in Gedanken, in Zuneigung und in Lebensgestaltung, sondern durch die Gleichstimmung und die gleiche Ge-sonnenheit im staatlichen Kollektiv bestimmt sein. Weisung und Befehl traten an die Stelle von Mitteilung und Dialog. Elias Canetti (1980) sagte, dass der Befehl das gefährlichste Element im Zusammenleben von Menschen geworden sei. Man müsse den Mut haben, sich ihm entgegenzustellen und seine Herrschaft zu erschüt-tern. Genau diesen Mut hatten die Deutschen nicht. Gehorsam und Unterwerfung machten sich breit. Beim Blick zurück enthüllt sich noch mehr: die kriegerische Einvernahme anderer Länder und ihrer Menschen bis hin zur Vernichtung ihres Landes und ihres Lebens. Die hunderttausendfache Ermordung eigener Bürger und die zigmillionenfache organisierte Ermordung missliebiger oder für unwert erklärter Menschen wurde im Rückblick offenkundig.

Jeder Versuch einer erklärenden Analyse droht in Bestürzung, Ekel, Verdam-mung oder gar Unglaube zu ersticken. Die sich zugleich einstellende Frage »Wie konnte es geschehen?« fordert Erkenntnis der Ursachen und ruft auf zur Prävention gegen eine Wiederholung. Das bedarf einer Analyse des Geschehens und seiner Ursprünge. Analysen jedweder Sachverhalte müssen jedoch ihren Gegenstand ob-

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Vorwort XI XI

jektivieren. Diese Notwendigkeit verlangt zugleich eine nüchtern reflektierende und vorbehaltlos wahrnehmende Einstellung zu ihrem Gegenstand. Auch der nach-folgende Versuch einer sozialpsychologischen Analyse der Hitler-Diktatur mag hier oder dort nüchtern und distanziert erscheinen, doch ist er stets motiviert durch die Abscheu des Entsetzlichen, durch das schuldhafte Betroffensein der Deutschen und durch das Ziel, die Entstehung einer solchen Katastrophe ursächlich zu ergründen, um sie für immer zu verhindern und Frieden im eigenen Land und zwischen den Völkern zu sichern.

Die Entdeckung des »Nationalsozialistischen Untergrundes« (NSU) als Täter von zehn Morden hat die Aktualität des Rechtspopulismus als eine Gefahr für unsere deutsche Demokratie erneut bestätigt. Doch auch ohne diese Entdeckung ist das über nur zwölf Jahre bestandene und mehr als siebzig Jahre zurückliegende Hitler-Reich ein unser Land belastendes und insbesondere seit der Wehrmachts-ausstellung Anfang der 1990er-Jahre anhaltend diskutiertes Problem der deutschen Geschichte. Denn Aktivitäten, die aus einer national rechtsorientierten Tendenz erwachsen, sind in Deutschland durchaus zu Recht verdächtig, schnell Resonanz zu finden, das demokratisch-parlamentarische Prinzip infrage zu stellen und ein auto-kratisch-diktatorisches Regime – ein solches war bekanntermaßen Hitlers »Drittes Reich« – anzustreben. Diese Verdachtsmomente ergeben sich schon beim Blick in die deutsche Geschichte: Sie zeigt ja tatsächlich, dass der Versuch einer parla-mentarischen Demokratie bereits zweimal gescheitert war: 1848/49 und als länger anhaltender Versuch in der Form der Weimarer Republik zwischen 1919 und 1933. Dann tat sich Hitlers Diktatur in radikaler Konsequenz auf mit ihren verheerenden Folgen nicht nur für Deutschland, sondern auch für einen Großteil der Welt.

Guido Knopp und seinen »Detektiven der Geschichte« kommt das Verdienst zu, nicht nur die Erinnerung an diese politische Katastrophe wachzuhalten, son-dern sie auch mit Recherchen bis in Details – durch Originalaufnahmen aus jener Zeit aus Fernsehfilmen, durch Bücher und insbesondere durch die informative Monografie »Die Deutschen im 20. Jahrhundert« – gegenwärtig zu machen. Die nur noch wenigen Zeitzeugen, die eigene Erinnerungen verdrängten oder ihnen kaum mehr Glauben schenken konnten, erleben dabei je nach damaligem Umfang eigener ideologischer Einbindung Wehmut oder Abscheu. Die Nachgekommenen überwältigt Unglaube und Entsetzen.

Die Befürchtung, so etwas könne sich in Deutschland wiederholen, ist u. a. des-wegen nicht von der Hand zu weisen, weil charakteristische Wesenszüge, Verhal-tensweisen, Erlebensformen, grundsätzliche Überzeugungen und Vorurteile, aber auch bestimmte Formen des Umgangs untereinander und mit Menschen aus ande-ren Ländern in Deutschland auffallen, welche die Bürger anderer Länder »typisch deutsch« nennen. Bei unseren Nachbarn gelten wir Deutsche als primär unfreund-lich, reserviert, dominant, mit verbissener Miene, vorwiegend ernsthaft gestimmt, streng und wenig zugänglich. Andererseits sind es Eigenschaften wie verlässlich, fleißig, pünktlich und arbeitsam, die uns zugeschrieben werden. Diese Wahrneh-mungen kennzeichnen die deutsche Wesensart als betont formalistisch, rational, egozentrisch und leistungsbezogen. Demnach fehlt es an zwischenmenschlicher Nähe, emotionaler Erlebensweise, Verantwortungsbereitschaft und Altruismus.

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Seelische Kennzeichnungen treffen für die einzelnen Menschen aber immer nur mehr oder weniger, bei einigen vielleicht gar nicht, bei anderen in extremer Form zu. Es geht in diesem Buch also sowohl um die Etikettierung von Individuen, als auch um die psychologische Charakterisierung eines Kollektivs, nämlich dem der »Deutschen«. Dieser verallgemeinernde Begriff bezieht sich hier auf die Bürger unseres Landes, die in einem der deutschen Kultur und Wesensart zugehörigen familiären und gesellschaftlichen Umfeld aufgewachsen sind.

Seit der Aktualisierung des Themas »Nazi-Reich« Anfang der 1990er-Jahre ergab sich in der öffentlichen Debatte immer nachdrücklicher die Frage: »Wie konnte es geschehen?« Bis heute gibt es diverse Hypothesen, vor allem aus historischer und politischer Sicht, welche diese Frage zu beantworten suchen. Es ist die Frage, wie dieser »Zivilisationsbruch« (Habermas 1998) in der von Kultur, Wissenschaft, Kunst und hoher Bildung getragenen Geschichte des deutschen Volkes entstehen konnte. Denn die Katastrophe »Drittes Reich« führte bis hin zur industriellen Er-mordung von mehr als 10 Millionen unschuldiger Menschen. Das schien mit den Deutschen und ihrer Geschichte nicht vereinbar. Die Versuche einer Erklärung führen meistens zu ausführlichen und detaillierten Beschreibungen des Gesche-hens, dessen Begründung an der Person Hitlers festgemacht wird.

Derartige abnorme Persönlichkeiten wie Hitler gibt es zahlreich. Die einzigartige Katastrophe »Drittes Reich« kann also durch Hitler allein nicht erklärt werden. Es war vielmehr die Verbindung zwischen dem Autokraten und Diktator Hitler einerseits und dem deutschen Volk andererseits, das ihm entgegen jeder Vernunft bis zu seinem Selbstmord und so bis an den Rand der eigenen Vernichtung folgte. Die Beantwortung der Frage »Wie konnte es passieren?« muss also in erster Linie bei den Deutschen und solchen ihrer Eigenschaften gesucht werden, welche die-se Katastrophe möglich machten. Guido Knopp sagt: »Doch die Verantwortung dafür, dass Hitler es bis in die Reichskanzlei schaffte, trugen auch die Millionen Deutschen, die der NSDAP aus freien Stücken ihre Stimme gegeben und sie zur stärksten Partei gemacht hatten« (2008, S. 88).

Da ich nicht nur Zeitzeuge, also Erlebensträger, sondern zugleich auch beruflich in Fächern (Psychiatrie, Psychotherapie, Psychologie) tätig bin, welche sich um das »Verstehen« sowie »Erklären« (Jaspers 1973) seelischen Erlebens und Verhaltens bemühen, habe ich in diesem Buch versucht, den Erlebensraum von damals mit einer sozialpsychologischen Analyse zu verbinden. Aufgrund der Tatsache, dass menschliches Handeln als Einzelner oder im Kollektiv immer Beweggründe (Mo-tive) für dieses Handeln voraussetzt – seien sie mehr rational reflektiert oder mehr emotional aktiviert –, suche ich diese Beweggründe für das in jenen zwölf Jahren mit ihrer wohl umfangreichsten Katastrophe in der menschlichen Geschichte pri-mär unbegreifliche Verhalten der Deutschen in deren Wesensart. Schon der Sozio-loge Max Weber (1984) sagte: »Um eine Handlung zu erklären, müssen wir zuvor verstehen, welche Motive eine Rolle spielten und wie die Täter ihre Taten sahen.«

Das nachfolgende Buch kann rückblickend als die von Max Weber (1984) gefor-derte Motivanalyse verstanden werden. Primär veranlassend war jedoch das per-sönliche Betroffensein (des Autors). Das Buch ist auch der Versuch einer »Synthese der gegensätzlichen Interpretationen«, die der Historiker Jan Kershaw (2009, S. 11

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u. 113) als »nirgendwo in Sicht« beklagt. Diese Enttäuschung Kershaws überrascht nicht, versuchen historische Analysen doch grundsätzlich, in realen vergangenen Geschehnissen, Strukturen und Bewegungen eine innere Logik, Zielorientierung und Gesetzmäßigkeiten als kollektive determinierende Tendenzen zu erkennen. In der Hitler-Diktatur aber trat an die Stelle staatlicher »Struktur und Funktion« (Parsons 1951) eine ideologisch gelenkte Willkür. Die staatliche »Gewaltenteilung« verschwand hinter der alles dominierenden Herrschaft der NS-Partei mit dem wechselvoll interpretierbaren »Führerwillen« als höchstem Gesetz.

Dass die Willkür einer solchen extremen Parteidiktatur sich den Prinzipien ei-ner nachträglichen historischen Forschung entzieht, ist plausibel. Das persönliche Erleben jener Diktatur aber und mein Beruf ermöglichen mir, die Hitler-Diktatur aus einer ganz anderen als der historischen, nämlich der psychologisch-motivati-onalen Sicht zu interpretieren, in welcher sie sich als widerspruchslos, einheitlich und eindeutig erweist.

Aus der vorliegenden sozialpsychologischen Untersuchung ergeben sich Paral-lelen im seelischen Erleben und Verhalten der Deutschen in der Hitler-Diktatur mit dem in ihrer Geschichte sowie in der Nachkriegszeit und zum Teil bis heute. Unter Hitler war es vor allem die zwischenmenschliche Repression durch die Nazi-Ideologie und ihre gewaltsame Indoktrination, also der Aufbau eines Systems in der Polarisierung zwischen Macht und Ohnmacht in all ihren Abstufungen, von den Divergenzen zwischen Gewalt und Gehorsam, Befehl und Unterwerfung bis hin zu Weisung und Befolgung. Diese Divergenzen kennzeichnen ein unter Deutschen herrschendes Prinzip und zugleich eine umfassende Ambivalenz, wir haben sie die »Dominanz des Machterlebens« genannt. Dies ist ein alle anderen zwischenmenschlichen Gefühle – seien sie positiv wie Wohlwollen, Sympathie, Liebe oder seien sie negativ wie Missbilligung, Antipathie, Hass – und deren Motive überragendes Erleben, d. h. eine emotionale seelische Konnotierung in der indi-viduellen Persönlichkeitsstruktur und im kollektiven Bezug. Die Dominanz des Machterlebens zeigt sich einerseits in der Form der Ausübung einer zugeteilten oder vereinnahmten Macht. Dieser entspricht das individuell verschieden ausgeprägte »Eigenmachtgefühl« (Lersch 1954). Andererseits zeigt sie sich in der Bereitschaft zur Unterwerfung unter eine Macht. Die individuell verschiedene Ausprägung in die eine oder andere Richtung zeigt sich bei den zwischenmenschlichen Begegnun-gen in den diversen Situationen des Lebens ( Kap. 2.7). Auch gegenwärtig noch ist diese Erlebens- und Verhaltensweise bei Deutschen gegeben und wirksam. Die Aktualität dieses Aspekts wird in den letzten Abschnitten des Buches aufgegriffen.

Die Analyse in diesem Buch beruht einerseits auf meinem persönlichen Erleben maximaler politischer Repression, Gewalt, Herabwürdigung und Verachtung als Zeitzeuge in meinem Kindes- und Jugendalter im Rahmen der diversen Situationen jener zwölf Jahre des NS-Terrorstaates. Diese Erfahrung hinterließ bei mir Empö-rung und Aufbegehren gegenüber jedem Missbrauch von Macht und Gewalt. An-dererseits kommen umfangreiche weitere Quellen hinzu: Bücher, Presse, Rundfunk und Fernsehen. Die Publikationen von Guido Knopp waren die ertragreichsten. Dieses Buch soll dazu beitragen, einer auch nur annähernd ähnlichen politischen Katastrophe, wie es die Hitler-Diktatur gewesen ist, durch eine Umgestaltung von

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VorwortXIVXIV

Erziehung und Sozialisation vorzubeugen und damit dem »Niemals-wieder!« und dem Frieden unter den Menschen eine Basis zu geben.

Das Buch ist weder ein historisches, politisches oder philosophisches noch ein biografisches Werk. Es erfüllt auch nicht alle formalen Anforderungen an ein wissenschaftliches Produkt. Es ist der themazentrierte Versuch einer allgemein verständlichen psychologischen Analyse, ein Vorgehen, das »psychohistorisch« genannt sei.

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Nachtrag zum Vorwort XVXV

Nachtrag zum Vorwort

Politische Rechtsorientierung wurde bis gegenwärtig in Deutschland manifest durch Zusammenschluss meist junger Menschen, die sich »Kampfgruppen«, » Kameradschaften« und ähnlich nannten und bis heute zwar propagandistisch, aber gewöhnlich nicht kriminell agieren. Auch die Nationaldemokratische Partei (NPD) propagiert politisch rechts. Gegen sie war ein Verfahren beim Bundesver-fassungsgericht aus formalen Gründen 2003 eingestellt worden. Die NPD findet nur wenig Zuspruch. Aus diesem Grund wurde sie beim Bundesverfassungsgericht inzwischen zugelassen. Ebenso waren einzelne Anklagen gegen Bürger im öffent-lichen Dienst wegen verfassungswidriger Äußerungen bekannt geworden. Einen den Rechtsstaat gefährdenden Rechtspopulismus gab es bisher nicht.

Diese Situation hat sich durch die Gründung der Partei »Alternative für Deutsch-land« (AfD) nun grundlegend geändert. Diese Partei wurde wohl nicht zufällig in den neuen Bundesländern gegründet, wo trotz der Bezeichnung »Deutsche Demokratische Republik« (DDR) den Bürgern weit mehr als in der Bundesrepu-blik (BRD) die antidemokratische Spanne zwischen Macht und Unterwerfung im Staate, dort und damals linkspolitisch, eingebläut worden war. Die AfD propagiert diese Dominanz des Machterlebens im Staate nun rechtspolitisch. Sie sieht sich dazu veranlasst durch die nach Mittel- und Westeuropa einströmenden Menschen-massen aus dem Nahen Osten und aus Afrika. Die AfD agiert so eine prononcierte Fremdenfeindlichkeit in Verbindung mit einer nationalistischen sich nach außen abschottenden Haltung. Damit bewegt sich diese Partei in Richtung der Ideologie, welche das Hitler-System implantierte.

Die seitens politischer Akteure, aber auch seitens bürgerlicher Vereine und In-stitutionen seit Jahrzehnten deklarierte Zustimmung zu demokratischen Grund-prinzipien und ihre praktische Umsetzung, die sich nach Ende der Hitler-Zeit und des Zweiten Weltkrieges durch die Gründung der Bundesrepublik Deutschland vor 68 Jahren längst fest etabliert haben, wird mit dem Erstarken der AfD infrage gestellt. Denn »Die Würde des Menschen ist unantastbar« ist der erste Satz des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und umgreift dieses als ihr Grund-prinzip. Es gilt für alle Menschen, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer Staats-angehörigkeit. In diesem Sinne reagierte Angela Merkel auf die Flüchtlingsströme mit einem »Wir schaffen das!«, also einer grundsätzlichen Offenheit gegenüber Flüchtlingen und Asylsuchenden. Sie stieß im politischen Disput auf Zustimmung und Widerspruch zugleich.

Das war die Situation, als am 13. März 2016 die Wahlen in drei Bundesländern – Sachsen-Anhalt, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz – eine Überraschung brachten: Die AfD erzielte »aus dem Stand« (denn sie war vorher noch nicht in Wahlen angetreten) in allen drei Bundesländern Erfolge: In Sachsen-Anhalt ca. 25 %, in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zwischen 10 und 15 %. Das war nicht nur für Politiker, sondern für alle demokratisch denkenden Bundes-bürger eine böse Überraschung: Hielt man bisher die Frage »›Demokratisch‹ oder ›rechts‹?« für eine Alternative der politischen Debatte, so offenbarte der 13. März,

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Nachtrag zum VorwortXVIXVI

dass sich feste rechtspopulistische Fronten bereits im Volk etabliert hatten. Diese Überraschung rief bei den meisten Bundesbürgern Befürchtung und Hoffnung zugleich wach: Die Befürchtung, dass sich rechtsorientiertes Gedankengut und eine entsprechende Politik noch umfangreicher entwickeln könnten, und die Hoffnung, dass dies nur ein aktuell veranlasster Zustand ist.

Dieses Buch entstand einerseits aus der persönlichen Erniedrigung derjenigen damaligen »Volksgenossen«, die sich angesichts ihrer persönlichen Wertbindung nicht mit der Ideologie jenes indoktrinär-diktatorischen Hitler-Regimes identifi-zieren konnten und dieses als eine massive Belastung empfanden, wie der Autor. Andererseits beschreibe ich im vorliegenden Buch eine hierzulande verbreitete Er-lebensbereitschaft, die »Dominanz des Machterlebens«, welche eine Polarisierung des Erlebens von Macht und Unterwerfung, Gewalt und Gehorsam als Tendenz in Persönlichkeitsstrukturen und ebenso als Schwerpunkt im zwischenmenschlichen Erleben und Verhalten bezeichnet. Denn genau diese Dominanz des Machterlebens stellt sich als die seelische Erlebens- und Verhaltensform dar, welche zu Hitlers extremer Diktatur führte. Dieses Buch versteht sich als eine »Prävention« gegen ein Neuaufkommen von Autokratie und gegen den Krieg, also auch als ein Beitrag zur Sicherung des Friedens.

Ist es nur Zufall oder ein Hinweis auf die Aktualität und die Notwendigkeit dieses Buches, wenn nun eine rechtsorientierte Partei, die AfD, rapide anwächst, ähnlich wie Hitlers Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) vor seiner Übernahme der Regierungsgewalt 1933 bei den Wahlen im Jahr 1932?

Nach der Einführung im ersten Kapitel »Die Deutschen nach Hitler« und Ein-blicken in die Prinzipien der Psychologie und der Soziologie vermittelt das Buch die Manifestation der Dominanz des Machterlebens in diversen Lebensbereichen und Perspektiven. In Kapitel 9 (»Die Gegenwart und die Zukunft«) beschreibe ich die Möglichkeit einer Prävention und damit einer Friedenssicherung.

Jeder Abschnitt des Buches ist auch für sich verständlich.Guido Knopp sagt: »Bleiben Sie uns treu!« am Schluss jeder seiner zeithisto-

rischen Sendungen. Diese Mahnung sei aufgegriffen mit den Worten: »Behalten Sie die Katastrophe als Warnung vor einer Wiederholung in Erinnerung!« Für die Initiative zu diesem Buch war auch das Werk von Guido Knopp motivierend.

Aachen, im Sommer 2017 Andreas Ploeger

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Inhalt XVIIXVII

Inhalt

1 Die Deutschen nach Hitler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1.1 Die Verleugnung der Hitler-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1.2 Keine Refl exion bei Zeitzeugen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

1.3 Das Schweigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3

1.4 Die Gesellschaft in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4

1.5 Das »Wirtschaftswunder« als Schuldabwehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

1.6 Der Beginn der Refl exion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1.7 Die Folgen der Verfolgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81.7.1 Zur Psychodynamik der NS-Verfolgung und der KZ-Haft . . . . . . . . . . . . 81.7.2 Folgesymptome. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101.7.3 Psychotherapie bei Opfern und Tätern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111.7.4 Die Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

1.8 Die weitere Auseinandersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

2 Zur Psychologie und Soziologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

2.1 Psychologischer Exkurs: Erleben und Verhalten. . . . . . . . . . . . . . . . . 15

2.2 Der Funktionskreis des Erlebens nach Lersch . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

2.3 Soziologischer Exkurs: Zwischenmenschlicher Umgang . . . . . . . . . . . . 18

2.4 Psychodynamik und Soziodynamik im Zusammenspiel . . . . . . . . . . . . . 192.4.1 Psychodynamische Prinzipien demokratischer versus autokratischer

Staatsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202.4.2 Die Entwicklung demokratisch-paritätischer sowie

dominant-autokratischer Persönlichkeitsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . 22

2.5 Staatliche und individuelle Strukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23

2.6 Die echte Autorität und der autoritäre Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . 25

2.7 Autorität , die »Frankfurter Schule« und die Dominanz des Machterlebens. . . 27

2.8 Das Gegenprinzip: Die »Therapeutische Gemeinschaft« . . . . . . . . . . . . 32

2.9 Außen- oder Innen-Leitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

3 Die Epoche davor und die danach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

3.1 Psycho- und Soziodynamik des historischen Vorfeldes . . . . . . . . . . . . . 37

3.2 Der Erste Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39

3.3 Die Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40

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InhaltXVIIIXVIII

3.4 Der »starke Mann« als Retter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

3.5 Der »Deus ex machina« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

3.6 Der zentrale Dynamismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

3.7 Die »68er-Studentenrevolte« – Der Drang zur authentischen Demokratie . . . 46

3.8 Der Padover-Bericht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48

4 Erleben und Verhalten in der Macht des Nazi-Staates . . . . . . . . . . 51

4.1 Politischer Widerstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

4.2 Das »Oben-Unten-Erleben« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

4.3 Die NS-Organisationen als Folge der Dominanz des Machterlebens . . . . . . 54

4.4 Das soziale System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

4.5 Indoktrination durch Abhängigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 574.5.1 Angst als Motiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58

4.6 Das Führerprinzip und seine Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

4.7 Die These Goldhagens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64

4.8 Individuum und Kollektiv, Führer und Geführte . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

4.9 Verführung und Suggestion, Feinde im eigenen Lager . . . . . . . . . . . . . 67

4.10 Zwischen Wissen und Gewissen : Das Attentat und der »Glaube an den Führer« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75

5 Konkurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

5.1 Die Nazi-Doktrin als Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

5.2 Die Kirche im Hitler-Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79

5.3 Glaubensleben im Hitler-Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80

5.4 Die Dominanz des Machterlebens bis zum Tode . . . . . . . . . . . . . . . . 88

5.5 Macht und Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

5.6 Denunziation stabilisiert staatliche Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91

6 Wissen und Handeln unter der Dominanz des Machterlebens . . . . . . 95

6.1 Informationsgeschehen im Hitler-Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

6.2 Die »Feindinformationen« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101

6.3 Das Milgram-Experiment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1046.3.1 Milgram und die Dominanz des Machterlebens . . . . . . . . . . . . . . . . 107

6.4 Hitler und die Deutschen als »Masse von oben« . . . . . . . . . . . . . . . . 108

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Inhalt XIXXIX

7 Die Funktion der Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

7.1 Die Deutschen und die Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

7.2 Macht und ihre Varianten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117

7.3 Recht im Unrechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119

7.4 Macht, Gewalt und Tod . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137

7.5 Der Missbrauch des Todes im Hitler-Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1407.5.1 Zur Psychologie des Todes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1407.5.2 Der Tod als Belohnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1447.5.3 Der Tod als Strafe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1457.5.4 Der Tod als Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1457.5.5 Der Tod als Mord . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1557.5.6 Der Tod aus der Luft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1577.5.7 Der Tod aus Befehlshörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1587.5.8 Der Tod und das Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159

7.6 Selbsterleben im Nazi-Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160

7.7 Liebesleben im Dritten Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1637.7.1 Frauen im Hitler-Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173

7.8 Kunst und Krieg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190

7.9 Umgangsstile im Hitler-Reich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

8 Rückblick und Reaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

8.1 Die Schuldfrage und die Einstellung zum NS-System . . . . . . . . . . . . . . 203

8.2 Was ist Schuld? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

8.3 Das Individuum im Kollektiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205

8.4 Wer hatte Schuld? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2068.4.1 Der Bedeutungszuwachs des Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . 207

8.5 Die äußere und die innere Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208

8.6 Nach der Wende 1933 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2108.6.1 Macht und Schuld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

8.7 Exkurs: Die Geschichte der NSDAP . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2138.7.1 Gewalt statt Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2168.7.2 Gewalt oder Ethik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

8.8 Die Schuldigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

8.9 Schuld oder Kollektivschuld? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2208.9.1 Zusammenbruch oder Befreiung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224

8.10 Politik in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229

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InhaltXXXX

8.11 Können Deutsche revoltieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232

8.12 NS-Zeit und Gegenwart. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233

8.13 Das Deutschlandbild hier und bei anderen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

8.14 Macht und ihr seelisches Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241

8.15 Die politische Macht und ihre Varianten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

9 Die Gegenwart und die Zukunft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

9.1 Die Prävention ist dringlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247

9.2 Kommt ein Hitler wieder?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250

9.3 Macht und Gewalt in gegenwärtiger Erziehung und Sozialisation . . . . . . . 254

9.4 Erziehung oder Education? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258

9.5 Für ein »Niemals-wieder« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262

9.6 Das Resümee: Verantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264

9.7 Eine Bestätigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 268

9.8 Was sagen andere Autoren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269

Ein persönliches Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279

Nachtrag: Sind wir wieder so weit? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284

Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

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1.2 Keine Reflexion bei Zeitzeugen 1

1 Die Deutschen nach Hitler

1.1 Die Verleugnung der Hitler-Zeit

Erst spät, mehr als 60 Jahre nach Ende des »Dritten Reiches«, ist die öffentliche De-batte über diese oft als »unselige Zeit« apostrophierte Ära so lebhaft entbrannt wie nie zuvor. Sie hält bis heute an. Wie konnte es geschehen, dass eine Epoche, welche die Geschichte der Deutschen derart massiv belastet, die betroffenen Deutschen Jahrzehnte kaum interessierte und erst seit wenigen Jahren, ein halbes Jahrhundert später, wichtiger Inhalt der Mediendiskussion und der Publizistik wurde? Als Er-klärung lassen sich ganz unterschiedliche Umstände erkennen, die zusammentrafen und nun die Beschäftigung mit dieser von Historikern als »Zivilisationsbruch« bezeichneten Ära der deutschen Geschichte hervorriefen.

Man kann solche Gründe, die eine Reflexion verhinderten, von anderen Gründen unterscheiden, welche nun Anlass waren und die Debatte lostraten, die sich in der Folge wie eine Lawine der öffentlichen Diskussion bemächtigte. Die Nachkriegs-generation, offen und öffentlich mit den Gräueltaten jener Nazi-Zeit konfrontiert, steht entsetzt dem Unfassbaren gegenüber. Die inzwischen betagten Zeitzeugen jener Epoche reagieren gewöhnlich in zwei unterschiedlichen Formen: Die einen wenden sich ab in einer gezielten Ignoranz jenem Staat, damit zugleich aber auch einem Stück der eigenen Lebensgeschichte gegenüber. Psychodynamisch gespro-chen »verleugnen« sie, womit das Abschieben eines Bewusstseinsinhaltes aus dem bewussten Erleben gemeint ist. Diese Zeitzeugen lehnen jegliche Reflexion ab. Ein Repräsentant dieser Gruppe ist Martin Walser, ein Schriftsteller, welcher in einer Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1995 an ihn einen Schluss der Debatte über die Nazi-Zeit forderte. Ignaz Bubis, der verstorbene Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, wandte sich heftig dagegen und bezeichnete diese Forderung von Walser als »geistige Brandstif-tung«. Nur wenige Zeitzeugen des Dritten Reiches gehen ganz anders als Walser mit ihrer Vergangenheit um. Sie verleugnen nicht, sondern sind über diesen Abschnitt ihrer eigenen Lebensgeschichte, das Geschehen und die Gräueltaten während jener Zeit ihres eigenen Lebens irritiert. Sie beginnen nachzudenken.

1.2 Keine Reflexion bei Zeitzeugen

Welches waren die Gründe und die Hemmnisse, die eine Auseinandersetzung bis in die 1990er-Jahre verhinderten? Diese Frage stellt sich umso mehr, als es im po-litischen Geschehen der Nachkriegszeit genügend Anlässe gegeben hätte, die »Nazi-Zeit« schon früher zum Gegenstand öffentlichen Interesses zu machen. So wären die Festnahme und Entführung, Verurteilung und Hinrichtung des Judenmörders Adolf Eichmann in Israel 1963 und auch die Auschwitz- und Majdanek-Prozesse

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1 Die Deutschen nach Hitler2

in den 1960er- und 70er-Jahren eine Veranlassung gewesen. Die Rebellion der Studierenden 1968 und danach, welche sich ja gerade gegen die Verkrustungen richtete, die aus jener Nazi-Zeit herrührten, wäre ebenso geeignet gewesen. Auch die Grausamkeiten des Massenmörders Pol Pot in Kambodscha, der in den 70er-Jahren ähnlich wie Hitler massenhaft Menschen des eigenen Volkes ermorden ließ, hätten ein Anlass werden können. Insbesondere aber wären die Enthüllungen über die Nazi-Vergangenheit führender Politiker wie Hans Globke – er war Hit-lers Kommentator der antijüdischen Gesetze von 1935 und später Berater Kon-rad Adenauers, des ersten Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland – ein Grund gewesen. Ein weiterer Anlass wäre die Dekuvrierung Hans Filbingers gewesen, ehemals Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg, als Marinerichter der Wehrmacht, der noch nach Kriegsende Todesurteile gegen Wehrmachtsangehörige verkündet hatte und vollstrecken ließ. Es gab also genügend Anlässe, die Nazi-Zeit als ganze kritisch zu reflektieren. Besonders der »Historikerstreit« – eine um 1986 geführte kontroverse Debatte unter Historikern, insbesondere zwischen Ernst Nolte und Jürgen Habermas, über die Frage, ob der nationalsozialistische Judenmord als einzigartig anzusehen sei oder ob er die notwendige Folge einer geschichtlichen Entwicklung war – hätte nun wirklich die selbstkritische Reflexion der Deutschen anregen können. Es ging in der Historikerdebatte um die Frage, ob der Judenmord »intentional«, d. h. durch bestimmte Vorgaben, oder »strukturell«, d. h. durch die Gestaltung des Zusammenwirkens von jener Zeit und deren Ideologien, einschließ-lich des Stalinismus, entstanden war. Stattdessen verblasste diese Kontroverse unter den Geschichtswissenschaftlern zu einem müßigen Gerangel im kleinen Kreis und begnügte sich mit der Feststellung »Zivilisationsbruch«. Die »Hitler-Zeit« blieb wei-terhin in der Wahrnehmung der Menschen am Rande und war gerade gut genug, sich von ihr in Sonntagsreden zu distanzieren.

Trotz dieser Gelegenheiten kam es in jener Zeit also nicht zu einer Auseinander-setzung der breiten Öffentlichkeit mit dem Nationalsozialismus, seiner Entwick-lung, seiner Inhalte und seines Alltagslebens. Sogar die Exzesse in der Form der Judenvernichtung und des »Totalen Krieges« blieben von der breiten Masse der Bevölkerung über Jahrzehnte unbeachtet. Dies scheint seinen Grund vor allem in der Tatsache zu haben, dass die Jahrzehnte nach Ende des Zweiten Weltkrieges ent-scheidend bestimmt wurden durch Menschen, die in jener Zeit gelebt hatten. Das öffentliche Interesse an einer Auseinandersetzung war vor allem deswegen gering, weil jene Zeitzeugen teilweise sogar wichtige Positionen im Rechtsleben des Hitler-Reiches und auch in der Politik eingenommen hatten. Eine Zeit, an der man selbst mitgewirkt hatte und die nach dem »verlorenen« Kriege sich sogar als Ausbund des Teuflischen enthüllte, musste verleugnet werden. Sonst wäre es nicht erträglich gewesen, dass ein Teil der eigenen Lebensgeschichte weltweit einem »Teufelswerk« zugeschrieben wurde, an welchem man vielleicht sogar noch begeistert mitgewirkt hatte. Aus Gründen der individuellen psychischen Ökonomie und des Selbstwert-gefühls war eine innere Abwehr dieses Lebensabschnittes notwendig, damit der Einzelne sich selbst wieder als redlich akzeptieren konnte.

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1.3 Das Schweigen 3

1.3 Das Schweigen

Dieser individuellen Verleugnung seitens der Zeitzeugen entsprach in der zwischen-menschlichen Kommunikation das Schweigen. Denn Abgewehrtes wird zumindest nicht mehr im Bewusstsein erörtert. So wurden bedeutsame Erlebensinhalte des vorherigen eigenen Lebensabschnitts verschwiegen oder sogar aus der Erinnerung gelöscht. Dieses Schweigen der »Zeitzeugen«, also der Menschen, welche die Nazi-Zeit selbst miterlebt und darin eventuell sogar mitgewirkt hatten, herrschte jahr-zehntelang. Es nahm teilweise abstruse Gestalt an: So humpelten Studierende der Nachkriegszeit mit nur einem Arm oder Bein oder sogar auf zwei Prothesen durch Hörsäle, konnten nur noch auf einem Auge oder gar nicht mehr sehen oder waren infolge von Verletzungen monsterhaft entstellt. Doch auch dazu schwieg jeder – die Geschädigten und die anderen. Es herrschte ein »Konsens im Schweigen«. Nie-mand fragte die körperbehinderten Mitstudierenden nach dem Wo, Warum und Wie. Niemanden störte das Schweigen der anderen, denn es war notwendig, um nicht die Kränkung wachzurufen, die darin bestand, dass jeder mehr oder weniger große persönliche Opfer einem Staat und einer Ideologie gebracht hatte, die nun als »kriminell« entlarvt worden waren. So sprach niemand der Betroffenen auch nur ein Wort über den Schaden, weder den am Körper und schon gar nicht den an der Seele, den er durch erzwungene oder vielleicht sogar begeisterte Einbindung in die Sache der »Nazis« erlitten hatte.

Dieses Schweigen unter den Deutschen jener Zeit herrschte in allen Altersgrup-pen. Auch für die damals aus dem Krieg heimgekehrte Jugend, sonst altersent-sprechend neugierig, war das Schweigen selbstverständlich. Es war weder auferlegt noch vereinbart. Es war, so ist zu kommentieren, schlicht die Folge der individuel-len Ignoranz gegenüber der eigenen Vergangenheit, die kollektiv als »nicht wissen wollen« und »nicht zu erkennen geben«, also aus einer innerseelischen Ökonomie entstanden war. Niemand wagte diese Haltung zu durchbrechen. Jeder trug die Kenntnis seiner eigenen, damals erst kurz zuvor geschehenen, Vergangenheit und seiner Funktion darin mit sich, und jeder war sich zudem gewiss, dass auch die anderen Ähnliches mit sich trugen. Die Erinnerungen an die äußeren Gescheh-nisse der vorangegangenen Nazi-Zeit waren noch frisch und lebendig gewesen. Doch die Enthüllung des gesamten Hitler-Regimes als ein diabolisches führten zu einer generellen Rücksichtnahme eines jeden gegenüber jedem anderen, sodass niemand einen anderen an einen Abschnitt seiner Lebensgeschichte erinnerte, den er in einem als »verbrecherisch« zu bezeichnendem Regime verbracht hatte. Denn spätestens nach Kriegsende war die kriminelle Seite dieses Regimes, insbesondere die Vernichtungslager und die Vernichtung ganzer Volksgruppen, offenkundig.

Hinzu kam, dass das Kriegsende von vielen als »Zusammenbruch« erlebt wurde. Gemeint war damit das Zusammenbrechen der eigenen, durch die Indoktrination der Nazi-Zeit übernommenen Werte. Nur diejenigen, welche die NS-Zeit in »in-nerer Emigration«, d. h. aus Gründen des Überlebens mit unterdrückter Opposi-tion, überstanden hatten, erlebten deren Untergang als Befreiung. Die zuvor als Feinde und Untermenschen bezeichneten Kriegsgegner hatten plötzlich ihrerseits die Gewalt in den Händen. Zwar fügte man sich diesen in Unterwürfigkeit, doch

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1 Die Deutschen nach Hitler4

das war zugleich eine Kränkung, die aber aufgrund der Bereitschaft der Deutschen zur Unterwerfung infolge ihrer »Dominanz des Machterlebens« problemlos hin-genommen wurde. Aufsässigkeiten oder gar Gewaltakte gegen die »feindliche Be-satzung«, wie häufig nach Kriegen in anderen Ländern, gab es daher in Deutschland nirgendwo.

Wie man sich zuvor im »Führerprinzip« mehr oder weniger autoritätshörig der Befehlshierarchie der Nazis unterworfen hatte, so unterwarf man sich jetzt den neuen Herren, obwohl doch die Hierarchie der Machtabstufung noch kurz zuvor genau gegensätzlich gepolt war. Vielleicht hatte man sogar zuvor im Nazi-Regime eine Machtposition inne und war nun »ganz unten«. Auch insoweit erwartete man Rücksicht untereinander und man redete nicht sondern schwieg. Wie selbstver-ständlich galt dies für jeden zum Schutz der Person des anderen, aber auch der eigenen. Denn Fragen hätten Rückfragen provoziert.

1.4 Die Gesellschaft in der Nachkriegszeit

Die zwischenmenschliche Kommunikation in der Nachkriegszeit war so über-schattet von einer eigenartigen Ungewissheit, einer Unkenntnis und auch einer Un-heimlichkeit. Denn man wusste: Jeder hat etwas für sich Bedeutendes erlebt, sei es, dass er von der Nazi-Ideologie überzeugt oder gar begeistert gewesen war, eventuell sogar höhere Führungspositionen in den Nazi-Organisationen innegehabt und ihn der Machtrausch jener Zeit erfasst hatte, sei es, dass er nur Mitläufer gewesen war. Denn anders als nach dem Ersten Weltkrieg, wo die Soldaten marschierend in Reih und Glied geordnet und trotz ihrer Niederlage als »Helden« gefeiert heimkehrten, kamen die Soldaten am Ende des Zweiten Weltkrieges nach Zerschlagung ihrer Truppe entweder einzeln flüchtend zurück oder als Kriegsgefangene in Lager. Sie galten als »Täter«. Die »Helden« wurden verehrt, die »Täter« wurden verurteilt. So wurden wohl in jeder Gemeinde Deutschlands nach dem Ersten Weltkrieg in Gedenken an die Gefallenen teils große Ehrenmale, oft die Namen der »Gefallenen« tragend, sorgsam erschaffen; nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Kriegsopfer peinlich verschwiegen. Doch auch die politischen Opfer, KZ-Insassen oder Ver-folgte und auch »Widerständler«, fanden in der Nachkriegszeit keineswegs Be-achtung. Ihre nach dem Krieg gegründete Organisation, die VVN (Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes) wurde beargwöhnt. Denn die Offenbarung, Opfer gewesen zu sein, stellte auch einen zumindest latenten Vorwurf gegenüber der Masse der anderen dar. Daran änderte auch nichts die nach dem Krieg schnelle, umfassende und hohe Identifikation der Deutschen mit den Siegern des Krieges, die sich in der Hörigkeit gegenüber deren Militärregierung, aber auch in der schnellen Übernahme von deren Freizeitkultur zeigte. So wurden Jazz und Swing, noch kurz zuvor als »entartete Niggermusik« verteufelt und unter Strafe verboten, nun im Zentrum der Freizeitkultur wie verpflichtend geübt und getanzt. Diese Umorien-tierung änderte nichts an der Zurückhaltung und Distanzierung von den zuvor im Nazi-Regime Verfolgten, die durch Reserve oder gar aus ganz unpersönlichen ras-sischen oder gesundheitlichen Gründen oder wegen ihrer politischen Überzeugung

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1.5 Das »Wirtschaftswunder« als Schuldabwehr 5

Opfer der NS-Macht geworden waren. Denn Opfer gewesen zu sein, gleichgültig ob wegen individuellen Aufbegehrens oder aus Sicht des NS-Systems »lebensunwerter« rassischer, körperlicher oder seelischer Eigenschaften, stellte eine Position »ganz unten«, in der Spanne zwischen Macht und Unterwerfung, also in der »Dominanz des Machterlebens«, dar. Daher hielten sich die Nicht-Opfer gegenüber der VVN reserviert oder gar befremdet zurück. Nicht-Opfer gewesen zu sein bedeutete in dieser Spanne »ganz oben« eine überzeugte, in mittleren Stufen eine mitmachende, in unteren Stufen – aber nicht »ganz unten« – eine (wenn auch notwendigerweise) duldende Einstellung zum NS-System.

Hinzu kam auch, dass wegen der Hunderttausenden von Todesstrafen im NS-Staat kaum noch die Menschen lebten, welche sich als Widerständler gegen das Regime offenbart hatten. Obwohl heute in der Erinnerung zum Zeichen der in-neren und äußeren Distanzierung von der Nazi-Ära vielfach öffentlich bekundet, waren auch die Menschen, welche nur ihrer Gesinnung nach »dagegen« gewesen waren, während der Nazi-Zeit der eigenen Sicherheit wegen nicht in Erscheinung getreten. So waren viele in der »inneren Emigration« gewesen. Mit diesem Be-griff wird der seelische Zustand bei den Menschen bezeichnet, welche weder die Ideologie noch die Hierarchie der staatlich-autokratischen Struktur, noch die herr-schenden Kommunikationsformen akzeptierten. Sie hatten sich jedoch in ihrem äußeren Verhalten angepasst. Auch zwischen diesen Menschen war eine offene Kommunikation schon deswegen nicht möglich gewesen, weil Denunzianten unter ihnen nicht sichtbar wurden. So hatte sich auch Widerstand oder gar Revolution während der NS-Zeit aus dieser Richtung nicht bilden können.

1.5 Das »Wirtschaftswunder« als Schuldabwehr

So war sich in der ersten Nachkriegszeit, in der ein jeder im Grunde »Zeitzeuge« war, das Kollektiv der Deutschen im Schweigen einig. Schützte dieses doch jeden und alle gleichzeitig. Es war umso leichter zu schweigen, als der »Wiederaufbau« anstand. Damit war die Wiederherstellung des durch Bomben und den Bodenkrieg verwüsteten, durch 20 Millionen Flüchtlinge – die »Heimatvertriebenen« aus den ehemals deutschen Ostgebieten – massiv übervölkerten, durch Nahrungsmangel im Krieg und in der Nachkriegszeit bis zur Währungsreform 1948 ausgehungerten und durch Wohnungsmangel (die Hälfte aller Wohnungen in Deutschland waren zerstört) nur notdürftig behausten Landes gemeint. Der Blick ging in eine für alle und jeden zu gestaltende Zukunft. Der Wiederaufbau war vordringlich und ließ die Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit nicht aufkommen. Man widmete sich ihm mit umso größerer Inbrunst, als sich schnell sichtbare Erfolge einstellten. Als »Wirt-schaftswunderland« wurden die Deutschen sogar bald wieder weltweit anerkannt und bestaunt. Es war die Anerkennung einer Leistung, an welcher sich das Selbst-wertgefühl jedes Deutschen, welches nach der Nazi-Zeit und dem »Zusammen-bruch« daniederlag, erneut aufrichten konnte, ohne dass die Deutschen sich gleich-zeitig mit den dunklen Kapiteln ihrer Lebensgeschichte auseinandersetzen mussten. Die Anbindung der Deutschen in die neue Weltordnung, die Ost-West-Spannung

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1 Die Deutschen nach Hitler6

mit der Teilung Deutschlands und der erneuten Beteiligung an militärischer Stärke durch die Gründung der Bundeswehr, die Aufnahme in den militärischen Pakt der NATO im Westen und die Einbindung der »Nationalen Volksarmee« (NVA) in den »Warschauer Pakt« im Osten sowie die Anbindung in internationale Wirt-schaftsabkommen stabilisierte die Deutschen zusätzlich. Eine Reflexion über die inzwischen zurückliegende Zeit des »Bösen« und die eigene Lebensspanne darin schien so immer weniger notwendig, war doch das Selbstwertgefühl inzwischen auf andere Weise bereits wiederhergestellt. Es hieß: »Wir sind wieder wer.« Ganz beson-ders nach dem Erringen der Weltmeisterschaft im Fußball 1954 in Bern wuchs das Selbstwertgefühl der Deutschen. Die Gefahr erneuten Machtanspruchs war nicht auszuschließen. Man orientierte sich in Deutschland nun an der Gegenwart oder nach vorn und nicht zurück. Nur so war auf Verlangen der USA 1956 im Westen auch die Gründung der Bundeswehr möglich, obwohl eine Wiederbewaffnung nach dem Kriege von Regierung und Volk einhellig abgelehnt worden war. Man fügte sich so in der BRD der Macht des »Westens«; in Ostdeutschland (DDR) – damals nur »Sowjetische Besatzungszone« genannt – durch Gründung der »nationalen Volksarmee« (NVA) der Macht des »Ostens«, obwohl West wie Ost unter der Macht Hitlers nicht lange zuvor noch vereint als ärgste »Feinde« bekämpft worden waren. Der Dominanz des Machterlebens ist es nämlich weniger wichtig welche, sondern dass »oben« eine Macht dominiert.

Die Orientierung nach vorn fiel auch deswegen leicht, weil es nun genügend Raum gab, das Böse in der Welt nicht in der eigenen Vergangenheit, sondern in der Gegenwart zu suchen. Denn die Teilung der Welt in den »bösen« kommunis-tischen und den »guten« kapitalistischen Teil (so im Westen, im Osten umgekehrt) gab reichlich Gelegenheit, das Böse nun nicht mehr in der eigenen Geschichte, sondern im gegnerischen System zu suchen. Der Bau der Mauer in Berlin trennte sogar räumlich wahrnehmbar »Gut« und »Böse«. Für den Westen war der Kom-munismus das Böse, für den Osten der Kapitalismus. Die Zuschreibung änderte sich also: Nicht mehr die eigene Vergangenheit, sondern »die anderen« waren nun böse. Die innerseelische »Abwehr« der individuellen Kränkung durch Verleugnung wurde nun abgelöst durch eine andere Abwehr, die »Projektion«, also die unbe-wusste Hineinverlagerung des Bösen in »die anderen«. Auch das stabilisierte das Selbstwertgefühl. Denn so war das Belastende nun nicht mehr die eigene Lebens-geschichte, sondern es waren »die anderen«, das Böse im Lager des gegnerischen politischen Systems. Nicht zuletzt darauf dürfte auch zurückzuführen sein, dass politisches Gedankengut der Nazis, nun durch seelische »Abwehr« weniger belastet, sich bei einzelnen Deutschen in den Sechziger Jahren ungeschminkt neu einstell-te und zu der Gründung extrem rechts orientierter politischer Parteien führte. Die Nazi-Ideologie konnte so hier und da wieder aufleben, begleitet von einer Mystifizierung der NS-Zeit.

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1.6 Der Beginn der Reflexion 7

1.6 Der Beginn der Reflexion

Wenn in den 1990er-Jahren die Beschäftigung mit der Nazi-Zeit ein halbes Jahr-hundert nach deren Ende öffentliches Anliegen wurde, mag dabei auch die Locke-rung der eingetretenen psychodynamischen Abwehr mitgewirkt haben. Auch das allmähliche Aussterben der Zeitzeugen mit ihrem verstockten Schweigen hat die Auseinandersetzung mit jener zuvor nicht weiter reflektierten, sondern lediglich als »unselig« bezeichneten Zeit ermöglicht. Die wenigen Zeitzeugen, welche die innere Bereitschaft zur offenen Auseinandersetzung schon immer hatten, doch diese an-gesichts des Tabu-Drucks nicht wagten, erhielten Rückenwind. Die meisten Bürger der 90er-Jahre profitierten von der »Gnade der späten Geburt«, wie Helmut Kohl 1984 sagte. Sie waren also ihrem Lebensalter nach nicht mehr von der Nazi-Ära betroffen. Während es den Kindern der Zeitzeugen jahrzehntelang nicht gelang, das angesichts der hohen Anzahl der Zeitzeugen in den ersten Nachkriegsjahrzehnten extrem renitente Schweigen zu lockern, so setzte nun ein halbes Jahrhundert nach Ende der Hitler-Ära allmählich ein Austausch zwischen den fragenden jungen Menschen und der Generation von damals ein. Während noch die Studentenrevolte von 1968 und die aufsässige Jugend in den Jahren danach durch ihren Protest das Schweigen der Nazi-Generation nur noch verstärkt hatte, sind die Fragen der jungen Menschen heute moderater und weniger von Protest und Vorwurf als mehr von Neugier und Diskussionsbereitschaft getragen. Auch das dürfte den Austausch gefördert haben, zumal die meisten Zeitzeugen der Nazi-Ära inzwischen verstorben sind und die noch Lebenden als Großeltern ohnehin leichter bereit sind, Enkeln etwas zu erzählen, als Eltern es gegenüber ihren Kindern sind.

Während früher, wie beschrieben, selbst einschlägige Ereignisse wie etwa die reflektierend klärende Rede des Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker 1985 oder weltpolitische Konstellationen eine Auseinandersetzung mit der Nazi-Zeit nicht in Gang brachten, hat sich das aufgrund der zuvor beschriebenen Entwick-lungen geändert: Nachdem der Film »Holocaust« die NS-Verbrechen anschaulich gemacht hatte, war es eine Reihe von Ereignissen in den 90er-Jahren, welche nun die Diskussion und eine unbelastete Gedenkkultur anregten. So haben Presse, Rundfunk und Fernsehen, insbesondere eine Anzahl von Fernsehfilmen von Gui-do Knopp über diverse Aspekte des »Dritten Reiches« um den 50. Jahrestag des Kriegsendes 1995, die Geschehnisse jener Zeit und besonders des Krieges aus-gedehnt dokumentarisch verbreitet. Viele Menschen wurden dadurch erstmals mit jenen Erlebnissen anschaulich konfrontiert. Das betraf vor allem die Nachkriegs-generation der 40- bis 50-Jährigen, die weder von den Eltern noch in der Schule von dieser Epoche gehört hatten. Hinzu kam, dass zur gleichen Zeit eine ausführliche Publikation des amerikanischen Soziologen Goldhagen (2000) erschien, welcher die Deutschen als »Hitlers willige Vollstrecker« des Mordens an den Juden bezeich-nete und einen »eliminatorischen Antisemitismus« der Deutschen konstatierte, auf welchem Hitlers Plan zur Vernichtung des Judentums fruchtbaren Boden gefunden habe. Es seien die »ganz gewöhnlichen Deutschen« gewesen, welche sich zu seinen Vollstreckern gemacht hätten. Zur gleichen Zeit wurde ebenso die Ausstellung »Vernichtungskrieg – Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944« des Instituts für

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Sozialforschung in Hamburg publik. Diese Ausstellung räumte mit der Legende der »sauberen Wehrmacht« auf. Sie dokumentiert, dass auch die Wehrmacht, jedenfalls in kleinen Teilen, ein Instrument Hitlers bei seiner Vernichtung ganzer Völker und Volksgruppen gewesen war. Die Präsentation dieser Wehrmachtsausstellung wurde begleitet durch ein umfangreiches Rahmenprogramm. Dem Anliegen der Ausstellung entsprechend bewegte sich dieses vor allem um die Opfer der Hitler-Diktatur. Diese sind es ja auch, welche den klärenden Rückblick auf jene Zeit und ihre radikale Aggressivität bis hin zu den Millionen Morden nachdrücklich fordern. Deswegen wollen wir uns als Erstes mit diesen Opfern befassen.

1.7 Die Folgen der Verfolgung

1.7.1 Zur Psychodynamik der NS-Verfolgung und der KZ-Haft

Mein Vortrag über »Folgen der Verfolgung«, 1996 im Rahmenprogramm der Wehr-machtsausstellung basierte auf Hunderten von Gutachten – meist für ehemalige KZ-Häftlinge –, die ich wie auch andere Psychiater entsprechend dem »Bundesent-schädigungsgesetz« von 1956 in den Jahrzehnten nach der Hitler-Ära zu erstellen hatte. Viele der Opfer litten unter einem ihr Leben massiv beeinträchtigenden »Erlebnisbedingten Persönlichkeitswandel« (Venzlaff 2004), auch »KZ-Syndrom« genannt. Das ist vor allem eine chronische Angst verbunden mit Depressionen.

Der nachfolgende Text in diesem Abschnitt 1.7 ist ein Auszug aus diesem Vor-trag.

In der autoritären Polarisierung von Oben-Unten, Befehl und Gehorsam, Füh-rung und Geführten, gut und schlecht wurden die Opfer in der NS-Diktatur von vornherein auf die Seite von »schlecht« und »minderwertig« geschoben. Im Gegen-satz zu den Tätern mit ihrem hohen (und »hohlen«) Selbstwertgefühl wurden Opfer verfolgt. Sie sahen sich als Sündenböcke der Zuschreibung von Schuld ausgesetzt, die ihnen weder historisch noch faktisch zukam. Waren doch z. B. die Juden in Deutschland voll in die Gesellschaft integriert, wenn auch schon früher immer wieder Ziel negativer Projektionen.

Überraschend ist nun, dass die Opfer damals nicht zur Verteidigung geschritten waren. Hier wird ein bemerkenswerter Vorgang der Verinnerlichung einer Zu-schreibung des Bösen deutlich. Teilweise passten sich die Opfer sogar der sie ver-folgenden Ideologie an und empfanden sich tatsächlich als schlecht. Die Taten der Täter sind in ihrer Grausamkeit und in ihrem Umfang unfassbar. Bezüglich der Opfer bleibt unverständlich, dass sich Millionen ohne Widerstand wie Lämmer zur Schlachtbank führen ließen. Die Polarisierung zwischen Oben und Unten, zwischen Macht und Unterwerfung, fand hier in der Relation zwischen Tätern und Opfern sowie Leben und Tod und in der organisatorischen Perfektion ihrer Umsetzung, be-sonders in den KZ-Vernichtungslagern, ihre infernalischen Konsequenzen. Ebenso wie die Jugend in Deutschland heute die Taten ihrer Vorfahren nicht begreifen kann, kann die Jugend in Israel die blinde Hörigkeit ihrer Eltern und Großeltern nicht begreifen, welche der Lüge »Umsiedlung« als Grund für ihren Abtransport geglaubt hatten. Beides ist nur erklärbar durch die extreme Polarisierung zwischen

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Oben und Unten und deren massive Suggestivität in einem Staatsgefüge, das durch Ausschaltung demokratischer Strukturen die totale Gewalt an sich gerissen hatte.

Auch das »Kapo-System« in den KZs wird hier plausibel. Kapos waren selbst Gefangene in den Vernichtungslagern, an welche die Täter Macht delegierten. Da-durch konnten diese Gefangenen an der Gewalt teilhaben, die ihnen selbst drohte. Diese Abwehr der Angst durch »Identifikation mit dem Angreifer« ist in der Psy-choanalyse durch Anna Freud (1936) beschrieben worden. Auch bei den Geiseln des seinerzeit nach Mogadischu in Somalia entführten Flugzeuges, die ich betreute, war dieser Abwehrvorgang aufgetreten, allerdings nicht in tätlicher Teilhabe wie bei den »Kapos«, sondern in der Fantasie. In jedem Fall werden dabei das Gefühl der Ohnmacht und die Angst des Opfers durch die Identifikation mit dem Angreifer gemildert. So erklärt sich auch, dass die Kapos in den KZs häufig radikaler und sadistischer waren als die Täter, die SS-Mannschaften selbst. Denn je höher der Identifikationsgrad mit den jeweils Angreifenden oder Unterdrückenden, umso stärker mindert sich die eigene Angst.

Eine ähnliche Form dieser Dynamik fand sich in den KZs bei den sogenannten »Arbeitsjuden«. Sie sollten durch die Arbeiten nicht, wie die regulären Insassen, getötet werden. Vielmehr wurden sie notwendigen Aufgaben zugeteilt, teilweise sogar im Rahmen der »Sonderkommandos«, welche die Vergasung der Opfer und die Beseitigung ihrer Leichen vorzunehmen hatten. Doch meist drohte ihnen trotz-dem selbst der Tod. Das System der Oben-Unten-Hierarchisierung war damit sogar noch in der extremen Belastung der Vernichtungslager wirksam.

Während im Aufriss einer psychoanalytischen Theorie die Psychodynamik der Aktivisten, der Täter, Nutznießer und Mitläufer des Nazi-Systems im Sinne der psychoanalytischen Entwicklungslehre der zweiten Phase entspricht, in welcher das Kind eine Spannung zwischen Dominanz und Abhängigkeit und daraus ent-stehender Gewissensangst erstmals erlebt, entspricht die Psychodynamik der Opfer dem Erleben der ersten Lebensphase mit ihrer »Vernichtungsangst« im ersten Le-bensjahr. Hier werden vom Säugling nämlich die umgebende Welt und das eigene Selbst noch nicht getrennt, sondern als Einheit erlebt. Versagungen seitens der Be-zugspersonen führen dadurch nicht zu einer Angst gegenüber diesen, sondern zu einer Angst, das Leben überhaupt zu verlieren. Eine derartige, längst überwunden geglaubte »Vernichtungsangst« ist es, welche durch eine Todesdrohung neu und real lebendig wird. Damit werden nicht nur die Erlebens- und Handlungsmotivationen verändert, sondern das Gefühl von Wertlosigkeit der eigenen Existenz überhaupt tritt auf den Plan. Es ist auch nicht das pure Gefühl, »schlecht zu sein«, welches als Verinnerlichung der zugeschriebenen Entwertung folgen konnte, sondern es ist das viel radikalere Gefühl, wie ein abgelehntes, ungeliebtes, ausgesetztes Kleinkind, hier in dieser Welt überhaupt nicht angenommen zu sein. Der Psychiater von Bayer (1961) spricht hier von »Annihilierung«, d. h. einer totalen Entwertung zu einem »Nichts« in der KZ-Haft. War es Zufall oder Absicht, dass zur millionenfachen Tötung in den Gaskammern Zyklon B, ein Schädlingsvernichtungsmittel im Land- und Gartenbau, benutzt wurde?