Die Wahlen in Frankreich und die Linke · so Daniel Bensaïd, abgesehen von seinem grossen...

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Nr. 426/427 Mai/Juni 2007 € 4,– G9861 INTERNATIONALE PRESSEKORRESPONDENZ Italien Rechtsruck von Rifondazione Comunista - Linke gefestigt Sri Lanka Keine Unterstützung für den Völkermord Widerstand Nein zu G8 – Gewerkschaften auf die globale Bühne die internationale Theorie des Marxismus gestern und heute Brasilien Internationalistische Politik für das 21. Jahrhundert Die Wahlen in Frankreich und die Linke

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Nr. 426/427 Mai/Juni 2007 € 4,–

G9861

I N T E R N A T I O N A L E P R E S S E K O R R E S P O N D E N Z

Italien Rechtsruck von Rifondazione Comunista - Linke gefestigt

Sri Lanka Keine Unterstützung für den Völkermord

Widerstand Nein zu G8 – Gewerkschaften auf die globale Bühne

die internationale Theorie des Marxismus gestern und heute

Brasilien Internationalistische Politik für das 21. Jahrhundert

Die Wahlen in Frankreich und die Linke

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IMPRESSUM

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Frankreich „Unser Leben ist mehr wert als Ihre Profite“, Daniel Berger ....................................................... 3Was ist los mit der französischen Linken?, François Duval ......................................................... 4Standpunkt der Minderheit in der LCR, Alain Mathieu und Patrick Tamerlan ............................ 9Austrittserklärung aus der LCR, Michel Husson ........................................................................ 16Brief an Michel Husson, Daniel Bensaïd ................................................................................... 16

Dänemark Gegenkultur – obdachlos, Martin Hammer ................................................................................ 20Wir brauchen ein neues Jugendhaus in Kopenhagen,

SAP, dänische Sektion der IV. Internationale .......................................................................... 33Italien

Linke gefestigt, Rechtsrutsch der Rifondazione, Liam Mac Uaid .............................................. 34Offener Brief von Franco Turigliatto an seine Unterstützer ....................................................... 35Resolution des Internationalen Komitees der IV. Internationale zu Italien ................................ 37

InternationalTagung des Internationalen Komitees, P. D. ............................................................................... 38

Russland Kundgebungen für kämpfende Gewerkschaften ......................................................................... 38

Nahen OstenResolution zum Nahen Osten, Internationales Komitee der IV. Internationale ........................ 39

Sri LankaResolution des Internationalen Komitees der IV. Internationale ............................................... 43Rede von Dr. Vickramabahu Karunarathne – ............................................................................ 44Keine Unterstützung für diesen völkermörderischen Krieg, Yamuna Bandara .......................... 46

NachrufGuadeloupe: Christian Courbain gestorben, Gilbert Pago ......................................................... 50Aisha Amin – eine Heldin des Friedens, Farooq Tariq ............................................................... 51Nachruf ....................................................................................................................................... 51

InternationalNein zu G8 –Gewerkschaften auf die globale Bühne! ................................................................ 52

die internationaleTheorie des Marxismus gestern und heute, Interview mit Daniel Bensaïd ................................. 21Brasilien: Eine internationalistische Politik für das 21. Jahrhundert,

Democracia Socialista ............................................................................................................ 27Der neue Internationalismus und die Vierte Internationale,

Exekutivbüro der IV. Internationale ........................................................................................ 29

Frankreich – erste Runde der PräsidentschaftswahlIn den Massenmedien hat eine kleine Sensation des ersten Wahlgangs kaum Beachtung ge-funden: „Besancenot liegt bei den ‚kleinen Kandidaten‘ an der Spitze“, wie der Figaro vom 23. April titelte. Der Kandidat der LCR ist prozentual ungefähr auf gleicher Höhe geblieben (2002: 4,3 %), während die Stimmen für KandidatInnen von Verts/Grünen (2002: 5,5 %), PCF (3,5 %), LO (5,7 %) deutlich zurückgingen und bei José Bové nicht von einem Durchbruch die Rede sein kann.

Ein Faktor, der zu berücksichtigen ist, stellt die Wahlbeteiligung dar, die höher als jemals in den letzten 40 Jahren lag: Waren es an dem negativ-legendären 21. April 2002 72 % gewesen, beteiligten sich am 22. April 2007 84,6 % der Stimmberechtigten (42,1 Millionen Bürgerinnen in der „Metropole“ und 1,5 Mio. in den französischen Überseegebieten).

Zusammen erhielten die Kandidaturen der Kräfte, die in Frankreich „extrême gauche“ ge-nannt werden (LCR, LO, PCF plus „bovétistes“) 2002 13,5 %, in diesem Jahr dagegen 8,71 %; rechnet man die Zahlen der „Verts“ (Grünen) hinzu, so sind es 19 % gegenüber 10,28 %. Daniel Bensaïd hat in einem ersten Kommentar, den er am 23.4. für die Zeitschrift Viento Sur geschrie-ben hat, drei Gründe benannt, warum die „gauche de la gauche“ (die linke Linke) so empfind-lich zurückgegangen ist: Erstens hat der traumatische Schock, dass Le Pen in die zweite Runde gekommen ist und der Kandidat „der Linken“ hinter ihm lag; der Aufruf, um so etwas zu ver-hindern, schon in der ersten Runde für die Kandidatin „der Linken“, die eine Chance habe, Sar-kozy zu schlagen, zu stimmen, gezogen. Zweitens sei der Sieg des „Nein“ bei dem Referen-dum über den EU-Verfassungsvertrag vom 29. Mai 2005 nicht einfach auf die Konstellation bei den Wahlen in diesem Jahr zu übertragen gewesen, vor allem die sozialdemokratischen „Nein“-Strömungen haben sich seither der Parteidisziplin gebeugt. Drittens hat die Vielzahl der alterna-tiven linken Kandidaturen eine Rolle gespielt.

Der Grund, aus dem Olivier Besancenot am besten dem Druck des „nützlich Abstimmen“ habe widerstehen können und aus dem er sogar 280 000 Stimmen hinzugewinnen konnte, liege, so Daniel Bensaïd, abgesehen von seinem grossen persönlichen Ansehen unter Jüngeren und abhängig Beschäftigten in dem gut argumentierten und glaubwürdigen Programm, einschließ-lich einer nachdrücklich unterstrichenen Unabhängigkeit von der Sozialistischen Partei.

Inprekorr wird in der nächsten Ausgabe ausführlicher auf die Wahlen in Frankreich zurück-kommen. Fr. D.

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ITALIEN

Auch in Frankreich ist die ArbeiterIn-nenklasse immer noch in der Defensi-ve, aber es gibt wenigstens einen wohl-tuenden Unterschied zu den meisten anderen europäischen Ländern: Revo-lutionäre Kräfte haben in den verschie-denen betrieblichen Abwehrkämpfen und in den sozialen Bewegungen einen erkennbaren Einfluss. Ausfluss dieser realen Verankerung ist das Echo, das revolutionäre Kandidaturen in der Öf-fentlichkeit erlangen.

Seit über einem Jahr gab es die Be-strebung, der Gegnerschaft zur neoli-beralen Politik mit einer gemeinsamen Kandidatur Ausdruck zu verleihen und darüber zur Veränderung der Kräfte-verhältnisse beizutragen. Auch unse-re Schwesterorganisation, die Ligue Communiste Révolutionnaire“ (LCR, französische Sektion der IV. Interna-tionale) beteiligte sich an all diesen Gesprächen, aber Ende letzten Jah-res stellte sich heraus, dass die von der LCR genannte Bedingung nicht durch-zusetzen war: Sie hatte darauf bestan-den, dass bei den anschließenden Parla-mentswahlen dieses Bündnis sich nicht zur Unterstützung der – auch in Frank-reich neoliberal geprägten – Sozialde-mokratie (PS) hergeben dürfe. Sowohl die KP als auch José Bové lehnten eine solche Festlegung ab. Hinzu kam, dass die KP ohne Rücksicht auf die Stim-mung in den Komitees (die für ein Nein zur europäischen Verfassung eingetre-ten waren) dort ihre eigene Kandidatin, Marie-George Buffet, als gemeinsame Kandidatin durchdrücken wollte (Lut-te Ouvrière hätte sowieso nicht teilge-nommen). Es traten jetzt also 4 Kandi-datInnen links der PS an.

Eine „Einheitskandidatur“ hätte aber auch in Frankreich nur eine kleine Minderheit der Stimmen auf sich ver-einigen können. Und: Die politischen Differenzen (was die Unterstützung ei-ner PS-geführten Regierung angeht) sind keine Kleinigkeit. Es darf ein-

fach nicht übersehen werden: Ein ge-meinsames „Nein“ zur europäischen Verfassung (Mai 2005) formt aus den unterschiedlichen Kräften noch kei-ne umfassende politische Alternative. Schließlich zeigt auch das vergleichs-weise geringe Echo für die Kandida-tur von José Bové (Kandidat für die Nein-Komitees zur Europäischen Ver-fassung, also parteiunabhängig und parteiübergreifend), dass die Men-schen ganz offensichtlich der Über-zeugungskraft der KandidatInnen und des von ihnen vertretenen Programms größere Bedeutung beimessen als der Tatsache, dass sie eine „Einheitskan-didatur“ vertreten.

Wie sehr die Kampagne der LCR mit ihrem Präsidentschaftskandidaten Olivier Besancenot überzeugt, belegen die folgenden Tatsachen: Das Medien-echo ist enorm, in den Prognosen liegt er unter den KandidatInnen links der PS bei allen Meinungsumfragen klar vorne. Von noch größerer Bedeutung für uns sind aber folgende Fakten: Zu den Veranstaltungen kommen zwei- bis dreimal so viele Menschen wie bei der Kampagne 2002 (als Olivier 4,52% der Stimmen erhielt): in Tours 1500, Bor-deaux 1500, Lille 2000, Rouen 2200 usw. Sogar auf der „Ferieninsel“ Korsi-ka hat es die größten linken Veranstal-tungen je gegeben: In Calvi, einem ver-gleichsweise kleinen Ferienort 100, in Ajaccio 500 usw. Da die LCR von al-len Parteien am klarsten für die Verbin-dung des sozialen Kampfes mit dem Befreiungskampf der Korsen eintritt, erhält sie auch die Unterstützung von A manca naziunale, mit der sie seit län-gerem verbunden ist. Der auf Korsika ansässige Führer der Seeleutegewerk-schaft STC-marins Alain Mosconi hat zur Wahl Oliviers aufgerufen usw.

Und was uns genauso freut: Das große Echo der LCR-Kampagne führte dazu, dass nicht nur die Zugriffe auf die Homepage regelrecht „explodieren“, sondern auch ganz konkret die Anfra-

gen, die von einer Unmenge von Ver-einigungen, Organisationen, Komitees usw. an die LCR und ihren Kandidaten gerichtet wurden: Wie steht ihr zu die-ser oder jener (Detail)frage? Die jewei-ligen Kommissionen der LCR bereiten diese Antworten kollektiv auf und er-möglichen eine breite Kontaktaufnah-me. Ein Teil der Antworten ist nachzu-lesen auf der Homepage der Kampagne: http://besancenot2007.org (dort spezi-ell unter „Foire aux questions“, also: http://besancenot2007.org/rubrique.php3?id_rubrique=6)

DEBATTE IN DER LCR

Eine Minderheit der LCR kämpft aller-dings weiter für eine Einheitskandida-tur und zwar auch in der Öffentlichkeit (einzelne Mitglieder wie Christophe Aguiton haben sich sogar aktiv an der Kampagne von Bové beteiligt). Diese weitreichenden Differenzen innerhalb der französischen Sektion wurden in der dortigen Öffentlichkeit mit großem Interesse verfolgt. Diese Auseinander-setzungen sind ganz ohne Zweifel ein Reflex auf die schärfer werdenden An-griffe der Herrschenden und das von vielen Kräften verfolgte Ziel, dem ei-ne breite Abwehrfront entgegenzustel-len. Wie gut oder realistisch die Mög-lichkeiten für eine Einheitskandida-tur bei diesem Präsidentschaftswahl-kampf sind bzw. waren und wie hoch der politische Preis (bzw. auf der an-deren Seite der politische Gewinn) in diesem Fall gewesen wäre, darüber ge-hen die Meinungen doch stark ausei-nander. Diese Debatten werden auch nach der Wahl nicht abgeschlossen sein, weil die dahinter liegenden po-litischen Differenzen von erheblicher Bedeutung sind. Zur Verdeutlichung der Argumente für und gegen eine Ein-heitskandidatur dokumentieren wir auf den folgenden Seiten drei Stellungnah-men aus Mehrheit und Minderheit der LCR.

„Unser Leben ist mehr wert als Ihre Profite“ Eine revolutionäre Kandidatur der LCR zu den Präsidentschaftswahlen in Frankreich

Daniel Berger

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FRANKREICh

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Viele Freundinnen und Freunde aus der antikapitalistischen Linken in Euro-pa (und anderswo) sind beunruhigt über das, was derzeit in Frankreich geschieht, und fragen nach der politischen Orientie-rung und dem Verhalten der LCR.1 Die-ser Text will einige Informationen geben, um dem „nicht-französischen Publikum“ das Verständnis der Situation in Frank-reich zu ermöglichen, und erklären, wie die LCR versucht hat, mit der Situation umzugehen.

Zweifellos: Dass es bei den nächs-ten Präsidentschaftswahlen (Ende April 2007) – mindestens! – vier Kandida-tinnen und Kandidaten links von der So-zialdemokratie geben wird, ist alles an-dere als das bestmögliche Ergebnis. Das wirft unweigerlich einige Fragen auf:• Zusammenschlüsse der Linken und/

oder Einheitskandidaturen waren in vielen Ländern Europas möglich, et-wa in England und Wales mit Respect oder in Deutschland mit der WASG/Linkspartei. Warum nicht in Frank-reich?

• Ist die LCR dafür verantwortlich? Hat die LCR eine größere Gelegenheit zur Umgestaltung der französischen Lin-ken verstreichen lassen?

DRAMATISCHE SITuATION IN FRANKREICH? JA, ABER …

Zunächst einmal muss man einen voll-ständigeren und ausgewogeneren Über-blick über die langfristigen Trends der französischen Situation geben. Allge-mein betrachtet man die Zeit seit 1995 als Phase vielfältiger und mächtiger sozi-aler Bewegungen in Frankreich mit groß-en Streiks und mächtigen Demonstrati-onen und sogar mit politischen Erfolgen der Linken. Man kann leicht aufzählen

1 Ligue communiste révolutionnaire (französi-sche Sektion der Vierten Internationale)

• Das Resultat für Arlette Laguiller2 bei den Präsidentschaftswahlen 1995

• Die Streiks und Demonstrationen ge-gen die Regierung sechs Monate spä-ter

• Die Wahl von fünf revolutionären Ab-geordneten3 ins Europäische Parla-ment 1999

• Die Ergebnisse revolutionärer Kandi-datinnen und Kandidaten bei den Prä-sidentschaftswahlen 2002: zusam-mengerechnet 10% der Stimmen; so-gar 13% zusammen mit dem Ergebnis der KP

• Die großen Streiks von März und April 2003: fast ein Generalstreik

• Der Sieg des „Nein“ beim Referen-dum über die neoliberale EU-Verfas-sung am 29. Mai 2005

• Die Jugendrebellion und der Aufstand in den französischen Vororten im No-vember 2005

• Der Sieg der Jugend- und Arbeiter-bewegung gegen den CPE4 im Mai 2006.

Alle diese Ereignisse waren sehr wichtig. Sie zeigen die Stärke des Widerstands – sowohl des sozialen wie des politischen Widerstands – gegen Liberalismus und Raubtierkapitalismus. Sie rufen ganz of-fensichtlich nach einem politischen Aus-druck in Form des Entstehens einer poli-tischen Alternative, die sich in einer neu-en breiten antikapitalistischen Partei ver-körpert, einer neuen politischen Vertre-tung der Ausgebeuteten und Unterdrück-ten.

Aber diese Ereignisse sind nur eine Seite der Situation. Wenn man die ande-re Seite betrachtet, sieht man das beson-ders niedrige Niveau der „durch Streik

2 Kandidatin für Lutte Ouvrière (LO – Arbeiter-kampf).

3 Auf einer gemeinsamen Liste von LO und LCR

4 Erstbeschäftigungsvertrag

verlorenen Arbeitstage“, den durch Nie-derlagen der Arbeiterschaft – oder sogar ohne jeden Widerstand – durchgesetzten Erfolg der neoliberalen Reformen, den sehr niedrigen Organisationsgrad in Ge-werkschaften und Parteien, eine zuneh-mende Stimmenthaltung bei Wahlen, ei-ne Schwemme von Gesetzen zugunsten der Polizei und gegen Jugendliche und Einwanderinnen und Einwanderer, ei-ne ununterbrochene Wanderung der po-litischen Elite einschließlich der Füh-rungen von Gewerkschaften und Sozial-demokratie nach rechts und so weiter.

Auf dem Gebiet von Politik und Wahlen gab es in Wirklichkeit auch kei-nen ständigen Anstieg der Ergebnisse der radikalen und/oder revolutionären Lin-ken. Nur wenige Wochen nach den Prä-sidentschaftswahlen 2002 lagen die zu-sammengerechneten Ergebnisse von LCR und LO (Lutte Ouvrière) bei durch-schnittlich 2,5%. 2004 erreichten die ge-meinsamen Listen (LCR und LO) einen Durchschnitt von 3 bis 5 Prozent.

Tatsächlich ist die Situation in Frank-reich komplexer und kontrastreicher:• Auf der einen Seite gibt es lange Peri-

oden, in denen alles „ruhig“ ist: keine Streiks, keine Bewegungen und harte Angriffe rechter Parteien und Bosse

• Auf der anderen Seite (sehr) kurze Pe-rioden heftiger sozialer Explosionen.

Das bedeutet keinen „Abschwung“ wie in den 1980-er und frühen 1990-er Jah-ren. Aber zumindest bedeutet es, dass die Situation instabil und veränderlich ist. Die kurzen Phasen sozialer Explosi-on führten nicht zur Umkehr des Kräfte-verhältnisses zwischen den herrschenden Klassen und der arbeitenden Klasse. Und da die Zeiten sozialer Bewegungen zwar intensiv aber sehr kurz sind, bleiben die Erfahrungen, die wichtige Teile der ar-beitenden Klasse und sogar Gruppen po-litisch aktiver sammeln, sehr unterschied-lich. Dies ist das erste wesentliche Hin-dernis bei jedem Versuch, Widerstand in politische Alternative zu verwandeln. Und dieser Punkt erklärt vieles von dem, was seit Mai 2005 geschehen ist.

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FRANKREICh

Was ist los mit der französischen Linken?Die politischen Differenzen in der französischen Linken im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen haben international viele Diskussionen ausge-löst. François Duval von der nationalen Führung der LCR hat kürzlich die Position seiner Organisation in einem Bericht für die Europäische Antikapitalistische Linke erläutert.

François Duval

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NACH DEM SIEG

Tatsächlich waren wir nach dem 29. Mai 2005 mit den Folgen eines gescheiterten Rendezvous’, falscher Hoffnungen und verdrehter Debatten konfrontiert. Um es einfach zu machen: Es war nicht so leicht – und manchmal unmöglich – das Bünd-nis gegen die EU-Verfassung in ein Wahl-bündnis für 2007 umzuwandeln.

Die revolutionäre Linke (vor allem die LCR), die französische KP, eine Platt-form innerhalb der Grünen Partei, eine Plattform innerhalb der Sozialistischen Partei, Aktive aus der Gewerkschaftsbe-wegung, aus Verbänden, der feministi-schen Bewegung, aus der Bewegung für globale Gerechtigkeit und Tausende nor-maler Menschen mit linken Ideen waren sich einig, gegen die EU-Verfassung vor-zugehen. Das war ganz offensichtlich die reichhaltige Basis, auf der wir hätten auf-bauen müssen. Aber einiges hätte poli-tisch geklärt werden müssen.

Eine gemeinsame Ablehnung der ne-oliberalen EU-Verfassung bedeutet nicht, dass alle diese Menschen sich automa-tisch – oder auch nur einfach – auf ein gemeinsames Herangehen an die Wahl-en einigen könnten. Genauer gesagt: spe-zielle Wahlen, allgemeine Wahlen, bei denen es um die politische Macht, die Regierung, die Parlamentswahlen geht. Oder, um es mit „alten“ Worten zu sa-gen: die Staatsmacht.

Die weitest verbreitete Erklärung für das Scheitern des Prozesses zur Findung eines gemeinsamen Kandidaten der an-tiliberalen Linken ist: wegen des Sektie-rertums der LCR und/oder des Hegemo-niegebarens der französischen KP (und ihres Wunschs, die Bewegung zu kont-rollieren).

Die Erklärung ist so weit verbreitet, weil sie so einfach ist, und so leicht und so bequem obendrein. Ich teile diese Er-klärung nicht. Genau deshalb, weil sie zu einfach, zu leicht und zu bequem ist. Und weil sie nicht politisch ist.

Wenn das einzige Problem das Sek-tierertum der LCR gewesen wäre, was wäre dann geschehen? Es hätte ein Bünd-nis mit einem gemeinsamen Kandidaten der gesamten antiliberalen Linken gege-ben, nur eben ohne die LCR! Doch das ist nicht geschehen…

Wenn das einzige Problem das Hege-moniegebaren der KP-Führung gewesen wäre, was wäre dann geschehen? Es hät-te ein Bündnis mit einem gemeinsamen Kandidaten der gesamten antiliberalen

Linken gegeben, nur eben ohne die KP! Doch auch das ist nicht geschehen…

Meine Erklärung ist, dass der Pro-zess für ein Bündnis und einen gemein-samen Kandidaten aus entscheidenden politischen Gründen scheiterte. Er schei-terte, weil es eine zentrale politische Mei-nungsverschiedenheit in einer zentralen politischen Frage gab – und immer noch gibt: Welche Art von Beziehungen kann die antiliberale Bewegung im Hinblick auf Fragen von Regierung, Parlaments-mehrheit und Staatsmacht mit der Füh-rung der Sozialistischen Partei haben?

SEKTIERERTuM DER LCR – WIRKLICH?

Ich möchte es möglichst deutlich sagen. Wir meinen, dass unsere Organisation ein gutes Programm hat, das sich auf drin-gendste soziale und demokratische Maß-nahmen stützt. Aber wir sind uns völlig darüber im Klaren, dass das antiliberale Bündnis nicht einfach unser Programm übernehmen kann! Und wir sind bereit, Kompromisse einzugehen, solange diese Kompromisse nicht im Gegensatz zu un-seren eigenen Vorschlägen stehen.

Übrigens hatten auch die 29. Mai-Kollektive5 ein Programm beschlossen. Mit vielen Punkten waren wir einig. Wir hatten auch Differenzen, von denen ich einige nenne:• Die LCR meint, dass ein wirklich an-

tiliberaler Kandidat klar im Hinblick auf die Höhe des Mindestlohns posi-tioniert sein muss, für den wir kämp-fen. Weder Marie-George Buffet noch Jose Bové sind in dieser Frage klar po-sitioniert.

• Die LCR meint, dass ein wirklich an-tiliberaler Kandidat sagen muss, dass er (oder sie) für die schnellstmögliche Stilllegung aller Atomanlagen ist. Aber das Programm der 29. Mai-Kol-lektive sagt das nicht, vor allem weil die Kommunistische Partei tief mit der Pro-Atom-Lobby verbandelt ist.

• Die LCR meint, dass ein wirklich an-tiliberaler Kandidat nicht nur für die Auflösung imperialistischer Bünd-nisse eintreten muss; er (oder sie) muss auch klar sagen, dass Frankreich sich sofort aus der NATO zurückzie-hen muss, ohne auf irgendeinen Kon-sens mit anderen europäischen Län-dern in dieser Frage zu warten.

5 Basisstrukturen, die die Kampagne für ein Nein beim Referendum über die EU-Verfas-sung getragen haben – d.Üb.

Trotzdem hat die LCR bei den Debat-ten über das Wahlprogramm keine Ul-timaten gestellt. Wir haben nur gesagt, dass diese Punkte (und einige andere) kein absolutes Hindernis für ein Bünd-nis sind, sondern vorläufig ungeklärte Fragen, mit denen wir uns auseinander-setzen können.

Natürlich war das Hauptproblem nicht, dass diese sehr „vorsichtigen“ An-merkungen nicht von allen Aktivistinnen und Aktivisten der „antiliberalen Kol-lektive“ akzeptiert wurden. Die meis-ten von ihnen stimmten ohnehin mit un-seren weitergehenden Forderungen über-ein. Das Hauptproblem war die Orientie-rung der KP, die auch die bei weitem be-deutendste politische Strömung in die-sem Prozess war.

Im Frühjahr 2006 versuchte die LCR dann mehrere Monate lang, eine offene und aufrichtige Debatte mit der KP zu or-ganisieren. Gemeinsame Arbeitsgruppen zu jedem Thema wurden geplant, jeweils mit zwei oder drei „Experten“ der KP und zwei oder drei „Experten“ der LCR, um eine Liste der Forderungen zu erar-beiten, mit denen jede und jeder über-einstimmen kann, und eine zweite Lis-te von Forderungen, die weitere Arbeit oder Kompromisse erfordern. Einige die-ser Gruppen trafen sich ein- oder zwei-mal – bis die KP entschied, es gebe kei-nen Grund, mit der LCR zu diskutieren und es sei besser, mit dem „Volk“ zu dis-kutieren.

SZENARIO, ABER KEINE AKTEuRE

Monatelang schienen sich alle einig zu sein: Ein politisches Übereinkommen war die wichtigste Frage, nicht der Name des gemeinsamen Kandidaten.

Die LCR meinte, dass ihr eige-ner Kandidat, Olivier Besancenot, ein guter Kandidat sei, vielleicht der be-ste von all den verschiedenen Führern der antiliberalen Bewegung. Olivier ist sehr beliebt unter Arbeiterinnen und Arbeitern wie auch unter jungen Men-schen. Aber er ist unser bekanntester Sprecher, und aus dem Grund war uns völlig klar, dass er nicht der Kandidat einer vereinten antiliberalen Liste sein könnte. Wir waren bereit, uns auf ei-nen anderen Kompromisskandidaten zu einigen. Selbst nachdem wir seine Kandidatur angekündigt hatten, sagten wir deutlich, dass wir jederzeit bereit sind, seine Kandidatur wieder zurück-

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zuziehen, wenn ein politisches Über-einkommen erreicht wird.

Aber ja: es gab eine einzige Frage, in der wir zu keinem Kompromiss be-reit waren. Keine endlose Liste von Vor-wänden, nur ein einziger und einfacher Punkt, der eine Antwort erforderte und noch immer erfordert, eine klare Antwort ohne jede Zweideutigkeit. Wie sicher be-reits klar ist, war das die Frage, die wir von Beginn des Prozesses an aufgewor-fen haben und die immer noch dieselbe ist: die Frage des Verhältnisses zur SP in Bezug auf Regierung und Parlament.

Und die Antwort, die wir hören woll-ten, war: Nein, kein antiliberaler Kandi-dat wird Mitglied einer SP-geführten Re-gierung werden. Kein bei allgemeinen Wahlen gewählter antiliberaler Kandidat wird zur SP-Parlamentsmehrheit gehö-ren oder eine SP-geführte Regierung un-terstützen.

Diese Antwort haben wir nicht ge-hört.

VERDREHTE DEBATTE

Die Debatte über diese Frage tobte An-fang 2006. Wieder einmal war das Haupt-problem die durchschnittliche Stimmung der Aktiven aus den antiliberalen Kollek-tiven. Ein bedeutender Anteil von ihnen teilte mehr oder weniger unseren Stand-punkt, auch wenn sie meinten, dass wir die Wichtigkeit dieser Frage übertreiben. Das Hauptproblem war – und ist immer noch – das Verhalten der KP.

Die Führerinnen und Führer der fran-zösischen KP reden mit zwei Zungen. Auf der einen Seite betonen sie immer wieder, dass sie die Erfahrung mit der so-genannten Regierung der „pluralen Lin-ken“ zwischen 1997 und 2002, als sie Teil der Jospin-Regierung und einer Par-lamentsmehrheit mit der SP waren und sich zur Unterstützung ihres sozial-li-beralen Programms verpflichtet sahen, nicht wiederholen wollen. Das Ende die-ser Erfahrung war die Wahlkatastrophe von 2002.

Aber auf der anderen Seite behaup-ten sie, es sei möglich, „alle Linken auf einem antiliberalen Programm“ zu sam-meln, und dass eine Aussöhnung zwi-schen den Parteien möglich sei und zwar zwischen den Parteien, die für ein „Nein“ beim Referendum waren, und denen, die für ein „Ja“ waren! Sie haben die Option, erneut Mitglieder einer SP-geführten Re-gierung zu werden, nicht aufgegeben.

Das war der Grund, warum wir ver-

sucht haben, eine offene und aufrich-tige Debatte mit der KP über diese Fra-ge zu führen. LCR und KP waren sich ei-nig, ein Dokument zu schreiben, wie jede Partei die Frage der politischen Macht, einer Koalition, einer gemeinsamen Re-gierung usw. sieht. Kurz danach schrieb die Führung der LCR dieses Dokument, das unsere Bedingungen für die Teilnah-me an einer gemeinsamen Regierung spezifizierte. Das Dokument wurde an-genommen und der KP übersandt. Die KP schrieb niemals irgendein Dokument und antwortete auch nicht auf unser Do-kument.

WENDEPuNKT

Nächster Punkt war die Debatte über dieses Thema im Nationalen Kollektiv6 und den hunderten örtlicher Kollektive. Die Debatte endete im September 2006, als die Nationalkonferenz der „antilibe-ralen Kollektive“ ein Dokument mit dem Titel „Ziele und Strategien“ annahm. Das Dokument enthielt zweideutige Formeln über die Hegemonie des „Sozial-Libe-ralismus“. Aber es sagte nicht deutlich, dass es ausgeschlossen sein werde, ei-ner SP-Regierung beizutreten oder sie im Rahmen einer gemeinsamen Parlaments-mehrheit mit der real-existierenden SP, ihrem Programm und ihrer Führung zu unterstützen.

Die LCR schlug Ergänzungen vor, um diese Frage zu klären. Diese Ergän-zungen wurden weder vom Nationalen Kollektiv angenommen noch der Natio-nalkonferenz der „antiliberalen Kollek-tive“ zur Entscheidung vorgelegt. Auch der ganz ähnliche Ergänzungsantrag eines Kollektivs aus Südostfrankreich fiel unter den Tisch. Andere Ergänzungs-anträge desselben Kollektivs, die sagten, dass der „gemeinsame Kandidat nicht Sprecher einer politischen Partei“ sein könne, wurden ebenso versenkt.

Die Konferenz war der Wendepunkt in dem Prozess: Unsere Partner aus dem antiliberalen Bündnis gegen die EU-Ver-fassung entschlossen sich, die LCR los-zuwerden. Es ist keine Paranoia – ob-wohl auch Menschen mit Verfolgungs-wahn wirkliche Feinde haben können! Das Hauptziel der anderen Strömungen und der anderen Mitglieder des National-kollektivs war nicht, die LCR loszuwer-den. Aber sie dachten, sie müssten sich entscheiden, die LCR zu halten und die

6 Landesweite Struktur der 29.-Mai.-Kollektive – d.Üb.

KP zu verstoßen oder die KP zu halten und die LCR zu verstoßen, in der Hoff-nung, dass sich die LCR früher oder spä-ter wieder beteiligen würde. Aber wir kehrten nicht zurück. Weil wir an poli-tische Prinzipien glauben!

Viele Menschen sagten, dass das von der Nationalkonferenz beschlos-sene Dokument uns doch eigentlich zu-frieden stellen sollte. Doch einige Ta-ge später bestätigten etliche Reden und Artikel aus der KP-Führung unsere Be-fürchtungen. Sie hatten offensichtlich ei-ne andere Vorstellung von dem, was be-schlossen worden war, als die Kollektive. Und sie betonten die Tatsache, dass die von der LCR vertretene politische Orien-tierung von den „Kollektiven“ abgelehnt worden sei – was meiner Meinung nach leider stimmt.

Dies ist der Grund, warum sich die LCR nicht am Prozess der Auswahl eines gemeinsamen Kandidaten beteili-gt hat: Nach unserem Standpunkt wäre die Voraussetzung ein politisches Über-einkommen und eine gemeinsame Posi-tion in der Frage der Beziehungen zur SP gewesen.

MISSVERSTäNDNIS

Die Entscheidung des Nationalkollektivs, alle Anträge zurückzuziehen, nach denen kein Sprecher einer politischen Partei ge-meinsamer Kandidat werden könne, war eine weitere Schwäche in dem Prozess. Tatsächlich glaubte die KP, dass am Ende jeder bereit sein werde, ihre Kandidatin zu unterstützen. Und die anderen Strö-mungen und die anderen Mitglieder des Nationalkollektivs glaubten, dass die KP am Ende bereit sein werde, ihren Kandi-daten zurückzuziehen. Doch genau das geschah nicht!

Wie immer wollte die KP gerne ein Einheitsmäntelchen bekommen, aber trotzdem die Kontrolle über die Bewe-gung behalten. Und die ideale Lösung dafür war einfach ein eigener Kandidat, der im Namen der antiliberalen Bewe-gung auftritt. Nie hatte die KP etwas an-deres vor. Und genau so geschah es dann auch…

Der ganze Prozess platzte im No-vember 2006, als die KP versuchte, ih-ren Kandidaten durchzudrücken: Marie-George Buffet, Generalsekretärin der KP. Natürlich griff die KP dafür zu „post-sta-linistischen“ Methoden, wie das plötz-liche Aufblühen „neuer“ Kollektive aus KP-Mitgliedern, um die Mehrheit zur

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Wahl des Kandidaten zu erreichen. Ei-nige bereits existierende, echte Kollek-tive wurden plötzlich von KP-Kadern ge-stürmt, die gerade rechtzeitig zur Wahl des Kandidaten erschienen. In einigen Stadtvierteln wandelten sich KP-Orts-gruppen in aller Eile einfach in antilibe-rale Kollektive um!

Diese alten, aus der stalinistischen Vergangenheit der KP geerbten Metho-den, haben viele Menschen in den Kol-lektiven verärgert. Doch eigentlich hat-te das Nationalkollektiv die KP-Führung dazu ermuntert, weil es das Problem der Benennung des Kandidaten von der Ta-gesordnung genommen und verschoben hatte.

Jeder (außer uns) war sich absolut sicher, dass die ersten Schritte des Pro-zesses ein voller Erfolg waren: Die anti-liberale Bewegung hatte ein strategisches Dokument und ein Wahlprogramm (im Oktober 2006 beschlossen). Die Eini-gung auf den Kandidaten oder die Kan-didatin sollte der letzte und einfachste Schritt sein…

Aber so einfach ist es nicht, politische Fragen und politische Differenzen loszu-werden!

Die Frage, die wir aufgeworfen hatten, war nicht beantwortet worden. Das hatte zu unserem politischen Aus-schluss von dem Prozess geführt. Aber das ungelöste Problem – und die Di-vergenzen zwischen einigen Aktivis-ten und Führern des antiliberalen Pro-zesses und der KP-Führung – tauch-ten in schlimmster Form wieder auf: bei der Frage des gemeinsamen Kan-didaten. Etwa 60% der Befragten wa-ren für MG Buffet, was nur das wahre Verhältnis zwischen KP-Mitgliedschaft und anderen Menschen in den „Kollek-tiven“ zeigt.

EINE GROSSE GELEGENHEIT VERPASST?

Wäre die Entwicklung anders verlaufen, wenn die LCR im Prozess geblieben und sich stärker an den Kollektiven beteiligt hätte? Das kann man nicht ernsthaft be-haupten.

Über Monate sahen wir immer wie-der Signale, dass die KP ihren eigenen Kandidaten durchdrücken und keine Ga-rantien über ihr Verhältnis zur SP geben wollte. Die Beteiligung der LCR an den Kollektiven hätte das nicht ändern kön-nen. So mächtig sind wir nicht!

Haben wir die „Dynamik“ der anti-

liberalen Bewegung nach unserem ge-meinsamen Sieg über die EU-Verfassung unterschätzt? Ich denke nicht.

Die Bewegung hatte die Frage ei-ner politischen Alternative aufgeworfen und wir haben versucht, mit unserer po-litischen Orientierung gemeinsam mit Menschen voranzuschreiten, die wir dort getroffen haben. Aber, wie bereits gesagt, die Voraussetzung für ein Voranschrei-ten wäre die politische Klärung zentraler Fragen gewesen.

Einige Leute aus der Linken haben gesagt, ein zweiter Versuch wäre mög-lich gewesen: wie auch immer, es gibt nie eine absolute Garantie. So war es schon das Klügste, sich am Prozess trotz seiner widersprüchlichen sozialen Basis zu be-teiligen, auf seine Dynamik zu vertrauen und zu gegebener Zeit mit der KP zu bre-chen, wenn sich unsere Befürchtungen bestätigen. Aber das Leben ist nicht so einfach.

Es gab starken Druck auf die LCR von allen, die einen einzigen Kandidaten wollten, egal auf welcher politischen Grundlage. Wenn wir eine widersprüch-liche Basis akzeptiert und uns in den Pro-zess [der Kandidatensuche – d. Üb.] in-tegriert hätten, wäre der Druck, in dem Rahmen zu bleiben, noch höher gewe-sen. Wenn wir dann später versucht hät-ten, uns daraus zu lösen, hätte jeder uns vorgeworfen: Es gibt nichts Neues, ihr hattet die Basis akzeptiert, das ist Betrug! Man hätte uns nicht besser verstanden und wir hätten nichts demonstriert geha-bt…

Haben wir die Krise in der KP unter-schätzt? Ich denke nicht.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion

und den katastrophalen Ergebnissen der früheren Koalitionen mit der SP ist die-se Krise tiefer als je zuvor. Viele KP-Mit-glieder – und sogar gewählte Abgeord-nete und Bürgermeister – brechen mit der KP-Führung und ihrer Orientierung. Doch ist dies noch kein Hinweis auf die Richtung ihrer Entwicklung: gehen sie von rechts nach links oder von links nach rechts?

Natürlich hoffen wir, dass einige von ihnen die richtige Entscheidung tref-fen und die neoreformistisch-poststali-nistische Tradition zugunsten des Auf-baus einer neuen breiten antikapitalisti-schen Partei mit anderen verlassen. Aber wir müssen auch in Betracht ziehen, dass viele von ihnen – wie die KP-Führung – die Unterstützung der SP brauchen, um wiedergewählt zu werden. Und das wird sie nicht dazu führen, sich nach links zu entwickeln!

In der Vergangenheit gab es immer wieder Austritte aus oder Abspaltungen von der KP. Einige von ihnen haben wirk-lich mit dem Stalinismus gebrochen und waren offener für eine Zusammenarbeit mit der radikalen Linken. Aber die meis-ten von ihnen wurden von SP angezogen und wurden zu ihren Satelliten.

Haben wir die Gelegenheit zur Um-gestaltungen der Linken durch ein gutes Wahlergebnis für einen gemeinsamen Kandidaten verpasst?

Viele Menschen in der Bewegung glaubten, dass ein Einheitskandidat der antiliberalen Linken ein gutes Ergeb-nis hätte erwarten können, weil 2005 die Mehrheit der linken Wählerinnen und Wähler, auch aus dem SP-Lager, gegen die EU-Verfassung waren. Einige träum-

Nach dem „Nein“ zur Eu-Verfassung war die LCR mit falschen Hoffnungen konfrontiert

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ten schon von zweistelligen Prozent-zahlen! Einige prophezeiten gar, der oder die antiliberale Kandidatin könnte mehr Stimmen als die sozialdemokratische be-kommen! Dieser völlige Verlust des Re-alitätssinns wurde von der KP-Führung und vielen Sprecherinnen und Sprechern noch gefördert – aus dem schlimmstmög-lichen Grund: Warum sich Gedanken über die Beziehungen zur SP machen, wenn der antiliberale Kandidat sie über-flügeln kann?

LCR ISOLIERT?

Unsere Kampagne für die Präsident-schaftswahlen hat bereits begonnen. Die Kundgebungen und Versammlungen mit Olivier Besancenot sind große Erfolge. Wir bekommen unterstützende Briefe und E-Mails nach jeder Sendung, Talk-Show oder jedem Interview. In Betrieben und auf Demonstrationen wird er herzlich begrüßt. Soziale Fragen und der Kampf gegen Diskriminierung sind Kernstück seiner Kampagne und Tausende Arbeite-rinnen und Arbeiter, Frauen und Jugend-liche zeigen dafür Interesse.

Es ist offenkundig zu früh, um ei-ne ernsthafte Bilanz der Orientierung, des Verhaltens und der Handlungen der LCR zu ziehen. Die Zeit dafür wird kom-men, nach den Präsidentschafts- und Par-lamentswahlen. Die wahrscheinlichste Schlussfolgerung wird sein: Die LCR hat nicht alles auf die bestmögliche Weise getan, sondern einige Fehler begangen.

Offenkundig haben die Differenzen in unserer eigenen Mitgliedschaft zuge-nommen. Offenkundig sind gestandene Aktivistinnen und Aktivisten der antili-beralen Bewegung, wirklich gute Leute, sauer auf die KP, aber auch sauer auf die LCR. Offenkundig wurden wir nicht ver-standen und sind teilweise isoliert. Offen-kundig ist das kein gutes Ergebnis, und das Scheitern des Versuchs, ein wirklich unabhängiges antiliberales Bündnis mit einem gemeinsamen Kandidaten oder ei-ne Kandidatin zu schaffen, ist eine poli-tische Niederlage.

Aber Kummer und Reue sind ineffi-zient. Es ist wichtiger zu verstehen, was geschehen ist. Wir wurden teilweise iso-liert, weil wir schwierige und unange-nehme Fragen aufgeworfen haben. Man macht sich nicht beliebt, wenn man Men-schen, die verzweifelt nach einem ge-meinsamen Kandidaten der antiliberalen Linken suchen, erzählt, dass das nicht so leicht werden wird. Man macht sich

nicht beliebt, wenn man ihnen sagt, dass politische Klärung unerlässlich ist, um ein dauerhaftes Bündnis zu bilden. Man macht sich nicht beliebt, wenn man ih-nen sagt, dass die Wahlergebnisse eines antiliberalen Kandidaten, selbst wenn er oder sie noch so einheitsorientiert und gemeinsam ist, nicht sensationell wer-den würden. Man macht sich nicht be-liebt, wenn man ihnen sagt, dass auch, wenn die Mehrheit der Menschen, die gewöhnlich für linke Parteien stimmen, gegen die EU-Verfassung gestimmt hat, und obwohl die SP für die EU-Verfas-sung war, trotzdem wieder viele von ih-nen direkt für den SP-Präsidentschafts-kandidaten stimmen werden. Man macht sich nicht beliebt, wenn man ihnen sagt: Nein, es wird nicht Dutzende antilibe-raler Parlamentsabgeordnete geben. Man macht sich nicht beliebt, wenn man sol-che (wahren) Dinge sagt zu Leuten, die sie nicht hören wollen! Natürlich ist un-sere politische Funktion nicht, die Hoff-nungen tausender Menschen zu zerstö-ren. Aber man erwartet von uns auch nicht, dass wir sie mit fantastischen Illu-sionen füttern!

J. BOVé – DER MANN, DEN WIR BRAuCHEN?

Nach einer Reihe von Entwicklungen ist José Bové jetzt der vierte Kandidat der antiliberalen und/oder radikalen Linken. Er wird sehr geschätzt wegen seiner Angriffe gegen McDonalds, sei-ner Kampagnen gegen gentechnisch manipulierte Lebensmittel und wegen seiner Beteiligung an der Bewegung für globale Gerechtigkeit. Er ist ein coura-gierter Aktivist, der etliche Monate im Gefängnis gesessen hat und dem schon wieder eine neue Verurteilung droht. Und er hat zweifellos das Recht, Kan-didat zu sein, als Vertreter einer spezi-fischen Strömung (radikale Ökologie, globale Gerechtigkeit, …).

Aber er ist in keiner Weise ein Ein-heitskandidat oder der „natürliche“ Kan-didat der antiliberalen Bewegung oder der 29.-Mai-Kollektive. Er wird von kei-ner der am Bündnis gegen die EU-Ver-fassung beteiligten Parteien oder Strö-mungen unterstützt: die PRS (“für die soziale Republik“), eine Plattform inner-halb der SP, unterstützt jetzt die SP-Kan-didatin, die LCR unterstützt Olivier Be-sancenot, die KP unterstützt Marie-Geor-ge Buffet und die kleine Gruppe der Re-publikanischen Linken (frühere Unter-

stützerinnen und Unterstützer von JP Chevènement) sind mit seiner Kandida-tur nicht einverstanden. Nur Die Alterna-tiven, eine kleine Plattform innerhalb der Grünen und Minderheit in den Kollek-tiven, ist für J. Bové.

Die zum Aufbau seiner Kandidatur eingesetzten Methoden geben wirklich Anlass zur Sorge. Bis November 2006 stand Bové mit anderen im Wettbewerb als Kandidat der Kollektive. Dann ent-schloss er sich, seine Kandidatur zu-rückzuziehen, hauptsächlich weil die er-sten Abstimmungen nicht besonders gut für ihn ausgefallen waren. Danach sagte er, er würde nur kandidieren, wenn Buf-fet und Besancenot zurückziehen.

Dann, nach der Ankündigung der Kandidatur der KP-Generalsekretärin und dem Abbruch des Prozesses zur Fin-dung eines Einheitskandidaten, wurde von seinen Freundinnen und Freunden über Websites und E-Mails eine Petition organisiert, um ihn zur Kandidatur auf-zufordern. Und schließlich entschied er sich zu kandidieren!

Dies ist nicht das Ergebnis einer de-mokratischen und widersprüchlichen De-batte innerhalb der Kollektive; es ist nicht das Ergebnis politischer Auseinanderset-zung und Einigung zwischen politischen Parteien. Es ist das Ergebnis eines plebis-zitären Vorgehens auf Basis des Unter-zeichnens einer E-Mail-Petition, unter-füttert mit etwas „Anti-Parteien“-Stim-mung.

Jedem in der alternativen Linken muss klar sein, dass es in jeder poli-tischen Partei, auch den alternativen und/oder revolutionären, enttäuschte Leu-te gibt. Aber zu glauben, man könnte sie durch lose Netzwerke ersetzen, ist eine gefährliche Illusion, sowohl hinsichtlich politischer Effizienz als auch hinsichtlich der Demokratie.

Das ist wichtig, denn der Hintergrund all dieser Debatten ist die Frage, welchen Typ von neuer antikapitalistischer Bewe-gung oder breiter linker Partei wir künf-tig ausbauen wollen.7

KAMPF FüR POLITISCHE uNABHäNGIGKEIT

Noch ein paar abschließende Worte zu der Hauptfrage, die wir aufgewor-fen haben. Das Verhältnis zur SP und

7 Mehr darüber siehe Pierre Rousset: „Après le « Bovéthon » : en défense du principe d’or-ganisation », http://www.europe-solidaire.org/spip.php?article4979

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die Fragen von Regierung und Parla-mentskoalitionen sind keine rein theo-retischen Fragen. Sie sind keine Obses-sionen oder Alpträume, die den kran-ken Phantasien der LCR entsprungen wären. Sie beziehen sich nicht auf den sogenannten „französischen Sonder-weg“. Sie sind reale Fragen für die Lin-ke, weltweit.

Revolutionäre und/oder radika-le Gruppen standen schon ganz konkret vor diesen Fragen: in Brasilien und Ita-lien beispielsweise. Wird man durch Be-teiligung an Mitte-Links-Regierungen oder Parlamentskoalitionen zum Satel-liten der Sozialdemokratie, kann dies mit der Zerstörung der radikalen Linken en-den. Wir wissen sicher, dass neue Expe-

rimente mit Mitte-Links-Regierungen nur zu noch größerer Enttäuschung, noch größerer Verbitterung und zunehmender Unterstützung populistischer und rechts-extremer Parteien führen werden. Wenn wir das vermeiden wollen, darf sich die radikale Linke nicht an der Verantwor-tung für diese sozialen und politischen Katastrophen beteiligen.

Es ging nicht um die Alternative „Ein-heitsfront“ oder sektiererische Isolation: Von 1970 bis heute gibt es viele Belege (wie unsere Beteiligung an der Kampag-ne gegen die EU-Verfassung 2005), dass die LCR immer für den Aufbau einheits-fördernder Aktionsstrukturen eingetreten ist, statt die eigene Partei in den Mittel-punkt zu stellen.

Es ging nicht um die falsche Polari-tät zwischen Opportunismus oder revo-lutionärem Purismus. Wobei ein solcher Vorwurf – revolutionärer Purismus – der LCR wohl kaum jemals gemacht wor-den ist!

Nein es ging, etwas bescheidener, um die Alternative zwischen Unterordnung unter die Sozialdemokratie (und/oder den Sozial-Liberalismus) oder politische Unabhängigkeit!

François Duval ist führendes Mitglied der LCR (französische Sektion der Vierten Internationale)Wahlkampagne von Olivier Besancenot: http://besancenot2007.org/

Übers.: Björn Mertens

Bericht für das Internationale Komitee der IV. Internationale

Standpunkt der Minderheit in der LCRNach einem Vertreter der Mehrheit in den Leitungsgremien der LCR trugen zwei Genossen, die der Minderheit angehören, vor dem Inter-nationalen Komitee den hier folgenden alternativen Bericht vor. Auf diese Einleitungen folgte eine Debatte über die politische Lage und die Politik der französischen Sektion. (Red.)

Alain Mathieu und Patrick Tamerlan

Der Kontext der Wahlen, die in diesem Jahr in Frankreich stattfinden, ist nicht zu verstehen, ohne dass zwei politische und soziale Ereignisse der beiden letz-ten Jahre in die Betrachtung einbezo-gen werden:• Der Sieg des „Nein“ bei dem Referen-dum [vom 29. Mai 2005] über die libe-rale1 europäische Verfassung, ein Sieg, der mit den Stimmen der WählerInnen der Linken (die Mehrheit der Wähle-rInnen der Sozialistischen Partei stimm-

1 In der politischen Kultur der französischspra-chigen Länder, vor allem in Frankreich sel-ber, werden die Wörter „liberal“ und „Libera-lismus“ anders verwendet als im Deutschen: Man assoziiert vor allem die wirtschaftliche Freiheit, nicht „freiheitlich, für die Rechte des einzelnen eintretend“. Von der Linken in den deutschsprachigen Ländern würde an den Stel-len, in denen in diesem Text von „liberal“ die Rede ist, durchweg Ausdrücke wie „neolibe-ral“ oder „neoliberal orientiert“ verwendet.

ten mit Nein, während die Leitung der PS für das Ja eintrat) und dank einer Mobilisierung der antiliberalen Linken (PCF, LCR, linke SozialistInnen, Glo-balisierungskritikerInnen, Linke aus den Grünen bzw. Ökologiebewegungen) er-rungen worden ist. Monatelang traten Olivier Besancenot, Marie-George Buf-fet (PCF), José Bové (bekannte Persön-lichkeit der globalisierungskritischen Bewegung), Jean-Luc Mélenchon (PS-Linke) auf zahlreichen Kundgebungen gemeinsam auf, an denen Tausende teilnahmen. Damit stellte sich die Fra-ge nach einer Konkretisierung dieses Kräfteverhältnisses innerhalb der Lin-ken, das sich zum Nachteil der sozial-liberalen Orientierung2, wie sie von der

2 Im Sprachgebrauch der französischen Linken wird zur Bezeichnung einer neoliberalen Poli-tik, die von einer sozialdemokratischen Partei

Führung der Sozialistischen Partei (PS) vertreten wird, verschoben hat.• Im Frühjahr 2006 veranlasste die mächtige Bewegung der Jugendlichen und der abhängig Beschäftigten die Re-gierung der neoliberalen Rechten zum ersten Mal zum Rückzug; sie wollte al-len unter 25-jährigen prekäre Arbeits-verträge aufzwingen, den Ersteinstel-lungsvertrag (Contrat Première Em-bauche, CPE), durch den die Unterneh-mer das Recht auf Entlassungen ohne Angabe eines Grunds bekommen hät-ten. Nach drei Monaten massiver De-monstrationen gingen zwei Mal drei Millionen DemonstrantInnen auf die Straße; auf der Ebene von Demonstra-tionen war dies die stärkste Bewegung seit 1968. Sie bestätigte, dass ein Jahr nach dem Referendum der Widerstand gegen den Liberalismus in der Gesell-schaft weiter die Oberhand hatte.

betrieben wird, der Begriff „social-libéral“ be-nutzt. Im Sprachgebrauch der deutschen Lin-ken ist dies völlig unüblich, weil hier mit „sozi-alliberal“ eine inhaltliche Abgrenzung zur neo-liberalen Politik vorgenommen wird. Um aber relativ nahe am Duktus der französischen Ge-nossInnen zu bleiben, haben wir uns hier ent-schlossen, in diesem Fall deren Wortwahl zu übernehmen. Anm. d. Red.

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Auf der Linken und in weiten Krei-sen kam eine ungeheuer große Hoff-nung auf, dass es gelingen würde, di-ese linken antiliberalen Bestrebungen auf das Feld der Wahlen 2007 zu über-tragen. Die Idee einer „antiliberalen lin-ken Einheit“ war populär, anstelle vie-ler und verzettelter Kandidaturen, die jeweils unter eigener Flagge antreten und dennoch identische politische Po-sitionen vertreten. Es entstand die Idee eines Wahlbündnisses all dieser Kräf-ten, mit gemeinsamen Kandidaturen bei den Wahlen im Jahr 2007 – denen für die Präsidentschaft im April und für das Parlament im Juni.

Es gab einen neuen Aufruf zur Sammlung aller Kräfte, die mit diesem Ziel einverstanden sind. Dazu sollten an der Basis in den Orten „collectifs uni-taires“ (Einheitskomitees) gebildet wer-den. Zur besten Zeit gab es dann zwi-schen 600 und 700 Komitees, die über die gesamte Fläche des Landes verteilt waren und an denen sich etwa 15 000 Menschen beteiligten. Darin waren nicht nur das gesamte Spektrum, das die gemeinsame Kampagne für das lin-ke „Nein“ bei dem Referendum getra-gen hat, sondern vor allem auch zahl-reiche aktive GewerkschafterInnen und Aktive aus sozialen Bewegungen; sie sahen endlich eine Chance, dass sich ein politischer Raum entwickelt, in dem sie einen Platz finden würden, um ihre Kämpfe vor Ort auf das politische Ter-rain zu übertragen.

Es galt also von einer Kampagne, bei der es um die Ablehnung des Libe-ralismus gegangen war, zur positiven Formulierung einer Alternative im Hin-blick auf Programm, politische Positi-onierung und Strategie weiterzugehen, was die Klärung der Beziehungen zu der Sozialistischen Partei, die Haltung zur Rechten, zu einer Linksregierung und einer parlamentarischen Mehrheit einschließt.

Ein schwieriges Problem musste gelöst werden, das mit dem besonde-ren Rahmen der Institutionen der Fünf-ten Republik zu tun hat: In Frankreich gibt es zwei Wahlrunden. Bei den Par-lamentswahlen gibt es etwa 580 Wahl-kreise, in denen in zwei Wahlgängen je ein Abgeordneter bzw. eine Abgeordne-te gewählt wird. [Es ist ein reines Mehr-heitswahlrecht, d. h. die Stimmen für die Zweit- Drittplatzierten usw. fallen unter den Tisch.] Es gibt also keine proporti-onale Verteilung der Sitze. Und Frank-

reich ist eines der wenigen Länder in Eu-ropa, in dem der Präsident per allgemei-ner Wahl bestimmt wird. Es gibt nicht einmal wie in den USA einen Vizeprä-sidenten oder eine Vizepräsidentin, was erlauben würde, ein Gespann aus zwei KandidatInnen zusammenzusetzen; auf dem Stimmzettel steht nur ein Name. Das ist ein Rest des Gaullismus und des starken Staats, in dem der Kandidat für die Präsidentschaft dem Volk und den Bürgern und Bürgerinnen als jemand gegenübertritt, der quasi über den Par-teien und den Wahlkörperschaften steht; in diesem Staat hat er die Befugnis, den Premierminister zu ernennen, verfügt über außerordentliche Macht, die von keiner parlamentarischen Instanz kont-rolliert wird, und hat sogar das Recht, die Nationalversammlung aufzulösen, wenn er das will. Diese Institutionen haben das politische Leben viele Jahre lang geformt, und die politischen Par-teien mussten sich fast alle diesen Vor-gaben anpassen.

Alle dachten zu dieser Zeit, wenn die politischen Fragen gelöst werden könnten, fände man eine Lösung für die Kandidatur: nämlich eine Person, die von allen akzeptiert wird, einfach ein Namen auf dem Stimmzettel, eine Per-son, mit der die bekannten Figuren (Buf-fet, Besancenot, Bové etc.) bei gemein-samen Kundgebungen und Auftritten in den Medien erscheinen würden.

Bei den Parlamentswahlen wäre es möglich, in den 580 Wahlkreisen gemäß einer landesweiten Absprache die Kan-didatInnen von den verschiedenen poli-tischen Kräften aufzustellen.

DIE LCR HAT NICHT MITGESPIELT

Die LCR hat zwar erklärt, sie sei für derartige Kandidaturen, sie hat jedoch im Juni 2006 eine Nationale Konfe-renz einberufen, bei der eine Mehrheit (60 %) beschloss, die Kandidatur von O. Besancenot zu starten; dabei wur-de allerdings behauptet, man würde sie zurückziehen, wenn später ein Ein-heitsabkommen gefunden werde. Die Minderheit (40 %) vertrat den Stand-punkt, es käme darauf an, sich zuerst in die Einheitsbewegung zu integrieren und unser ganzes Gewicht zur Geltung zu bringen, damit die Übereinkunft die bestmögliche wird, bevor wir die Kan-didatur von O. Besancenot in Gang setzen, die den Anschein erweckt, als

wollten wir die Einheit nicht wirklich.Diese Meinungsverschiedenheit in-

nerhalb der LCR hat sich in zwei mög-lichen Orientierungen konkretisiert. Und im Unterschied zu vorausgegan-genen Debatten in der LCR, die inter-ne Auseinandersetzungen gewohnt ist, kam die Meinungsverschiedenheit nun öffentlich zum Ausdruck, und zwar in Form von unterschiedlichen Redebeiträ-gen in öffentlichen Versammlungen und in der Bewegung der Komitees seitens der „Mehrheit der LCR“ und der Min-derheiten, die im Namen der „einheits-orientierten Strömung“ der LCR das Wort ergriffen haben. Die Entwicklung der Ereignisse führte zur Akzentuierung der unterschiedlichen Stellungnahmen, ohne dass bislang jedoch die Einheit der Organisation in Frage gestellt worden wäre, da beide Orientierungen in der LCR wie außerhalb als legitim betrach-tet werden.

Im September wurde eine erste Etap-pe abgeschlossen: Auf einer Versamm-lung mit 500 Delegierten der Komitees und der politischen Kräfte wurde ein Dokument angenommen3, in dem der politische Rahmen bestimmt wurde:• Man will alle Kräfte für eine antili-berale linke Alternative zu den Wahlen zusammenbringen, um innerhalb der linken Wählerschaft die Vorherrschaft der sozialliberalen Politik der PS ins Wanken zu bringen.• Es gilt die Rechte und die extreme Rechte beim zweiten Wahlgang zu schlagen, indem man für den bestplat-zierten Kandidaten bzw. Kandidatin der Linken stimmt, ohne Bedingungen und ohne Verhandlungen. Es lag auf der Hand, dass man eine Antwort auf den mächtigen Willen geben musste, Nicolas Sarkozy zu schlagen: Wenn die Rechte nach ihrem Sieg 2002 ein weiteres Mal vorne liegt, würde man es mit einer Situation zu tun bekommen, die dem zweiten Mandat von Marga-ret Thatcher in Großbritannien ähneln würde, also einer Offensive zur Zerstö-rung des machtvollen antiliberalen Wi-derstands.• Nachdem es die Erfahrung mit der „gauche plurielle“ (pluralen Linken) in den Jahren von 1997 bis 2002 gab, in

3 Das Dokument „Ambition – Stratégie – Can-didatures“, das am 10. September 2006 auf ei-ner nationalen Versammlung der „Einheits- und Volkskomitees“ in Saint-Denis angenommen wurde, ist zu finden unter: http://www.alterna-tiveunitaire2007.org/spip/article.php3?id_arti-cle=292

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denen die PCF sich an der Regierung von Lionel Jospin beteiligt hatte, wur-de eine Haltung zu einer Linksregie-rung definiert. Das war eine Schlüssel-frage zur Überprüfung der Politik der PCF. Der Text der Übereinkunft hielt eindeutig fest: „Wir werden nicht an einer Regierung mitmachen, die vom Sozialliberalismus4 dominiert werden wird und die von ihrer Zusammenset-zung und ihren Vorhaben her sich nicht die Mittel geben würde, endlich mit dem Liberalismus zu brechen und die den Erwartungen an sie nicht entspre-chen würde. Die Sozialistische Partei insbesondere hat ein Programm ver-abschiedet, das einem klaren Buch mit dem Liberalismus den Rücken zukehrt. Für uns steht es außer Frage, auf die-ser Grundlage über einen Regierungs-vertrag zu verhandeln, deren Hand-lungsweise einmal mehr Enttäuschung hervorrufen und unausweichlich zur Rückkehr einer noch härteren Rechten führen würde.“ Es wurde weiter aus-geführt: „In dem Fall, dass wir nicht an der Regierung teilnehmen werden, wird unsere Fraktion in der Versamm-lung sich nicht an einer Mehrheit be-teiligen, die zur Unterstützung dieser Regierung gebildet wird, sie wird aber für jede gesetzliche Bestimmung votie-ren, die in Richtung der Interessen der Bevölkerung geht. Wir werden unsere parlamentarische Vertretung auch da-zu nutzen, um zusammen mit denjeni-gen, die sich an den sozialen Mobilisie-rungen beteiligen, einer Reihe von po-sitiven Maßnahmen zum Durchbruch zu verhelfen oder die negativen Maß-nahmen rückgängig zu machen, und um unser Programm in Gesetze zu gie-ßen und umzusetzen. Wir werden uns vorbehalten, die Art und Weise des Re-gierungshandelns und ihrer Mehrheit während der gesamten Legislaturperi-ode zu bewerten und öffentlich zu dis-kutieren.“

Damit war man sehr weit weg von dem, was beispielsweise Rifondazione in Italien akzeptiert hat: von der Beteili-gung an einer Koalitionsregierung nicht nur mit der sozialliberalen Linken, son-dern auch mit der rechten Mitte, der Re-gierung Prodi, und an einer [parlamen-tarischen] Mehrheit, die diese Regie-rung unterstützt. Die Ablehnung der Be-teiligung an einer sozialliberalen Regie-rung seitens der PCF zeigte einen ge-wissen Bruch mit deren traditionellen

4 siehe hierzu Fußnote 2

Positionen. Nachdem sie bei Wahlen auf ein sehr niedriges Niveau gefallen ist, wollte sie nicht noch tiefer sinken, indem sie sich an eine unpopuläre so-zialliberale Regierungspolitik anhängt. Natürlich hieß das nicht, dass die PCF nicht ein weiteres Mal erneut ihre Mei-nung ändern würde und dass es in ihr nicht Strömungen gäbe, die der Politik von Bündnissen mit der PS nachtrauern. Doch hatten der Erfolg des „Nein“ und des antiliberalen Widerstands sie zu der Überzeugung gebracht, dass sie gestützt auf die antiliberale Einheitsbewegung, in der sie vorherrschend bleiben wollte, in die nächste Periode gehen sollte, um sich zu erholen und einst eroberte Posi-tionen wieder zu gewinnen.

Für die LCR war dies eine bedeu-tende Gelegenheit, um voll und ganz an dieser Bewegung teil zu nehmen, zu handeln und auf die Widersprüche in den beiden großen französischen Links-parteien einzuwirken, die durch diese Bewegung bewirkt worden war.

DIE LCR HAT SICH ZuRüCKGEZOGEN

Die LCR-Mehrheit hat mit Einwän-den in Form von zwei Änderungsanträ-gen, die nicht gerade überzeugend wa-ren, auf die Übereinkunft reagiert; mit den Anträgen sollte die Beteiligung an einer Regierung und an einer Parla-mentsmehrheit mit der PS ausgeschlos-sen werden; aber in Anbetracht des Texts der Übereinkunft, der das bereits aussagte, erschien das als ein Vorwand. Sie verlangte die Streichung der Passa-gen, die auf das Schlagen der Rechten durch den Aufruf für die Stimmabga-be für den/die bestplatzierte/n Kandi-daten/Kandidatin bei der zweiten Run-de abheben; das wurde aber in der ge-genwärtigen Situation als nicht akzep-tabel abgelehnt.

Deswegen begab die LCR-Mehrheit sich in der Bewegung in die Situation eines „Beobachters“, sie hörte auf, sich ernsthaft in die Komitees einzubringen, während die Minderheit, die „LCR uni-taire“ (einheitsorientierte LCR), wei-ter in ihr arbeitete, um sie in die richtige Richtung voranzubringen.

Im Oktober war eine weitere Etap-pe erreicht: Auf einer nationalen Ver-sammlung, an der 600 VertreterInnen der Einheitskomitees teilnahmen, wur-de ein Dokument mit 125 Programm-punkten angenommen, mit denen die

besten Forderungen aufgegriffen wurde, die in der sozialen, der Antikriegs- und der globalisierungskritischen Bewe-gung erarbeitet worden sind.5 Alle nen-nenswerten Maßnahmen, die von der auf Gesellschaftsveränderung gerichte-ten Linken und den sozialen Bewegung vertreten werden, fanden sich darin wie-der: Sie beziehen sich auf Entlassungen, Löhne, öffentliche Dienste, Einwande-rung, Wahlrecht für AusländerInnen, Ablehnung jeder Militärintervention – im Nahen Osten ebenso wie in Afrika, Solidarität mit Palästina usw. Ein ein-ziger bedeutsamer Punkt sorgte für ei-ne Auseinandersetzung und wurde mit einem positiven Kompromiss gelöst: die zivile Nutzung der Atomenergie; die tra-ditionelle Position der PCF ist bejahend, während die ökologisch orientierten Kräfte und wir für den Ausstieg aus der Atomenergie eintreten; es wurde vorge-schlagen, dass die Frage mit einem Re-ferendum gelöst werden soll, das nach einer öffentlichen Debatte in der gesam-ten Gesellschaft gelöst werden soll, wo-bei während dieser Debatte ein Morato-rium für den Bau neuer Atomkraftwerke gelten soll.

Die LCR-Mehrheit hat in diesen De-batten nicht viel einzuwenden gehabt, sie hat daran nicht teilgenommen, nach-dem sie sich ab September an den Rand begeben hat. Die Minderheit war stark präsent und trat für die traditionellen politischen Auffassungen der LCR auf, meistens erfolgreich.

Nach der politischen Übereinkunft blieb innerhalb der Komitees die Frage der Kandidaturen zu lösen. O. Besan-cenot und die LCR haben sich an den Rand gestellt, Olivier wollte nie ein An-wärter auf die Kandidatur aus der Bewe-gung heraus sein; aber trotzdem kamen in all diesen Monaten viele Aufrufe, er solle sich in die Sammlungsbewegung integrieren. Außer den beiden Hauptfi-guren (Bové und Buffet) kamen durch die Diskussionen andere Kandidaturen ins Gespräch – Personen, die keine Par-tei repräsentierten, jedoch die Zustim-mung von allen hätten finden können: Clémentine Autain, Yves Salesse, Clau-de Debons – Persönlichkeiten aus der Einheitsbewegung. Es kam darauf an, der PCF begreiflich zu machen, dass die Kandidatur ihrer Generalsekretärin [Marie-George Buffet] die Bewegung nicht zusammen bringen kann, denn das

5 Siehe http://www.alternativeunitaire2007.org/spip/article.php3?id_article=448

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würde sie in der großen Öffentlichkeit auf einen begrenzten Bereich um die kommunistische Partei herum reduzie-ren. In den Komitees kamen Diskussi-onen und Konsultationen in Gang. Jo-sé Bové zog sich [im November 2006] ohne große Erklärung zurück, er kriti-sierte die PCF, die ihre Generalsekretä-rin durchdrücken wollte, stellte aber vor allem fest, dass die Komitees sich nicht prioritär für seine Kandidatur ausge-sprochen hätten. Er blieb der Bewegung zwei Monate lang fern, um Mitte Januar wieder aufzutauchen, nachdem eine Pe-tition, die außerhalb der Bewegung ini-tiiert worden war, ihn wieder ins Spiel gebracht hatte.

Jetzt konnte es nur noch darum ge-hen, zu erreichen, dass die PCF eine Kandidatur von jemandem akzeptiert, die oder der nicht Mitglied der PCF ist, während sie nach dem Rückzug von Be-sancenot und von Bové zur dominie-renden Kraft in der Bewegung gewor-den war. Und es war das Ziel, diese bei-den zurück zu gewinnen.

Am 9. und 10. Dezember gelang es nicht, auf einer Versammlung mit über 800 Delegierten die Frage [der Kandi-datur] zu entscheiden; die Bewegung war aber stark genug, die PCF, die eine Mehrheit im Saal stellte, daran zu hin-dern, Marie-George Buffet als die Kan-didatin der Komitees durchzubringen. Die PCF geriet in eine beispiellose Kri-se: Unmittelbar danach entschied sie, ausdrücklich gegen den Willen der Ein-heitsbewegung vorzugehen und Buf-fet als Kandidatin im Namen der Partei antreten zu lassen; dazu wurde eine in-terne Abstimmung durchgeführt. Dabei stimmten 10 000 von den 50 000 Mit-gliedern, die teilnahmen, gegen die Kan-didatur der Generalsekretärin, da sie ei-ne andere Kandidatur lieber gesehen hätten, durch die die Einheit der Ein-heitsbewegung bewahrt geblieben wäre. Ganze Föderationen und Sektionen [Be-zirksverbände], nämlich die am meisten in der Bewegung engagierten, stimmten gegen die Mehrheit der Parteiführung, was ein äußerst bemerkenswertes Er-eignis gewesen ist, wenn man das inter-ne Funktionieren der PCF in Rechnung stellt. Einige traten aus, mehr aber ent-schieden sich dafür, sich [innerhalb der Partei] zusammenzuschließen, um die Debatte fortzuführen. Diejenigen, die sich „communistes unitaires“ nannten, bildeten einen öffentlich auftretenden Verein.

Die PCF machte zum ersten Mal ei-ne derartige Krise durch, die Oppositi-on stand auf einer linken antiliberalen Grundlage. Einmal mehr war die LCR bei dieser Kontroverse und diesen Dis-kussionen nicht dabei, mit ihrer Ableh-nung einer Einheitspolitik hat sie eine Gelegenheit verpasst, um Einfluss aus-zuüben und sich mit diesem Protest zu verbinden. Die LCR-Minderheit stand an der Seite der einheitsorientierten Mit-glieder der PCF und der Komitees.

GRIMM GEGEN DIE FüHRuNGEN DER PARTEIEN, DIE FüR DAS SCHEITERN VERANTWORTLICH GEMACHT WuRDEN

In der Zeit unmittelbar nach diesem Scheitern waren viele Aktive, aber auch viele WählerInnen enttäuscht, sie empfanden große Verbitterung. Die ei-ner Partei eigene politische Logik wur-de für die Spaltung verantwortlich ge-macht, wo doch ein politisches Über-einkommen möglich war und eine be-trächtliche Dynamik auf Wahlebene und in der Politik erzeugt worden wä-re.

Die LCR fand sich isoliert – nicht nur in weiten Teilen ihrer Wählerschaft, sondern auch unter SympathisantInnen und ihr sympathisierend gegenüber ste-henden AkteurInnen der sozialen Bewe-gung. Innerhalb der LCR verurteilten bekannte Mitglieder, ehemalige Mit-glieder und Vorzeigefiguren für den po-litischen Einfluss der LCR – auch sol-che, die nicht Mitglieder der Minder-heiten waren – diese Politik, die den Kandidaten der LCR um jeden Preis und gegen die Einheitsdynamik durch-setzen wollten.

Die Führung der PCF wurde für das Scheitern verantwortlich gemacht, die Krise brach auf, und die Wahlkampagne von Marie-George Buffet gewann kei-nerlei Dynamik.

Warum hat die PCF sich für das bra-chiale Vorgehen entschieden?Die PCF muss für ihr brachiales Vorge-hen mit einer Krise bezahlen, wie sie noch nie da gewesen ist. Viele dach-ten zunächst, sie träfe diese Entschei-dung, um zu ihrer Politik des Bünd-nisses mit der PS zurückzukehren. Eine einflussreiche Strömung innerhalb der Partei und ihrer Führung tritt für die-se Perspektive ein, doch scheint die ge-genwärtige Führung ihr nicht auf die-

sem Weg zu folgen. Es stellt sich her-aus, dass die PCF, die im Hinblick auf Wahlergebnisse sehr weit unten ist und nicht mehr sehr viele Mandatsträge-rInnen hat (22 Abgeordnete, die sie nicht mit Sicherheit behalten wird, so-wie in Gemeinden, die die PS droht abzuräumen), der Auffassung ist, ei-ne „Erholungskur in der Opposition“ werde ihr eher gut tun. Und zwar um-so mehr, als die Präsidentschaftswahl nicht viele andere Wahlmöglichkeiten bietet: Entweder gewinnt die Rechte, dann stellt sich die Frage des Regierens nicht. Oder die Kandidatin der PS ge-winnt, und was die neu formatierte PS dann suchen wird, ist dann eher eine Öffnung hin zur „Mitte“.

Für die Weigerung, den Platz für ei-ne Einheitskandidatur jemand anderem zu überlassen, gibt es zwei Gründe:• Interessant war diese Sammlungs-bewegung für die PCF nicht nur des-halb, weil sie sich hier mit der radi-kalen Linken zusammenfand, sondern weil so die Grundlagen für eine Samm-lung entstanden, die Sektoren der Op-position der PS einschließen und somit auf Kernschichten der linken Wähler-schaft abzielen könnte. Dass man sich seitens der PCF vielfach auf die Situa-tion in Deutschland bezog, legt davon Zeugnis ab, ebenso das Auftreten von Oskar Lafontaine auf Kundgebungen von Marie-George Buffet. Die PCF wartete ab, um zu sehen, wie die Strö-mungen der PS, die bei der EU-Verfas-sung für das „Nein“ eingetreten waren, nach der Kür von Ségolène Royal re-agieren würden, was eine Rechtswen-de der PS unter Beweis gestellt hat-te. Es geschah eben nichts: Nach die-ser Kandidatenkür schlossen die Strö-mungen des „Nein“, mit Ausnahme von einigen ganz wenigen, die Reihen mit der übrigen Partei, um gegen die Rechte Front zu machen. Die einzige Strömung, die als solche in der Samm-lung dabei war, Mélenchons PRS [Pour la République Sociale], gab Ende De-zember ihre Bankrotterklärung ab. Si-cher waren die Widersprüche innerhalb der PS vor einer Wahl, in der es darum geht, die Rechte nicht siegen zu lassen, geglättet. Und sie werden wieder stär-ker hervortreten, wenn die PS mit der Umsetzung ihrer Politik in der Regie-rungsverantwortung konfrontiert ist. Dies war in Deutschland der Fall, wo eben unter der Regierung Schröder der Bruch [von SPD-Mitgliedern] hinter

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Lafontaine [mit ihrer Partei] stattfand. Nachdem die PCF den Rückzug von Besancenot und Bové festzustellen hat-te, blieb ihr nur noch die Hinnahme ei-ner Koalition mit kleinen Strömungen der radikalen Linken, ohne Gegenge-wicht vonseiten der sozialistischen Lin-ken. Die PCF zog es vor, die Kampag-ne auf ihre eigene Rechnung zu führen und durchbrach den Konsens der Ko-mitees. Die wahre Differenz zwischen PCF und LCR lag in folgendem: Wie sollten die Konturen der Sammlungs-bewegung aussehen? „Radikale antili-berale Linke“ oder „Linke der pluralen Linken“, wie Olivier Besancenot den Gegensatz formulierte, oder „Linke der Linken“, wie die PCF es gerne gehabt hätte? Das ist eine Debatte, die es fort-zusetzen gilt, das war aber keine unü-berbrückbare Differenz, die die LCR daran gehindert hätte, in ein Bündnis hineinzugehen – im Gegenteil, die De-batte hätte im Verlauf von dessen Ver-wirklichung stattgefunden.• Der zweite Grund hat mit den Tradi-tionen der PCF zu tun. Um die stalinis-tische Ära, die ihre Arbeitsweise und das Parteiverständnis geprägt hat, zu beenden, nahm die gegenwärtige Füh-rung nur eine zaghafte und nicht son-derlich weit gehende Reform in An-griff. Die „Öffnung“ der PCF hat sich darauf beschränkt, dass sie bei voraus-gegangen Wahlen gemeinsamen Listen mit kleinen Kräften in ihrem Schlepp-tau zustimmte, wobei sie selber das Schwergewicht bildete. Dadurch dass sie dieses Schema in einer machtvollen einheitsorientierten Bewegung repro-duzieren wollte, prallte sie mit dieser Bewegung zusammen. Sie zeigte da-bei, wie unfähig sie war, deren Sinn zu begreifen. Es gab nur einige kleine An-sätze in Bezug auf Überlegungen und Debatten in der PCF über ein „Hinaus-gehen“ über die Partei zugunsten einer anderen Kraft. Die Kultur der Partei und ihrer Mitglieder bleibt ausgespro-chen „identitär“, auf Verteidigung „der Partei“ ausgerichtet, und solche Reflexe trieben ebenfalls in Richtung eines Zu-sammenpralls mit den Komitees.

Die Krise, die nun ausgebrochen ist, reicht außerordentlich tief. Was aus der PCF wird, bleibt für alle die, die sich die Frage einer neuen politischen Organisa-tion der Linken stellen, eine Frage, um die man nicht herumkommt. Trotz ih-res Niedergangs bleibt die PCF eine der Linkskräfte, die noch die meisten Ver-

bindungen zu den einfachen Schichten der Bevölkerung hat (weit mehr als die LCR mit ihren gleichauf liegenden Wer-ten bei [Umfragen zu den] Präsident-schaftswahlen, und auch mehr als die PS, die sich – vor dem Hintergrund der Ausübung von Regierungsverantwor-tung – schwer tut mit der Verankerung in diesen Schichten).

DIE KANDIDATuR VON JOSé BOVé KANN NICHT DIE DER EINHEITSBEWEGuNG SEIN

Nachdem er seine Kandidatur in den Komitees zurückgezogen hat, ist Jo-sé Bové Ende Januar zurückgekom-men, um zu verkünden, er kandidiere nun doch. Getragen wurde er von ei-ner doppelten Bewegung: einer Petiti-on, die 30 000 Unterschriften bekom-men hatte und die außerhalb der Komi-tees entstand und von einigen organi-siert worden ist, die das Projekt der Bil-dung einer politischen Strömung hinter ihm haben (bestimmte Strömungen der Ökologie- und der globalisierungskri-tischen Bewegung), sowie der Vorstel-lung, dies biete die letzte Chance, um PCF und LCR zu zwingen, mitzuma-chen und seine Kandidatur mitzutra-gen.

Ein Teil der Komitees hat sich, vor dem Hintergrund des aufgestauten Grimms gegen die LCR und die PCF dafür entschieden, sich dieser Kandida-tur zu bedienen, mit der Hoffnung, den Druck zugunsten der Einheit aufrecht zu erhalten, während ein anderer Teil der Komitees sich dafür entschied, keinen Kandidaten zu unterstützen und weiter für das Ziel zu arbeiten, die gesamte an-tiliberale Linke zusammenzubringen.

Die Kandidatur von José Bové hat die LCR nicht erschüttert: Der Vorschlag der Minderheiten, Besancenot solle sich mit Bové treffen, um über eine gemein-same Kandidatur zu diskutieren, so dass zumindest eine teilweise Einheit herge-stellt worden wäre, lehnte die Mehrheit der LCR ab. Von daher kann die Kandi-datur von Bové, die einer Strömung le-gitim erscheint, nicht so wirken, dass sie das Zusammengehen ermöglicht. Indem sie als dritte Kandidatur, die aus der Ein-heitsbewegung hervorgegangen ist, in Erscheinung tritt, unterstreicht sie eher noch deren Scheitern. Bei den Umfra-gen stagnieren die drei oder vier Kandi-datInnen, die sich auf den Antiliberalis-mus beziehen, zwischen jeweils 2 und

3 %. Die Komitees sind darüber gespal-ten, ob die Bové-Kandidatur opportun ist oder nicht. Manche versuchen, auf diesem Wege eine alternative politische Kraft zu bilden, die einen Raum zwi-schen PCF und LCR besetzen und die sich gegen beide aufbauen würde, wo-mit das Ziel der Einheitsbewegung zu-gunsten eines noch wenig definierten Ziels aufgegeben würde.

Bei der Präsidentschaftswahl 2007 wird es also keinen gemeinsamen an-tiliberalen Kandidaten geben, und das ist eine Niederlage, die von Tausenden von politisch Aktiven und Millionen von WählerInnen als solche empfunden wird.

WARuM HAT DIE LCR AN IHREM KuRS FESTGEHALTEN?

Die politischen Differenzen, die von der Führung der LCR genannt wor-den sind, erschienen als Vorwand, um ihre separate Kandidatur um jeden Preis zu rechtfertigen. Und zwar um so mehr, als die Übereinkunft eine Koali-tion vorsah, in der jede Partei oder po-litische Kraft ihre Autonomie behielt. Unserer Ansicht nach sind die Grün-de für die Weigerung der Mehrheit der LCR, sich in die Bewegung zu integrie-ren, folgende:• Die Mehrheit der LCR hat kei-ne Bilanz der Politik gezogen, die sie 2003/2004 betrieben hat; diese Poli-tik beruhte auf einer Übereinkunft mit Lutte Ouvrière (LO), ist auf Wahlebe-ne gescheitert und hat danach nicht im geringsten zu einem Effekt des poli-tischen Zusammengehens geführt. Die Ergebnisse sanken von 10 % der Stim-men 2002 auf 4 % bei den Regional-wahlen 2004 und auf 2,5 % bei den Eu-ropawahlen – diese Politik hat zur Iso-lierung geführt, dadurch dass Rech-te und Linke gleichgesetzt wurden und dass man sich weigerte, einen Dialog mit den auf der politischen Bühne exis-tierenden antiliberalen Kräften aufzu-nehmen.• Die LCR ist selbst auch Opfer des französischen Präsidialsystems gewor-den: Angesichts dessen, dass sie ei-nen jungen Kandidaten hat, der über die Massenmedien gut ankommt, hat sie sich über die politischen Einwän-de ihres aktiven Umfelds hinweg ge-setzt, auch mit der Hoffnung, ihr Kan-didat werde ein vorzeigbares Ergebnis bekommen (zwischen 3 und 4 %), und

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sie hat ihr Ziel auf die Konkurrenz mit LO und PCF reduziert. Anstatt bei dem Aufbau einer Einheitsbewegung einen Schritt nach vorne zu tun (der dazu in der Lage gewesen wäre, eine Dyna-mik in Gang zu setzen und über 10 % der Stimmen zu erreichen), hat sie eine Kandidatur vorgezogen, die die Iden-tität unserer Strömung hochhält. Das wird für das politische Zusammenge-hen keinem Schritt nach vorne ermög-lichen, und selbst ein gutes Wahlergeb-nis [beim ersten Gang der Präsident-schaftswahlen] wird sich bei den Parla-mentswahlen nicht wiederholen, da wir ja wissen, dass die LCR weder die Ver-wurzelung noch die Verankerung in der Bevölkerung hat, um das gleiche Kräf-teverhältnis zu erreichen.• Vor allem ist die LCR Opfer einer Art von Konservativismus geworden. In Anbetracht von 2500 Mitgliedern und einem Wahlergebnis, das manchmal 4 % der Wählerschaft erreicht, könnten viele Sektionen der Internationale diese Situation beneiden. Das ist jedoch noch kein Zeichen dafür, dass wir das ver-heißene Land erreicht haben und dass es ausreichen würde, dieses Ergebnis „zu verwalten“ und ansonsten auf die soziale Krise warten, in der wir dann als eine revolutionäre Partei auftauchen werden. Seit vielen Jahren haben wir in der LCR und in der Internationale die Überzeugung gewonnen, dass es Strö-mungen und Aktive zusammenzufüh-ren gilt, um zu breiten und Massenpar-teien zu gelangen und die Perspektive einer radikalen Gesellschaftsverände-rung voranzubringen, selbst wenn die RevolutionärInnen darin zu Anfang in der Minderheit sind. Wir stellten uns den Aufbau der revolutionären Partei nicht mehr als ein lineares Wachstum unserer Sektionen vor. Diese Errungen-schaft, die wir gemeinsam hatten, wird von der Mehrheit der LCR in Frage ge-stellt.• 2006/2007 ging es in Frankreich je-doch nicht in erster Linie um eine Dis-kussion um den Aufbau einer neuen Partei. Die antiliberale einheitsgerich-tete Sammlung ähnelte nicht den Pro-zessen, aus denen das entstanden ist, was mensch „breite Parteien“ der an-tikapitalistischen Linken genannt hat. In mehreren europäischen Ländern ha-ben Gruppierungen, die aus der radi-kalen Linken entstanden sind, eine in-telligente Politik der Öffnung zu füh-ren verstanden (in Portugal, Großbri-

tannien, Schottland, Dänemark…). In Frankreich sind alle Versuche, mit den Kräften der radikalen Linken eine brei-te Partei zu bilden, fehlgeschlagen; al-le Versuche der LCR, mit LO Überein-künfte zu erreichen, sind auf die sek-tiererische Politik von LO gestoßen. Dieses Mal ging es um etwas anderes: darum, ein Wahlbündnis aufzubauen, den Test einer erster Etappe für eine breitere Sammlung zu machen, auf der Basis eines antiliberalen Antikapitalis-mus, ein bisschen wie mit dem Bündnis WASG bei den Wahlen 2005. Hätte das Wahlbündnis in Frankreich das Licht der Welt erblickt, hätte sich selbstver-ständlich die Frage gestellt, wie der po-litische Raum zu organisieren ist, den man einnimmt, vielleicht zu einer Fö-deration von Parteien, Strömungen und Komitees überzugehen und auf längere Sicht auf alle Fälle zu einer politischen Sammelformation voranzuschreiten. Die LCR hat es aber abgelehnt, auch nur bei der Sammlung zu den Wahlen mitzumachen, sie wollte nicht den er-sten Schritt tun. Aus Angst, sie könnte „aufgesaugt“ werden und um kein Ri-siko einzugehen, hat sie es vorgezogen, sich auf die Pflege des eigenen Gärt-chens ihrer Partei und ihres Kandidaten zurückzuziehen.

Diese Politik wirft Fragen auf: Wenn wir kein Vertrauen mehr in unsere Ideen

und unser Programm haben (das nicht dazu da ist, im Kühlschrank aufbewahrt zu werden, sondern dazu bestimmt ist, einen beträchtlichen Teil der Arbeiter-klasse davon zu überzeugen, eine Kraft der Aktion und der Transformation zu werden), wenn wir nicht mehr dazu in der Lage sind, es mit der gesellschaft-lichen Wirklichkeit abzugleichen, wenn wir nicht darum bemüht sind, die po-litischen Kräfteverhältnisse innerhalb der Linken durchgreifend zu verändern, dann wird das zu einem Konservatis-mus, der mit unserem erklärten Ziel der Veränderung der Gesellschaft kaum in Einklang zu bringen ist.

Einige Genossinnen und Genossen der Internationale haben die Tendenz, den Aufbau der politischen Bewegung und die Frage der sozialen Kämpfe in der Debatte voneinander zu trennen: Es würde ihnen zufolge ein entschlossener und prinzipienfester Kern genügen, um in die sozialen Kämpfe zu intervenieren, die schließlich das entscheidende Ele-ment sind. Damit vergisst man, dass die Konkretisierung einer Alternative auf politischem Terrain ihrerseits die sozi-alen Kämpfe befördert und dass umge-kehrt die sozialen Kämpfe den Aufbau auf politischem Gebiet fördern sollten. Um einen nützlichen politischen Raum herauszubilden – nützlich in dem Sinne, dass Tausende von Aktiven in Ge-

Tausende Arbeiterinnen und Arbeiter, Frauen und Jugendliche interessierten sich für die Kampagne von Olivier Besancenot

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werkschaften und Verbänden damit ei-nen Ansprechpartner bekommen –, da-mit ein politischer Raum Struktur ge-winnt, in dem eine beträchtliche Frak-tion der Arbeiterklasse und der Jugend sich wiederfindet und sich organisiert, dafür ist eine politische Sammlung nö-tig: von parteilosen Aktiven, von Strö-mungen mit unterschiedlicher Tradi-tion und Geschichte, aus der radikalen Linken, aus der kommunistischen und der sozialistischen Partei, aus ökolo-gisch orientierten und alternativen Strö-mungen. Eine Sammlung, die sich den Fragen stellen muss, vor denen jede Par-tei steht, die ansatzweise einen bedeu-tenden Teil der Bevölkerung repräsen-tiert: die Fragen der Regierung, der par-lamentarischen Mehrheit, der Präsenz in den lokalen und regionalen Instituti-onen, ohne die antiliberalen Grundsät-ze zu verraten, ohne sich in Bündnissen zu kompromittieren, die den Kampf be-einträchtigen und die die Durchsetzung neuer sozialer Errungenschaften verhin-dern würden.

Eine Absage an solch eine offensive einheitsorientierte Politik in Frankreich wird ihre Auswirkungen auf Europa ha-ben. Die Verallgemeinerung einer „fran-zösischen Wende“ muss verhindert wer-den, damit würden wir uns an den Rand der Phänomene der Neuformierung in Europa stellen. Wir können es nicht ge-brauchen, dass die trotzkistischen poli-tischen Kräfte in dem Land, in dem sie eine ansehnliche eigenständige Kraft er-langt haben, jedwede Möglichkeit einer Einheitssammlung für eine linke Alter-native „einfrieren“.

DAS ENDE STEHT NOCH NICHT FEST

Es ist noch möglich, die Politik der LCR zu verändern, und wir werden uns darum bemühen. Es wird bei der Präsi-dentschaftswahl keinen Einheitskandi-daten geben, und unter diesen Bedin-gungen muss Olivier Besancenot antre-ten. Es ist aber noch möglich, über ei-nen Ansatz und eine Vereinbarung zu den Parlamentswahlen im Juni zu dis-kutieren. Es wird 580 Kandidatinnen und Kandidaten geben, es kann eine Vereinbarung getroffen werden, dass die LCR, die PCF, die Kräfte um Jo-sé Bové, die Einheitskomitees, die die ganzen Querelen überlebt haben (und das sind recht viele) sich in 150 bis 300 Wahlkreisen auf gemeinsame Kandi-

datinnen bzw. Kandidaten einigen. Es muss natürlich eine Vereinbarung ge-ben, dass man die Rechte schlagen, im Parlament in völliger Unabhängigkeit eine antiliberale Politik betreiben, sich nicht auf der Grundlage einer sozialli-beralen Politik an einer Regierung und einer parlamentarischen Mehrheit be-teiligen wird. Die Lage in Frankreich ist nicht stabil. Wenn die Rechte ge-winnt, wird die gesamte Linke, auch die PS, auseinander brechen, sie wird sich neu aufstellen müssen. Wenn die Linke gewinnt, besteht die Möglichkeit einer Übereinkunft zwischen einem Teil der PS und der rechten „Mitte“ (Bayrou und UDF), wie in Italien oder in Deutschland.

Eine „Wende in Richtung Einheit“ seitens der LCR wäre nach der Besance-not-Kandidatur notwendig. Das Schei-tern der Einheit bei der Präsidentschafts-wahl entzieht der Notwendigkeit nicht den Boden, hartnäckig auf diese Art von Einheit hinzuarbeiten, auf der Ebe-ne der unmittelbar gegebenen Situation in Frankreich, aber zweifelsohne auch für eine ganze Periode in Europa. Wenn für die Parlamentswahl in Frankreich ei-ne Vereinbarung zustande käme, würde die antiliberale Linke auch zur Nichtre-gierungslinken, denn zurzeit ist die PCF nicht darauf aus, in eine sozialistische Regierung einzutreten. (Wenn sie hier ihre Meinung ändern würde, würde ih-re interne Krise einen Höhepunkt errei-chen, denn es würden erneut Tausende von Mitgliedern gegen die Führung auf-stehen. Dann müsste man in dem Dis-kussionsprozess dabei sein, um in die-ser Krise einen gewissen Einfluss aus-zuüben.)

Dies ist übrigens eine Situation, die sich der Tendenz nach auf europäischer Ebene wiederfindet: Je weiter sich die li-berale Offensive entwickelt, desto mehr kommen die traditionellen Parteien [der Linken] unter Druck und verstärken ih-

re Wende zum Sozialliberalismus6; auf der anderen Seite zeichnen sich aber noch stärker Perspektivkrisen in diesen Parteien ab. In Deutschland hat die Re-gierungspolitik Schröders und dann die Bildung der Großen Koalition ein Zu-sammengehen eines Flügels der SPD mit der PDS und einem Teil der radi-kalen Linken bewirkt. In Italien löst die Regierungskoalition von Prodi eine Kri-se in Rifondazione aus. In Frankreich steht die PCF heute, die keine Wieder-holung der „pluralen Linken“ hinkrie-gen kann und will, vor schweren Wider-sprüchen, und morgen wird das für die PS so sein. Man muss sich darauf vor-bereitet haben, um aktiv in diese Krisen einzugreifen, die zunehmen werden.

Was unsere italienischen Genos-sinnen und Genossen gemacht haben, ist ein gutes Beispiel. Es war notwen-dig, dass sie vor 15 Jahren mit ihren be-grenzten Kräften in Rifondazione ein-traten, in das Produkt der Spaltung der italienischen kommunistischen Partei. Als sie mit dem Eintritt von Rifonda-zione in die Regierung Prodi konfron-tierte waren, haben sie sowohl ihre Un-abhängigkeit gegenüber der Regierung als auch ihre Treue zur sozialen Bewe-gung unter Beweis gestellt, ohne jedoch eine Politik des Schlimmeren zu betrei-ben und für die Rückkehr von Berlusco-ni an die Macht verantwortlich zu wer-den. Die Italien-Debatte wird bei der Parlamentswahl in Frankreich wichtig werden, wegen einer PCF, die es zur-zeit ablehnt, den Weg von Rifondazio-ne zu gehen, aber zögert, welche Poli-tik sie einschlagen soll. All diese Debat-ten werden in der europäischen Linken geführt werden. Wir müssen es verste-hen, da eine Antwort zu geben – nicht nur mit einer Bekräftigung der Prin-zipien, die wir vom Straßenrand aus de-klamieren, sondern mit einer konkreten Politik der Herstellung von Sammlungs-projekten, die die Grundsätze der Klas-senunabhängigkeit bewahren, und die den Lohnabhängigen eine Gelegenheit bieten, sich in die Debatten um eine al-ternative Politik zu der des Soziallibera-lismus einzubringen. In diese Prozesse werden wir unsere Vorstellungen ein-bringen und vorantreiben.

27. Februar 2007Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Fried­rich Dorn.

6 siehe hierzu Fußnote 2

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Liebe GenossInnen,

nach reiflicher Überlegung schicke ich Euch diesen Austrittsbrief. Der Grund hierfür ist einfach: Die Führung der LCR hat die Organisation auf einen sektiererischen Weg gebracht, der ihre Abendung von der Massenbewegung zur Folge hat. Immer weitere Nach-forderungen im Programm, einseitige Analysen, Unterschätzung des Poten-zials der Einheitskollektive – dies hat sich im Verlauf der vergangenen Mo-nate verstärkt.

Die LCR trägt eine schwere Verant-wortung für den vorhersehbaren Miss-erfolg des Prozesses, weil sie einen Al-

leingang gemacht und somit das Feld der KPF überlassen hat. Und sie wird auf Dauer als Schuldige des Misser-folges angesehen werden. Zu glau-ben, die neue antikapitalistische Kraft könnte ohne die in den Kollektiven en-gagierten Männer und Frauen aufge-baut werden, stellt eine Flucht nach vorn dar, die nicht leicht wieder rück-gängig gemacht werden kann.

Was meine Person betrifft, so ist mein Auftreten mit der Zugehörigkeit zu einer Organisation unvereinbar ge-worden, die das Gegenteil von dem macht, wofür ich eintrete.

Dieser Austritt stellt somit eine in-tellektuelle Wegbegradigung dar, die

andere konkrete Schritte nach sich zieht, um den Bruch wirklich durchzu-führen:• ich werde nicht mehr in der Pres-

se der Ligue schreiben (Rouge, Cri­tique communiste und Inprecor);

• ich beende mein Abonnement für di-ese Zeitungen;

• ich nehme nicht mehr am Wirt-schaftsbeirat, den Schulungen und der Sommeruniversität teil;

• ich stelle meine Beitragszahlungen ein.

Für die Einheit, Michel Husson

24. Dezember 2006

Wir veröffentlichen hier die Austrittserklärung von Michel husson aus der Ligue communiste révoluti-onnaire (LCR) und die Antwort, die Daniel Bensaïd an ihn geschickt hat. Ursprünglich war dieser Brief-wechsel nicht zur Veröffentlichung bestimmt. Da aber der Austrittsbrief von Michel husson im Internet verbreitet wurde und die französische Presse ihn mit Kommentaren veröffentlicht hat, bringen wir hier die Texte mit Zustimmung der Autoren.Michel husson war vor allem in der Arbeitsgruppe Wirtschaft (GTE) der LCR und im Bildungswesen ak-tiv. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Artikel zu wirtschaftspolitischen Themen, von denen einige auch in der Inprekorr erschienen sind.

Austrittserklärung aus der LCR

Brief an Michel husson, von Daniel BensaïdLieber Michel,ich bedanke mich für Deine guten Wün-sche zum Neuen Jahr und wünsche Dir ebenfalls ein gutes Neues Jahr. Aber ich möchte auch auf Deinen Austritts-brief reagieren. Nicht um Dich zu über-zeugen, ihn zurückzuziehen, denn ich weiß, dass dies vergebliche Liebesmü-he wäre. Aber für eine – selbstverständ-lich politische – Trennung ist Deine Ar-gumentation ziemlich lakonisch. Deine Entscheidung macht mich traurig, aber sie überrascht mich nicht. Doch das En-de eines langjährigen Engagements in und mit der Ligue verlangt nach mehr als einer flüchtigen Stellungnahme. Es geht hier um den Respekt für die Ver-gangenheit und um eine Art und Weise, die Zukunft nicht zu verbauen.

Ich weiß sehr wohl, dass die Schlacht um die Einheitskandidatur zu den Präsidentschaftswahlen dauerhafte Frustrationen zurückgelassen hat. Di-ese Frustrationen und schlechten Ge-

fühle fallen umso bitterer aus, als die-se Erfahrungen unter Bedingungen po-litischer Konfusion gemacht werden mussten.

Ich bin mir auch wohl bewusst, dass die Ligue ihren Teil der Verantwortung überdenken muss. Wir geben nicht vor, dass wir ohne Schuld gewesen wären, und ich bin überzeugt, dass die Annah-me der vom Juni-ZK beschlossenen Schritte durch den Parteitag vom Ja-nuar 2006 es uns ermöglicht hätte, uns früher und offensiver in eine politisch klarere Vorgehensweise einzubringen.

Trotz dieses Eingeständnisses sind die Verantwortlichkeiten jedoch sehr, sehr ungleich verteilt. Aber wahr-scheinlich haben wir in diesem Punkt die größten Meinungsverschieden-heiten.

1. Meiner Meinung nach müssen wir von der Einschätzung der politischen Lage in den vergangenen Jahren aus-

gehen, besonders von den anhalten-den Auswirkungen des Neins beim Re-ferendum über die europäische Ver-fassung. Diese Auseinandersetzung ist und bleibt (auch für die Perspektiven bis 2008) sehr bedeutsam für die fran-zösische und die europäische Szene. Es ist jedoch illusorisch, hier einen aus-reichenden und definitiven Punkt des Bruchs zu sehen, der stabil genug wä-re, um eine programmatische Basis für eine politische Umgruppierung darzu-stellen. Die Signale, die auf die Gren-zen dieses Bruchs verweisen, zeigten sich sehr rasch: die Synthese (der PS) von Le Mans, der Versuch der KPF, darin in der ersten Zeit einen positiven Versuch zu sehen, die ganze Linke zu versammeln, die Niederlage der Linken bei den Grünen, das Projekt der Sozia-listInnen, das zum Aufstieg von Ségo-lène Royal und dem Scheitern von Fa-bius-Mélanchon führte. Auch die Kri-se von ATTAC kann man auf dieses

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Klima zurückführen. Die Annäherung von Montebourg und Chevènement an Royal führten auf der Linken zu einer „Segolenisierung“ und einer (zumin-dest vorläufigen) Vernarbung der durch das Referendum geschlagenen Wun-den (wie dies Noblecourt vor kurzem ziemlich treffend in Le Monde festge-stellt hat).

2. Diese Dynamik in Richtung eines „Alle außer Sarkozy“ war vorherseh-bar, weil es keine bedeutsamen sozialen Siege gab (sofern man die Reichweite eines Sieges, der gerade wegen seiner Seltenheit sehr bedeutsam war, näm-lich der Sieg gegen das CPE-Gesetz, nicht überschätzen möchte); sie ist Teil einer Dynamik, die auf spektakuläre Weise durch die Annäherung von Ri-fondazione comunista (RC) an die Re-gierungsmehrheit von Prodi in Italien, deren Preis wir kennen, markiert wird. Es gibt hier eine Veränderung der Lage, auf die wir reagieren müssen. Die Zu-nahme von sozialen Bewegungen war nicht von entsprechenden politischen Umgruppierungen begleitet, so dass wegen der Beschränktheit der Kämp-fe der (globalisierungskritischen) „Be-wegung der Bewegungen“ die Hoff-nungen auf Veränderung (oder auf das kleinere Übel) sich auf die Wahl- und die politische Ebene verschoben haben. Und dies geschieht trotz allem zuguns-ten von politischen Kräften, die sich der Glaubwürdigkeit erfreuen, eine Re-gierung bilden zu können. So kann der Weg zwischen einer radikalen Rheto-rik und einem parlamentarischen Pseu-dorealismus ziemlich kurz sein. Wir se-hen das in Italien (und in Deutschland in anderer Form), und wir werden dies vielleicht bald in Holland, und evtl. in Frankreich zu sehen bekommen. Unter solchen Bedingungen ist es für mich unverantwortlich, wenn vorgegaukelt wird, eine gegen den Neoliberalismus gerichtete Kandidatur könne ein zwei-stelliges Ergebnis bekommen oder „zur Gewinnerin“ avancieren (dass es darü-ber bei den AktivistInnen Illusionen gibt, ist eine Sache, dass erfahrene AktivistInnen aber solches sagen, oh-ne daran zu glauben, ist pure Demago-gie) oder wenn behauptet wurde, dass die Kandidatur von Royal „eine breite Straße“ für die radikale Linke schaffen würde. So läuft die politische Entwick-lung ganz und gar nicht ab, und wenn die Straße wirklich so breit gewesen

wäre, dann hätte die Ligue überhaupt nicht die Fähigkeit besessen, sie auf ein Sträßchen zu reduzieren.

3. Kommen wir nun zu den direkten Verantwortlichkeiten. Die Verantwor-tung der KP (für das Scheitern der Einheitskandidatur) ist heute in aller Munde. (Manchmal wird von Journalis-tInnen dieselbe Verantwortung der Li-gue zugeschoben und von einem „Spiel der Apparate“ oder den „Interessen der Boutiquen“ gesprochen.) Man wirft der KP lauthals ihren Überfall auf die Kol-lektive vor. Meiner Meinung nach ist dies kein guter Vorwurf, auch wenn die Führung der KP ihre rechte Linie wie gewöhnlich draufgängerisch und oh-ne Fingerspitzengefühl durchgezogen hat. (Dies war aber weitgehend vor-hersehbar, sofern man die KP nicht als zentristische Partei behandelt, die aus Konfusion zögerlich ist und die man nur etwas drängen muss, indem man einigen Führern etwas ins Ohr flüstert, damit sie sich für die richtige Richtung entscheiden.) In Wirklichkeit brauchte die KP aus internen Gründen eine Ei-genkandidatur, für die sie aber gerne die Salbung einer Einheitskandidatur gehabt hätte (wie schon bei den Regio-nalwahlen). Was man ihr in politischen Begriffen vorwerfen kann (und eben nicht als schlechtes Verhalten) ist, dass sie alles getan hat, um der Debatte über die Orientierung der Bündnisse aus-zuweichen (die sich aber unvermeid-lich mit dem Näherkommen des Wahl-tages eingestellt hätte). Dadurch woll-te sie freie Hand behalten und gleich-zeitig Verhandlungen mit der PS führen (was sich heute bestätigt, man denke an die Erklärungen von Jean Louis Bian-co auf France-Inter oder die Bekennt-nisse von kommunistischen Führungs-personen). Dies ist eigentlich ganz lo-gisch. Überraschend ist nur, dass einige die Überraschten spielen. Weil aber mit der KP keine zeitige Diskussion über eine genauere Orientierung stattfand, kann man ihr schlecht vorwerfen, das Kräfteverhältnis und ihre AktivistInnen für sich ausgenutzt zu haben (während das nationale Kollektiv wohl auf die Unterschriften der BürgermeisterInnen der KP und ihren Apparat zählte); denn in den Kollektiven haben die Genos-sInnen der KP die gleichen Rechte wie alle anderen auch.

4. Was jedoch zutrifft ist, dass ich

den fortgeschrittenen Krisenzustand der KP und den Preis, den sie für ih-re Zickzack-Politik zahlen sollte – die darin besteht, mit beiden Händen auf zwei Tischen zu spielen –, unterschätzt habe. Die Ablehnung der Kandidatur von Buffet durch 20 Prozent der sich an der internen Abstimmung beteili-genden GenossInnen zeugt von einer tiefgreifenden Malaise. Welchen po-litischen Ausdruck diese annehmen wird, steht nicht von vornherein fest. Dies hängt von einer Vielzahl von Din-gen ab, von den Kämpfen und ihren Ergebnissen, aber – wie immer - auch vom Wahlergebnis. Mittlerweile haben wir mehrere Generationen von Opposi-tionellen erlebt, die um innere Demo-kratie gekämpft haben, die sich aber aus Furcht vor einer Marginalisierung in den Schoß einer aufgeklärten So-zialdemokratie geflüchtet haben: von Fizbin bis Fiterman über – etwas we-niger ausgeprägt – Juquin, von Llabres nicht zu reden. Ich betone nochmals: Der „Raum der Radikalität“ ist kein leerer Raum, den man einfach besetzen kann, sondern ein Feld sich bekämp-fender Kräfte, in dem die Gesetze der Physik gelten – und besonders das der Anziehungskraft. Das Problem liegt da-rin, dass man es der KP erlaubt hat, die Fragen der Bündnisse und der Regie-rungsbeteiligung einerseits unter dem Vorwand, sie seien im Text der Kollek-tive behandelt, andererseits sie seien nicht aktuell, auszulassen, was zur Fol-ge hatte, dass sich die Brüche in der KP zur Stunde weit mehr auf Methodenfra-gen beziehen als auf solche der Orien-tierung, so dass man nicht sagen kann, dass aus diesen Brüchen unvermeidlich der Beginn einer realen politischen Al-ternative erwächst.

5. Die Verantwortung des nationalen Kollektivs (oder jedenfalls seiner wich-tigsten FührerInnen) ist für mich bei diesem Auseinanderdriften mindestens genauso groß wie die der Führung der KP. Sie haben nämlich geglaubt, die KP umgarnen zu können, indem man be-stimmte Fragen einfach ausließ – auch die zentrale Frage der Regierungsbetei-ligung, die von der Ligue gestellt wur-de – oder einfach behauptete, sie seien gelöst, was sowohl die FührerInnen der KP wie die Leitung der Ligue bestrit-ten. Sie glaubten, die KP gewinnen zu können, indem sie ganz schnell auf die Kandidatur von Bové verzichtet haben,

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der trotz seiner Schwächen der ein-zige gewesen wäre, verschiedene Strö-mungen zusammenführen zu können, wenn es zu einem politischen Abkom-men gekommen wäre.) Sie meinten wohl, eine Kandidatur von Clémenti-ne Autain oder Yves Salesse würde von Bocquet, Gérin, Marchand etc. leich-ter akzeptiert werden. Wir wissen, wo-hin sie diese Verblendung geführt hat: Man bat schließlich (am Morgen vor der internen Abstimmung in der KP!) Wurtz (Europa-Abgeordneter der KP), ohne dass dieser zunächst davon wuss-te (und ohne seine Zustimmung einzu-holen), inständig um eine Kandidatur. Nebenbei gesagt ist es ziemlich bedau-erlich, dass auch ein Führungsmitglied der Ligue sich an diesem genauso lä-cherlichen wie verzweifelten und er-niedrigenden Vorgehen beteiligt hat. Man kann den Umfang der im Kollek-tiv vorhandenen Illusionen ermessen, wenn man festhält, dass sowohl Yves (Salesse) wie Clémentine (Autain) ih-re (sich gegenseitig eine Niederlage beibringende) Konkurrenzkandidatur bis zum Schluss aufrecht erhalten ha-ben, trotz ihrer oft wiederholten Beteu-erungen, sie hätten keine persönlichen Interessen: Wenn solches der Fall ge-wesen wäre, warum haben sie dann nicht eine Einheitskandidatur eines/r Parteilosen gegen Buffet ins Spiel ge-bracht?

6. Die Diskussion mit der KP haupt-sächlich auf ihre Methoden zu bezie-hen, scheint mir nicht die beste Debat-te zu sein. Denn das setzte einen demo-kratischen Charakter der Basiskollek-tive und einen Grundkonsens im Hin-blick auf die massive Beteiligung von KP-Mitgliedern voraus. Der Konsens stellt ein mögliches demokratisches Vorgehen dar (das aber Schwierig-keiten bereitet, auch wenn die Lehrer-gewerkschaft Ecole Emancipée da-mit jahrzehntelang klargekommen ist), das aber auf der Grundlage einer star-ken Homogenität der betroffenen so-zialen oder politischen Gruppe oder auf der Basis einer vorher getroffenen grundlegenden Vereinbarung erfolgen muss. Weil einige für den Wahlkampf (und darüber hinaus) wichtige Fragen einfach ausgeklammert statt diskutiert und geklärt wurden, wurde es unver-meidlich, zur Abstimmung zu schrei-ten (denn der Konsens ist eine lang-same Prozedur, wenig geeignet für

schnelle Entscheidungen und den Ab-lauf eines Wahlkampfes). Dies scheint mir offensichtlich zu sein, und ich ha-be dies in Dijon zum großen Erstaunen der GenossInnen, die ganz ehrlich an ein Vorgehen gemäß doppeltem Kon-sens glaubten, auch öffentlich gesagt (kurz vor dem Rückzug von José Bo-vé). Dafür bräuchte es aber zunächst einen Konsens über den Konsens, was man sich nur vorstellen kann, wenn es unter bekannten Partnern ein sehr star-kes gegenseitiges Vertrauen gibt. Doch wie soll man unter einigen Tausend Ak-tivistInnen einen solchen Konsens her-stellen, die meistens nur ein oder zwei Treffen miteinander hatten? Zweifel-los sind die Kollektive seit Herbst deut-lich angewachsen (selbst wenn man die Gruppen abzieht, die nur Parallelstruk-turen der KP waren), aber in den meis-ten Fällen handelte es sich um Wahl-kollektive (für die Wahlkämpfe in die-sem Frühjahr), die auf recht wenig ge-meinsame konkrete tägliche Praxis in Gegenwart und Vergangenheit zurück-greifen konnten. Unter solchen Bedin-gungen wurde die Abstimmung unver-meidlich und darin liegt (zumindest für mich) ein erhebliches demokratisches Problem. Denn worin besteht die Legi-timität einer Abstimmung ohne vorher festgelegte Kriterien, wenn der/die zu-letzt Angekommene die Türe aufmacht und ohne politische Arbeit, ohne finan-zielles Engagement, ohne Debatte oder Kongress einfach abstimmt? Die De-mokratie verlangt immer nach einer gewissen Dosis Formalismus. Dass die PS die Mitgliedschaft auf die Bezah-lung von 20 Euro reduziert, ist in die-ser Hinsicht beunruhigend: Die Leute werden Mitglied, um abzustimmen und nicht um sich zu engagieren. Wir be-fürchten, dass bei dieser „Meinungsde-mokratie“ mit plebiszitärer Logik – un-ter Mithilfe der gegen Organisationen gerichteten Demagogie – auch die ra-dikale Linke kontaminiert wird.

7. Wir müssen kollektiv den Teil der Verantwortung klären, der der Li-gue zufällt. Dazu zählen die schwache Sichtbarkeit unseres Kampfes um eine Einheitskandidatur in Richtung auf die Führung der KP (trotz der Briefe ohne Antwort, die zu wenig verbreitet wur-den). Zweifellos. Vorschneller Rückzug von GenossInnen aus zahlreichen Kol-lektiven, wiewohl das ZK das Gegen-teil beschlossen hatte? Auch dies trifft

wohl zu (ich kenne viele Fälle, bei de-nen der Grund für den diskreten Rück-zug in der Funktion der Kollektive lag, die sich nur auf die Wahlkämpfe orien-tierten.) Aber ich glaube, dass die vom ZK vorgegebene und auf dem Juni-ZK verdeutlichte Orientierung glasklar und ehrenhaft war. 1. Die Ligue macht Oli-vier Besancenot zu ihrem Kandidaten; 2. Sie zieht ihn zurück, wenn ein Ab-kommen über den Inhalt und vor allem über die Bündnisse zustande kommt; 3. Sie kämpft dafür auch weiterhin in den Kollektiven. Dass dieses Vorgehen von vielen AktivistInnen um uns her-um und in den Kollektiven nicht ver-standen wurde, ist eine Tatsache. Doch Punkt 1 war nur logisch: Die Diskussi-on zog sich – gewollt oder nicht – hin, ohne dass wir eine Antwort auf die Fra-gen erhielten; ohne Diskussion wurden die Änderungsvorschläge von Aubag-ne, die auf der nationalen Konferenz der Kollektive vorgetragen wurden und die explizit die Frage einer Kandidatur von Führungsmitgliedern der Organi-sation aufwarfen, auf Eis gelegt. Punkt 2 war eindeutig: Im Falle eines Abkom-mens würde Olivier nicht Kandidat sein und könnte auch nicht die Verschieden-heit der aus dem linken Nein hervorge-gangenen Einheitsströmung repräsentie-ren. Die KP hat sich niemals zu einem solchen Vorgehen verpflichtet, und es war ein bisschen spät, ihr dies nach den Wahlen in den Kollektiven vorzu-werfen. Aus dieser Position ergab sich auch, dass Olivier nicht der sechste Kandidat für die Präsidentschaftskan-didatur sein konnte, wie einige (auch in der Ligue) sich dies wünschten, um ein Gegengewicht zur Kandidatin der KP, Marie Buffet, zu bilden. Hätten wir dieses Spiel (zugunsten eines „bo-napartistischen“ Kandidaten oder ei-ner Kandidatin) oder zugunsten eines/r „Unorganisierten“ – wobei diese „Un-organisiertheit“ doch ziemlich fiktiv ist – mitgespielt, dann wäre die Krise der Kollektive als Konsequenz einer Aus-einandersetzung der Apparate von KP und Ligue erschienen, ohne dass es die mindeste politische Klärung gegeben hätte. Wenn wir annehmen, dass in den Augen der Führenden der angenom-mene Text hinsichtlich der Bündnisse unzweideutig gewesen wäre, dann wä-re es ein Leichtes gewesen, ihn zu be-stätigen und ihn anlässlich der offizi-ellen Ernennung von Ségolène Royal zur PS-Kandidatin zu erklären. Warum

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ist dies nicht geschehen? Eben weil es ein Problem gab, an das zu erinnern die Episode um die Stadtratswahlen in Bordeaux ausreichen dürfte.

8. Die LCR war also bereit, auf eine eigene Kandidatur zu verzichten, wenn die Garantien das Opfer aufgewogen hätten. Dies seien die „Interessen des eigenen Ladens“, meinten einige (dar-unter die Leitartikler von Libération, die ein Laden eigener – journalistischer – Art ist; es gibt sogar „freie Individu-en“, die für sich allein einen kleinen „Laden“ führen). Ein solcher Verzicht liegt dauerhaft als eine Hypothek auf der Organisation, d. h. ihrer politischen Freiheit. Einerseits weil die Präsident-schaftswahlen nicht einfach eine Wahl unter anderen sind – sie verteilen die politischen Karten auf Dauer und sie bezeichnen die Kraftlinien (wir konn-ten diese Erfahrung 1974 und 2002 machen!). Andererseits haben sie zahl-reiche materielle Konsequenzen hin-sichtlich der Mittel, bei den Wahlen zur Nationalversammlung eine Reihe von KandidatInnen aufstellen zu können, deren Wahlergebnisse die Grundla-ge für die öffentliche Parteienfinanzie-rung sind, etc. Dies ist natürlich trivial. Trotzdem bedeutet es, dass, wenn man nicht an den Wahlen teilnimmt (und so-gar François Bayrou von der liberalen UDF hat es begriffen), man hinsicht-lich der großen Pfeiler der beiden den Präsidenten/die Präsidentin stützenden Parteiengruppierungen in eine anhal-tende Lage der Subalternität gerät. Di-es wäre hinnehmbar. Aber dafür darf die Wette über den Aufbau einer Alter-native nicht bei tausend zu eins (oder gar einer Million zu eins) liegen: In an-deren Worten, es muss nicht ein um-fängliches, aber doch ein ausreichend klares Abkommen über die wesent-lichen Fragen (und die Regierungsfra-ge gehört offensichtlich dazu) sowie eine ausreichend erprobte gemeinsame Praxis geben, damit eine gemeinsame politische Kraft eine gute Chance be-sitzt, ihren Weg gehen zu können.

9. Nochmals, der Schaden ist erheb-lich, aber die Frage einer Umstruktu-rierung auf der Linken und einer po-litischen Alternative bleibt struktu-rell erhalten. Natürlich sind die Akti-vistInnen, was immer ihre Begrenzt-heiten sein mögen, die im Kollektiv vereint sind, aber auch die GenossInnen

der KP, Bestandteile der Gleichung und es wäre illusorisch, auf eine spontane Generation zu setzen, die das Alte jen-seits jedes Zwischengliedes umstür-zen könnte. Die Frage bleibt also auch über die Wahlen hinaus gestellt, in un-terschiedlichem Rahmen, je nachdem ob die Rechte oder die Linke gewinnt und ob es bedeutsame soziale Kämpfe geben wird oder nicht. Jedenfalls ist es nicht meine Idee, das Kapitel zu schlie-ßen, nach der Pause zu pfeifen oder ein-fach heim zu gehen. Sondern zu verste-hen, dass es sich um eine Schlacht um Vereinheitlichung und nicht um einen ökumenischen Feierabend handelt. Die Entwicklung der kritischen Strömungen in der KP steht umso weniger von vorn-herein fest, als es keine Opposition gibt (etwa die Erneuerer), sondern eine Viel-zahl von Gruppen mit starken lokalen Charakteristiken und unterschiedlichen Differenzen. Wenn auch vorhersehbar ist, dass der Druck der Institutionen schwer auf ihnen lastet, so geht es nicht darum, aus diesen Erfahrungen die ent-scheidende Bruchstelle mit der Mehr-heit der GenossInnen in der KP zu ma-chen oder sie hinsichtlich ihrer Metho-den zu beschimpfen, statt mit ihnen ei-ne gründliche Diskussion zu führen. Die Diskussion und die gemeinsamen Akti-onen müssen soweit wie möglich wei-tergehen. Schließlich ist die Debatte, die man wenigstens mit einem Teil der AktivistInnen (und der Führenden) der Kollektive führen muss, eine doppelte: Braucht man für den Aufbau einer Al-ternative Geduld? Oder muss man ein-fach die Linke umgruppieren, wie ein

Onfray dies resignativ meint? Aber es stellen sich auch Fragen des Verhält-nisses zwischen politischen Organisa-tionen und sozialen Bewegungen, die in anderer Form auch eine grundsätz-liche Frage der Politik und der Demo-kratie sind.

10. Eine letzte Sache noch im Hin-blick auf die Begründung für Deinen Austritt. Zu schreiben, die Ligue wür-de „der Massenbewegung den Rü-cken kehren“, ist zumindest übertrie-ben und unvorsichtig – sofern man die Massenbewegung nicht auf die Kollek-tive und das nationale Kollektiv redu-zieren möchte. Dies wäre ein Zeichen einer sehr düsteren Einschätzung der Massen und des Kräfteverhältnisses. Und ein Grund, sich umso mehr an die Prinzipien zu halten, um dem ins Ge-sicht blasenden Wind zu widerstehen. Doch in dieser Lage sind wir nicht. Die „Massenbewegung“ ist glücklicherwei-se breiter und diversifizierter als unse-re jeweiligen Mikrokosmen. Ich möch-te mit diesen Zeilen keinesfalls glauben machen, meine Seele gerettet zu haben, und grüße Dich ohne Groll mit der glei-chen Hochschätzung und Gewogenheit wie immer. Selbstverständlich stehen Dir trotz Deiner Ablehnung, weiter in den Publikationen der Ligue zu schrei-ben – ich vermute, dass dieser Rückzug auch für die Humanité gilt – die Rei-he Contretemps und die Kollektion „La Discorde“ weiterhin offen.

In FreundschaftDaniel Bensaïd

Michel Husson (li) verabschiedete sich aus der LCR, Daniel Bensaid (oben) antwortet auf die Austritts-erklärung

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DäNEMARK

„In Erinnerung: Jagtvej 69, 1897–2007“ – Das stand auf einer Kranzschleife vor dem Ungdomshus (Jugendhaus) im Ko-penhagener Jagtvej 69, während Bull-dozer und Abrissbirnen das Gebäude zerstörten und die bisherigen Nutze-rinnen und Nutzer vom gegenüberlie-genden Bürgersteig heulend zusahen. Aber der Kampf für ein neues Haus wird mit täglichen Kundgebungen und Happenings fortgesetzt, und im Stadt-rat fordert u. a. die rot-grüne Einheits-liste eine politische Lösung.

Das historische Haus am Jagt-vej 69 war immer Teil des politischen Kampfs. Es wurde 1897 von Arbeitern errichtet, die einen Platz für Versamm-lungen brauchten. Jahrzehntelang war es unter dem Namen „Arbeiterpalast“ Zentrum für Feste und Kämpfe. 1901 wurde die erste Frauengewerkschaft (KAD) in diesem Haus gegründet, und 1910 rief Clara Zetkin hier den Interna-tionalen Frauentag aus. Sowohl Lenin als auch Rosa Luxemburg haben hier gesprochen.

Seit 1982 war das Haus ein auto-nomes Kulturzentrum gewesen. Unter starkem politischem Druck mit Haus-besetzungen und Demonstrationen gab die Stadtregierung das Haus der Jugend zur Nutzung. Seither war das Haus vollständig selbstverwaltet und bildete

als Zentrum der autonomen politischen Kultur einen Kristallisationspunkt der alternativen Musikszene ganz Skandi-naviens.

1999 traf der Stadtrat die fatale Ent-scheidung, das Haus zu verkaufen. Im Jahre 2000 wurde es von einer kleinen christlich-fundamentalistischen Sek-te gekauft. Obwohl eine von Gewerk-schaftsführern, Rechtsanwälten und früheren Nutzerinnen und Nutzern ge-gründete Stiftung anbot, das Haus zu kaufen, suchte die Sekte die Konfron-tation und behauptete, die Nutzer wür-den auf der Seite des Satans kämpfen. Nach einer Reihe juristischer Ausei-nandersetzungen errangen die Christen im August den juristischen Anspruch auf das Haus.

DER KAMPF …

Am frühen Morgen des 1. März setzte ein Militärhubschrauber eine Antiter-roreinheit der Polizei auf dem Dach des Hauses ab. Die Räumung hatte begonnen. In den folgenden Stunden sammelten sich DemonstrantInnen auf den Straßen und Plätzen um das Ge-bäude. An der Polizeikette kam es zu Auseinandersetzungen. Die Polizisten erklärten die Demonstration für auf-gelöst, und in den nächsten zwei Ta-

gen breiteten sich Straßenschlachten mit brennenden Autos, Barrikaden, Tränengas und Pflastersteinen auf ver-schiedene Teile der Stadt aus. Mehr als 750 Personen wurden verhaftet. Ohne richterlichen Durchsuchungsbeschluss stürmten die Polizisten politische Or-ganisationen, darunter die Rechtsgrup-pe des Jugendhauses. Die Polizisten griffen private Häuser und linke Wohn-gemeinschaften an und verhafteten je-den, den sie antrafen. Friedliche De-monstrationen wurden ohne Vorwar-nung mit Tränengas und Schlagstöcken attackiert. Wen die Polizisten erwi-schten, der wanderte den Verteidigern zufolge automatisch mehrere Wochen in den Knast, und Kinder unter 15 wur-den zusammen mit Erwachsenen ein-gesperrt. „Das Gericht wurde zur juri-stischen Irrenanstalt“, schrieben sechs Verteidiger in einem Offenen Brief an die Zeitung Politiken.

… GEHT WEITER

Tausende trotzten den Polizisten und zeigten ihre Unterstützung für das Ju-gendhaus auf verschiedenen Demons-trationen. Aber wir brauchen noch breitere Demonstrationen, um eine noch größere Bewegung aufzubauen, um die Politiker zu einer anderen Poli-tik zu zwingen. Und wir brauchen mehr besetzte Häuser und einen Kampf, der die Menschen nicht durch Gewalt ab-schreckt. Das ist der Weg zum Aufbau einer Gesellschaft mit Raum für Dif-ferenzen, Flüchtlinge und Jugendhäu-ser und ohne Polizeigewalt, Rassismus und Krieg.

Martin Hammer ist Mitglied der SAP/IV. In-ternationale

Übersetzung: Björn Martens

Gegenkultur – obdachlosMartin hammer

Kopenhagen: Friedliche Demons-trationen wurden ohne Vorwarnung mit Tränengas und Schlagstöcken attackiert.

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internationale 2007

Welche Bestandteile des marxis­tischen Erbes gehören definitiv der Vergangenheit an und welche haben eurer Ansicht nach heute noch ihre Gültigkeit?

Zunächst einmal möchte ich den Begriff des „Erbes“ diffe-renzieren. Es gibt nicht das Er-be schlechthin, sondern verschie-dene: den „staats- oder parteior-thodoxen“ Marxismus und „hete-rodoxe“ Marxismen, den wissen-schaftsgläubigen oder positivis-tischen Marxismus und den kri-tischen oder dialektischen Mar-xismus und schließlich das, was der Philosoph Ernst Bloch den „Wärmestrom“ und den „Kälte-strom“ des Marxismus genannt hat. Es geht hier nicht einfach nur um unterschiedliche Les-arten oder Interpretationen son-dern um Unterschiede im Theo-rieverständnis, aus denen mitun-

ter eine völlig gegensätzliche po-litische Praxis resultiert. Wie Jac-ques Derrida zu sagen pflegte, ist das Erbe kein Gut, das man ver-erbt und aufbewahrt, sondern das, was die Erben jetzt und in Zukunft daraus machen.

Was ist denn nun überholt in der Theorie von Marx?

An erster Stelle würde ich hier eine Art soziologischen Opti-mismus nennen: die Vorstellung, dass die kapitalistische Entwick-lung geradezu zwangsläufig zur Entwicklung einer ArbeiterIn-nenklasse führt, die immer grö-ßer und geballter und immer besser organisiert und bewuss-ter wird. Die Erfahrungen eines Jahrhunderts haben gezeigt, wie bedeutsam Spaltungen und Dif-ferenzierungen in den Reihen des Proletariats sind. Die Einheit der

ausgebeuteten Klassen ist nicht naturgegeben, sondern muss er-kämpft und aufgebaut werden.

Außerdem denke ich, dass die Begriffe von der Diktatur des Proletariats und des Absterbens des Staates grundlegend über-dacht werden müssen. Dies ist ei-ne komplizierte Frage, denn die-se Worte beinhalten heute nicht mehr den gleichen Sinn, den sie noch in den Werken von Marx haben konnten. Damals stand die Diktatur im Vokabular der Auf-klärung als Gegensatz zur Ty-rannei; sie stand für eine ehr-würdige römische Institution, nämlich für eine Macht, die aus-nahmsweise und auf eine be-stimmte Zeit übertragen wurde, und nicht für eine zeitlich unbe-grenzte willkürliche Macht. Es liegt auf der Hand, dass nach den militärischen und bürokratischen Diktaturen des 20. Jahrhunderts dieses Wort nicht mehr diesel-be unschuldige Bedeutung hat. Marx bezeichnete damit etwas völlig Neuartiges: eine Macht des Ausnahmezustands, die zum

ersten Mal von der Mehrheit aus-ging und deren „endlich gefun-dene Form“ – wie er es nannte – die Pariser Commune darstellte. Demnach sollten wir heute von dieser Erfahrung der Commu-ne und von allen Formen der De-mokratie „von unten“ sprechen (statt von Diktatur). Der Begriff der Diktatur des Proletariats be-zeichnete für Marx insofern auch kein bestimmtes Herrschaftssys-tem sondern eher eine Strategie, mit der er den Bruch in der Kon-tinuität zwischen einer alten so-zialen und juristischen Ordnung und einer neuen Ordnung unter-streichen wollte. „Stehen sich zweierlei Rechtsauffassungen gegenüber, dann entscheidet die Gewalt“, so schrieb er sinnge-mäß im „Kapital“. Unter diesem Gesichtspunkt wäre die Diktatur des Proletariats die proletarische Form des Ausnahmezustands.

Man hört oft, dass Marx ein guter Wirtschaftstheoretiker oder Philosoph hätte sein kön-nen oder auch war, aber ein mi-serabler Politiker. Ich halte dies

Ende November 2006 hat in Moskau eine Konferenz der Gruppe Wperjod („Vorwärts“), einer kleinen politischen Orga-nisation, stattgefunden. Die vor allem aus Jugendlichen bestehende russische marxistische Organisation ist trotz ihrer begrenzten Dimension in der globalisierungskritischen Bewegung und in der Solidarität mit Arbeiterkämpfen aktiv. Die Mitglieder organisieren sich um ihre Zeitung Wperjod herum und sind außer in der hauptstadt in den Städten Saratow, Jaroslaw, Samara, Sankt Petersburg und Tjumen [Sibirien] aktiv.

Sie haben es mit einer ausgesprochen schwierigen Situation zu tun. Präsident Wladimir Putin ist absoluter herr der Massenmedien, des Parlaments, der staatlichen Institutionen und der Gewerkschaften; es ist ihm gelungen, für Passi-vität einer Bevölkerung zu sorgen, deren übergroße Mehrheit unter den verheerenden Folgen der Gesetze zur Einfüh-rung von marktwirtschaftlichen Mechanismen, ohne dass es Schutzvorkehrungen gäbe, zu leiden hat und die sich im-mer mehr mit dem individuellen Überleben und Durchschlagen abplagen muss.

Trotzdem ist ein Anfang von Widerstand aus der Bevölkerung gegen die zahlreichen Maßnahmen des Sozialabbaus und gegen die Repression festzustellen. Zwei unabhängige Gewerkschaften bemühen sich darum, sich gegen den offi-ziellen Gewerkschaftsverband zu behaupten: Saschtschita, der radikalere Verband, hat ungefähr 90 000 Mitglieder; die Konföderation der Arbeit hat knapp eine Million Mitglieder.

Die 40 AktivistInnen, die an der Konferenz von Wperjod teilgenommen haben, beschlossen eine Kampagne gegen die Universitätsreform, verstärkte Unterstützung für die beiden genannten Gewerkschaften und die Mitarbeit an einer Zei-tung, die über die Arbeit der kämpferischen GewerkschafterInnen berichtet. Außerdem stehen sie in Kontakt mit Komi-tees, mit deren hilfe sich die Bevölkerung gegen die Verschlechterung auf den Gebieten Wohnungen, Gesundheit oder Renten zur Wehr setzt.

Alain Krivine war als Repräsentant der LCR und der IV. Internationale eingeladen worden, an der Konferenz von Wperjod teilzunehmen, ebenso Mitglieder der französischen Jeunesse communiste révolutionnaire (JCR). Daniel Ben-saïd, Philosoph und ebenfalls Mitglied der LCR, hat eine Reihe von Fragen zur Aktualität des Marxismus beantwortet, die ihm Mitglieder von Wperjod gestellt hatten. Diese Fragen stellen sich auch uns.

Wir veröffentlichen hier eine gekürzte Fassung des Dialogs.

Pierre Vanek, Aus dem Französischen: Friedrich Dorn.

Theorie des Marxismus gestern und heuteInterview mit Daniel Bensaïd

Das folgende Interview mit Daniel Bensaïd, einem führen-den Genossen der LCR, der französischen Sektion der IV. Internationale, wurde am 29.12.2006 von den russischen Genossen des Wperjod geführt.

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für falsch. Marx ist im Gegenteil ein politischer Denker gewesen, wenn man Politik nicht auf Ins-titutionen reduziert, wie dies in den so genannten Politikwissen-schaften der Fall ist. Zudem gab es abgesehen von Großbritannien im 19. Jahrhundert kaum parla-mentarische Systeme oder poli-tische Parteien in der Form, wie wir sie heute kennen. Politik war für ihn vielmehr ein Prozess (in Form von Kriegen und Revolu-tionen) und die Suche nach des-sen Ausdrucksform. Ich nenne es daher „die Politik der Unter-drückten“, also derjenigen, die von der staatlichen Sphäre aus-geschlossen sind, auf die das bür-gerliche Denken die Berufspoli-tik reduziert. Diese Art von Poli-tikverständnis hat von seiner Ak-tualität nichts eingebüßt. Nichts-destotrotz gibt es Punkte, die bei Marx unbelichtet blieben und die zu einem Kurzschluss verlei-ten können, was den Übergang von der Ausnahmesituation der Diktatur des Proletariats zum ra-schen Absterben des Staates und der Rechtsordnung angeht. Die-ser Kurzschluss scheint mir bei Lenin und besonders in seinem Werk „Staat und Revolution“ vorhanden zu sein, was die theo-retische Durchdringung dieses Übergangs mit seinen juristi-schen und institutionellen Impli-kationen nicht gerade erleichtert. Und aufgrund der ganzen Er-fahrungen des 20. Jahrhunderts sind wir gezwungen, diese Un-terscheidung zwischen Parteien, sozialen Bewegungen und staat-lichen Institutionen stets zu über-denken.

Die Aktualität des Marx’schen Erbes liegt auf der Hand: „Das Kapital“ und die Kritik der poli-tischen Ökonomie sowie das Ver-ständnis der inneren und unper-sönlichen Logik des Kapitals als Vernichtungsmaschinerie des So-zialen sind nach wie vor aktuell. Dies gilt auch für die Globalisie-rung des Warenaustauschs. Marx hatte seinerzeit die viktorianische Globalisierung vor Augen: die Entwicklung des Transport- und Kommunikationswesens (Eisen-bahnen und Telegraphen), der Ur-banisierung und der Finanzspe-kulation, des modernen Krieges und der „Vernichtungsindustrie“. Die gegenwärtige Epoche ist dem sehr ähnlich mit ihrer neu-en technologischen Revolution (das Internet und die Raumschiff-fahrt, die Spekulation und die Wirtschaftsskandale, der globa-

le Krieg etc.). Aber während der gängige Journalismus sich mit der Beschreibung der Oberfläche der Dinge begnügt, hilft uns die Marx’sche Kritik die dahinter ste-hende Logik zu begreifen, näm-lich die erweiterte und beschleu-nigte Kapitalakkumulation. Vor allem erleichtert sie uns das Ver-ständnis für die eigentlichen Ur-sachen der Krise der Zivilisation, die das gesamte Wertesystem und die weltweiten Abläufe umfasst, weil das Wertgesetz, das jeden Reichtum auf die Warenakku-mulation reduziert und die Men-schen und Dinge nach der abs-trakten Arbeitszeit bemisst, im-mer unbarmherziger wird, wie Marx in den „Grundrissen“ aus-führte. Somit führt die Teilratio-nalisierung der Arbeit und Tech-nik zu zunehmender Irrationali-tät weltweit. Besonders augen-fällig wird dies an den Beispielen der sozialen Krise, wo die stei-gende Produktivität zu Margina-lisierung und Verarmung statt zu mehr Freizeit führt, und der öko-logischen Krise. Eine vernünftige Nutzung der natürlichen Ressour-cen gemäß den nach Jahrhun-derten oder Jahrtausenden ausge-richteten Notwendigkeiten kann nicht von den Rohstoffbörsen ausgehen, wo minutenaktuelle Kursverläufe die Entscheidungen dominieren.

Ursächlich für diese histo-rische Krise, die die Zukunft des Planeten und der Menschheit be-droht, sind die Rahmenbedin-gungen der kapitalistischen Ei-gentumsverhältnisse. Während die Vergesellschaftung der Arbeit im-mer weiter voran schreitet, wird die weltweite Privatisierung nicht nur der Industrien, sondern auch der Dienstleistungen, des Welt-alls, der Lebewesen und des Wis-sens zum Bremsklotz für die all-gemeine Entwicklung und für die Befriedigung der Bedürfnisse. Im Gegenteil: Die Einrichtung adä-quater öffentlicher Dienstleistun-gen, die Entwicklung bestimmter Güter und Dienstleistungen zum Nulltarif und die Durchsetzung eines „Gemeinguts der Mensch-heit“ – was die Versorgung mit Energie, Land, Wasser, Luft und Wissen angeht – erfordern neue gesellschaftliche Verhältnisse.

Welche theoretischen Probleme müssen die MarxistInnen heute lösen?

Statt lösen würde ich lieber be-arbeiten sagen, denn die Lösung

der Probleme erfolgt nicht im luftleeren Raum der Theorie son-dern in der Praxis. Und wenn wir sie haben, wird sie aus der Phan-tasie und Erfahrung von Aber-millionen von Menschen ent-sprungen sein. Andererseits sind da Fragen, die im Lichte der Er-fahrungen eines Jahrhunderts aufgegriffen und überdacht wer-den müssen und von denen Marx, Engels und die anderen Gründer-väter nicht einmal träumen konn-ten.

Zunächst wäre hier die Umwelt-problematik zu nennen. Wohl gibt es bei Marx eine Kritik an einer abstrakten und unidirek-tionalen Fortschrittsgläubig-keit (auf den ersten Seiten der „Grundrisse“) und auch die Vor-stellung, dass im Rahmen der ka-pitalistischen Gesellschaftsver-hältnisse jeder Fortschritt sei-ne Kehrseite in Form von Schä-den und Rückschritten hat, wie er am Beispiel der Landwirtschaft im „Kapital“ ausführt. Aber we-der er noch Engels oder Lenin oder Trotzki haben sich ernsthaft mit den Schwellen und Grenzen (des Fortschreitens der Produk-tivität) auseinander gesetzt. Ih-re Abgrenzung gegen die reak-tionären malthusianischen Strö-mungen trieb sie zwangsläufig dazu, auf den Überfluss zu set-zen, um die Probleme zu lösen. Durch die zwischenzeitlichen wissenschaftlichen Erkenntnisse sind wir uns der unumkehrbaren Risiken des Fortschritts und der verschobenen Proportionen be-wusst geworden. Niemand weiß heute definitiv, ob die dem Öko-system, der Artenvielfalt und dem Klimagleichgewicht zuge-fügten Schäden noch reparabel sein werden. Insofern sollten wir gewissermaßen unsere promethe-ische Hybris [Prometheus steht für die unbedingte Überlegenheit des Menschen über die Natur; Anm. d. Ü.] zurücknehmen und uns erinnern, dass – wie Marx in den „Pariser Manuskripten von 1844“ betont – der Mensch „ein menschliches Naturwesen“ ist, d.h. er ist in erster Linie ein na-türliches Wesen und damit von seiner ökologischen Nische ab-hängig. Dort wo sich die marxis-tische Kritik von Forschungser-gebnissen aus anderen Diszipli-nen – bspw. von Georgescu-Röt-gen – inspirieren lässt, ist in den letzten Jahren ein sozial-ökolo-gischer Ansatz auf marxistischer Grundlage entstanden (Bellamy-

Foster in den USA, Jean-Marie Harribey oder Michel Husson in Frankreich und etliche mehr).

Außerdem müssen wir uns Ge-danken machen über die strate-gischen Konsequenzen, die sich aus den geänderten zeitlichen und räumlichen Dimensionen der Politik ergeben. Was den As-pekt der Zeit angeht, gibt es ei-ne Fülle an theoretischer Lite-ratur, sowohl bezogen auf die Wirtschaftsabläufe wie Zyklen, Kapitalumschlag, sozialpoli-tischer Maßnahmen etc. wie auf die fehlende zeitliche Überein-stimmung der gesellschaftlichen Entwicklungen (Marx nannte di-es die „Unzeit“ und Bloch die „Ungleichzeitigkeit“) in der Po-litik, Jurisprudenz und Ästhetik. Inzwischen sind hier noch die langfristigen ökologischen Ent-wicklungen zu nennen. Auf der anderen Seite gibt es trotz der Pionierarbeit von Henri Lefebv-re kaum eine theoretische Auf-arbeitung der gesellschaftlichen Produktion sozialer Räume. Da-bei hat die Globalisierung mitt-lerweile auch die räumlichen Zu-sammenhänge umgestaltet, die Zentren der Macht neu geord-net und neue Formen der unglei-chen und kombinierten Entwick-lung hervorgebracht. David Har-vey konnte aufzeigen, dass auch Marx in dieser Richtung gearbei-tet hat und er hat die Bedeutung dieser Erkenntnisse für das Er-fassen der zeitgenössischen For-men der imperialistischen Herr-schaft hervorgehoben und ge-zeigt, dass diese weiterhin be-steht und dass sie die ungleiche Entwicklung benutzt, um wei-ter Kapital zu akkumulieren. Da-mit ist sie weit davon entfernt, ei-nen homogenen und gradlinigen Raum zu bilden, wie Toni Negri in seinem „Empire“ unterstellt.

Ein dritter wesentlicher As-pekt sind die Wandlungen, die die Arbeit seither durchlaufen hat, was den Einsatz der Arbeits-kraft angeht, der zunehmend von Maschinen gesteuert wird, und in Bezug auf das geänderte Verhält-nis von Kopf- zu Handarbeit. Die Erfahrungen des 20. Jahrhun-derts haben effektiv gezeigt, dass die formale Änderung der Eigen-tumsverhältnisse nicht ausge-reicht hat, mit der Entfremdung in und durch die Arbeit Schluss zu machen. Manche haben da-raus die Schlussfolgerung ge-zogen, dass die Lösung im „En-de der Arbeit“ oder im Rückzug

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oder in der Flucht aus der Sphä-re der Notwendigkeit bestün-de. Marx verstand unter Arbeit zweierlei: einmal eine anthropo-logische Kategorie im weiteren Sinn, die das Umformungsver-hältnis oder die Verstoffwechse-lung zwischen der Natur und der Spezies Mensch bezeichnet; zum anderen eine spezifische und um-rissene Definition als erzwun-gene Arbeit und als besondere Form die Lohnarbeit in einer ka-pitalistischen Gesellschaftsord-nung. Bezogen auf die letztge-nannte Definition stellt sich der Menschheit die Aufgabe, die Ar-beit zu befreien und sich von der Arbeit zu befreien, also die Ein-künfte zu vergesellschaften, um die Lohnarbeit zum Absterben zu bringen. Aber man kann nicht deswegen die „Arbeit“ (oder wel-chen Ausdruck auch immer man dafür verwendet) in ihrer allge-meinen Bedeutung als Tätigkeit zur Aneignung und Umformung einer natürlichen Umgebung ab-schaffen. Insofern muss mensch sich Gedanken machen, in wel-cher Form sie zur schöpferischen Tätigkeit werden könnte, denn es ist kaum vorstellbar, ein befrei-tes und erfülltes Leben führen zu können, wenn die Arbeit selbst entfremdet bleibt.

Der vierte wichtige Punkt ist die Strategie zur Veränderung der Welt. Denn die Verheißungen des Liberalismus haben, nach einem kurzen Moment der Euphorie oder Trunkenheit im Anschluss an den Fall der Mauer und das Auseinanderbrechen der Sow-jetunion, ihre Glaubwürdigkeit rasch verloren. Die sozialen und ökologischen Folgeschäden der „unverfälschten“ Warenkonkur-renz kommen täglich in vollem Umfang zum Vorschein. Die un-ablässige Folge von Krieg und Ausnahmezustand ist bloß die logische Kehrseite dieser histo-rischen Krise. Die Geburt der globalisierungskritischen Bewe-gung [im Französischen: alter-mondialistischen Bewegung, also die für eine andere Welt eintritt; Anm. d. Übers.] ist Ausdruck dieses Scheiterns: Die Welt ist keine Ware und ist nicht verkäuf-lich. Weniger als fünfzehn Jah-re nach der Verkündung des end-gültigen Sieges des Kapitalismus (dem berühmten „Ende der Ge-schichte“ laut Fukuyama) macht sich die Vorstellung breit, dass diese Welt des real existierenden Kapitalismus inhuman und un-

annehmbar ist. Hingegen beste-hen große Zweifel über die Me-thoden, sie zu ändern ohne die Schiffbrüche und Verzerrungen zu reproduzieren, die der Sozi-alismus im 20. Jahrhundert er-lebt hat. Daher muss man – ohne dabei den zentralen Stellenwert des Klassenkampfes in den Wi-dersprüchen dieses Systems aus den Augen zu lassen – die gan-ze Bandbreite dieser Widersprü-che, Bewegungen und Akteure und ihre Verbindungen unterei-nander überdenken und ebenso die Verschränktheit – nicht Iden-tität! – des Sozialen und des Poli-tischen. Weiterhin muss die Pro-blematik der Hegemonie und der Einheitsfront wieder aufge-griffen werden, die in den Dis-kussionen der III. Internationale und den „Gefängnisheften“ von Gramsci nicht abschließend be-handelt wurde, und es müssen die wechselseitigen Aspekte des Menschen als politisches und als soziales Wesen vertieft werden. Ein breit gefächertes Programm, das nur mit Hilfe neuer Kampf- und Organisationserfahrungen vorangebracht werden kann.

Sicherlich muss mensch natür-lich – aber das ist implizit schon im vorigen Punkt enthalten – das Phänomen der Bürokratie in den modernen Gesellschaften in all seiner Bandbreite analysieren, wie auch ihre Verwurzelung in der gesellschaftlichen Arbeitstei-lung. Bei einer oberflächlichen Betrachtung könnte mensch das Phänomen der Bürokratie exklu-siv den kulturell rückständigen Gesellschaften zuordnen oder als Produkt von Organisationen – darunter der politischen Parteien – sehen. Tatsächlich jedoch brin-gen die Gesellschaften, je weiter sie sich entwickeln, desto mehr unterschiedliche Formen von Bürokratie hervor: Staats- und Verwaltungsbürokratien, die Bü-rokratie der Gelehrten und Sach-verständigen….

Die sozialen Organisationen wie die Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen sind nicht weniger bürokratisch als die Parteien. Im Gegenteil können die Parteien – egal, ob sie jetzt Parteien, Bewegungen oder Vereinigungen heißen – durch-aus dazu dienen, der Korruption durch Geld oder Vereinnahmung durch die Medien, die ihrerseits auch eine Form von Bürokratie darstellen, kollektiv zu widerste-hen. Insofern wird es darauf an-

kommen, Wege zu ergründen, die Macht und die Politik zu ent-professionalisieren, die Häufung von Wahlämtern zu beschrän-ken, die materiellen und imma-teriellen Privilegien zu verhin-dern und die Rotation in den ver-antwortlichen Positionen zu ge-währleisten. Absolut sichere Pa-tentrezepte gibt es in dieser Fra-ge nicht. Man kann nur die Sen-sibilität dafür schärfen und Bü-rokratisierungstendenzen ein-schränken, aber die wirklichen Lösungen hängen langfristig von einer radikalen Umwälzung der Arbeitsteilung und einer drasti-schen Reduzierung der notwen-digen Arbeitszeit ab.

Hinsichtlich dieser offenen Fragen gibt es wichtige – oft falsch verstandene oder verges-sene – Erkenntnisse bei Marx und in der marxistischen Schu-le. Genauso gibt es aber Heran-gehensweisen aus anderen kri-tischen Strömungen der Philo-sophie, Ökonomie, Soziologie, Ökologie, Genrestudien, Antiko-lonialismus und Psychoanalyse. Nur im Dialog mit Freud, Fou-cault, Bourdieu und vielen ande-ren werden wir weiterkommen.

Welche sind Deiner Meinung nach die wichtigsten marxisti­schen Denker der letzten Jahr­zehnte und welchen Beitrag ha­ben sie zur Weiterentwicklung des Marxismus geleistet?

Es kann nicht darum gehen, ei-ne Rangfolge unter den Theorie-

beiträgen zum Marxismus zu kü-ren. Zum einen, weil die Verge-sellschaftung der Kopfarbeit und die Hebung des allgemeinen kul-turellen Niveaus dazu führen, dass es kaum mehr „große Den-ker und Intellektuelle“ gibt, wie noch Sartre oder Lukacs welche waren. Dies ist durchaus positiv zu werten und zeugt von der De-mokratisierung des geistigen Le-bens und der Theoriedebatte. In-sofern ist es schwer, hier willkür-lich jemanden hervorzuheben. Zum Ausgleich ist das Spektrum der Analysen und Forschungen, die von Marx und den marxis-tischen Strömungen beeinflusst sind, viel breiter geworden. Dies gilt für die verschiedensten Ge-biete und Disziplinen, von der Linguistik über die Psychologie, Geschichte, Geographie etc. bis hin zur Ökonomie. Daher müsste man Dutzende von Namen auf-zählen und dabei die Schwer-punktkompetenzen der Autoren benennen, weil der Traum vom Universalgelehrten wohl zur Illu-sion geworden ist und der „kol-lektive Intellektuelle“ dazu ge-wonnen hat.

Es gibt noch einen schwerer wiegenden Grund, weswegen eu-re Frage nicht präzise beantwor-tet werden kann. Als Beleg will ich nur ein paar berühmte Namen aus der Geschichte der sozialisti-schen und kommunistischen Be-wegung anführen: Marx, Engels, Kautsky, Pannekoek, Jaurès, Ro-sa Luxemburg, Trotzki, Bucha-rin, Gramsci … Sie waren alle

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„organische Intellektuelle“ der Arbeiterbewegung, in deren Ak-tivitäten Theorie und Praxis in-einander flossen. Aber die stali-nistische Reaktion auf internati-onaler Ebene und die Niederla-gen der Arbeiterbewegung haben dazu geführt, dass Theorie und Praxis auseinander gefallen sind. Dieses Problem wurde in einem in den 70er Jahren erschienenen Buch von Perry Anderson über den „westlichen Marxismus“ thematisiert. Abgesehen von ein paar rühmlichen Ausnahmen ha-ben sich die Intellektuellen auf die Freiheit der Meinung und der Philosophie berufen und sich zu-meist politischen Engagements enthalten. Und wenn sie sich doch für derlei Engagement ent-schieden haben, mussten sie oft-mals ihre Gesinnung und ihr theo-retisches Werk opfern. Die Ge-schichte der französischen In-tellektuellen und ihr Verhält-nis zur kommunistischen Bewe-gung spiegelt diese Tragödie wi-der: Paul Nizan, Henri Lefebvre, die Surrealisten, Pierre Naville, Aragon und zahlreiche „Wegge-fährten“. In dem Bestreben, die theoretische Forschung aus par-teiischer Orthodoxie und Bevor-mundung zu lösen, hat Althus-ser in den 60er Jahren die rigoro-se Arbeitsteilung zwischen The-orie und Praxis sogar zum Theo-rem erhoben.

Diese düstere Ära können wir in-zwischen hoffentlich als über-wunden betrachten. Die globali-sierungskritische Bewegung bie-tet die Gelegenheit, dass sich die wieder aufkommenden sozialen Bewegungen und eine leben-dige theoretische Forschung wie-der zusammenfinden ohne Vor-eingenommenheit und Denkver-bote. Darin liegt zweifelsohne ei-ne Chance, die wir nicht versäu-men sollten.

Welchen Stellenwert hat nach deinem Dafürhalten die Dialek­tik in der marxistischen Theorie?

Diese Frage ist zu umfassend und hat schon viel zuviel Papier ver-schlungen, als dass sie kurz ge-fasst beantwortet werden könnte. Insofern muss ich mich auf ein paar allgemeine Anmerkungen beschränken. Während im 19. Jahrhundert die Deutschen, die Italiener und besonders die Rus-sen auf die dialektische Kritik zurückgreifen mussten, um sich als Nation oder Gesellschaft zu

emanzipieren, hat die konserva-tive französische Ideologie nach dem Juni 1848 und der Commu-ne alles daran gesetzt, sich ih-rer zu entledigen. „Der unter-irdische Strom des Materialis-mus der Begegnung“, wie Alt-husser es in seinen letzten Wer-ken so hübsch formulierte, hatte in Frankreich schon verloren, ehe Marx überhaupt gelesen wurde. Und der „unauffindbare Marxis-mus“ von Guesde und Lafargue war von Anfang an positivistisch gefärbt und war kaum dazu in der Lage, von einer Logik, die strikt nach Definitionen unterscheidet, zu einer dynamischen und dia-lektischen Logik überzugehen, die von der Determiniertheit (der Entwicklung) ausgeht, wie sie Marx im „Kapital“ meisterhaft angewendet hat. Der Struktura-lismus in seiner starrsten Form in den 60er Jahren hat dies noch akzentuiert, indem er seinem Gedankengebäude versteinerte Strukturen zugrunde legte, die keine Ereignisse oder Subjekte kennen und Systeme, die ihrem geschichtlichen Aspekt umso mehr beraubt sind, je schmerz-haftere Gedanken die wirklichen Zeitläufe hervorrufen.

Der orthodoxe Marxismus, der in den 30er Jahren nach dem Triumph der stalinistischen Bü-rokratie zur Staatsraison erhoben wurde, profitierte von den gege-benen Umständen, um seinem dogmatischen und kanonisierten „Diamat“ zum Durchbruch zu verhelfen. Damit wurde die Dia-lektik ein zweites Mal zu Grabe getragen, sozusagen der Thermi-dor in der Geschichte der Theo-rie, wobei die Verurteilung der Psychoanalyse und des Surrealis-mus auf dem berüchtigten Kon-gress von Kharkow bereits ein-deutig die Richtung wies. Mit seinem unsterblichen Büchlein „Über dialektischen und histo-rischen Materialismus“ lieferte Stalin die Doktrin dazu. Die „Dia-lektik“ wurde so zur formalisier-ten Metalogik und Staatssophis-tik für alle Belange und v. a. für die Unterjochung der Menschen. Die Dialektik des kritischen Be-wusstseins (Lukacs, Korsch) wurde dann durch den Imperativ der Staatsraison ersetzt.

Besonders in Frankreich ging diese Reaktion in der Theorie mit einem anderen Prozess ein-her. Unter dem Vorwand, den Ra-tionalismus und die Aufklärung gegen mythologisierende Un-tergangstheorien zu verteidigen

– was ja in gewisser Weise und bis zu einem bestimmten Punkt legitimes Anliegen ist – gesellte sich zu der Volksfront in der Po-litik eine solche in der Philoso-phie und besiegelte eine antifa-schistische Allianz unter der He-gemonie der Bourgeoisie. Mit dieser Apologie der nicht-dialek-tischen Vernunft gelangte die hei-lige cartesianische Methode zu einem posthumen Triumph über den Dialektiker Pascal. Sogar Lukacs, der bis zu seinem kürz-lich wieder entdeckten Text über Spontaneität und Bewusstsein – 1926 zur Verteidigung von „Ge-schichte und Klassenbewusstsein geschrieben – seinen Verleum-dern widerstanden hatte, schrieb damals sein – wahrhaft nicht bes-tes – Werk über die „Zerstörung der Vernunft“, das erst nach dem Krieg erscheinen sollte. Der Sieg der bürokratischen Konterrevolu-tion verlangte in der Tat nach der dichotomen Logik im Stil von: „Wer nicht für mich ist …“. Al-ternativen waren ausgeschlossen, etwa ein – auch nur asymmet-rischer – Kampf an zwei Fronten. Diese Logik, die Einschüchte-rung und Schuldbewusstsein er-zeugte, produzierte enorme po-litische Flurschäden, wenn wir an die Interventionen in Ungarn, Polen, Tschechoslowakei und Afghanistan denken.

Möglicherweise erleben wir eine Renaissance des dialek-tischen Denkens. Dies wäre ein gutes Zeichen dafür, dass der Wind sich dreht und die Kraft der Verneinung wieder an Fahrt ge-winnt gegen den gebetsmühlen-haft vorgetragenen Diskurs, um jeden Preis positiv zu denken, ei-nen Konsens zu finden und sich rundum zu arrangieren. Es gäbe auch hinreichend gute und drin-gende Gründe für eine kritische und dialektische Herangehens-weise an die aktuellen Probleme:- Zunächst ein historischer Grund.

Angesichts der Tragödien des vergangenen Jahrhunderts kön-nen wir uns nicht mehr beru-higt im Glauben an den ewigen Fortschritt zurücklehnen und die Furcht erregende Dialektik von Fortschritt und Katastrophe (W. Benjamin) ignorieren. Erst recht nicht angesichts der Unge-wissheiten, die der Wandel der Welt in den letzten 20 Jahren mit sich gebracht hat. So not-wendig wie die Dialektik brau-chen wir auch eine kritische Ökologie, die sich sowohl mit den Verheißungen des globa-

lisierten Handels als auch mit den rückwärtsgewandten Versu-chungen der „Tiefenökologie“1 kritisch auseinandersetzt.

- In der dialektischen Logik sind unter dem Einfluss der wissen-schaftlichen Kontroversen um die Ungereimtheiten des Deter-minismus, die Systemtheorie, die ganzheitlichen oder kom-plexen Kausalitäten und die lo-gischen Zusammenhänge zwi-schen dem Bestehenden und den Umordnungen, wobei man die einzelnen Bereiche sorg-fältig auseinander halten muss, neue Kategorien entstanden. Daher brauchen wir einen le-bendigen Austausch zwischen den verschiedenen Forschungs-bereichen und müssen wir die Erkenntnisse der Dialektik in der Praxis neu bewerten.

- Wir brauchen dringend eine ganzheitliche Theorie der Glo-balisierung unter laufender Mit-einbeziehung neuer Entwick-lungen um die neuen Erschei-nungsformen des Imperialis-mus im Zeitalter des Spätkapi-talismus zu verstehen und an-gesichts der Entwicklung des Planeten, die ungleicher und schlechter kombiniert denn je verläuft, politisch zu intervenie-ren.

- Wir brauchen dringend ei-ne Theorie der gegenwärtigen Epoche, die der gesellschaft-lich produzierten Aufspreizung von Raum und Zeit Rechnung trägt. Und wir müssen ein Kon-zept entwickeln, Politik zeitlich zu ordnen, statt uns bei der ge-schichtlichen Betrachtung be-quem auf lineare chronolo-gische Kategorien des „Vor“ und „Nach“ (Postkapitalismus, Postkommunismus,…) zu stüt-zen.

- Wir müssen darüber nachden-ken, wie Fortschritt im Sinne einer Weiterentwicklung (oder eines „Hinüberwachsens“, wie Trotzki es formulierte) beschaf-fen sein muss, statt nur auf Ak-kumulation ausgerichtet zu sein oder auf „Wachstum ohne Ent-wicklung“, wie Lefebvres zu-treffend kritisierte.

- Schlussendlich sind wir durch das Ende des Kalten Krieges und das komplexe Zusammen-

1 „Deep ecology“, Tiefenökologie, ist eine spirituelle, naturphiloso-phische Ausdrucksform des Bio-zentrismus, der den Menschen als Teil der Ökologie/Erde und nicht als außen stehendes Objekt sieht, Anm. d. Übers.

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spiel der multiplen Konflikte ge-zwungen, das dualistische La-gerdenken aufzugeben, wo ein Staat als Vaterland die Hegemo-nie hatte (wie im „real existie-renden Sozialismus“). Stattdes-sen brauchen wir eine dritte Al-ternative, um in Konflikten wie auf dem Balkan oder am Golf eine geeignete Strategie zu ent-wickeln.

Sollte sich eine dialektische Denkweise wirklich wieder etab-lieren, darf man darauf (freu-dig) gespannt sein, dass im Ge-folge des „Schwarzbuch(s) des Kommunismus“ und des „Schwarzbuch(s) der Psychoana-lyse“ auch ein „Schwarzbuch der Dialektik“ erscheinen wird. Di-es würde heißen, dass der anta-gonistische Widerspruch nicht aufgehoben oder aufgelöst wor-den ist „zugunsten eines Gegen-satzpaares, in dem nicht der Wi-derspruch, sondern die wechsel-seitige Beziehung dominiert“. Di-es würde weiter bedeuten, dass der Fetischismus der „faits ac-complis“ ebenso gescheitert ist wie die Verdrängung des Mög-lichen durch die armselige Rea-lität. Und dass die „Philosophie des Nein“, die Kraft der Vernei-nung, der Blick auf das Ganze und die von Lenin in seinen An-merkungen zur Hegelschen Lo-gik gerühmten unvorhersehbaren „Sprünge“ nicht für immer ge-zähmt worden sind.

Denn die Verurteilung der Di-alektik zielt immer noch auf die Verurteilung der Revolution. Lu-kacs hatte dies, als er „Geschich-te und Klassenbewusstsein“ und die „Philosophie Lenins“ schrieb, sehr wohl verstanden. Dies war zugegebenermaßen zu einer Zeit voller Umbrüche; in den Jahren der Krise, die zugleich die Jahre sind, in denen die Dialektik am virulentesten ist.

In den 90er Jahren war die Auf­fassung weit verbreitet, dass der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit nicht mehr im Zen­trum der gegenwärtigen gesell­schaftlichen Konflikte stände. Bist du auch dieser Meinung?

Man kann diese Frage in ver-schiedener Weise angehen. Die landläufige Meinung bezog sich auf eine soziologische Entwick-lung und die Tatsache, dass in den entwickelten Ländern der Anteil des Industrieproletariats an der erwerbstätigen Bevölke-

rung zurückgeht. Dieser Rück-gang findet zwar statt (in Frank-reich von 33% auf 25%), aber es ist immer noch ein Viertel der er-werbstätigen Bevölkerung und global gesehen wächst das städ-tische Proletariat sogar.

Dem Eindruck, dass das Pro-letariat drastisch zurückgeht oder gar verschwindet, liegt zumeist eine restriktive oder gar ouvri-eristische Definition der sozi-alen Klassen zugrunde, die von einer schematischen soziolo-gischen Klassifikation ausgeht. Bei Marx hingegen geht es nicht um eine positivistische Soziolo-gie der Klassen, sondern um dy-namische Gesellschaftsverhält-nisse, in denen die Klassen nur durch ihren Kampf bestehen. Wenn man die Eigentumsverhält-nisse an den Produktionsmitteln betrachtet, die Form und das Ni-veau des Lohneinkommens und die Position in der gesellschaft-lichen Arbeitsteilung, dann ist die große Mehrheit der Lohnab-hängigen im so genannten ter-tiären Sektor – darunter immer mehr Frauen – dem Proletariat im ursprünglichen Sinne zuzu-ordnen, den Marx diesem Wort verliehen hat (1848 kam das Pa-riser Proletariat, von dem in den „Klassenkämpfen in Frankreich“ die Rede ist, vorwiegend aus dem Handwerk und kaum aus der In-dustrie). Insofern verwechselt man häufig die Schwächung der Organisierung und des Klassen-bewusstseins infolge politischer und gesellschaftlicher Niederla-gen mit dem irreversiblen Rück-gang des Klassenkampfes. Man muss sich daher mit den Hin-dernissen, die einer solchen Or-ganisierung und Bewusstwer-dung mittlerweile entgegenste-hen, sorgfältig auseinander set-zen: Privatisierung und Individua-lisierung des gesellschaftlichen Lebens, Flexibilisierung der Ar-beit, Individualisierung von Ar-beitszeiten und Formen der Ent-lohnung, Druck durch Arbeitslo-sigkeit und Prekarisierung, Ent-flechtung der Industrie und Ver-änderungen in den Produkti-onsabläufen …

Nichtsdestoweniger steht das Verhältnis zwischen Kapi-tal und Arbeit weiterhin im Mit-telpunkt der gegenwärtigen Ge-sellschaften. Ich würde aller-dings nicht von einem „Haupt-widerspruch“ reden, da dies im-pliziert, die anderen Widersprü-che als sekundär zu betrachten. Vielmehr handelt es sich um ei-

ne Reihe von Widersprüchen, die nicht zur gleichen Zeit und in derselben geschichtlichen Epo-che aufbrechen, aber eng mitei-nander verzahnt oder – um mit Althusser zu sprechen – von der beherrschenden Logik des Kapi-tals „letztlich bestimmt sind“: die Beziehungen zwischen den Ge-schlechtern, zwischen Natur und menschlicher Gesellschaft und zwischen Individuum und Ge-meinschaft. Das eigentliche Pro-blem ist, diese Widersprüche zu formulieren.

Aus welchem Grund kommt es zur spontanen Zusammenkunft von Gewerkschaften, Feministin-nen, Umweltschützern und kul-turellen Bewegungen in den So-zialforen? Weil der Kapitalismus selbst und die Verallgemeine-rung der Warenbeziehung auf al-le gesellschaftlichen Bereiche als übergeordneter einigender Fak-tor all dieser Widersprüche fun-gieren. Dieses Zusammengehen muss allerdings im gegenseitigen Respekt vor der Eigenständigkeit der verschiedenen Bewegungen erfolgen.

Übrigens geht es bei dieser Frage auch um eine ideologische Auseinandersetzung. Selbst wenn man den Ansatz von Sozio-logen wie Bourdieu teilt, wonach die sozialen Beziehungen sich nicht mehr im Urzustand mani-festieren sondern indirekt durch Repräsentanten geformt werden, dann liegen diesen Repräsentatio-nen sehr wohl reale Verhältnisse zugrunde. Die Repräsentanz ge-sellschaftlicher Gliederung auf der Grundlage von Klassenka-tegorien fußt auf soliden theore-tischen und praktischen Grund-

lagen. Es ist nebenbei schon er-staunlich, dass so oft die Exis-tenz des Proletariats infrage ge-stellt wird, aber nie die der Bour-geoisie oder der Kapitalisten: Mensch muss bloß die Verteilung der Profite und Vermögensein-künfte studieren, um sich von de-ren Vorhandensein zu überzeu-gen! Auf die Aktualität des Klas-senkampfes zu setzen ist keine Frage der Semantik, sondern es geht konkret um die Schaffung von Solidarität über unterschied-liche Rassen, Nationen, Religi-onen etc. hinweg. Wer von Klas-senkampf nicht mehr sprechen will, der muss sich dafür eth-nische und Stammeskämpfe, Re-ligionskriege und Konflikte zwi-schen verschiedenen Gemein-schaften gefallen lassen. Und da-mit wäre ein außerordentlicher Rückschritt erzielt, der leider be-reits in großen Teilen der Welt Wirklichkeit geworden ist. Die materielle und nicht bloß mora-lische Grundlage des Internatio-nalismus besteht in der internatio-nalen Ausweitung des Klassen-kampfes als Antwort der Unter-drückten auf die kapitalistische Globalisierung.

Worin liegen für dich die Schnitt­punkte zwischen der marxisti­schen Theorie und den sozialen Massenbewegungen?

In meinen Augen ist die marxisti-sche Theorie in ihrem Kernpunkt (die „Kritik der politischen Öko-nomie“ und der Kapitalakkumu-lation) weiterhin das geeignets-te Instrument, um die neoliberale Globalisierung und ihre Konse-quenzen zu erörtern. Ihre Aktu-

Daniel Bensaïd

Was ist Trotzkismus?

132 Seiten, Euro 12,00ISBN 3-89900-108-7

Neuer ISP Verlag

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alität wird wie gesagt vom Ka-pitalismus selbst vorgegeben. Die Mehrzahl der sozialen Be-wegungen lässt sich übrigens – auch unwissentlich – davon in-spirieren. Bereits der Histori-ker Fernand Braudel wies dar-auf hin, wieweit unsere zeitge-schichtlichen Erkenntnisse durch die Kategorien der marxistischen Kritik – selbst bei deren Geg-nern – geprägt sind. Und der Phi-losoph Jacques Derrida fasste 1993 (als der marxistischen The-orie der Wind eher ins Gesicht blies) den aktuellen Stellenwert in der Formel: „Auch in Zukunft geht es nicht ohne Marx“ zusam-men. Ob mit oder gegen oder darüber hinausgehend… Aber nicht „ohne“! Auch wenn ihr si-cherlich nicht das letzte Wort in der Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse zusteht, so führt doch kein Weg an dieser Theorie vorbei. Para-doxerweise greifen die Protago-nisten des Neoliberalismus, de-nen Marx als veraltetes und ob-soletes Auslaufmodell gilt, in ih-ren Polemiken stets auf die klas-sischen Wirtschaftstheoretiker und die politische Philosophie des 17. Jahrhunderts oder auf Tocqueville zurück. Marx war sicher ein Kind seiner Zeit und teilte manche von deren Illusi-onen über Fortschritt und Wis-senschaft. Aber es lag in der Na-tur des Gegenstands seiner Ana-lysen – die Kapitalakkumulation mit der ihr innewohnenden Logik – dass er über seine Zeit hinaus-dachte und die weitere Entwick-lung bis in die Gegenwart vor-wegnahm. In dieser Hinsicht ist er durchaus auf der Höhe der Zeit und bedeutend frischer und anre-gender als so manche „Neuheit“, die schon vor ihrem Erscheinen veraltet ist.

Wie stehst du zu den breiten sozia­listischen Bewegungen von heu­te und dem Umstand, dass sie die antikapitalistischen Kämpfe an­scheinend besser voranbringen als die politischen Parteien? Und wie wertest du die Zukunft der Parteien an sich und als Bestand­teil beim Aufbau einer internatio­nalen Organisation?

Zunächst muss geklärt wer-den, was diese „breiten sozia-listischen Bewegungen“ dar-stellen. Nach einem Jahrhun-dert voller schrecklicher Tra-gödien und Niederlagen stehen wir wohl in Theorie und Praxis

ganz am Anfang eines Wieder-aufbaus der Emanzipationsbewe-gungen. Mitunter hat man in ge-wisser Weise den Eindruck, wie-der bei Null anzufangen. Eine Partei wie die Arbeiterpartei Bra-siliens, die Anfang der 80er Jah-re mit dem Sturz der Militärdik-tatur aufgetaucht und im Gefol-ge der raschen Industrialisierung der 70er Jahre entstanden war, erinnerte in gewisser Hinsicht an die große deutsche Sozialdemo-kratie der Vorkriegszeit vor 1914. Sie war ebenfalls eine Massen-partei und war in vergleichbarer Weise ideologisch pluralistisch. Aber wir befinden uns eingangs des 21. Jahrhunderts und das 20. Jahrhundert liegt definitiv hinter uns. Insofern hat die PT in we-niger als 25 Jahren einen ver-gleichsweise raschen Bürokrati-sierungsprozess durchlebt und ist den Widersprüchen unserer Zeit, den Herrschaftsverhältnissen und der Rolle Lateinamerikas bei der Umorganisation der imperialisti-schen Herrschaft etc. ausgesetzt gewesen.

Zunächst einmal hat es den Anschein, als seien die sozialen Bewegungen bei den Abwehr- und Widerstandskämpfen effek-tiver und konkreter als die orga-nisierten Parteien. Ihre Entste-hung markiert den Beginn eines neuen und unabdingbaren Zyklus von Erfahrungen. Aber eben-so wie Marx seinen Zeitgenos-sen „politische Illusion“ vorhielt, die darin bestand, die Erlangung bürgerlicher und demokratischer Freiheiten für die höchste Stu-fe der menschlichen Emanzipa-tion zu halten, können wir heu-te eine „soziale Illusion“ fest-stellen, wonach der soziale Wi-derstand gegen den Neolibera-lismus mangels politischer Al-ternative unsere unüberschreit-bare Perspektive sei. Dies ist die „linke“ Version des „Ende(s) der Geschichte“. Die Krise des Kapi-talismus und die von ihm ausge-hende Bedrohung für die Zukunft der Menschheit und des Planeten sind jedoch dergestalt, dass wir dringend eine adäquate Alterna-tive brauchen.

Und dabei kommt es auf die politische Zielsetzung und Stra-tegie an, die von zielstrebigen Kräften getragen werden. Ent-weder kämpfen wir ernsthaft für eine solche Alternative oder wir begnügen uns damit, auf die vor-handenen sozialliberalen Kräfte Druck auszuüben, die immer we-niger links sind, was der vorhan-

denen Demoralisierung nur eine weitere hinzufügen würde. Um eine wirkliche Alternative aufzu-bauen, was ein langwieriges und mühevolles Vorhaben ist, brau-chen wir Geduld und Ernsthaf-tigkeit sowie Standfestigkeit – was nicht Sektierertum bedeu-tet – sonst zerreiben wir uns in flüchtigen Abenteuern und wach-sender Frustration oder erliegen dem Anpassungsdruck.

Was den Wiederaufbau ei-ner internationalen Bewegung angeht, ist dies ein noch weit-läufigeres Thema. Manche ver-gleichen inzwischen die globa-lisierungskritische Bewegung und ihre kontinent- oder welt-weiten Sozialforen mit den An-fängen der I. Internationale: ein Treffen von Gewerkschaften, so-zialen Bewegungen und poli-tischen Strömungen ohne son-derliche Beschränkungen. In der Tat steckt so etwas da drin. Denn die positive Seite der kapitalisti-schen Globalisierung ist, dass sie den internationalen Zusammen-schluss der Bewegungen voran-treibt, so wie die Weltausstellun-gen im 19. Jahrhundert Anlass für Konferenzen war, an deren Ende die I. Internationale stand. Ei-nen Unterschied gibt es dennoch, nämlich dass – wie gehabt – das 20. Jahrhundert dazwischen liegt und die Aufspaltung in verschie-dene politische Strömungen in-folge der zwischenzeitlichen Ge-schehnisse nicht über Nacht rück-gängig und vergessen gemacht werden können. Insofern sind die Treffen und Zusammenschlüs-se zu den genannten Foren z.B. durchaus positiv und notwendig. Was daraus entsteht, entzieht sich jeder Vorhersage und hängt von den laufenden Kämpfen und po-litischen Erfahrungen, bspw. in Lateinamerika und im Nahen Os-ten, ab. Wir sind noch weit da-von entfernt, diese erste Etappe des Wiederaufbaus ausgeschöpft zu haben. So steht bspw. die Aus-weitung auf Asien und Afrika noch auf der Tagesordnung. Aber die Bewegung steht und fällt mit ihrer Fähigkeit, Einigkeit in der Aktion zu bewahren und sich da-bei noch zu verbreitern, ohne da-bei den notwendigen politischen Klärungsprozess außer Acht zu lassen oder zu gängeln. Momen-tan neigt sich die erste Phase des Widerstands, die ich in Analogie zu der aufkeimenden sozialisti-schen Bewegung der Jahre 1830 bis 1840 als die der Utopie um-schreiben würde, ihrem Ende

entgegen.Die Losung von der „Verän-

derung der Welt, ohne die Macht zu ergreifen“ hat sich schnell vernutzt, nachdem sie – beson-ders, aber nicht ausschließlich in Lateinamerika – auf eine gewisse Resonanz gestoßen war. Heute geht es darum, die Macht zu er-greifen, um die Welt zu ändern. So wäre inzwischen ein Sozial-forum in Lateinamerika, das sich um das Problem der politischen Orientierung drücken und nicht eine vergleichende Bilanz der Er-fahrungen in Brasilien, Venezue-la, Bolivien und natürlich Kuba ziehen wollte, unvorstellbar. Ge-nau so wie ein europäisches So-zialforum undenkbar wäre, das nicht über europaweite Alterna-tiven zu der neoliberalen und im-perialistischen europäischen Uni-on diskutieren würde.

Vor dieser Sicht verträgt und ergänzt es sich völlig mit unserer Strategie, wenn wir uns als poli-tische Strömung mit eigener his-torischer Identität und eigenen Organisationsstrukturen an die-sen breiten Sammlungsbewe-gungen beteiligen und unsere Er-fahrungen und Zielvorstellungen einbringen. Dies gebieten sogar die Klarheit und der Respekt vor den Einheitsbewegungen. Die Strömungen, die nicht offen zu ihrer eigenen politischen Identi-tät stehen, neigen am ehesten zur Manipulation. Wenn wir nämlich dem französischen Philosophen Recht geben, der meinte, dass es in der Politik keine Tabula ra-sa gebe und man „immer wieder in der Mitte anfinge“, dann muss man dazu fähig sein, sich neuen Erfahrungen zu öffnen, ohne die alten dabei einfach über Bord zu werfen.

Wie kann eine marxistische Phi­losophie im Rahmen einer bür­gerlichen Universität bestehen und wie sehen deine Erfahrungen in dieser Hinsicht aus? Warum nimmt die Bourgeoisie hin, dass der Marxismus innerhalb einer seiner Ideologieschmieden ver­treten ist?

Das ist eine Frage der gesell-schaftlichen Kräfteverhältnisse. Schulen und Universitäten sind keine geschlossenen und gegen die gesellschaftlichen Widersprü-che abgeschotteten Bereiche. In-sofern ist der Begriff der „Ideo-logieschmieden“ problematisch, da er den Eindruck vermittelt, als handele es sich um Teile eines

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staatlichen Räderwerks der bür-gerlichen Herrschaft. In Wahr-heit kommt den Schulen und Universitäten eine Doppelfunkti-on zu: die Reproduktion der herr-schenden Gesellschaftsordnung einerseits aber auch die Vermitt-lung und Erarbeitung von Wis-sen andererseits. Daher unterlie-gen diese Institutionen den Kräf-teverhältnissen. In der Zeit um 68 hatte in Frankreich der Mar-xismus beträchtlichen Einfluss an den Universitäten, auch wenn es sicherlich übertrieben wäre, von einem „goldenen Zeitalter“ des Marxismus in Frankreich zu sprechen. Die Freiheit der Lehre und pädagogische Experimente genossen erhebliche Spielräume.

Diese relativen Errungenschaften sind nicht unumkehrbar und es liegt auf der Hand, dass der neo-liberale Roll-Back der 80er Jah-re den akademischen Normalzu-stand und die pädagogische Ord-nung weitgehend wieder herge-stellt hat. Man kann dies festma-chen an den Curricula, den Prü-fungsmodalitäten oder der Bud-getsteuerung der Universitäten. Und dennoch verbleibt etwas. Beispielsweise steht es mir völ-lig frei, wie ich meinen Unter-richt jedes Jahr gestalte. Dieses Jahr biete ich erstmals seit et-wa fünfzehn Jahren einen Kurs über die Lektüre des „Kapital“ an. Andere Themen sind der glo-bale Krieg und der permanente

Ausnahmezustand oder die theo-retischen Grundlagen der Glo-balisierung und das internatio-nale Recht… Das Problem liegt darin, dass die „marxistische Ge-neration“ der 60er Jahre – übri-gens eine Vereinfachung, da es sich immer bloß um eine bedeu-tende Minderheit gehandelt hat – im Begriff ist, abzutreten und sich die neuen Generationen dem kritischen Denken über Foucault, Bourdieu oder Deleuze nähern, was auch in Ordnung ist aber zugleich kommt es seltener zur Vermittlung des marxistischen Erbes.

Es liegt auf der Hand, dass die relativen universitären Freiheiten direkt von den gesellschaftlichen

Kräfteverhältnissen jenseits von Schule und Universität abhängen. Wenn sich diese Verhältnisse ver-schlechtern und die sozialen Be-wegungen Niederlagen einste-cken müssen, schlägt dies auch auf die Universitäten zurück. Aber wir müssen die Auseinan-dersetzungen inner- und außer-halb der Universität führen, weil es auch andere und inoffizielle Wege gibt, Wissen an der Basis und in den Verbänden zu erwer-ben und zu vermitteln.

Übersetzung aus dem Franzö­sischen: MiWe

Eine neue politische PeriodeDie Legitimitätskrise des neoli-beralen Projekts in Lateinameri-ka als Resultat sowohl der Sack-gasse, die dieses Programm dar-stellt, wie auch des Widerstandes gegen seine Durchsetzung hat ei-ne neue politische Periode in der Region eingeleitet. Das Anwach-sen der sozialen Kämpfe und der Aufstieg linker und progressiver Parteien auf institutioneller Ebe-ne sind Ausdruck dieser neu-en Situation. Die traditionelle Vorherrschaft des nordamerika-nischen Imperialismus in unserer Region, die er als seinen Hinter-hof ansieht, ist in Frage gestellt.

Eine neue Situation für die LinkeDie Krise des „real existierenden Sozialismus“ auf dem Höhepunkt der neoliberalen Hegemonie zwi-schen dem Ende der Achtziger und der ersten Hälfte der Neun-ziger hat die internationale Linke schwer getroffen.

Die Vorstellung, die sogar in unseren Reihen in Brasilien ver-breitet wurde, es handele sich ausschließlich um eine Krise des Stalinismus und seiner Erben, ist nicht haltbar. Diese Krise hat-te weltweit eine Neuformierung der Linken zur Folge. Es gab be-deutende Verluste, als größere Sektoren zum neoliberalen La-ger überliefen oder jegliche po-litische Aktivität aufgaben. Aber andererseits erodierten schritt-weise die alten ideologischen Wälle, die während des 20. Jahr-hunderts entstanden waren, ins-besondere was die Debatte zur Sowjetunion und Osteuropa an-geht, angesichts der neuen Rea-litäten und Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. In man-chen Fällen führte dieser Prozess zu Fusionen zwischen vorher ri-valisierenden Gruppen.

Das erneute Anwachsen sozi-aler Kämpfe am Ende der neun-ziger Jahre und im folgenden Jahrzehnt fand in einem neuen politischen Szenario statt. Im Ge-

gensatz zur Geschichte der Lin-ken des letzten Jahrhunderts gibt es nicht länger eine etablierte Hegemonie und keine politische Kraft, die in der Lage ist, diesen Prozess allein anzuführen.

Jedenfalls stellen sich neue strategische Fragen, neue theo-retische und politische Heraus-forderungen. Angesichts die-ser beginnen neue Ebenen sozi-alistischer und internationalis-tischer Aufbaupolitik zu entste-hen, gleichzeitig mit neuen Po-larisierungen. Auf unserer außer-ordentlichen Konferenz im April 2005 betonten wir vor dem Hin-tergrund unserer Erfahrungen in Brasilien und Lateinamerika eine dieser zentralen Fragen:

„Ebenso wie wir die Legi-timitätskrise des Neoliberalis-mus in Rechnung stellen müs-sen, müssen wir in Rechnung stellen, dass wir vor einer histo-rischen Perspektive stehen, in der kurz- und mittelfristig antikapi-talistische Revolutionen, die ei-nen Referenzpunkt und Anzie-hungspol für eine neue Epoche sozialistischer Revolutionen bil-den könnten, nicht abzusehen ist. In einer solchen Periode müs-sen wir den Gefahren widerste-hen, die in Pragmatismus, uto-pischen Perspektiven eines re-formierbaren Kapitalismus und darin bestehen, die emanzipato-rischen Kräfte durch Integrati-

on in den bürgerlichen Staat und den Markt zu neutralisieren. Das sind die zentralen Risiken für so-zialistische Parteien, die in ihren Ländern an die Regierung kom-men, so wie die PT. Gegen die Anpassung an oder die Integra-tion in die bürgerliche Ordnung zu kämpfen, dafür braucht es ei-ne historische Antwort, die auf der revolutionär-sozialistischen Tradition fußt, die die Herausfor-derung annimmt, die Fähigkeit für einen demokratischen Über-gang zum Sozialismus zu entwi-ckeln – im Rahmen von Pluralis-mus, partizipatorischer Demo-kratie und zunehmender Über-windung der Privatisierungslo-gik des Marktes, und in dialek-tischer Beziehung mit dem Pro-zess der Umformung der herr-schenden Weltordnung.“ (Reso­lution der außerordentlichen Na­tionalen Konferenz der DS, April 2005)

Prämissen für einen Inter-nationalismus des 21. Jahr-hundertsDie Debatte über einen Inter-nationalismus des 21. Jahrhun-derts sollte die Errungenschaften und das positive Erbe der vier In-ternationalen bekräftigen, aber ebenso eine Bilanz ihrer Feh-ler ziehen. Sie sollte die neuen Akteure benennen, die aufgetre-ten sind, ebenso wie die, die ge-

Brasilien: Eine internationalistische Politik für das 21. JahrhundertSozialistische Demokratie (DS), eine Tendenz innerhalb der PT (Arbeiterpartei), ist eine Strömung, die sich selbst von Beginn an als internationalistisch verstand. Das Ziel dieses Dokumentes ist es, dieses Verständnis vor dem hintergrund der neuen regionalen und weltweiten Situati-on und des Standes der Linken auf internationaler und la-teinamerikanischer Ebene neu zu definieren.

Democracia Socialista

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blieben sind (nach der generel-len Krise der Linken zu Beginn der letzten Dekade). Und sie soll-te vor allem fähig sein, einen of-fenen und pluralen Internationa-lismus zu propagieren, der eng mit den stattfindenden Kämpfen verbunden ist.

Wir gehören zu einer Tradi-tion in der sozialistischen Be-wegung, für die der Internatio-nalismus ein konstituierendes, strategisches Element ist. Unser Kampf sollte gemeinsame Ziele für die gesamte Welt beinhalten.

Die universelle Brüderlichkeit der Völker ist ein Wert, der hoch-gehalten werden muss und wie auch das Kapital seine Herrschaft globalisiert hat, so kann es auch keine isolierte sozialistische Ent-wicklung in dem einen oder an-deren Land geben. Ein postneoli-berales Projekt muss, wenn es ko-härent sein will, sozialistisch und internationalistisch sein. Antiim-perialismus, die Verteidigung der nationalen Souveränität unseres Volkes, die Denunzierung der Be-dingungen der Unterentwicklung unserer Länder und die Allianz ih-rer herrschenden Klasse mit dem internationalen Kapital sowie der Kampf dagegen, die theoretische und ideologische Weiterentwick-lung des Kampfes für den Sozia-lismus, für Ethik und Moral in der Politik, der andauernde Kampf für eine partizipatorische Demo-kratie, die notwendige Heraus-bildung politischer Kräfte auf der Basis der Klassenunabhängigkeit und die Fähigkeit, all dies zu leis-ten – das sind die fundamentalen Bedingungen für den Übergang und für die Überwindung des Neo-liberalismus.

Der Internationalismus des 20. JahrhundertsDas letzte Jahrhundert war durch eine Reihe von Konfrontationen zwischen verschiedenen inter-nationalen Projekten der Linken gekennzeichnet: Sozialdemo-kratie (2. Internationale) gegen Kommunismus (3. Internationa-le); Stalinismus (der kommunis-tischen Parteien) gegen Trotzkis-mus (4.Internationale); Moskau gegen Peking; in Lateinamerika Organisationen, die sich mit der kubanischen Revolution identi-fizierten gegen kommunistische Parteien. Diese Trennlinien ha-ben viel von ihrer Bedeutung verloren, auch wenn die strate-gischen Debatten des 20. Jahr-hunderts weiter von grundsätz-

licher Bedeutung bleiben. Aber es entstehen auch neue Polarisie-rungen in einer Situation, in der große Herausforderungen exis-tieren und die Antworten noch entwickelt werden müssen.

Die alten Trennlinien hatten oft zur Folge, dass der Klassen-kampf der Logik der Auseinan-dersetzung zwischen den Ap-paraten der verschiedenen Strö-mungen untergeordnet wurde. Dies blockierte in manchen Fäl-len die Kämpfe selbst.

Die Erfahrung der 4. Internati-onale im 20. Jahrhundert war un-gewöhnlich, da sie im Gegensatz zu anderen Strömungen durch-gängig nie Teil einer Massenpar-tei wurde, noch Massenorgani-sationen anführte, und da sie ih-re Politik nie in einem Staat an-wenden konnte. Gegründet 1938 als Resultat des Kampfes der Lin-ken Opposition gegen den Sta-linismus, wurde sie von Trotz-ki bei ihrer Gründung als Instru-ment gesehen, das revolutionäre Programm zu verteidigen (ge-gen die stalinistische Degenera-tion einerseits und gegen die so-zialdemokratische andererseits). Zu dieser Zeit war die Arbeiter-klasse der Industrieländer entwe-der unter der politischen Führung der Stalinisten oder der Sozialde-mokratie, oder direkt dem Nazifa-schismus verbunden und die Welt stand am Vorabend des 2. Welt-krieges. Dieser Rahmen, in dem die Gründung stattfand (“Vertei-digung des Programms“), zusam-men mit der für eine lange Peri-ode andauernden Weiterexistenz als marginalisierte Strömung in Bezug auf die Arbeiterklasse, und das sektiererische und doktrinäre Verhalten, gefördert durch die ge-ringe Größe der Organisationen, dienten als Rechtfertigung für ei-nen von vielen Organisationen der 4. Internationale verfolgten Kurs, der zu ihrer Degenerierung zu po-litischen Sekten führte (nach in-nen gewandt, außerhalb der poli-tischen Auseinandersetzung ste-hend und hauptsächlich damit be-schäftigt, sich untereinander zu bekämpfen etc.).

Trotzkismus oder revolutio-närer MarxismusDie Annäherung zwischen DS und 4. Internationale (Vereinig-tes Sekretariat) war das Resultat verschiedener Faktoren. Zum ei-nen war grundlegend, dass die 4. Int. auf ihrem 11. Weltkongress 1979 das Dokument „Sozialis-

tische Demokratie und Diktatur des Proletariats“ verabschiede-te, mit dem sie eine radikaldemo-kratische Vision für den Kampf um den Aufbau des Sozialismus präsentierte.

Zweitens gab gleichzeitig die 4. Int. ihren Anspruch auf, sich als die „Weltpartei der Revoluti-on“ zu begreifen oder es als die Aufgabe der Internationalen Lei-tung zu begreifen, die nationalen Sektionen zentral zu steuern.

Drittens wurde festgestellt, dass die Vorstellung, dass sich ei-ne revolutionäre Masseninterna-tionale „um die“ oder „unter der Führung der“ 4. Internationale bilden müsse, irrig sei, sondern dass die 4. Internationale eine der Komponenten einer solchen sei, mit der Perspektive einer pluralen Avantgarde, die nicht von der ei-nen oder anderen Strömung he-gemonisiert werden dürfe. Die-se Perspektive war grundlegend für die Eröffnung eines Dialoges mit anderen revolutionären Strö-mungen speziell in Mittelameri-ka in den achtziger Jahren.

Viertens arbeiteten bereits eine Reihe von mit der 4. ver-bundenen Theoretikern an einer Sicht des revolutionären Marxis-mus jenseits des exklusiven Be-zugs auf Trotzki und integrierten unterschiedliche kritische und re-volutionäre Standpunkte (viele davon im Widerspruch zum trotz-kistischen Erbe).

Der fünfte und wichtigste Punkt war, dass die DS, als sie sich der 4. Internationale annä-herte, als das akzeptiert wur-de, was sie war: als ein einzigar-tiges. Im Gegensatz zur vorherr-schenden trotzkistischen Les-art sah die DS ihre Beteiligung an der PT nicht als „entristische Taktik“. Um diese Besonderheit zu begreifen ist es ausreichend, das Verhalten der DS in der PT mit dem der „Convergencia So-cialista“, dem morenistischen Vorläufer der heutigen PSTU, zu vergleichen.

In dieser Periode trug die Dis-kussions- und Austauschbezie-hung mit der 4. Internationa-le zu unserer strategischen Aus-richtung betreffend die demo-kratischen, nationalen und Über-gangsprobleme bei.

Internationalismus und na-tionale WurzelnJose Carlos Mariátegui, der große peruanische Marxist, konstatierte 1928: „Wir wollen sicherlich den

Sozialismus in Amerika nicht als eine Kopie oder Reproduktion. Er muss eine heldenhafte Schöp-fung sein. Wir haben dafür un-ser Leben zu geben, in unserer eigenen Realität, in unserer ei-genen Sprache, für einen india-nisch-amerikanischen Sozialis-mus. Das ist eine Aufgabe für ei-ne neue Generation.“ (aus dem Artikel „Jahrestag und Bilanz“, Amauta Magazin, 3. Jhrg., Nr.17, Lima September 1928).

Das war in der Zeit, als Ma-riátegui innerhalb der 3. Interna-tionale gegen die mechanische Anwendung von deren Beschlüs-sen in Peru kämpfte – was der Stalinismus erst nach Mariáteguis Tod 1930 erreichte. Die 3. Inter-nationale betrachtete sich als die „Weltpartei der Revolution“ und beendete ihre Aktivitäten nur we-nig später (1943) als Teil eines Übereinkommens zwischen der UdSSR und den imperialistischen Mächten.

Der Marxismus erreichte un-seren Kontinent als eine „von au-ßen kommende“ Ideologie. Nach 150 Jahren wechselseitigen Aus-tauschs zwischen unseren Völkern, die den Marxismus als Werkzeug ihrer Befreiung sahen, muss der Marxismus sich, um eine univer-selle Denkschule zu werden, ent-europäisieren. Der Trotzkismus leidet am gleichen Problem.

Nicht nur, dass sich die DS in der PT nicht als „Implantat“ po-sitionierte, sondern sie nahm von Beginn an an den kollektiven Pro-zessen der Zusammenführung teil, sei es in der PT-Linken oder in der Gesamtpartei. Die gesamte Debatte zu revolutionärer Strate-gie, Sozialismus und Aufbau ei-ner revolutionären Partei, die von der DS in den 80er und 90er Jah-ren geführt wurde, zielte in die-se Richtung. Als die DS Mitte der 80er Jahre entschied, sich mit der 4. Internationale zu identifizieren, entschied letztere, dieses Heran-gehen und diese Ziele zu respek-tieren. Internationalismus bedeu-tete für uns nie, die nationalen Wurzeln oder die Notwendig-keit, den revolutionären Marxis-mus anzupassen und zu erneuern, zu negieren.

Die neue Etappe und ihre AkteureDas Zusammentreffen von neoli-beraler Krise und Volkserhebung in unserer Region schafft eine neue Situation. Mit dem Wieder-erwachen der Kämpfe des Volkes

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nach der Krise der Linken tau-chen neue Akteure auf und alte re-aktivieren sich. Ob es nun gut ist oder nicht – die Welt hat sich ge-ändert. Der Raum, der sich für ge-meinsame Kämpfe gegen die ver-schiedenen Ausdrucksformen der neoliberalen Globalisierung ge-öffnet hat, wurde nur aufgrund dieser neuen Situation möglich, in der die verschiedenen Kräfte der Linken sich auf internationa-ler Bühne, aber besonders in un-serem Kontinent, wieder finden.

Mitglieder der DS haben eine prominente Rolle dabei gespielt, internationale Verbindungen wie das WSF, die Versammlung der sozialen Bewegungen, die konti-nentale Kampagne gegen den AL-CA, die kontinentale soziale Al-lianz, den Weltfrauenmarsch, die südamerikanische Koordination der Gewerkschaftsdachverbände oder das Arbeiterforum für sozi-ale Ökonomie aufzubauen – ne-ben anderen Initiativen die be-deutende Fortschritte für den Kampf gegen die neoliberale Globalisierung, den Imperialis-mus, Krieg und Patriarchat auf unserem Kontinent darstellen.

Die große Wirkung der jüngs-ten Aktionen gegen Bush und den ALCA im Rahmen der Volks-versammlung in Mar del Plate (durchgeführt von der kontinen-talen sozialen Allianz) war ei-ne konkrete Demonstration der Richtigkeit dieser internationa-listischen Politik. Die bedeu-

tenden politischen Fortschritte, die auf dem WSF im Januar in Carácas gemacht wurden, weisen in die gleiche Richtung.

Diese Errungenschaften ste-hen weder außerhalb unserer na-tionalen Orientierung, noch wi-dersprechen sie ihr. Im Gegen-teil, sie sind die internationa-le Fortsetzung eben der selben. Und diese Orientierung basiert auf der Vorstellung von der der-zeitigen Situation und unseren Aufgaben auf diesem Kontinent, wie sie in den Resolutionen un-serer letzten beiden Konferenzen ausgedrückt ist.

Obwohl es vor 15 Jahren in einem anderen politischen Kon-text entstand, hat das Forum von Sao Paulo als ein Treffpunkt für ein breites Spektrum von lin-ken und progressiven Parteien Lateinamerikas überlebt. Wir möchten, dass das Forum eine aktivere Rolle dabei spielen soll, die Bilanz der Regierungserfah-rungen in unserer Region zu zie-hen, Verbindungen zwischen ver-schiedenen Parteiinitiativen und eine strategische Partnerschaft mit den Kampagnen herzustel-len, die von den sozialen Bewe-gungen Lateinamerikas entwi-ckelt wurden.

Enger Internationalismus contra Internationalismus für das 21. JahrhundertDie durch die Debatte über den Kurs der Lula-Regierung in der

brasilianischen Linken ausgelös-te Debatte war der Vorwand für die Genossen der 4. Internationa-le, die Art von gegenseitiger Zu-sammenarbeit, die seit Jahren mit der DS bestand, grundlegend zu ändern. Die Mehrheit des Inter-nationalen Komitees usurpierte Macht, die ihr nicht zusteht. Sie versuchte, innerhalb der DS zu intervenieren, zu entscheiden, wer Vertreter im IK sein solle, wer als Mitglied der DS zu be-trachten sei und was die DS dar-stellt. Gleichermaßen versuchte sie in Bezug auf die politische Situation in Brasilien in Euro-pa zu entscheiden, was die DS in Brasilien tun solle – dabei igno-rierend, dass die DS ihre eige-nen, auf innerer Demokratie ba-sierenden Entscheidungsstruktu-ren hat.

Zwei Jahre lang wurden die fraktionistischen und antidemo-kratischen Verhaltensweisen ei-niger Sektoren in der DS von Ma-növern unterstützt, die von den Leitungskörperschaften der 4. Internationale gesteuert wurden. Das führte zu einem Bruch in der Geschichte der gemeinsamen Ar-beit und des wechselseitigen Res-pekts, der von der Führung der Internationale ausging.

Zum anderen hat sich die Mehrheit des IK in letzter Zeit in Bezug auf unsere Region da-zu entschieden, sich von den in Gang befindlichen Prozessen der Neustrukturierung in Latein-

amerika abzusetzen und den Dia-log und die Zusammenarbeit mit kleinen „trotzkistischen“ Grup-pen, die auf unserem Kontinent überlebt haben, zu priorisieren.

Es gibt international und in Lateinamerika einen fruchtbaren Prozess der Neuzusammenset-zung der Linken , an dem die DS aktiv teilnimmt. Auf diesen be-zogen und innerhalb dessen soll-ten wir unsere Überlegungen und Beiträge entwickeln.

Ein neuer Internationalismus ist notwendig, und er wird in den Kämpfen, Kampagnen und regi-onalen und internationalen Ein-heitsbestrebungen aufgebaut. Die Sektoren, die nicht von Frak-tionalismus und Sektenwesen – in dem anachronistischerwei-se einige ihre Zuflucht suchen – angesteckt sind, sind unsere na-türlichen Bündnispartner bei die-sem Unternehmen. Die DS wird ihre internationalistische Arbeit mit den Teilen der 4. Internatio-nale fortführen, mit denen sie be-reits wechselseitige Zusammen-arbeit pflegt, und mit allen Teilen der internationalen, regionalen und brasilianischen Linken, die bereit sind, den Internationalis-mus zu erneuern und ihn fähig zu machen, die Herausforderung des Aufbaus des Sozialismus im 21. Jahrhundert zu bewältigen.

Aus dem Englischen: Thadeus Pato

Der neue Internationalismus und die Vierte Internationale Eine erste Antwort auf das Dokument der DS „Eine internationalistische Politik für das 21. Jahrhundert“

1. Das Dokument der DS er-scheint nach einem Zeitraum von fast zwei Jahren, in denen die GenossInnen der nationalen Koordination der DS nicht an den Sitzungen des Internationa-len Komitees der 4. Internationa-

le teilgenommen haben und in ei-ner Periode, in der es so gut wie keine Diskussion mit ihnen ge-geben hat. Deswegen hoffen wir ernsthaft, dass dieses Dokument den Neubeginn einer freimütigen und offenen Debatte mit den Ge-

nossInnen, mit denen uns eine so lange Geschichte verbindet, be-deuten möge. Und entsprechend möchten wir betonen, dass dieses Dokument nicht dazu dienen kann, das Einfrieren unserer ak-tuellen, wechselseitigen Bezie-hungen zu rechtfertigen.

Unseres Erachtens enthält das Dokument der DS zwei Haupt-achsen. Die eine bezieht sich auf die Natur und die Verortung des Internationalismus bezüglich der neuen Konjunktur des 21. Jahr-hunderts. Wir meinen, dass di-es ein Thema von wesentlicher Bedeutung und die Einladung, dies zu diskutieren, völlig ange-

messen ist. Was diese Frage be-trifft, so sind wir der Meinung, dass die Mehrheit dessen, was in dem Dokument der DS geschrie-ben steht, Überlegungen sind, die von der Mehrheit der Mitglieder der 4. Internationale in ihren je-weiligen Ländern geteilt werden. Daneben meinen wir, dass es As-pekte dieses Themas gibt, deren Behandlung in diesem Schrift-stück unzureichend oder unrich-tig zu sein scheint – insbesondere die Rolle gewisser Regierungen in Lateinamerika v. a. bezüglich des neuen Internationalismus von heute. Die zweite Achse ent-hält eine Reihe von Charakteri-

Sowohl das Dokument der GenossInnen der DS als auch di-ese Antwort wurden vor einigen Monaten geschrieben, vor den Präsidentschaftswahlen in Brasilien und anderen Ereig-nissen, die die Situation geprägt haben. Wir hoffen, dass die GenossInnen an dem nächsten Treffen des Internationalen Komitees teilnehmen werden, um die Diskussion fortzufüh-ren. Diese Antwort enthält einige Überlegungen, die dazu dienen sollen, diese Diskussion zu beginnen.

Exekutivbüro der IV. Internationale

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sierungen und Anschuldigungen die Haltung der 4. Internationale und ihre Leitung betreffend. Wir meinen, dass letztere auf falschen oder fehlinterpretierten Informa-tionen beruhen und einer klaren und kategorischen Antwort be-dürfen. Jetzt aber eines nach dem anderen.

2. Vielleicht ist es nicht so über-raschend, dass wir mit vielen der von der DS aufgegriffenen The-men einverstanden sind. Es sind Positionen – betreffend die neue Weltlage und die Legitimations-krise des Neoliberalismus, die hohe Bedeutung der Aufgabe der sozialen Bewegungen, den Auf-bau der Sozialforen und der Be-wegungen für eine andere Welt, die zumindest partielle Erosion der alten ideologischen Trennli-nien, die die Arbeiter- und Volks-bewegung während des vergan-genen Jahrhunderts prägten, etc. – die wir in den vergangenen 15 Jahren gemeinsam als zen-tralen Teil der Analyse und Pra-xis der 4. Internationale erarbei-tet haben, in einem Prozess, in dem die GenossInnen der DS ei-ne unverzichtbare Rolle gespie-lt haben. Ebenso haben die zen-tralen Resolutionen des 15. Welt-kongresses – die, wie wir hof-fen, in der Mitgliedschaft der DS diskutiert wurden und für die al-le Delegierten der DS zusammen mit der großen Mehrheit der De-legierten der anderen Länder ge-stimmt haben – versucht, die-se Gemeinsamkeit der Überle-gungen zu systematisieren. Sie sind essentieller Bestandteil des Dokuments „Widerstand gegen die kapitalistische Globalisie-rung: die Chance für einen neuen Internationalismus“, und einiger der wichtigsten Teile des Doku-ments „Rolle und Aufgaben der 4. Internationale“.

Ähnliche Konzepte wurden in ausgedehnten Debatten, in Do-kumenten und Publikationen un-serer Bewegung entwickelt, ein-schließlich beispielsweise ver-schiedener Schriften von Genos-sen wie Michael Löwy, Daniel Bensaïd und Pierre Rousset.

Wir teilen gleichermaßen die in dem Dokument ausgedrückte Besorgnis, dass es notwendig sei, dass der revolutionäre Marxis-mus national und regional Wur-zeln schlagen müsse, dass er ei-ne lateinamerikanische Identi-tät annehmen oder stärken müs-se (und auch eine asiatische, afri-

kanische etc.). Im Fall Lateina-merikas zum Beispiel haben wir uns seit vielen Jahren mit dem Bezug auf den indigen-amerika-nischen Marxismus eines Mariá-tegui identifiziert.

Die GenossInnen stellen ei-ne Verbindung her zwischen die-ser Notwendigkeit eines „endo-genen“ Marxismus und ihrer ei-genen Geschichte in der PT. Ein-verstanden! Tatsächlich wurden die Positionen der DS zu dieser Frage zu Beginn der 80er Jah-re in intensiver Zusammenarbeit mit anderen GenossInnen der Vierten ausgearbeitet. Ein Bei-spiel wäre das Gründungsdo-kument „Die PT und die revo-lutionäre Partei“, das zu erklä-ren suchte, warum die Teilnahme der RevolutionärInnen an der PT nicht die Form des „Entrismus“ annehmen könne.

Diese Analyse und diese Pra-xis der DS hatten einen spezi-fisch brasilianischen Charak-ter. Aber für die Vierte hatten sie auch noch eine Resonanz weit darüber hinaus. Sie stellten ei-ne Verbindung mit sehr viel äl-teren Erfahrungen der internatio-nalen Arbeiterbewegung im Auf-bau von Massenparteien her. Und sie dienten als Ansatzpunkt da-für, dass andere GenossInnen in anderen Ländern begannen, unter unterschiedlichsten Umständen die Herausforderung anzuneh-men, breite antikapitalistische Massenparteien aufzubauen.

Wo also ist das „Neue“ in der internationalistischen Fragestel-lung der DS, das es dem Genos-sen Joaquin erlaubte, seinen Text mit der folgenden Herausforde-rung in Richtung auf die Leitung der Vierten Internationale zu be-schließen: „Auf diese Herausfor-derung zu antworten, dazu ist die gesamte revolutionäre Linke auf-gerufen, eingeschlossen die 4. In-ternationale. Es ist diese Heraus-forderung, der sich die Mitglied-schaft der DS stellt. (aber Vor-sicht! Einen verbrauchten und „schlechten Internationalismus“ zu wiederholen, führt diejenigen, die auf den Fehlern der Vergan-genheit beharren, unwiderruflich von diesem Weg ab)“ ?

Hier geraten wir auf das Ter-rain der Zweideutigkeit und der Unzulänglichkeit, das wir oben erwähnt haben, denn das aktuelle Dokument der DS ebenso wie der Text von Joaquin sprechen da-von, „die neuen Akteure zu iden-tifizieren“ und von den „Fehlern

der Vergangenheit“. Aber sie prä-zisieren weder das eine noch das andere.

Um größere Klarheit her-zustellen, wollen wir auf den Rahmen zurückgreifen, der in den früheren Diskussionen der Vierten gesteckt wurde und ver-suchen, diesen mit den „neuen“ Fragestellungen der DS abzu-gleichen.

Oftmals haben wir in der Vierten von drei Ebenen gespro-chen, auf denen sich die Mög-lichkeiten eines neuen Internati-onalismus abspielen. In verein-fachter Form sind dies a) die so-zialen und zivilen Bewegungen – von denen viele im Weltsozial-forum zusammenfließen; b) die neuen Parteien und breiten po-litischen Kreise antikapitalisti-scher und antiimperialistischer Natur; c) die Umgruppierungen zwischen revolutionären Sozia-listen. Das 8. Kapitel des Doku-ments über unsere Aufgaben des 15. Weltkongresses fasst dies fol-gendermaßen zusammen:

„Auf dem Weg zu einer neuen re­volutionären Masseninternatio­nale

1. … Ein neuer Internationa­lismus ist durch „Seattle“ mit Macht erschienen …

2. Ein qualitativer Sprung bei der Schaffung einer neuen In­ternationale ist ohne einen be­deutenden Beitrag seitens dieser neuen Kräfte nicht vorstellbar. In der derzeitigen Etappe können diese bedeutenden und verschie­denen Kräfte sich nicht in einer neuen internationalen Organi­sation bündeln, aber sie können politisch gestärkt werden durch einen Prozess von Erfahrungen und Klärungen, und durch die Intervention der revolutionären Kräfte in diese Debatten, insbe­sondere der 4. Internationale.

3. Die pluralen antikapitalis­tischen und antiimperialistischen Umgruppierungen der Linken sind noch schwach….. Nur die di­rekte Konfrontation zwischen der herrschenden Klasse und dem Proletariat, …..kann die Kräfte­verhältnisse verändern, soziale Verankerung erreichen und Ak­tivisten hervorbringen, um auf nationaler Ebene eine neue an­tikapitalistische, internationalis­tische, feministische politische Kraft aufzubauen mit der Per­spektive, eine neue Internationa­le zu schaffen.

4. Drittens gibt es eine bedeu­tende Entwicklung innerhalb von und zwischen einigen aus dem „Trotzkismus“ kommenden oder sich „trotzkistisch“ nennenden Strömungen. … Das trifft noch mehr auf die ex­„maoistischen“ Organisationen zu. … Eine An­näherung zwischen Gruppie­rungen, die sich auf den Marxis­mus und die sozialistische Revo­lution beziehen, ist sinnvoll dann, wenn sie sich auf die Kämpfe, die realen Bewegungen und die aktu­ellen und zukünftigen Aufgaben bezieht.

Wir stellen fest, dass aktu­ell drei politische und organi­satorische Entwicklungen inter­nationalistischer Art existieren: Die „reale Bewegung“ gegen die Globalisierung und ihre so­ziopolitischen Strömungen; die Konvergenz antikapitalistischer und pluraler politischer Strö­mungen; die Strömungen der re­volutionären Linken. Diese Situ­ation könnte sich über eine gan­ze Periode ausdehnen. Zweifel­los werden wir dort, wo Annähe­rungen möglich erscheinen, Ein­heitsinitiativen ergreifen, um zu ernsthaften Umgruppierungen zu kommen.“

Also: Wie verhält sich dies zu dem Entwurf eines Internationa-lismus für das 21. Jahrhundert, den die DS jetzt vorlegt?

Was die erste Ebene betrifft, so scheint es, wie wir schon ge-sagt haben, keine größeren Dif-ferenzen zu geben. Das Doku-ment der DS legt besonderes Ge-wicht auf diese Ebene – die Zu-sammenarbeit zwischen den so-zialen Bewegungen Lateiname-rikas und der Welt – und betont die wichtige Rolle, die Aktivis-tInnen der DS in dieser Konver-genzbewegung gespielt haben. Zweifellos ist dies der deutlichs-te Aspekt des „neuen“ Interna-tionalismus, der entsteht. Die 4. Internationale sieht sich als Gan-zes als Teilnehmer an diesem Prozess. Wir arbeiteten gemein-sam – und hoffen, dies auch wei-terhin gemeinsam tun zu können – am Aufbau spezifischer Bewe-gungen wie dem Weltmarsch der Frauen, und spezifischer Kam-pagnen, wie der bezüglich der Schuldenproblematik und der Tobinsteuer, wie auch an der Stärkung breiter Plattformen wie dem WSF, nicht nur in Latein-amerika sondern auch in Euro-

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pa, Afrika und Asien (siehe zum Beispiel die exemplarische Ar-beit, die kürzlich die Genos-sInnen der LPP in Pakistan – ständige Beobachter in der 4. In-ternationale – beim WSF in Ka-ratschi geleistet haben).

Was die zweite Ebene betrifft, so sagt das Dokument der DS dazu wenig, aber es scheint auch hier Übereinstimmung zu bestehen, obwohl unterschiedliche Beur-teilungen im Detail vorliegen könnten. Es wäre zum Beispiel zu diskutieren, bis zu welchem Punkt das Forum von São Paulo als nützliches Feld für breite an-tikapitalistische und antiimperi-alistische politische Kräfte, um sich zu artikulieren, dienen kann oder nicht. Es wäre zu diskutie-ren, bis zu welchem Punkt man sich mit Organisationen wie der mexikanischen PRD oder der Frente Amplio in Uruguay als „neuen Akteuren“ des Interna-tionalismus des 21. Jahrhun-derts identifizieren kann. Aber die grundsätzliche Auffassung der DS – was breite politische Räume anbelangt– stimmt of-fensichtlich mit den damals in vielen Teilen der 4. Internatio-nale ausgearbeiteten Positionen überein.

3. Aber die dritte Ebene betref-fend scheint es eine bedeutende Differenz zu geben. Mehr noch, in dem aktuellen Dokument der DS scheint es sie nicht zu geben. In den Diskussionen der Vierten wurde die Beteiligung marxis-tischer, revolutionärer, national und international organisierter Kräfte immer als eine unabding-bare Komponente (nicht die ein-zige und auch nicht exklusiv von der 4. Internationale oder dem „Trotzkismus“ gestellt) in der er-folgreichen Herausbildung eines neuen Internationalismus auf den beiden erstgenannten Ebenen be-trachtet.

Nun ist nicht klar, welche Bedeutung die neuen Beurtei-lungen der DS der Organisation der RevolutionärInnen auf inter-nationalem Niveau beimessen – wenn sie ihr denn eine beimes-sen. Es wäre wichtig, dass die GenossInnen hier Klarheit schaf-fen. Man müsste wissen, ob für die GenossInnen die Existenz der 4. Internationale selbst – und das bedeutet, die Notwendigkeit der Organisierung der revolutio-nären MarxistInnen auf internati-

onaler Ebene im Hinblick auf ei-ne gemeinsame Vision einer so-zialistischen Demokratie und den Kampf für ihre Durchsetzung – sich in einen dieser „vergan-genen Fehler“ verwandelt hat.

Wir hoffen, dass die Genos-sInnen der DS nicht etwa glau-ben, dass eine informale und in-formelle Beziehung zwischen den Kräften der PT, der Frente Amplio, dem MVR etc. ein Er-satz sein könnte für den demo-kratischen Raum für Ausarbei-tung, Entscheidung und Aktion, den organisierte Revolutionä-rInnen bieten.

Es gibt einen weiteren As-pekt dieser dritten Ebene, der diskussionswürdig ist. Wie wir sagten, fehlt sie in diesem Doku-ment. Aber im ersten Teil der po-litischen Resolution der außer-ordentlichen Konferenz der DS vom April letzten Jahres – aus dem viele der Formulierungen des jetzigen Dokumentes stam-men – wie auch in einigen der In-terventionen von Führern der DS auf dem WSF in Carácas scheint eine andere Auffassung von die-ser dritten Ebene auf. Es ist die Meinung, dass die neuen Regie-rungen „der Linken, zumindest in Lateinamerika, ein weiteres Kettenglied des Internationalis-mus des 21. Jahrhunderts darstel-len.“ Die Formulierungen sind nicht sehr präzise. Man nennt es neuen Internationalismus, „Be-ziehungen“ mit den neuen Regie-rungen einzugehen. Man erwähnt die Stärkung des Mercosur oder die Bildung von Blöcken wie die G20 im Umfeld der WTO als Ausdruck des Widerstandes ge-gen den Neoliberalismus.

Nun streiten wir die Bedeu-tung dieser Phänomene ebenso wenig ab wie die Notwendigkeit für die RevolutionärInnen, diese „Beziehungen“ in die Aufgaben einzubeziehen, die erfüllt werden müssen, um einen neuen Interna-tionalismus ins Rollen zu brin-gen. Aber welche Art von Be-ziehung und mit welchen dieser Regierungen? Und das führt uns zum Kern der Sache.

Denn die internationale Po-litik Brasiliens im Rahmen der WTO weist ebenfalls einen wi-dersprüchlichen und zunehmend konservativen Charakter auf, so als man in Hongkong Ende 2005 Vereinbarungen, insbesondere zur Baumwolle, unterzeichne-te, die die Interessen von Milli-onen afrikanischer Produzenten

verletzten. Wir wollen auch nicht die brasilianische Teilnahme an der Entsendung von Truppen nach Haïti vergessen.

Denn über allen neuen For-meln und Dokumenten der DS bezüglich des neuen Internati-onalismus des 21. Jahrhunderts schwebt die Frage der Beteili-gung der Leitungsmehrheit der DS an einer Regierung Lula, de-ren Politik insgesamt soziallibe-ral ist. Es sind die gleichen Ge-nossInnen, die dieses Problem in eben diesem Dokument kristall-klar aufzeigen:

„In einer solchen Periode müssen wir den Gefahren wider-stehen, die in Pragmatismus, uto-pischen Perspektiven eines re-formierbaren Kapitalismus und auch darin bestehen, die eman-zipatorischen Kräfte durch Inte-gration in den bürgerlichen Staat und den Markt zu neutralisieren. Das sind die zentralen Risiken für sozialistische Parteien, die so wie die PT in ihren Ländern an die Regierung kommen.“

Es war exakt diese Befürch-tung, die das Internationale Ko-mitee in der Vergangenheit äu-ßerte. Die Ergebnisse des 13. Na-tionalen Treffens der PT bekräfti-gen diese Prognose. Wie intensiv auch immer die GenossInnen der DS einen Kampf darum führten, in die Resolutionen der PT fort-geschrittene Positionen einzu-bringen betreffend die Notwen-digkeit einer Veränderung des ökonomischen Modells oder die Ausweitung der partizipativen Demokratie, so hat Lula deutlich klargestellt, dass die politischen und ökonomischen Grundlagen seiner zweiten Regierung sich nicht ändern werden.

Für uns ist offensichtlich, dass auf internationalem Ni-veau die venezolanische Regie-rung, und derzeit auch die boli-vianische, einen von den übrigen lateinamerikanischen Regie-rungen unterschiedenen Charak-ter haben. In der Art und Weise, wie sie die Kämpfe und die Inter-essen der sozialen Bewegungen unterstützen (und in unterschied-lichem Ausmaß diesen Bewe-gungen eine politische Richtung geben), können sie sehr wohl als „neue politische Akteure“ dieses sich entwickelnden Internatio-nalismus des 21. Jahrhunderts „identifiziert“ werden. Dass Hu-go Chávez immer mehr zur Sym-bolfigur für die Kräfte des Volkes und der Linken weltweit wird, ist

in diesem Sinne evident.Auch uns erscheint es legi-

tim, und manchmal auch nötig, in Bezug auf begrenzte Ziele nach punktuellen, limitierten Alli-anzen mit einigen der anderen la-teinamerikanischen Regierungen zu suchen. Aber das bedeutet nicht, dass die Regierungen von Argentinien, Uruguay oder Bra-silien sich in strategische Bünd-nispartner für die Schaffung eines neuen Internationalismus verwandeln.

Die Ereignisse von Mai 2006 demonstrieren klar, dass diese Regierungen keine sicheren Ver-bündeten für Venezuela und Bo-livien sind und noch viel weniger Akteure eines neuen Internatio-nalismus. Der kann nicht aufge-baut werden, indem man die In-vestitionen von Petrobras in Bo-livien gegen das bolivianische Volk verteidigt, noch durch die Unterstützung der Agroexpor-teure in der WTO oder mittels der Joint Ventures der uruguay-ischen Papierindustrie gegen die argentinischen Umweltschützer.

Wir sind nicht einverstan-den mit der Beteuerung der DS, dass die Regierung Lula ein stra-tegischer Bündnispartner der bo-livarianischen Revolution sei. Was Brasiliens Ablehnung ei-ner direkten Aggression gegen Venezuela betrifft, oder die ge-meinsame Opposition mit die-sem Land gegen die Wiederer-öffnung der Verhandlungen über den ALCA, so gilt es das zu un-terstützen. Aber es ist auch klar, dass die schlaueren Köpfe in Washington subtilere Vorschläge haben – man braucht nur die Er-klärungen des Senators Richard Luger, von Tom Shannon oder von Condoleezza Rice selbst sorgfältig zu lesen –, in denen sie die Regierung Lula als ihre beste Option ansehen, die Radikalität des venezolanischen Prozesses in Zaum zu halten. (Wenn es wahr ist, dass in der Regierung Chávez einige Leute Illusionen in Bezug auf Lula hegen, so gibt es andere, die sich seiner Grenzen sehr ge-nau bewusst sind.)

4. Wenden wir uns kurz der zweiten Achse des Dokumentes der DS zu. Diese gibt zu verste-hen, dass die Grundlage der Pro-bleme zwischen der Leitung der DS und dem Internationalen Ko-mitee der 4. Internationale in ei-ner Regression der letzteren von der offenen und pluralen Haltung

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der 80er Jahre – Dokument zur sozialistischen Demokratie, Un-terstützung des Aufbaus der PT etc. – auf einen weitreichenden programmatischen Dogmatis-mus, der die „Irrtümer der Ver-gangenheit“ reproduziere, liege.

Wir haben bereits die generel-le Orientierung der 4. Internati-onale angesichts der neuen Aus-drucksformen des Internationa-lismus erläutert. Eben deswegen fällt es uns schwer zu verstehen, worauf sich die GenossInnen be-ziehen, wenn sie schreiben, dass „die Mehrheit des Internationa-len Exekutivkomitees (sic!) ent-schied, sich von den Prozessen der Neuzusammensetzung in der lateinamerikanischen Linken ab-zusetzen und den Dialog und die gemeinsame Aktion mit kleinen „trotzkistischen“ Gruppen, die in unserem Kontinent übrig geblie-ben sind, vorzuziehen.“

Sie sprechen ja wohl nicht von der Teilnahme der mexikanischen GenossInnen der PRT oder der LUS an der „Anderen Kampa-gne“ (la otra campaña) der Zapa-tisten oder an der Front der sozi-alistischen Linken. Ebenso wenig können sie sich auf die vorherige Teilnahme der ecuadorianischen GenossInnen an Pachakutik, auf die der puertoricanischen an der sozialistischen Front oder auf die zentrale Rolle unserer kolumbi-anischen SympathisantInnen am demokratischen alternativen Pol und der Präsidentschaftskampa-gne von Carlos Gaviria beziehen.

Wie wir oben bereits aufge-zeigt haben, hätte eine solche weitgehende und sektiererische Orientierung in Lateinamerika, wenn sie denn existierte (und sie existiert in der Tat nicht) auch nicht den geringsten Sinn, wenn man die Anstrengungen sieht, die so gut wie alle Sektionen und SympathisantInnen der 4. Inter-nationale machen, um breite anti-kapitalistische Umgruppierungen unter sehr unterschiedlichen na-tionalen und regionalen Bedin-gungen aufzubauen. Die Bei-spiele des Linksblocks in Portu-gal, der rotgrünen Allianz in Dä-nemark, der WASG in Deutsch-land, der SSP in Schottland oder von RESPECT in England, alle mit parlamentarischer Präsenz, lassen sich sicher nicht auf „klei-ne trotzkistische Gruppen“ redu-zieren. Und im Fall von Italien haben die GenossInnen von ih-rer Gründung an in der Partei der kommunistischen Neugründung (PRC) mitgearbeitet – sie waren Teil der Mehrheit, als die gene-relle Orientierung der Partei dies zuließ, und bauten eine Opposi-tion auf, als die Orientierung der derzeitigen Mehrheitsströmung auf eine sozialliberale Regierung sie zu diesem Schritt zwang, wie es derzeit der Fall ist.

Als Teil dieser Orientierung sind wir sicherlich bereit, „in Di-alog und gemeinsame Aktion mit übrig gebliebenen trotzkistischen Gruppen einzutreten“, dort wo es möglich und nützlich ist, so wie

wir es mit vielen anderen revo-lutionären Kräften tun. Es wa-ren verschiedene Kräfte unter-schiedlicher Herkunft, die an un-serer Seite an einigen dieser na-tionalen Initiativen teilgenom-men haben, wie auch an den ver-schiedenen Treffen der antika-pitalistischen Linken auf euro-päischer, asiatischer, internatio-naler und lateinamerikanischer Ebene. Vermutlich sind wir nicht in jedem Fall mit ihrer jeweiligen Analyse der Situation einverstan-den oder mit ihren Prioritäten in Bezug auf das jeweilige Land oder die Region – Venezuela, Ar-gentinien, Brasilien, Lateiname-rika usw. Aber einen derartigen Austausch oder eine Zusammen-arbeit abzulehnen, wäre von un-serer Seite tatsächlich sektiere-risch – und es wäre gleichbedeu-tend damit, die Notwendigkeit dieser dritten Ebene des neuen Internationalismus zu negieren, von der wir weiter oben gespro-chen haben.

5. Schließlich glauben wir, dass der Vorwurf, die Leitung der 4. Internationale habe versucht, in der DS zu „intervenieren“ (ein Vorgehen, das speziell in der bra-silianischen Linken eine negati-ve Erblast darstellt), auf einem Missverständnis beruht. Mindes-tens aber beruht es auf einer völ-lig irrigen Interpretation sowohl der konkreten Ereignisse wie der Statuten der 4. Internationale1:

1. Das Internationale Komi-tee hat nicht entschieden, wer die DS in ihm repräsentieren solle. Die GenossInnen sollten eigent-lich wissen, dass die Mitglieder des IK individuell vom Weltkon-gress gewählt werden und nur ein Weltkongress die Zusammenset-zung des IK ändern kann.

2. Das Internationale Komitee hat nicht entschieden, wer Mit-glied der DS ist. Weiterhin er-kennt es als Mitglieder der In-ternationale alle Mitglieder der DS an, ob sie nun inner-halb oder außerhalb der PT ste-hen. Das ist eine Vorgehenswei-se, die vollständig mit den Richt-linien des IK übereinstimmt, und die beklagenswerterweise in den vergangenen Jahren mehr-fach gewählt werden musste, bei der Teilnahme der Leitungsmit-

1 Die neue, einfachere Version die-ser Statuten wurde ebenfalls auf dem 15. Weltkongress fast ein-stimmig angenommen, mit den Stimmen der brasilianischen De-legierten.

glieder der DS ebenso wie im Fall von Mexiko und Uruguay.

3. Das Internationale Komitee hat nicht beabsichtigt, „in Europa zu definieren, was die DS in Bra-silien tun soll“. Das einzige, was das IK getan hat, war, nach lan-gem Zuwarten und ausgedehnten Diskussionen, seine Meinung zu einem Aspekt der brasilianischen Politik kundzutun, der die Inte-ressen aller Sektionen und die politische Identität der Internati-onale selbst berührte. Es war im-mer die Tradition der Vierten In-ternationale – eine Tradition, auf die wir stolz sind und die wir verteidigen –, dass nur die Ge-nossInnen in einem bestimmten Land selbst darüber entscheiden können, welche Taktik in ihrer nationalen Realität einzuschla-gen ist. Allerdings wissen die Ge-nossInnen der DS, dass die Frage der Teilnahme von marxistischen RevolutionärInnen an bürger-lichen Regierungen, seien es Ko-alitionen, prokapitalistische, neo-liberale oder sozialliberale etc., eingeschlossen nationalistische, reformistische oder sozialdemo-kratische, eine lange und kon-troverse Geschichte in der inter-nationalen Arbeiter- und Volks-bewegung hat. (Und nicht nur in Europa, sondern auch in Asien und Lateinamerika). Das geht weit über eine taktische Frage hi-naus. Es berührt grundsätzliche Themen der programmatischen Identität unserer Bewegung wie die Klassenunabhängigkeit und die permanente Revolution. Des-wegen ist es nicht überraschend, dass die brasilianische Situati-on eine Welle von Diskussionen und Fragen nicht nur in den Rei-hen der Vierten selbst sondern in vielen anderen Teilen der inter-nationalen Linken ausgelöst hat. Und deshalb braucht es auch kei-nen Rekurs auf den „Fetisch der Verteidigung des Programms“, um zu verstehen, dass die Lei-tung unserer Internationale ab-solut verpflichtet war und ist, da-rüber zu diskutieren und zu einer kollektiven Bewertung der Situa-tion zu kommen. Das war es, was sie getan hat. Wir hoffen ernst-haft, dass die GenossInnen der Leitung der DS wieder an diesen Diskussionen und Bewertungen zusammen mit dem Rest der In-ternationale teilnehmen werden.

Aus dem Spanischen: Thadeus Pato

Eine internationalistische Politik für das 21. Jahrhundert: „Globalisierung der Solidarität“

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DäNEMARK

Nach vielen Jahren Unruhe bis hin zu dezidierten Straßenkämpfen gibt es jetzt nur noch ein leeres Grundstück, wo bis vor kurzem ein Haus stand, das von Initiativen und Kreativität sprudel-te und gleichzeitig ein Symbol für die Geschichte der Arbeiter- wie der Frau-enbewegung war.

Die Verantwortung dafür tragen So-zialdemokraten und bürgerliche Par-teien im Stadtrat, die das Ungdomshus-et (Jugendhaus) am Jagtvej verkauften – ein Haus, von dem der konservative Kulturbürgermeister Thustrup Hansen schon 1999 sagte, es sei der Jugend ge-schenkt und man könne „ein Geschenk nicht erst geben und dann wieder zu-rücknehmen“ (TV-Lorry, 07.03.07).

Dennoch entschloss sich eine poli-tische Mehrheit, das Haus zu verkaufen und anschließend der Christensekte Fa-derhuset (Vaterhaus) das Recht zu ge-ben, die jungen Nutzerinnen und Nut-zer hinauszuwerfen und das Haus nie-derzureißen. Diese Politiker haben das Problem geschaffen und sich jeder ein-leuchtenden Lösung widersetzt. Nut-zerinnen und Nutzer des Jugendhauses mussten nicht nur diese politische Ver-stocktheit mit ansehen; sie wurden auch aus ihrer Zufluchtstätte hinausge-worfen und mussten erleben, wie das Haus von Kränen und Bulldozern zer-trümmert wurde.

Auch die Regierung hat versucht, aus dem Konflikt billige Punkte zu ho-len, indem sie sich als „Verteidiger des Rechtsstaats gegen verhätschel-te Jungterroristen“ darstellte. Mit vol-ler Unterstützung für die Polizei und Erklärungen über die Verantwortung der Eltern und der Androhung, sie für Zerstörungen ökonomisch verantwort-lich zu machen, bestritten sie jede po-litische oder gesellschaftliche Ver-antwortung für den Konflikt, der al-lein zum Ausdruck individueller Pro-bleme einiger Jugendlicher und deren mangelnder Erziehung gemacht wurde – wobei die Proteste gegen die wach-sende Gleichschaltung und Individua-lisierung, die Jugendliche erleben, völ-lig ignoriert werden.

Auch die Presse trägt Verantwor-tung. Was dieser Konflikt für den neu-gegründeten Nachrichtenkanal TV2-News bedeutete, kann in Werbekro-nen gar nicht gemessen werden – mit „breaking news“ und einem Helikopter über [dem betroffenen Stadtteil] Nør-rebro rund um die Uhr hat der Sender es verstanden, das Maximum herauszu-holen. Der Rest der Presse folgte mit mehr oder weniger gut untermauerten, aber immer dramatisierenden Über-schriften.

Dass die Polizei sich als Werkzeug in einem politischen Konflikt hat ein-setzen lassen, kann nicht verwundern. Die Polizei trägt Mitverantwortung für die Eskalation des Konflikts durch ih-re Strategie, „zuerst zuzuschlagen“, le-gale Demonstrationen aufzulösen, Ver-haftungen vorzunehmen und bis dahin friedliche Demonstrationen mit Trä-nengas anzugreifen.

Gleichzeitig hat die Polizei die Stimmung angeheizt und versucht, die Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu untergraben, indem sie die Men-schen aufforderte, sich von den Straßen Nørrebros fernzuhalten. Auch Durch-suchungen von Privatwohnungen und Büros politischer Organisationen – manchmal auch ohne richterliche Durchsuchungsbefehle – sowie Mas-senverhaftungen und Untersuchungs-haftbefehle am Fließband ohne über-zeugende juristische Behandlung des Einzelfalls dienten mit dazu, die Stim-mung anzuheizen und den Rechtsstaat zu untergraben, den die Polizei doch schützen soll.

In dieser Situation verwundert es nicht, dass einige frustriert sind und zu Gewalt und Zerstörung greifen. Es kann auch nicht verwundern, dass ei-nige Gruppen auf die Ideen kommen, dass dies die einzige und beste Art sei, das System zu bekämpfen. Es ist wirk-lich nicht schwer zu verstehen, dass manche so reagieren.

Aber dieses Verständnis ändert nichts daran, dass das Zerschlagen von Schaufensterscheiben, das Zerstören der Autos einfacher Bewohnerinnen

und Bewohner von Nørrebro und das Abfackeln einer Schulbibliothek durch und durch unsolidarisch sind. Zusam-men mit Bränden und Pflastersteinen hat das viele, die das Jugendhaus und seine Nutzerinnen und Nutzer unter-stützt hatten, dazu gebracht, sich ge-gen sie zu wenden, und andere blieben zu Hause, statt an Demonstration o. Ä. teilzunehmen.

ES HäTTE ANDERE MÖGLICH-KEITEN GEGEBEN.

Vielleicht wäre der Jagtvej 69 nicht zu retten gewesen. Aber man hätte mit der vorbereiteten Besetzung der anderen Gebäude reagieren können, die als neu-es Jugendhaus im Gespräch waren, und mit der Aufforderung an Unterstütze-rInnen und Sympathisierende, zu kom-men und einen permanenten Sperrgür-tel um das Haus zu bilden.

Vielleicht hätte die Polizei auch das nächste Gebäude geräumt. Doch mit je-dem neuen Haus wäre es für die Polizei schwieriger und mit jeder neuen Beset-zung der Druck auf die Politiker grö-ßer geworden. In gewisser Weise war das die Methode, mit der vor 25 Jahren das Ungdomshus im Jagtvej erkämpft worden war. Aber das hätte vorausge-setzt, dass Nutzerinnen und Nutzer sich kollektiv von der Idee lösen, alle hät-ten das Recht, auf ihre Art und mit ih-ren Methoden aktiv zu werden und al-le Methoden seien gleich gut und ak-zeptabel.

Diese fast totale Freiheit kann im Alltag eines selbstverwalteten Jugend-hauses funktionieren und den Frei-raum schaffen, für den Bedarf besteht. Aber diese Organisationsform taugt nichts, wenn gekämpft werden muss. Sie bringt keine Erfolge, unter ande-rem weil sie die Aktiven von den brei-ten Gruppen in der Gesellschaft trennt, die man zur Unterstützung gewinnen könnte.

Es ist nicht gelungen, den Kampf politisch zu machen. Solange die Kampfziele unklar sind, wird zu leicht die Polizei als Gegner gesehen, und so

Wir brauchen ein neues Jugendhaus in Kopenhagen

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##########ITALIEN

Im vergangenen Februar wurde in Ita-lien Romano Prodis Regierungskoali-tion nach einer Abstimmung im Parla-ment zu Fall gebracht. Franco Turigli-atto, Senator für die Rifondazione Co-munista und Anhänger der Vierten In-ternationale, enthielt sich in einer Ab-stimmung, in der es um die weitere Fi-nanzierung italienischer Truppen in Af-ghanistan ging, der Stimme. Gemäß den geltenden Bestimmungen zählt im ita-lienischen Senat eine Stimmenthaltung als Gegenstimme. Turigliattos Verhal-ten wurde von Tausenden von Aktivis-tinnen und Aktivisten der Antikriegsbe-wegung in Italien und international be-grüßt, einschließlich vieler Mitglieder der Rifondazione.

Schließlich hatte die Rifondazio-ne lange Zeit hinter der Antiglobalisie-rungsbewegung gestanden, insbeson-dere bei den Kundgebungen in Genua, und sie war auch wesentlich am Auf-bau einer schlagkräftigen Antikriegs-bewegung in Italien beteiligt gewe-sen. Aber im Widerspruch zu den his-torischen Positionen der Partei erklärte die Parteileitung, Turigliattos Verhal-ten in der Abstimmung sei mit einem weiteren Verbleib in der Rifondazione nicht zu vereinbaren, und schloss ihn aus.

Die Rifondazione Comunista hat eine scharfe Kurskorrektur nach rechts vorgenommen, um in Romano Prodis Regierungskoalition bleiben zu kön-nen. Die Partei stimmte für den Ver-bleib italienischer Truppen in Afgha-nistan, und sie sprach sich auch für den Ausbau der US-Militärbasis in Vicen-za aus – einige Tage, nachdem Tausen-de ihrer Mitglieder an einer großen De-monstration gegen dieselbe Basis teil-genommen hatten.

Parteiführer Bertinotti hat angedeu-tet, dass er eine Reihe von Reformen der Regierung das Wohlfahrts- und Rentensystem betreffend unterstüt-zen werde. Der Finanzminister möchte gern neue Vereinbarungen, die unsi-chere und flexible Arbeitszeiten för-dern würden, sowie eine Erhöhung des

Rentenalters. Die Regierung Berlus-coni hatte seinerzeit einen Rückzieher von ähnlichen neoliberalen Reformen gemacht. Im Zentrum der Opposition gegen diesen Rechtsrutsch der Rifon-dazione standen Anhänger der Sinis-tra Critica (Kritische Linke), speziell Franco Turigliatto.

Die Sinistra Critica bezeichnet sich selbst als Vereinigung derjenigen Per-sonen, «die eine alternative und antika-pitalistische Linke zur Umformung der Gesellschaft schaffen wollen». Auf ih-rer Website ist zu lesen, dass viele ih-rer Mitglieder Schlüsselpositionen so-wohl in der Rifondazione Comunista als auch bei den Massenbewegungen innegehabt haben. Diese Leute traten für einen Bruch mit der Regierung Pro-di und für eine aktive Beteiligung an den gesellschaftlichen Auseinanderset-zungen und Bewegungen ein. Viele von ihnen, aber bei weitem nicht alle, sind Verfechter der Bandiera Rossa, der ita-lienischen Gruppe für die Vierte Inter-nationale.

In Widerspruch zu seinem späteren Verhalten hatte Turigliatto einige Mo-nate zuvor für die Pläne der Regierung gestimmt, Gelder für die italienische Intervention in Afghanistan einzuset-zen. Er hatte jedoch deutlich gemacht, dass er die Finanzierung kein weiteres Mal unterstützen würde, sollten die Truppen nicht zurückgezogen werden. Gemäß den Bestimmungen des italie-nischen Parlaments müssen Kriegskre-dite alle sechs Monate von neuem gut-geheißen werden.

Als Prodi die Vorlage zur Finanzie-rung der Truppen in Afghanistan bei dieser Gelegenheit vorbrachte, geschah dies vor dem Hintergrund einer von langer Hand geplanten und groß ange-legten Mobilisierung gegen den Aus-bau der amerikanischen Militärbasis in Vicenza. Dies machte die Entschei-dung, die Regierung nicht zu unterstüt-zen umso verständlicher, sowohl inner-halb wie außerhalb der Partei.

Bisher ohne Angabe von Gründen hat Turigliatto angekündigt, dass er be-

Linke gefestigt, Rechtsrutsch der RifondazioneLiam Mac Uaid

kommt die Gewalt allzu sehr in den Fo-kus. Und das ist destruktiv für die Un-terstützung.

Es ist daher eine wichtige Lehre, dass die anarchistische Methode zwar gut ist, Kreativität zu fördern und zu stärken, aber dass sie weniger gut für eine zielgerichtete Konfrontation mit der ganzen Gesellschaftsmaschinerie geeignet ist.

DER KAMPF IST NICHT VERLOREN!

Wir brauchen kreative und soziale Frei-räume – auch in Kopenhagen. Wir brau-chen selbstverwaltete Jugendhäuser. Die Stadt Kopenhagen hat die Verant-wortung, deren Existenz zu sichern und zu finanzieren – genauso wie Sporthal-len, Freizeitheime, Parks und Altenta-gesstätten.

Diese Verantwortung liegt bei den Politikern im Kopenhagener Stadtrat, und vor dieser Verantwortung können sie nicht fliehen, nur weil es Gewalt – auch sinnlose Gewalt – auf den Straßen gegeben hat.

Hier und jetzt können wir maxima-len Druck auf die Politiker ausüben, in-dem wir• die Idee eines selbstverwalteten Ju-

gendhauses unter Freundinnen und Freunden, in der Schule, der Fami-lie und am Arbeitsplatz erklären und verteidigen

• möglichst viele Menschen zu den friedlichen Demonstrationen mobi-lisieren

• Aktionen durchführen, die norma-le Menschen nicht abstoßen und wo die Verantwortung für eventuelle Gewalt offenkundig bei Politikern und Polizei liegt, z.B. neue Beset-zungen

• die politische Arbeit fortsetzen, mit der die rot-grüne Enhedslisten schon lange versucht, eine politische Mehr-heit für Einrichtung eines neuen Ju-gendhauses zu schaffen

Geschäftsführender Ausschuss der SAP, 9. März 2007 Quelle: http://www.sap-fi.dk/sap/ugens_kom-mentar/uk20070309.htmDie SAP ist die dänische Sektion der IV. Inter-nationale

Übersetzung: Björn Martens

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##########ITALIEN

absichtige, als Senator zurückzutreten. Das scheint ein taktischer Fehler zu sein, da der Senat eine wertvolle Platt-form für seine Politik bildet.

Anlässlich einer Zusammenkunft von mehr als 400 Sympathisierenden Ende Januar, einigte sich die Sinistra Critica darauf, ihre eigene Vereinigung zu gründen, ohne sich aber von der Ri-fondazione loszulösen. Man beabsich-tigt, sich gegen die rechtslastigen Ent-scheidungen des letzten Kongresses aufzulehnen, indem man sich an den Aktivitäten der sozialen Bewegungen beteiligt und Verbindungen zur inter-nationalen antikapitalistischen Front aufbaut. Im Prinzip schlägt die Sinistra Critica den Aufbau einer klassenkämp-ferischen Opposition zum Neoliberalis-mus vor. Flavia D‘Angeli von Bandiera Rossa erklärte die Absichten folgender-maßen: Die Vereinigung der Kritischen Linken wolle als Vehikel für unabhän-gige politische Initiativen dienen. In den kommenden Wochen und Mona-ten müsse sie aufzeigen, dass es mög-lich sei, eine andere «Renaissance des Kommunismus» in die Wege zu leiten, eine Wiederbelebung, in der die anti-kapitalistische Maxime nicht aufgege-ben würde. Wie in der Debatte jemand sagte, sei «die aktuelle Linie der PRC für die AktivistInnen nur dadurch ge-rechtfertigt, dass eine Alternative fehlt und die Horrorvision einer Rückkehr Berlusconis im Raum steht. Es liegt nun an uns, obwohl unsere Mittel eher

bescheiden sind, zu zeigen, dass eine solche Alternative lebensfähig ist!»

Ein solches Projekt wird in kurzer Zeit zu Konflikten mit der Führung der Rifondazione Comunista führen, die ihre Rolle in wachsendem Maß darin sieht, «den Schaden, den die Regie-rung Prodi anrichtet, zu begrenzen». Die neue Vereinigung hat öffentlich er-klärt, dass sie «aktiv und geschlossen» gegen die Vorgaben der Parteileitung handeln werde, indem «sie der Linie bedingungsloser Unterstützung der Re-gierung nicht folgen» werde, sondern «eine andere, die der sozialen Opposi-tion» verfolgen werde.

Die momentane Entwicklung der Rifondazione Comunista ist ein schwerer Rückschlag für die antikapi-

talistische europäische Linke. Die Si-nistra Critica wird wohl als Strömung ausgeschlossen werden. Sie ist sich be-wusst, dass sie in eine äußerst schwie-rige Phase eintritt, in der der Klassen-kampf in Italien erst wieder aufgebaut werden muss. Aber aus dem Wrack der Rifondazione Comunista ist eine Grup-pe von Sozialistinnen und Sozialis-ten herausgestiegen, die sich weiterhin dem widmet, was sie als «antikapitalis-tische, feministische, ökologische, an-tirassistische, internationalistische und revolutionäre Politik» bezeichnet.

Übersetzung: Hans Peter Frey

Offener Brief von Franco Turigliatto an seine UnterstützerLiebe Genossen und Freunde,

ich warte gegenwärtig darauf, dass der Senat meinen Rücktritt akzeptiert, den ich nicht zurückgezogen habe und nicht zurückziehen werde. Derweil werde ich in den kommenden Tagen meine Stimme in einer Vertrauensab-stimmung der Prodi-Regierung abge-ben. Ich möchte hiermit meine Gründe dafür darlegen, dass ich der Regierung mein Vertrauen aussprechen werde, je-doch in einer Art, die ich als technisch bezeichnen möchte, da ich gleichzeitig Prodis 12 Punkte ablehne.

Ich werde im Senat unmissverständ-lich klarstellen, dass sie auf meine Un-

terstützung des Afghanistan-Einsatzes ebenso wenig zählen können wie in der Frage der Hochgeschwindigkeitstraße TAV im Susatal oder der Gegenreform des Rentensystems. Ich werde nicht für diese Maßnahmen stimmen, auch wenn das eine weitere Regierungskrise her-vorrufen sollte. Und selbstverständlich werde ich weiterhin mit euch gegen die Militärbasis in Vicenza kämpfen.

Indem ich mich weigerte, für die Außenpolitik der Regierung zu stim-men, hatte ich nicht vor, mich als Poli-tiker in Pose zu werfen oder eine Regie-rungskrise zu provozieren. Ich tat dies aus Verantwortung gegenüber meinen Überzeugungen und gegenüber jenen,

die wie ich sich einer Außenpolitik sehr fern fühlen, die weiterhin Kriege führt, auch wenn diese noch so multilateral sind; die das neoliberale Modell für Europa unterstützt; und die meint, Sol-daten in die ganze Welt zu schicken, sei eine Methode, in der Arena der interna-tionalen Politik wichtig zu sein. Ich tat es aus der Ablehnung der Vorstellung heraus, dass etwas, das nichts anderes als eine militärische Besatzung ist, als „zivilisierende und Friedensmission“ verstanden werden soll. Und ich woll-te eine kleine Geste der Unterstützung des außergewöhnlichen Kampfes ge-gen den Bau der amerikanischen Mili-tärbasis in Vicenza leisten, die das Land

Kritik an Bertinottis Zustimmung zur Finanzierung der Truppen in Afghanistan

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zerstören und ein zentrales Instrument der Interventionsstrategie der Vereinig-ten Staaten im Rahmen ihres totalen und andauernden Krieges sein wird. Ich bereue diese Geste in keiner Wei-se und würde sie jederzeit wieder ma-chen. Sie war der Ausgangspunkt für meine Meinungsverschiedenheit mit der Regierung in Fragen der Außenpo-litik und stand in Verbindung mit mei-ner entschiedenen Opposition gegen den Krieg in Afghanistan und die Ent-scheidung der Regierung, die Auswei-tung der Militärbasis in Vicenza um die doppelte Größe zu erlauben. Das hatte mein Abstimmungsverhalten zu bedeu-ten. Damit stellte ich mich gegen die Linie meiner Partei, aber in einer Fra-ge, die ich für jeden politisch Aktiven grundlegend halte: Nein zum Krieg!

Ich glaube nicht, dass ich für die Krise der Regierung verantwortlich bin. Die Hauptverantwortung liegt bei der Regierung selbst und bei den poli-tischen Entscheidungen, die sie in den letzten Monaten getroffen hat. Mit die-sen hat sie sich schrittweise von allen entfernt, die sie gewählt haben. Die Krise entstand zum Teil aus undurch-sichtigen Gründen und zum Teil, weil der reformistische Flügel der Mitte-links-Regierung, L‘Unione, die Situ-ation dramatisieren wollte, um die al-ternative Linke zum Schweigen in ei-ner der wichtigsten Fragen zu zwingen. Die Krise wurde genutzt, um alle For-derungen zum Schweigen zu bringen und um die neo-liberale Richtung der Regierungspolitik endgültig festzule-gen. In diesem Sinne war die Debatte im Senat eine Erpressung, besonders in der Frage Vicenza. Aus diesem Grunde habe ich auch so gestimmt.

Die Lösung der Krise scheint meine Analyse zu bestätigen. Die 12 Punkte,

die Prodi vorgestellt hat, besiegeln die neoliberale Wende und drücken den klaren Wunsch aus, eine Politik der Opfer und des multilateralen Krieges zu bestätigen. Das Ziel der Angriffe gegen mich, das Gespenst einer Rück-kehr Berlusconis an die Macht, mit dem meine Gegner herumwedeln, sol-len genau diese einfache Wahrheit ver-decken: Die Bilanz der Prodi-Regie-rung aus den vergangenen Monaten ist sehr negativ, und wir müssen mit noch Schlimmerem rechnen. Dieses Urteil teilt meine Partei offensichtlich nicht, denn sie unterstützt die neue Regierung aus vollem Herzen. Und es ist von der Zivilgesellschaft, den Bewegungen, den Gewerkschaftsspitzen, den Ver-tretern des radikalen Pazifismus und den Demonstranten vom 17. Februar in Vicenza sehr unterschiedlich aufge-nommen worden. Die Angst vor einer Rückkehr einer rechten Regierung ist tatsächlich sehr stark verbreitet. Eini-ge meinen, dass die Möglichkeit eines gemeinsamen Kampfes mit der Prodi-Regierung noch nicht vergeben ist und dass ihr Fortbestand den Rahmen bil-den kann, innerhalb dessen bessere Er-gebnisse oder zumindest eine demokra-tische Dialektik erreicht werden kann.

Da ich nicht der Verantwortliche für den Fall der Regierung war, denke ich, dass es richtig ist, den Gehalt dieser Ab-sichten zu überprüfen, die Debatte mit dem größten Teil der Bewegung wei-ter zu führen und mit jenen zu diskutie-ren, die dies glauben und daher meinen, dass die Prodi-Regierung erhalten blei-ben sollte. Aber ich glaube, dies können wir nur tun, wenn wir in einigen Punk-ten sehr klar sind. Ich werde nie bereit sein, für den Krieg in Afghanistan zu stimmen oder die Sozialpolitik dieser Regierung zu unterstützen.

Ich glaube nicht, dass die Zukunft einfach wird. Die 12 Punkte sind ein Rückschritt und ein Schlag ins Ge-sicht für die Bewegungen und die Par-teien der alternativen Linken. Was ich erwarte, ist eine Phase, in der es nö-tig sein wird, soziale Opposition ge-gen die Maßnahmen der Prodi-Regie-rung aufzubauen. Diese Opposition muss sich auch im Parlament wider-spiegeln. Das ist mein Ziel. Um es an-ders auszudrücken: Es ist möglich, sich dafür zu entscheiden, der Regierung Widerstand entgegenzusetzen und da-bei auf bestimmten Prinzipien und Be-schränkungen zu bestehen, die meiner Meinung nach grundlegend sind: Prin-zipien, die uns an die Arbeiterbewe-gung binden, an die Bürgerinitiativen in ihrem Kampf gegen die TAV und für die Umwelt, und an die Friedensbewe-gung, die wir kürzlich in Vicenza gese-hen haben. Dies sind die Prinzipien, die meine politische Aktivität bestimmen. Das ist kein abstraktes idealistisches Weltbild, sondern ein politisches Pro-jekt, dem ich mein ganzes Leben lang verpflichtet war.

In den vergangenen 15 Jahren ha-ben sich diese Prinzipien und Überzeu-gungen vollständig mit jenen der Rifon-dazione Comunista gedeckt. Vor we-nigen Tagen jedoch hat meine Partei mich für „unhaltbar“ erklärt, weil ich dem historischen Programm der PRC treu geblieben bin. Ich habe die Rifo-ndazione von Anfang an mit aufgebaut, ich habe sie gegen Angriffe verteidigt, ich habe hunderte Stunden in Diskussi-onen mit den arbeitenden Männern und Frauen in Turin und ganz Italien ver-bracht.

Die Drohung mit Parteiausschluss ist bitter und gleichzeitig eine große Enttäuschung. Aber sie ist das Ergebnis einer grundlegenden Veränderung der Prioritäten und der Aktionen der PRC: bestimmte höhere Ideale werden in den Dienst eines wackligen politischen Projektes gestellt, und auf diese Weise wird ein Prozess der Deformation der Linken betrieben, der mir die Sprache verschlägt. Und gleichzeitig wird ei-ne grundlegende Qualität unserer Poli-tik geopfert: die Übereinstimmung von Gewissen und Handlung. Deren Fehlen ist heute die Wurzel der „Krise“ jener Politik, die wir zehn Jahre lang vertei-digt haben. Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte der Linken, dass jenen, die im Parlament Nein zu Krieg sagen,

Bertinotti (li oben) für, Franco Turigliatto gegen italienische Beteiligung am Afghanistankrieg

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vorgeworfen wird, sich aus Arroganz zu isolieren, „edle Seelen“ zu sein, aber „unfähig, realistisch zu sein“, „unver-antwortlich“ oder „idealistisch“. Di-ese Angriffe schmerzen mich nicht. Aber ein Projekt, an das ich geglaubt habe, dem ich mich voller Energie hin-gegeben habe, löst sich heute aufgrund der Handlungen jener auf, die sich ent-schlossen haben, die Dinge so zu ak-zeptieren, wie sie sind.

Weil ich meine Überzeugungen und meine Verbindungen mit der Be-wegung respektiert habe, habe ich of-fensichtlich meine Partei verraten und die Regierung zum Rücktritt gezwun-gen. Ich glaube nicht, dass ich so wich-tig bin und eine so grundlegende Rol-le gespielt habe. Vielleicht treten hier eher Gegensätze innerhalb der gesam-ten Linken und zwischen der Regie-rung und den Menschen zutage. Die-se Beziehung ist mehr als geschwächt, wie die Umfragen und die Demonstra-tionen der Unzufriedenheit belegen.

Was mich angeht, so kann ich nur so weiter reden und handeln wie in den letzten Tagen. Falls der Senat mei-nen Rücktritt verweigert, also solan-ge ich im Senat bleibe, werde ich ge-gen Kriege stimmen, denn das Nein zum Krieg und meine Verbindung zur Arbeiterbewegung sind die Richtlinien meiner politischen Aktivität: Sie sind immer das A und O einer antikapitalis-tischen und Klassenperspektive.

Ich möchte euch nun für die Soli-daritätsadressen danken, die ihr mir ge-schickt habt. Einige davon haben mich wirklich berührt. Ehrlich gesagt glaube ich nicht wirklich, dass ich sie verdient habe, einfach weil es in dieser Welt un-normal erscheint, was jedem ernsthaf-ten Menschen normal erscheinen soll-te: im Einklang mit den eigenen Über-zeugungen zu handeln.

Wenn meine kleine Geste dabei ge-holfen hat, diese Logik wieder zu stär-ken, die einige verächtlich als zu „ide-alistisch“ abtun, dann war sie zu etwas gut.

In jedem Fall ist dies mein Weg, und ich hoffe, ihn an eurer Seite weiter zu beschreiten.

Noch einmal danke, Franco Turigliatto, Rom, 27. Februar 2007

Das Internationale Komitee der IV. In-ternationale solidarisiert sich mit den Tausenden von AktivistInnen in ganz Italien und weltweit, die die Haltung von Senator Franco Turigliatto begrüßt haben; er hat sich konsequent gegen den imperialistischen Krieg in Afghanistan und gegen die Ausweitung der US-Mi-litärbasis in Vicenza gestellt.

Als am 17. Februar 120 000 Men-schen – mehr als die Stadt Einwohne-rInnen hat – gegen die Einrichtung de-monstrierten, war die italienische An-tikriegsbewegung laut und deutlich zu vernehmen. Auf diese Kräfte im In- und Ausland hat sich Franco Turigliatto po-sitiv bezogen, als er am 22. Februar im Senat seine Stimme gegen den Krieg ab-gab. Seine Haltung stand auch in Über-einstimmung mit der historischen Po-sition der Partei der Kommunistischen Neugründung (Partito della rifondazio-ne comunista – PRC) – einer Partei, die [im Juli 2001] mit den sozialen Bewe-gungen auf den Straßen von Genua und auch später mit ihnen gemeinsam ge-handelt hat – und mit den Erwartungen von Millionen von Wählerinnen und Wählern, die diese Partei in den letzten 15 Jahren unterstützt haben.

Wir stellen fest, dass die Antwort der Führung der PRC auf diese prinzi-

pientreue Haltung darin bestand, seinen Ausschluss aus der Partei zu betreiben. Diese inakzeptable und bürokratische Antwort passt zu der Entwicklung der Führung von Rifondazione weg von ih-rer Verbindung mit den sozialen Bewe-gungen. Unter dem Druck, die gegen-wärtige Regierung zu unterstützen, hat diese Führungsgruppe mit ihrem his-torischen Erbe gebrochen. Die Beteili-gung an den laufenden Geschäften der Institutionen des bürgerlichen Staats übt auf die radikale Linke immer Druck aus, um Kompromisse bei unseren po-litischen Positionen einzugehen; diesem Druck kann nur über eine kontinuier-liche Verbindung mit den Massenbewe-gungen begegnet werden.

Wir rufen alle unsere Mitglieder, die Antikriegs- und die globalisierungskri-tischen Bewegungen weltweit auf, sich der Unterstützung von Franco anzu-schließen und die Petition zur Solida-rität mit ihm zu unterschreiben. Sie ist zu finden unter www.sinistracritica.org, www.internationalviewpoint.org, www.inprekorr.de, www.europe-solidaire.org.

28. Februar 2007

Übersetzung: Fr. Dorn

Resolution des Internationalen Komitees der IV. Internationale zu Italien

NATO-Manöver in Italien

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##########INTERNATIONAL

Im Februar ist das Internationale Ko-mitee (IK) der IV. Internationale in den Niederlanden zusammen gekommen.

Teilgenommen haben Repräsen-tantInnen von Mitgliedsorganisati-onen und Organisationen mit dem Sta-tus von permanenten Beobachtern aus folgenden Ländern: Belgien, Brasi-lien, Britannien, Deutschland, Ecua-dor, Euskadi (Baskenland), Frankreich, Griechenland, Japan, Mexiko, Norwe-gen, Österreich, Pakistan, Philippinen, Portugal, Québec/Kanada, Spanischer Staat, Sri Lanka, Schweden, Schweiz, Türkei und USA. GenossInnen aus Al-gerien, Hongkong, Puerto Rico, Sene-gal und Uruguay konnten nicht teilneh-men und entschuldigten sich.

Als Gäste anwesend waren Reprä-sentantInnen von DSP (Australien), PSoL (Brasilien), Wperjod (Russland), Solidarity (USA) und ISO (USA). Die PRD aus Indonesien, die Scottish So-cialist Party und die eingeladenen ve-nezolanischen Organisationen konnten aus praktischen Gründen niemanden schicken.

Das IK nahm eine Resolution zur Lage im Nahen Osten und unseren Auf-gaben an. Es erhielt Berichte zu Brasi-lien, Ecuador, Mexiko and Venezuela, mit denen eine allgemeinere Diskussi-on über die Lage in Lateinamerika ein-geleitet wurde.

Die Diskussion zu Europa bezog sich hauptsächlich auf die Erfahrungen mit dem Aufbau von breiten antikapi-talistischen Parteien. Es wurden auch Berichte zur Lage in Frankreich und zu der Präsidentschaftswahlkampagne von Olivier Besancenot gehalten.

Eine direkte Videoübertragung aus und nach Italien machte es möglich, dass das IK von italienischen Genos-sInnen, die wegen der Regierungskri-se nicht an der Tagung des Gremiums teilnehmen konnten, aus erster Hand etwas erfahren konnten. Es wurde ei-ne Solidaritätserklärung mit Franco Turigliatto angenommen, dem Sena-tor von Sinistra Critica, der die Kri-se durch die Verweigerung seiner Zu-

stimmung zu Militärausgaben ausge-löst hatte.

Bei der Diskussion zu Asien stan-den die Widerstandsbewegungen und die Kriegsgefahren im Mittelpunkt, vor allem im Zusammenhang mit dem nicht erklärten Bürgerkrieg auf Sri Lanka ge-gen die tamilische Bevölkerung, dem Widerstand gegen die von der Regierung und den USA betriebene Militarisierung auf Mindanao (Philippinen) sowie der angespannten Situation in Pakistan.

Die Bildungseinrichtung der Inter-nationale wird in neue Räume umzie-

(IB) Für Sonntag, den 18. März, rief Alexei Etmanow, führender Gewerk-schafter bei Ford, zu landesweiten Kundgebungen zur Solidarität mit Ge-werkschaften auf, die im Kampf ste-hen. In St. Petersburg, Samara, Woro-nesh und Surgut [Westsibirien] orga-nisierten Gewerkschaften und linke Gruppen Kundgebungen.

In Moskau beteiligten sich etwa 1000 Menschen an einer großen Kund-gebung, die auf dem Platz der Helden von 1905 stattfand. In dem Vorberei-tungskomitee arbeiteten mehrere Ge-werkschaften und politische Gruppie-rungen zusammen: WKT (die Allrus-sische Konföderation der Arbeit), die

IV. Internationale: Tagung des Internationalen KomiteesP. D.

hen und im Sommer dieses Jahres ein neues Programm beginnen können. Das wird die Präsenz der Internationa-le als politischer Strömung in den so-zialen Bewegungen und in intellektu-ellen Kreisen stärken. Dieses wichtige neue Projekt wurde dem IK von dem dafür verantwortlichen Team vorge-stellt; unter anderem wurde eine Ton-diaschau vorgeführt, die die Bauarbei-ten am Gebäude sichtbar und hörbar macht.

Übersetzung: Friedrich Dorn.

Russland: Kundgebungen für kämpfende Gewerkschaften

Gewerkschaft Saschtschita, die Gruppe Wperjod, die Kommunistische Arbei-terpartei und die Revolutionäre Arbei-terpartei. Sie verteilten in allen großen Fabriken der Stadt 15 000 Flugblätter.

Einer der Moderatoren der Kund-gebung war Wsewolod Sergejew, Mit-glied von Wperjod. Mascha Kursina, Redakteurin einer Gewerkschaftszei-tung, und Ilja Budrazkis von Wperjod sprachen auf der Kundgebung.

Quelle: IB: „Russia: Rallies support fighting unions: 1,000 attend rally in Moscow“ http://www.internationalviewpoint.org/spip.php?article1237

Diskussion im IK über die Erfahrungen mit dem Aufbau antikapitalistischer Parteien

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##########NAhER OSTEN

I. IMPERIALES FIASKO

1. Die einvernehmliche Zustimmung der herrschenden Klasse in den Verei-nigten Staaten zum militärischen Feld-zug der Regierung Bush nach dem 11. September 2001 selbst zum Einmarsch in den Irak bröckelt angesichts der Ent-täuschung über die Besatzung dieses Landes zunehmend. Dabei kreist die Diskussion im US-amerikanischen Es-tablishment jedoch nicht um die enor-me strategische Bedeutung der Kon-trolle über die Golfregion und den Irak; denn darin herrscht weiterhin Einigkeit. Diskutiert wird vielmehr, wie der Scha-den der Irak-Operation möglichst klein gehalten werden und gleichzeitig die langfristige Einflussnahme Washing-tons in diesem Weltteil gesichert wer-den kann. Diskutiert wird weiter über die Art und Weise, wie mit dem Iran zu verfahren sei. Das iranische Mullah-Re-gime wird von der Regierung Bush als islamisches Gegenstück zu Venezue-la unter der Führung von Hugo Chávez gesehen – eine Regierung, die sich auf den Spielraum stützt, den sie durch ih-re Erdölvorhaben genießt, um sich der Gängelung Washingtons und deren re-gionaler Hegemonie zu widersetzen. Ein Teil des US-Establishments legt das Gewicht stärker auf die Möglich-keit, einen Modus Vivendi mit Teher-an zu finden, und betont die Offenheit des iranischen Regimes gegenüber dem Neoliberalismus, die sich deutlich von der in Lateinamerika stattfindenden so-zialen Radikalisierung abhebt.

2. Die Bilanz der imperialistischen Expeditionen der Bush-Regierung seit den Anschlägen auf US-amerika-nischem Boden ist absolut katastro-phal. Selbst in Afghanistan sind heu-te die Taliban in der Offensive. Ein be-deutender Teil des Landes befindet sich unter ihrer Kontrolle, und die Präsenz von US-amerikanischen und verbünde-ten Truppenverbänden trägt wesentlich zur erneuten Ausbreitung dieser Bewe-gung bei, von der Washington das Land eigentlich „befreien“ wollte. Das Le-

ben der afghanischen Bevölkerung un-ter der Herrschaft der islamisch-funda-mentalistischen Warlords der Nordalli-anz und der Bevormundung durch die westlichen Besatzungsmächte hat da-zu geführt, dass ganze Landesteile die Taliban zurückersehnen, während sich die verlogenen Behauptungen, Afgha-nistan demokratisieren und moderni-sieren und die afghanischen Frauen be-freien zu wollen, in Nichts aufgelöst haben.

II. IRAK

1. Im Wesentlichen zielte die impe-riale Offensive aber gegen den Irak, und das Debakel in diesem Land ist die schlimmste Niederlage der Bush-Regie-rung. Ihr ursprünglicher, neokonserva-tiver Plan sah vor, im Irak ein Regime mit „demokratischem“ Anstrich einzu-richten, das über eine soziale Basis un-ter der Mehrheit verfügt und von den Verbündeten Washingtons beherrscht wird. Schon bald stellte sich heraus, dass diese Basis nicht existierte und die herrschenden Kräfte unter den ira-kischen Schiiten, von denen erwartet wurde, sie würden sich den Vereinigten Staaten am meisten erkenntlich zei-gen, proiranisch eingestellt waren. Das Scheitern dieses Plans bewog die Re-gierung mangels verlässlicher Partner für ein echtes „Irakisierungsszenario“ des Konflikts dazu, auf die religiösen und ethnischen Spaltungen unter Ira-kern zu setzen, um ihre Hegemonie zu erhalten. Diese Praxis gab letztlich ei-ner Dynamik des konfessionellen Bür-gerkriegs Auftrieb, die nach dem Feb-ruar 2006 (dem gegen SchiitInnen ge-richteten Attentat in Samarra) eine tra-gische Wende nahm, wobei allen voran die Frauen von dieser Tragödie betrof-fen sind. Umgekehrt hat diese Dynamik das Scheitern der Regierung Bush noch offenkundiger gemacht.

2. Die Regierung Bush hat beschlos-sen, ihren Joker auszuspielen und auf eine militärische Eskalation zu setzen, mit dem Ziel, die militärische Kontrol-

le über die Hauptstadt Bagdad zu ero-bern und gleichzeitig den Hauptfeind, die von Moqtada as-Sadr angeführte Strömung zu isolieren. Für eine erfolg-reiche Umsetzung dieser Taktik müss-te Washington den Zusammenhalt der schiitischen Kräfte aufbrechen können. Gleichzeitig erhöht die Regierung Bu-sh erheblich ihren Druck auf die Re-gierung in Teheran und vervielfacht ih-re militärischen Drohgebärden, um den Eindruck zu erwecken, sie plane ei-nen Angriff gegen den Iran. Gewürzt ist das Ganze mit einer Regionalpoli-tik, die den Einfluss des Iran begrenzen soll, indem die religiösen Spannungen zwischen SchiitInnen und SunnitInnen im gesamten Nahen Osten geschürt werden. Das Vorgehen Washingtons in diesem verbrecherischen Unterfan-gen ist mit den sunnitischen arabischen Verbündeten, den erdölreichen Monar-chien am Golf unter Führung des ultra-fundamentalistischen, von Washington abhängigen saudischen Königreichs sowie Ägypten und Jordanien abge-stimmt. Die Frage des Irans als Atom-macht wird von Washington ausge-nutzt, um seine Partner in der Region und international aufzuschrecken. Dass dahinter imperialistische Absichten ste-cken, ist umso offenkundiger, als Isra-el, der bevorzugte Bündnispartner der USA, seit langem eine Atommacht ist, die im Gegensatz zum Iran nicht ein-mal das Abkommen über die Nichtver-breitung von Atomwaffen unterzeich-net hat.

3. Die Politik der Regierung Bush kommt einer gefährlichen Flucht nach vorn gleich. Das überrascht kaum sei-tens einer Regierung, die ihr poli-tisches Abenteuertum bereits unter Be-weis gestellt hat, wofür sie heute von einer wachsenden Mehrheit des Polit-establishments in den USA kritisiert wird. Eine andere wichtige Haltung in-nerhalb des Establishments wird von Baker und Hamilton vertreten, die dazu aufrufen, einen Ausweg aus der Sack-gasse, in die die USA geraten sind, in erster Linie mit politischen Mit-

Resolution zum Nahen OstenVom Internationalen Komitee der Vierten Internationale am 28. Februar 2007 angenommen

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teln, insbesondere durch Aushandlung eines Kompromisses mit dem Iran und Syrien, zu suchen. Sie wollen so den Schaden begrenzen und versuchen, ei-ne im Vergleich zu den Vorstellungen von Bush und seiner Regierung etwas weniger absolute, autoritäre Hegemo-nie zu festigen. Die Regierung Bush weist eine solche Haltung als Ausdruck einer schweren Zurückweisung des seit ihrem Machtantritt verfolgten Plans ei-ner unipolaren Welthegemonie der Ver-einigten Staaten zurück.

4. Die Ereignisse der letzten Monate haben eine von Anfang an in Erschei-nung tretende Charakteristik des ira-kischen „Widerstands“ als einer Kraft bestätigt, die nicht nur nationalen Wi-derstand gegen eine imperialistische Besatzungsmacht leistet, sondern auch einen konfessionellen Bürger-krieg führt. Die bewaffneten Organisa-tionen, die sich in den arabisch-sunni-tischen Regionen des Iraks gebildet ha-ben, führen von Anfang an sowohl ei-nen legitimen Kampf gegen die Be-satzung als auch einen reaktionären Kampf gegen die Herrschaft der schii-

tischen Mehrheit. Seit einem Jahr ver-folgt auch die gegen die Besatzung kämpfende wichtigste Strömung unter den arabischen SchiitInnen eine Stra-tegie blutiger konfessioneller Vergel-tungsmaßnahmen. Der Plan von Mo-qtada as-Sadr, die irakischen Arabe-rInnen in einer gemeinsamen nationa-listischen Opposition gegen die Besat-zungsmacht zu vereinen, scheint end-gültig gefährdet. Die einzige Kraft, de-ren Kampf nach wie vor die Unterstüt-zung aller irakischen Gemeinschaften finden könnte, hat klassenspezifischen Charakter: die Gewerkschaft der Erd-ölarbeiterInnen. Deren Kampf ist um-so wichtiger, als er im Zusammenhang mit dem wesentlichen Anlass für den Einmarsch in den Irak steht, und er ver-dient die Unterstützung der Antiimpe-rialistInnen und der Arbeiterbewegung aller Länder.

III. LIBANON

1. Die israelische Offensive gegen die libanesische Hisbollah von Juli/August 2006 ist im Rahmen der Absichten der Vereinigten Staaten zu verstehen, den

Einfluss des Irans auf den Nahen Os-ten zu brechen. Kaum hatte die Regie-rung Bush den Einmarsch in den Irak beendet, schoss sie sich darauf ein, den Iran zu attackieren, und wählte als be-vorzugten Schauplatz für diese Kon-frontation den Libanon, wo zwei mit Teheran verbündete Angriffsziele vor-zufinden waren: die Präsenz Syriens und die Hisbollah. Im Gegensatz zum Irak konnte Washington diesmal auf die aktive Mitwirkung Frankreichs setzen. Die Unfähigkeit der libane-sischen Verbündeten Washingtons, mit der Hisbollah zurande zu kommen, be-wog die Vereinigten Staaten dazu, Is-rael mit der Erledigung dieser Aufga-be zu betrauen.

2. Die israelische Offensive erlitt eine gewaltige Niederlage: Die Hisbollah konnte nicht nur ihre Abschreckungs-kraft gegenüber Israel klar unter Be-weis stellen, sie konnte den Kampf sogar – erstmals in der Geschich-te der israelisch-arabischen Kriege – weit auf israelisches Territorium tra-gen. Washington und Paris mussten auf den „Plan B“ ausweichen und im Südlibanon unter dem Deckmantel der UNO Nato-Streitkräfte (insbesondere aus Deutschland, Spanien, Frankreich, Italien und der Türkei) einsetzen, um den geeigneten Moment abzuwarten, wo diese die von Verbündeten der Ver-einigten Staaten und Frankreichs do-minierte libanesische Regierung bei einem neuen Versuch unterstützen könnten, die Hisbollah zurückzudrän-gen und zu entwaffnen.

3. Seither haben im Libanon die po-litischen Spannungen zwischen den Verbündeten der USA und Frank-reichs und jenen Syriens und des Irans erheblich zugenommen. Qualitativ un-terscheiden sich die Kräfte der Oppo-sition an der Seite der Hisbollah nicht von jenen der Mehrheit. Sie kämpfen für eine Umverteilung der Macht zwi-schen Opposition und Mehrheit mit dem Ziel, die Opposition an den Re-gierungsentscheidungen zu beteiligen. Die soziopolitische Natur der Opposi-tion zeigt sich deutlich durch die Art und Weise, wie sie einer wirklichen Massenmobilisierung gegen das im Hinblick auf die so genannte „Paris-3“-Konferenz über den Libanon und seine Schulden angenommene neo-liberale Programm ausgewichen ist.

Die Hisbollah ist eine Massenpartei, die zum wichtigsten bewaffneten Arm der schiitischen Bevölkerung im Libanon geworden ist

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Der laufende Kampf zielt also in ers-ter Linie auf einen Kompromiss inner-halb der herrschenden Klasse, obwohl die Opposition gleichzeitig die demo-kratische Forderung nach einem neu-en Wahlgesetz und vorgezogenen Par-lamentswahlen erhebt. Trotzdem sta-chelt die Regierung Bush ihre libane-sischen Verbündeten zu einer unnach-giebigen Haltung an. Ihre engsten Ver-bündeten verhalten sich sogar ausge-sprochen provokant und offenbaren damit Washingtons Wunsch, den Li-banon in einen Bürgerkrieg zu ziehen.

4. Obwohl es sich bei der Hisbol-lah um eine fundamentalistische isla-mische Organisation handelt, kann sie nicht mit terroristischen Strömungen des islamischen Fundamentalismus auf eine Stufe gestellt werden. Die versuchte Gleichsetzung von Hisbol-lah und Al Qaida seitens der Regie-rung Bush und Israels ist entschieden zurückzuweisen. Die Hisbollah ist ei-ne Massenpartei, die durch ihren Wi-derstand gegen die wiederholten An-griffe Israels zum wichtigsten bewaff-neten Arm der schiitischen Bevölke-rung im Libanon geworden ist, der die armen Schichten mehrheitlich ange-hören. Der bewaffnete Widerstand un-ter Führung der Hisbollah ist in die-sem Sinn ein legitimer Kampf, und die Organisation kann nicht auf dieselbe Ebene gestellt werden wie die Frak-tionen des „irakischen Widerstands“. Für die libanesische Linke ist es daher durchaus legitim, sich im Widerstand gegen Israel und die imperialistischen Mächte mit der Hisbollah zu verbün-den. Die internationale antiimperia-listische Linke hat die Pflicht, den li-banesischen Widerstand unabhängig vom sozialen und politischen Charak-ter seiner Führung und obwohl er von der Hisbollah angeführt wird, poli-tisch zu unterstützen, ohne auf die Kri-tik am fundamentalistischen und kon-fessionellen Charakter dieser Organi-sation und deren Haltung in sozialen und politischen Fragen zu verzichten. Dennoch hat die Solidarität der inter-nationalen antiimperialistischen Kräf-te und der Arbeiterbewegung in ers-ter Linie der libanesischen Linken und insbesondere ihrer wichtigsten Kraft, der selbst im Widerstand engagierten Libanesischen Kommunistischen Par-tei, zu gelten.

IV. PALäSTINA

1. Die israelische Offensive gegen den Gaza-Streifen seit Juni 2006 ist Teil derselben Regionalstrategie der Regie-rung Bush wie die Ereignisse im Liba-non, nämlich gegen den Iran und sei-ne Verbündeten vorzugehen. Der Sieg der Hamas bei den Parlamentswahlen im Januar 2006 wurde von Washing-ton als schwerer Rückschlag angese-hen. Die Vereinigten Staaten übten daraufhin sofort starken Druck auf die europäischen Verbündeten aus, um die neue, demokratisch gewählte palästi-nensische Regierung auszugrenzen. Gleichzeitig setzte Washington auch seinen palästinensischen Verbündeten Mahmud Abbas und den im Fatah-Ap-parat dominanten rechten Flügel unter Druck, jeden Ansatz eines Kompro-misses und einer nationalen Einheits-regierung mit der Hamas abzulehnen. Die israelische Offensive hatte zum Ziel, eine solche Annäherung zu ver-hindern.

2. Das Bündnis mit der Hamas, einer sunnitischen islamisch-fundamenta-

listischen Kraft, stellt für Teheran ei-nen wichtigen Vorteil dar, denn damit können die iranischen SchiitInnen ih-ren Panislamismus unter Beweis stel-len und die Versuche vereiteln, sie als SchiitInnen gegenüber den Sun-nitInnen zu isolieren, die in der rest-lichen arabischen Welt und im Is-lam deutlich überwiegen. Das ist ne-ben der unbeugsamen antiisraeli-schen Haltung, die Hamas und His-bollah teilen, der Grund, warum beide von Washington und Israel als vorran-giges Ziel angesehen werden. Wie im Libanon scheiterte Israel auch beim Versuch, die Hamas in ihrer wichtigs-ten Bastion, dem Gaza-Streifen, zu besiegen, was die Wiederbesetzung dieses Abschnitts vorausgesetzt hätte, die militärisch und politisch teuer zu stehen käme. Die Haupttaktik Israels bestand also darin, von außen zuzu-schlagen und gleichzeitig einen Bür-gerkrieg unter PalästinenserInnen zu schüren. Dafür wurden insbesondere die mit Washington verbündeten Ap-parate innerhalb der Fatah mit Waf-fen versorgt und zur Unnachgiebig-keit und Provokation angehalten. Die

Palästina: Jugendliche feiern den Hamas-Sieg 2006

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Rückschläge der Regierung Bush be-wogen die arabischen Verbündeten Washingtons, eher einen Kompromiss zwischen den palästinensischen Frak-tionen zu suchen, um Teheran daran zu hindern, weiter Profit aus seiner Unterstützung der Hamas zu schla-gen.

3. Wie die Hisbollah ist auch die Ha-mas eine breit verankerte Bewegung, die zum Ausdruck des Widerstands-willens wichtiger Teile der palästinen-sischen Bevölkerung geworden ist. Ihr Ruf als aufopferungsbereite, ehrliche Kraft sticht ab vom mafiösen Ruf des von der Fatah dominierten Apparats der Palästinenserbehörde und deren Realität. Die programmatische Na-tur der Hamas drückt sich aber in ih-rer tiefen Unfähigkeit aus, eine Politik zu formulieren, die den zionistischen Konsens durchbrechen könnte. Die Hamas hat sogar lange dazu beigetra-gen, diesen Konsens herzustellen und zu festigen, indem sie Selbstmordan-schläge verübte, die unterschiedslos israelische Zivilpersonen trafen. In ge-wisser Weise ist die Hamas der „Lieb-lingsfeind“ der zionistischen Rechten,

die durch ihre militärischen Provoka-tionen und die Demütigung ihrer Geg-ner an der Spitze der Palästinenserbe-hörde nicht unerheblich zu ihrer Stär-kung beigetragen hat.

4. Die antiimperialistischen Kräf-te und die Arbeiterbewegung müs-sen das Recht des palästinensischen Volkes auf freie Regierungswahl un-terstützen und energisch dagegen an-treten, dass Israel, die Vereinigten Staaten und ihre europäischen Ver-bündeten die Hamas-Regierung im Würgegriff halten. Sie müssen sich mit dem legitimen Widerstand des palästinensischen Volkes gegen die israelischen Angriffe solidarisieren, ungeachtet des Charakters der füh-renden Kräfte dieses Widerstands. Ihre Priorität sollte aber darauf lie-gen, solidarische Beziehungen mit den Organisationen der palästinen-sischen Linken aufzubauen, die ei-nen unabhängigen Kampf gegen die mit Washington verbündete palästi-nensische Rechte und in der paläs-tinensischen Gesellschaft einen ide-ologischen Kampf gegen den isla-mischen Fundamentalismus führen.

V. AuFGABEN

Die militärischen und politischen Rückschläge der imperialistischen Of-fensive im Nahen Osten schaffen offen-sichtlich einen ausgesprochen günsti-gen Rahmen, der eine energische Wie-derbelebung der Antikriegsbewegung erlaubt. Die Vereinigten Staaten sind heute in unterschiedlicher Weise in Afghanistan, im Irak und in Palästina in drei Regionalkriege verstrickt. Da-zu kommt ein zur Zeit latenter Krieg gegen den Libanon. Gleichzeitig hat sich die Regierung Bush auffällig in die Vorbereitungen eines Kriegs ge-gen den Iran gestürzt und zögert auch nicht, ihre Militäraktionen auf weitere Regionen auszudehnen, wie jüngst die Intervention in Somalia gezeigt hat. Die Regierung Bush steht mit dem Rücken zur Wand da, doch wie ein wildes Tier, das in die Enge ge-trieben wird, macht sie das nur noch gefährlicher. Die Anstrengungen zum Aufbau einer starken Antikriegsbewe-gung, die sich für die sofortige bedin-gungslose Einstellung der imperialis-tischen Expeditionen einsetzt, müssen dringend verstärkt werden. Dafür sind folgende Forderungen maßgebend:- gegen jeden Angriff auf den Iran- für den Rückzug der Besatzungs-

truppen aus dem Irak - für den Rückzug der Interventions-

truppen aus Afghanistan - für den Rückzug der NATO-Trup-

pen aus dem Libanon- für ein Ende der Einmischung

in innerpalästinensische Angele-genheiten und die Aufhebung der Sanktionen gegen die Palästinen-serInnen.

In diesem Kampf wird die Vierte In-ternationale bevorzugt Beziehungen mit gewerkschaftlichen und poli-tischen Kräften aufnehmen, die einen fortschrittlichen Kampf in ihrer Regi-on führen, und darauf hinarbeiten, ei-ne zugleich demokratische, feminis-tische und antiimperialistische Linke im Nahen Osten aufzubauen.

Übersetzt: Tigrib

Die uSA setzen ihren Verbünde-ten Mahmud Abbas unter Druck, jeden Ansatz eines Kompro-misses mit Hamas abzulehnen

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PetitionAn alle nationalen Regierungen und in-ternationalen Institutionen, die die Re-gierung Sri Lankas unterstützen

Kein Krieg in Sri Lanka – Selbst-bestimmung für das tamilische Volk

Die Regierung Sri Lankas führt ei-nen unerklärten Krieg gegen die Tami-len, die seit mehr als zwei Jahrzehnten für das legitime Recht auf Selbstbe-stimmung kämpfen.

Die Regierung Mahinda Rajapak-sa, die im November 2005 auf ei-ner chauvinistisch singhalesischen Grundlage gewählt wurde, hat ständig das Waffenstillstandsabkommen von 2002 mit der LTTE gebrochen. Sie hat Flächenbombardements durchgeführt, die durch das Abkommen besonders geächtet waren.

Im August 2006 zerstörte die Luft-waffe Sri Lankas ein Waisenhaus in Sencholai und tötete 50 Kinder. Die Opposition gegen den Krieg wird un-ter extremen Druck gesetzt. Der tami-lische Parlamentsabgeordnete Nadara-ja Raviraj wurde am 9. November nie-dergeschossen, und andere Abgeordne-te erhielten ernst zu nehmende Todes-drohungen.

Ausländische Unterstützung für das Mahinda-Regime ist wesentlich dafür, diese Kriegshandlungen durchführen zu können. Die Armeeführung Sri Lan-kas wird in Sandhurst, der Schule der Britischen Armee, ausgebildet, wäh-rend die Tamil Tigers ( LTTE ) als ver-mutete „terroristische“ Organisation in Europa verboten sind.

Deshalb rufen wir unsere Regie-rungen und die internationalen Organi-sationen auf, jedes gegen die LTTE ge-

richtete Verbot aufzuheben und von der Regierung Sri Lankas zu fordern:

• Die Flächenbombardements zu be-enden

• Das Verschwindenlassen von Men-schen zu beenden und die Unterstüt-zung der Paramilitärs zu stoppen

Resolution des Internationalen Komitees der IV. Internationale zu Sri LankaIn Kenntnis der guten und nützlichen Petitionskampagne, die die Bri-tische Sektion der IV. Internationale zur nationalen Frage der Tami-len gemacht hat, beschloss die Versammlung, ähnliche Aktionen in allen Ländern durchzuführen, in denen es Sektionen der IV. Interna-tionale gibt.

L. T.: Es gab keine Stimmen von der Mitte, zugegeben. Aber die Schiffe lau-fen trotzdem aus und Enduring Freedom geht weiter.

G. M.: Dies ist in der Tat das We-sentliche. Chiti hat uns versichert, dass ein Umdenken in der Regierungspoli-tik stattfindet, was die Militärmandate anlangt. In sechs Monaten werden wir Kriegsgegner die Gelegenheit haben, den Wahrheitsgehalt dieses Verspre-chens zu überprüfen.

L. T.: Erlauben Sie. Aber in sechs Monaten werden Sie um so eher zustim-men, da Sie schon diesmal zugestimmt haben.

G. M.: Und warum? Wir haben kei-nen Blankoscheck ausgestellt. Auch gegenüber den Wählern, die uns unter dem Eindruck einer Hetzkampagne ge-gen uns gefragt haben, ob wir nicht zu maximalistisch seien und ob es nicht vonnöten sei, der Regierung etwas Zeit zu geben und ob es nicht übertrieben sei, eine Krise wegen einer außenpolitischen Frage zu provozieren … gegenüber die-sen Wählern werden wir im Dezember bessere Argumente haben, da wir sagen können: Wir hatten ein Umschwenken gefordert und die dafür erforderliche Zeit zugestanden.

L. T.: Also im Dezember werden Sie, wenn die Dinge so bleiben, bereit sein, in der Vertrauensfrage mit Nein zu stim-men? Das glaube ich Ihnen nicht.

G.M. Das ist schlecht. Im Gegenteil, ich sage Ihnen, dass wir nicht einmal bis Dezember warten müssen: Was mich angeht bin ich nicht bereit, die neolibe-ralen Manöver von Padoa-Schioppa10

hinzunehmen. Die Basis kämpft gegen den Krieg und gegen den Neoliberalis-mus.

L. T.: Was ist das aber dann für ein Vertrauen?

G. M.: Ein Vertrauen auf Zeit, mit Verfallsdatum quasi, abhängig davon, ob sich die Dinge ändern. Wenn nicht, werden wir das nächste Mal mit Nein stimmen.

10 Tommaso Padoa-Schioppa ist seit dem 20. April 2006 Wirtschaftsminister der Regie-rung Prodi. Zuvor war er Mitglied des Ver-waltungsrats der EZB. Er schickt sich an, den Staatshaushalt nach ultraliberaler Weise umzustrukturieren. Dazu erklärte er: „Regie-rung und Parlament sind für den öffentlichen Haushalt verantwortlich; Abstimmungen sind zwar wichtig, können aber die Regie-rungsaktivitäten nur ergänzen, weil letztlich die Exekutive entscheiden muss“. (La Re-pubblica vom 3. September 2006)

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• Die A 9 und andere Zugangsstraßen zu öffnen, damit die notwendige hu-manitäre Hilfe die Tamilengebiete im Norden erreichen kann

Die Verhandlungen mit der LTTE wieder zu beginnen, um eine ge-rechte, für das tamilischen Volk an-nehmbare Lösung zu erreichen

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Auch mehr als fünfzig Jahre nachdem wir die Unabhängigkeit von der bri-tischen Regierung gewonnen haben, sind wir nicht wirklich frei. Das wur-de deutlich bei der Feier des Unabhän-gigkeitstages, als der Präsident von ei-ner Mauer von Militärs umgeben war und die Menschen unbeteiligt waren. Wir sind weder frei, über unsere öko-nomischen Entwicklungsprogramme zu entscheiden, noch unsere politische Zukunft zu bestimmen. Wir haben große Kredite aufgenommen und sind hoch verschuldet. Nun diktieren uns die Führer des globalen Kapitals, Ame-rika, Europa und Japan, die Bedin-gungen. Obwohl gewählt ist die Regie-rung eine Marionette, die sich nach ih-ren Regeln bewegt, die Entscheidungs-macht ist in ihren Händen.

Zweitens sind wir durch einen na-tionalen und ethnisch-religiösen Bür-gerkrieg gefesselt. Wir sind nicht in der Lage, die nationale Frage zu lösen und eine Verfassung durchzusetzen, die alle nationalen und religiösen Bedürfnisse berücksichtigt. Wir sind immer noch ein Nationalitätengefängnis, wir sind keine freie geeinte Republik.

Die von der Vereinigten National-partei (UNP) und der Sri Lanka Frei-heitspartei (SLFP) gebildeten Alli-anzen haben das Land seit der Unab-hängigkeit regiert. Sie sind also verant-wortlich für das Elend und die Unter-drückung. Anfangs machten die UNP und die SLFP eine unterschiedliche Po-litik. Die UNP vertrat das ausländische Kapital und die englisch sprechenden städtischen Eliten, während die SLFP die Interessen des lokalen Kapitals und die Mehrheit der singhalesischen bud-dhistischen Unterklasse vertrat. Sie war die reformistische Partei. Aber jetzt mit dem Wachsen der neoliberalen Wirt-schaftspolitik haben beide dieselben ökonomischen Vorstellungen. Obwohl sie zur Lösung der nationalen Frage Differenzen haben, haben sie sich zu-sammengefunden, um den laufenden Unterdrückungskrieg zu stärken.

Präsident Mahinda Rajapaksa kam durch drei unterschiedliche und in ge-wisser Weise gegensätzliche Kampa-gnen an die Macht:

Erstens war es die chauvinistische Kampagne, die von der Jathika Hela Urumaya (JHU) und der JVP geführt wurde. Obwohl sie beide die singha-lesische chauvinistische Ideologie re-präsentieren, gibt es eine soziale Dif-ferenz zwischen ihnen. Hela Uruma-ya ist eine kapitalistische Organisati-on, die die neoliberale Ökonomie des globalen Kapitalismus akzeptiert. Sie hat keinen Konflikt mit der amerika-nischen Politik, während die JVP Pa-rolen gegen die Amerikaner im Na-men der Plebejer der Welt geradezu he-rausschleudert. Sie erklärten, dass der Sieg Mahindas das Ende der Frieden-vereinbarungen sein wird und es einen wirklichen Krieg gegen die LTTE ge-

ben wird. Der bewaffnete Kampf gegen den Staat wird durch die Tamil Tigers geführt, obwohl sie die Politik des glo-balen Kapitals akzeptieren.

Die rassistischen singhalesischen Kräfte behaupteten, dass die Hegemo-nie des Singhala Buddhismus wieder-hergestellt und die Einheit des Staates wieder gefestigt sein wird, wenn Ma-hinda an der Macht ist. Natürlich wür-de es Auseinandersetzungen geben, da-mit die Tamilen und Muslims verste-hen, wie sie sich im System zu verhal-ten haben, sagten sie. In Gebieten mit singhalesischer Mehrheit machte Ma-hinda Gebrauch von dieser Kampagne.

Zweitens machte er Gebrauch von der Kampagne zur Sozialreform, die von der alten Linken und den Popu-listen von der SLFP geführt wurde. Die JVP half ihnen auch. Durch die Koali-tionspolitik hat sich die alte Linke auf

Rede von Dr. Vickramabahu Karunarathne – Präsident der Left Front (Sri lanka) – am 4. Februar 2007 bei einer öffentlichen Veranstaltung in London zur Unterstützung der Petitionskampagne

Die Tamil Tigers führen den bewaffneten Kampf gegen den Staat, obwohl sie die die Politik des globalen Kapitals akzeptieren.

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über föderale Lösungen zu reden. Wie auch immer, diese föderalen Lösungen müssen zuerst von Champika Ranawa-ka gebilligt werden. Gesellschaftlicher Druck auf die JVP hat sie gezwungen aus der Regierung auszutreten, aber sie kann nicht mit ihrer chauvinistischen Politik brechen, die sie mit der singha-lesisch erzogenen Jugend verbindet. Das wird in der JVP in der nächsten Zeit eine Krise hervorrufen.

Die gegenwärtige Haltung der Westmächte und des globalen Kapi-tals im Allgemeinen stellt die Füh-rung der LTTE vor eine neue Heraus-forderung. Die globalen Führer ma-chen einfach beide Seiten verantwort-lich, als ob Unterdrücker und Unter-drückte gleich wären. Dann verbie-ten sie die Unterdrückten und appel-lieren an beide Seiten an den Diskus-sionstisch zu kommen. Wie lächerlich sind sie? Die LTTE muss sich an die Arbeiterbewegung wenden, national wie international. Sie muss Unterstüt-zung für die demokratischen Rech-te der Tamilen bei der Arbeiterbewe-gung suchen, besonders in Sri Lanka und in Indien. Das ist eine gute Gele-genheit für die Linke zu intervenie-ren. Die Kämpfe der ArbeiterInnen in den Häfen, der Erdölindustrie, bei den Eisenbahnen, der Telecom und auf den Plantagen zeigen, dass die Ar-beiterInnen vom Militärchauvinismus nicht verdummt worden sind. Auch andere soziale Konflikte brechen auf. Die Mahindaregierung wird nicht mit dem Niederbrechen des Systems fertig werden. Die Linke muss vorbereitet sein, die Herausforderung anzuneh-men. Wir müssen den ArbeiterInnen erklären, dass es jetzt Zeit ist, den ge-rechten Kampf der Tamilen zu unter-stützen. Man kann eine Menge Kritik an der LTTE haben, aber das darf ei-nen nicht abhalten, gegen die genozi-dalen Attacken gegen das tamilische Volk einzutreten. Wir müssen eine weltweite soziale Bewegung aufbauen zur Verteidigung der demokratischen Rechte des tamilischen Volkes.

Vickramabahu („Bahu“) ist Vorsitzender der NSSP, Sektion der IV. Internationale in Sri Lanka.

Übersetzung aus dem Englischen: Barbara Schulz

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ein bloßes Geflüster in der Koalition be-schränkt. Sie meinten, Mahinda würde die von der Chandrika-Regierung ver-folgte neoliberale Politik ändern. Die lokalen Industrien würden geschützt. Die Entwicklung würde sich auf die Dörfer konzentrieren, Agrarrevolution durch Selbstregierung der Dörfer. Res-sourcen würden den Bauern, Fischern und Kleinproduzenten zukommen. So-ziale Dienste wie Erziehung, Gesund-heit und öffentlicher Verkehr würden geschützt, die Privatisierung rückgän-gig gemacht. Die Abhängigkeit vom globalen Kapital würde sich ändern.

Schließlich benutzte er die Kam-pagne der Gewerkschaften für Lohn-erhöhungen, um die Lebenshaltungs-kosten auszugleichen. Zusätzlich zu den alten linken Gewerkschaftsführern schloss diese Kampagne Thondaman, Chandarsekkaran und andere ein. Sie glaubten, dass der Sieg Mahindas für die Arbeiterbewegung von Vorteil sein würde. Sie waren der Ansicht, dass er die Gewerkschaften regelmäßig kon-sultieren und die Gewerkschafts- und Medienfreiheit schützen würde.

Nachdem er an die Macht gekom-men war, wendete er sich gegen die sozialen Kampagnen und die der Ge-werkschaften, verfolgte aber die chau-vinistische Militärpolitik weiter. Flä-chenbombardements verbunden mit Raketenangriffen auf die Regionen, in denen LTTE Aktivitäten vermu-tet wurden, zerstörten die Tamilenge-biete. Ganze Dörfer wurden durch die Tötung Tausender ausgerottet, wäh-rend mehrere hunderttausend Men-schen vertrieben und zu Flüchtlingen wurden. Mahinda verkündete freudig, dass der Osten von der LTTE gereini-gt ist. Vor der Feier des Unabhängig-keitstages machte er einen besonde-ren Besuch in Vakarei, um die Verhee-rungen des Krieges der nationalen Un-terdrückung zu inspizieren. Er prahlte, wenn der Sieg gefestigt sei, werde er auch im Norden verfolgt. Zur selben Zeit rief er scheinheilig zu Diskus-sionen auf. Gleichzeitig dauerten die politischen Morde und das Verschwin-denlassen von Menschen im ganzen Lande an. Mindestens 2000 Menschen sind verschwunden.

Jedenfalls hat er die Verspre-chungen, die er den sozialen Bewe-gungen und den Gewerkschaften ge-geben hat, zurückgezogen. Er hat die Aufgaben durchgeführt, die durch das

Programm der UNP zur „Wiederge-winnung Sri Lankas“ gegeben waren. Indirekt hat er die chauvinistische Mi-litärpolitik gegen die Gewerkschaften genutzt. Mahinda erklärte, dass jede Gewerkschaftskampagne zu dem Zeit-punkt, an dem die Regierung in einen „Krieg zur Verteidigung der Nation“ verwickelt ist, ein Verbrechen gegen die Nation ist, ein Verrat. So kann die Unterdrückung der LTTE auch gegen die Gewerkschaften genutzt werden. Mahinda nimmt an, dass die chauvini-stische Kampagne und die Konsolidie-rung der Staatsgewalt auch gegen die sozialen und gewerkschaftlichen Unru-hen genutzt werden können. Er hat sie schon gegen Gewerkschaften und Me-dien genutzt. Das globale Kapital ist zufrieden mit seiner Wirtschaftspoli-tik und der Möglichkeit, den sozialen Unruhen entgegenzutreten. Es hat ihm die 2005 versprochenen 3,5 Milliarden Dollar gegeben.

Letzte Woche haben sie ihm 4,5 Milliarden für sein Zukunftsprogramm versprochen. Alle betonten die Not-wendigkeit des Friedens. Aber ihre Hil-fe ist ohne Bedingungen, und in ihrem Friedensappell ist die Autonomie der tamilisch sprechenden Bevölkerung nicht erwähnt. Das Sri Lanka Entwick-lungsforum, das in Galle gehalten wur-de, zeigte klar, dass das globale Kapital nur soweit am Erreichen des Friedens interessiert ist, wie der Krieg ein Hin-dernis ihres Entwicklungsprogramms ist. LTTE und die Führer der Befrei-ungsbewegung der Tamilen erwarten von den Führern des globalen Kapitals, dass sie intervenieren und ihre Kräf-te anspannen, um die genozidalen An-griffe auf das tamilische Volk zu stop-pen. Aber das geschah in Galle nicht. Die globalen Kapitalisten billigten in-direkt ähnliche Angriffe im Libanon, und der Mahindastaat steht dem Staat Israel in seiner Loyalität gegenüber den Westmächten nicht nach.

Mit der Rückendeckung des glo-balen Kapitals ist die UNP schon fast vollkommen zu Mahinda übergelau-fen. Mit dem Rest der Partei wird Ranil Wickremasinghe, der Führer der Op-position, Mahinda hinterherlaufen. Ja-thika Hela Urumaya hat das amerika-nische Diktat angenommen. So haben sie Regierungsposten angenommen, um ihre singhalesisch chauvinistische Politik zu verankern. Einige Mitglieder der UNP sind in der Regierung, um

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Das ist die Geschichte von einem Land, in dem mehr als 200 000 Frauen und Kinder innerhalb eines Jahres ver-schleppt wurden; einem Land, in dem 600 000 Angehörige der Minderheiten ausgegrenzt und der elementaren Men-schenrechte beraubt werden; einem Land, in dem Granaten- und Luftan-griffe für Zehntausende das einzige Weihnachts- und Neujahrsfeuerwerk bedeuten. In diesem Land wurden im vergangenen Jahr fast 5000 Menschen getötet und in den letzten acht Monaten sind 2000 Menschen „verschwunden“. Der Militärhaushalt stieg um 45 Pro-zent auf 1,28 Milliarden. Dieses Land erhält politische, wirtschaftliche und militärische Hilfe von den westlichen Regierungen, einschließlich den USA.

Es handelt sich um Sri Lanka, das einst als Perle im Indischen Ozean gepriesen wurde, aber heute nur noch die Träne des indischen Subkontinents ist.

Nach einem fast zwei Jahrzehnte dauernden Krieg unterzeichneten die Regierung von Sri Lanka und die Tamil-Tiger (LTTE) im Jahr 2002 ein Waffen-stillstandsabkommen. Im selben Jahr begannen unter norwegischer Vermitt-lung Verhandlungen zwischen den Par-teien. Die erste Runde der Gespräche fand in der norwegischen Hauptstadt Oslo statt.

Das danach von beiden Parteien un-terzeichnete Abkommen stellte fest, dass man „übereingekommen ist, ei-ne Lösung voranzutreiben, die auf dem Prinzip der inneren Selbstbestimmung für Gebiete beruht, die historisch von der tamilisch sprechenden Bevölke-rung besiedelt werden, auf der Grund-lage föderaler Strukturen innerhalb eines geeinten Sri Lanka“

Seit dem Abzug der letzten kolo-nialen Herrscher, der Briten, im Jahr 1948 wurde die Insel im Indischen Ozean von der singhalesischen Mehr-heit regiert. Heute stellen die Tamilen ungefähr ein Fünftel der gesamten Be-völkerung. Während die Tamilen aus

Sri Lanka den Norden und Osten des Landes dominieren, leben die Tamilen indischen Ursprungs, die von den bri-tischen Herrschern zur Sklavenarbeit in den Plantagen auf die Insel gebracht wurden, überwiegend im Zentrum des Landes. Eine zweite Minderheit im Land sind die Muslime, die vor allem im Osten konzentriert sind.

Nachdem sie viele Jahrzehnte die rassistische Diskriminierung durch die singhalesische Regierung ertragen hat-ten, begannen sich die Tamilen im Nor-den und Osten zu Beginn der achtziger Jahre mit einem bewaffneten Aufstand zu wehren. Auslöser war hauptsäch-lich das vom Staat ermutigte Pogrom, bei dem Tausende von im Süden leben-den Tamilen ermordet wurden. In einem Staatsgefängnis wurden in einer Nacht mehr als fünfzig der Unterstützung der Tamil-Tiger Verdächtige umgebracht. Die tamilischen KämpferInnen kamen zu der Überzeugung, dass es jetzt reicht, und griffen zu den Waffen, um einen se-paraten Staat innerhalb des Nordens und Ostens zu erkämpfen.

Die Linke in Sri Lanka stand seit ihren ersten Anfängen 1935 immer in vorderster Linie im Kampf für die Rechte der nationalen Minderheiten. Die Lanka Sama Samaja Partei (LSSP) war führende Kraft in diesen Kämp-fen. Sie fand eine respektable Unter-stützung unter den Tamilen im Norden und Osten sowie auch unter den tami-lischen ArbeiterInnen in den Plantagen im Zentrum.

Die LSSP trat allerdings 1964 in ei-ne Koalitionsregierung ein und been-dete ihren Kampf für die Minderheiten und ebenso für die ArbeiterInnen. Nicht nur die Tamilen, sondern auch die sin-ghalesische Jugend wurden enttäuscht. Die singhalesische Jugend begann 1971 als erste mit dem bewaffneten Kampf, während die Tamilen zum Ende des Jahrzehnts folgten.

Anfangs bekämpften verschie-dene tamilische Gruppen den singha-lesischen Staat. Knapp ein Jahrzehnt

später wurden die „Befreiungstiger von Tamil Eelam“ oder „Tamil-Tiger“, mit ihrem beeindruckenden Führer Ve-lupillai Prabhakaran, die dominieren-de Kraft im Kampf für die tamilische Sache. Von einer Guerilla-Gruppe, die vereinzelte Anschläge verübte, entwi-ckelten sie sich zu einer fast konven-tionellen Armee mit ihrer gefürchteten Seestreitmacht der See Tiger und den Selbstmordkommandos der Schwarzen Tiger.

Seit ihrer Gründung 1977 hat die Nava Sama Samaja Partei (NSSP), die sich von der LSSP abspaltete, ei-ne Kampagne für das Recht der tami-lischen Bevölkerung auf Selbstbestim-mung geführt. Mehrere zentrale Füh-rungsmitglieder der Partei wurden ebenso wie andere Führungskräfte der

Keine Unterstützung für diesen völkermörderischen KriegYamuna Bandara

Die Tamilen haben ein Recht auf Selbst-bestimmung in Sri Lanka, das durch einen mehr als zwei Jahrzehnte dauernden Krieg verhindert wird.

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Linken in den späten achtziger Jahren von rassistischen singhalesischen Kräf-ten ermordet. Dies geschah während einer Kampagne zur Absicherung eines begrenzten Verfahrens der Machttei-lung in Form von Provinzräten, das von der damaligen bürgerlichen Regierung verfolgt wurde.

Nach vielen Schlachten mit aufei-nander folgenden Regierungen Sri Lankas sowie der indischen Armee ge-lang es der LTTE, einen größeren Teil des Nordens und wesentliche Teile des Ostens unter ihre Kontrolle zu brin-gen. Die zivile Verwaltung der Tamil-Tiger und ihre Polizeikräfte, Gerichte und Militärstrukturen haben ihre Ba-sis in der nördlichen Vanni-Region und in Kilinochchi ihre Hauptquartiere. Die Autobahn A9, die in die nördlichste und von der Zentralregierung Sri Lan-kas kontrollierte Stadt Jaffna führt, ver-läuft durch von den Tamil-Tigern be-herrschte Gebiete und wird von Kon-trollstellen der Regierung und der Re-bellen überwacht.

Vor dem Hintergrund einer starken militärischen Position erklärte die LT-TE Weihnachten 2001 einen einsei-tigen Waffenstillstand. Die Vereinig-te Nationalpartei von Premierminister Ranil Wickremasinghe, dem Vorkämp-fer einer neoliberalen Politik, reagier-te mit der Unterzeichnung des Waffen-stillstandsabkommens von 2002. Die wichtigste westliche Macht hinter den Kulissen war Norwegen.

Das Abkommen akzeptierte die Re-alität, dass die Tamil-Tiger de facto ei-nen eigenen Staat kontrollierten. Wäh-rend die größte Opposition von der Sri-Lanka-Freiheitspartei unter der Präsi-dentin Chandrika Kumaratunge jegli-chen Dialog mit den Tamil-Tigern ab-lehnte, demonstrierten die Rechtsextre-misten, angeführt von den roten Far-ben der Janatha Vimukthi Peramuna (JVP) und der Safranfarben tragenden buddhistischen Jathika Hela Uruma-ya (JHU), in den Straßen und forder-ten Krieg.

Mit Norwegens Vermittlung hal-fen die westlichen Mächte den Kriegs-parteien, Verhandlungen aufzunehmen. Die erste Runde der Gespräche fand 2002 statt. Im Laufe der Verhandlungen offerierten die Geberstaaten ein Hilfs-paket von 4,5 Milliarden Dollar, abhän-gig vom „Fortschritt des Friedenspro-zesses“. Um den Hilfsfond zu überwa-chen, wurden Britannien, die USA, die

EU, Norwegen und Japan zu Mit-Ver-waltern ernannt.

Trincomalee ist der größte natür-liche Hafen in Sri Lanka und liegt in der Nord-Ost-Region des Landes. Das ist ein Teil des tamilischen Gebietes. Dort gibt es auch riesige Öltank-Anla-gen, die zur Zeit unter der Kontrolle der indischen Regierung stehen. Sie liegen auf der Route des US-Pazifikkomman-dos auf dem Weg in den Nahen Osten.

Der Hafen von Trincomalee und die Tankanlagen sind strategisch wichtige Orte für die Kriegspläne der US-Ar-mee im Nahen Osten. Ironischerwei-se ist dieser Teil der Welt für die US-Armee zu instabil für Operationen, vor allem wegen der Aktionen der See-Ti-ger in diesem Gebiet. Deshalb wün-schen die USA in der Nordost-See von Sri Lanka eine „No-Conflict-Zone“ und der „Friedensprozess“, den sie ger-ne wollen, ähnelt dem der Bush-Regie-rung für Palästina.

Nach sechs Verhandlungsrunden hatte die Regierung von Sri Lanka im Jahr 2003 ein Treffen mit den „Ge-berstaaten“ in Washington unter Aus-schluss der Tamil-Tiger. Die LTTE un-terbrach daraufhin die Verhandlungen und erklärte, dass das gesamte Geld, das für Sri Lanka vorgesehen ist, eine Angelegenheit von Verhandlungen bei-der Seiten sei. Die Regierung Sri Lan-kas antwortete darauf, dass sie eine „souveräne Nation“ vertrete.

Der Verhandlungsführer und „Chef-ideologe“ der Tamil-Tiger, Anton Bala-singham, schrieb dem Premierminis-ter, dass „die Ausgrenzung der Tamilen im Nordosten aus der makro-ökono-mischen Politik und Strategie der Re-gierung das Vertrauen der tamilischen Bevölkerung und der LTTE-Führung in den Verhandlungsprozess nachdrück-lich erschüttert habe.“

Die tamilischen Gebiete des Landes wurden von der asiatischen Tsunami-Katastrophe 2004 am stärksten betrof-fen. Ausländische Institutionen und die geschockten Menschen überall in der Welt schickten Millionen Dollar an die Regierungen in den betroffenen Regi-onen. Die Tamilen, die Hilfe schickten, die für die Nordost-Region gedacht war, mussten erleben, dass sie in den Warenhäusern des Zolls blockiert wur-den.

Um an die dringend benötigte Hilfe zu kommen, schlug die LTTE eine ge-meinsame Abwicklung vor, um mit der

Regierung in eine Arbeitsbeziehung zu gelangen. Der Präsident, dessen Bünd-nis bei den Wahlen von April 2004 zu-rück an die Macht kam, verhinderte, dass diese Zusammenarbeit zustande kam. Diese Wende wurde von der JVP und der JHU unterstützt. Die Tamil-Ti-ger schickten eine Delegation nach der anderen nach Colombo, aber alle ihre Appelle blieben ungehört. Die Tamilen wurden der Armut und Verzweiflung überlassen.

Vor den Wahlen von 2004 spalte-te sich eine Gruppe unter dem LTTE-Kommandeur Vinayagamoorthi Mu-ralitharan, alias Karuna, von der LT-TE ab und forderte eine vom Norden getrennte Ostprovinz. Die Forderung nach einem tamilischen Staat gerade vor Beginn des bewaffneten Kampfes sah aber einen vereinten Norden und Osten vor.

Später ging Ranil Wickremasin-ghes Vereinigte Nationalpartei an die Öffentlichkeit und behauptete, dass diese Spaltung durch die „Friedens-gespräche“ ausgelöst worden sei. So viel zur „Vertrauensbildung“. Es ist kein Geheimnis, dass die Armee Sri Lankas mit der Karuna-Gruppe ge-meinsame Operationen durchführt. Im November klagten die Vereinten Na-tionen und Human Rights Watch die Regierung Sri Lankas an, Kinder für die Karuna-Truppen im Osten zu re-krutieren.

Die Karuna-Gruppe und die Armee hatten im Februar 2005 einen größeren Erfolg, als sie E. Kaushalyan, den poli-tischen Führer der LTTE im Osten, zu-sammen mit dem früheren tamilischen Parlamentsmitglied Chandranehru Ari-anayagam auf einem von der Regie-rung kontrollierten Gebiet töteten. Bis heute wurde dafür kein Schuldiger ge-funden.

Die Westmächte und die UNO ga-ben Erklärungen heraus, in denen beide Parteien aufgefordert wurden, zurück an den Verhandlungstisch zu kommen. Als der Außenminister Laxman Kadir-gamar im August 2005 in Colombo er-mordet wurde, erließ die EU ein Ein-reiseverbot für die Tamil-Tiger. Dage-gen gab es nur dürftige Reaktionen von Seiten der Linken.

Im November 2005 kam Präsident Mahinda Rajapaksa an die Macht, vor allem Dank der Hilfe durch die JVP und der JHU. Auch die Kommunisti-sche Partei und die LSSP unterstütz-

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ten ihn. Sein Schlachtruf lautete „Ein einheitliches Sri Lanka“, womit er sich gegen jede Verhandlung über Machttei-lung mit den Tamil-Tigern stellte.

Die Gewalt, die während der ver-gangenen drei Jahre nur sporadisch ausbrach, eskalierte. Die Regierung von Mahinda Rajapaksa bereitete sich ihrerseits auf den Krieg vor. Die Tö-tungen von unbewaffneten politischen AktivistInnen der Tamilen erreichten neue Ausmaße.

Der tamilische Parlamentsabgeord-nete Joseph Pararajasingham wurde am Weihnachtsabend während des Messe-besuchs niedergeschossen. Zeugen ha-ben gesehen, wie die Mörder in ein na-he gelegenes Lager der Armee Sri Lan-kas gingen. Nach noch nicht einmal einem Monat wurde V. Vigneswaran, der Präsident des tamilischen Volks-forums im Distrikt Trincomalee, der Pararajasingham ersetzen sollte, eben-falls ermordet.

Obwohl von den internationalen Mächten keinerlei Maßnahmen ge-gen die Regierung unternommen wur-de, die in beide zivilen Mordanschläge verwickelt war, erließ die EU sofort ein totales Einreiseverbot gegen die LTTE, nachdem diese sich mit einem Selbst-mordanschlag gegen den Armeeober-befehlshaber direkt in dem Armee-hauptquartier revanchierte.

Die Regierung reagierte auf den Angriff gegen ihren Militärführer mit Luftangriffen auf den von der LTTE kontrollierten Osten. Seitdem ist ihre politische Priorität, die Tiger aus dem Osten zu vertreiben. Heute wird das Alltagsleben der tamilischen Bevölke-rung von Luftangriffen und Mörsergra-naten geprägt. Hunderttausende der Zi-vilbevölkerung sind aus den bedrohten Gebieten geflohen. Viele überquerten die Palk Straße, um im benachbarten Indien als Flüchtling zu leben.

Bei einem der Luftangriffe wur-de eine Schule in Sencholai getroffen und mehr als 60 Kinder getötet. Unter-dessen wurden 50 Menschen in einem Flüchtlingslager in Kadiravelli im Os-ten durch Granatenbeschuss von der Armee Sri Lankas umgebracht. Die Stadt Trincomalee ist heute eine Stadt der Flüchtlinge. Mit dem Segen der Gerichte hat die Regierung bereits be-gonnen, das Land der Tamilen in einen Nord- und einen Ostteil zu teilen.

Gleichzeitig hat die Regierung die wichtigsten Versorgungsrouten in den

von der LTTE kontrollierten Norden und Osten geschlossen. Über eine hal-be Million Tamilen im nördlichen Jaff-na werden gezwungen, in bewusst her-beigeführter Armut zu leben, weil ihr Land mit massiver militärischer Prä-senz besetzt und in eine so genannte Hochsicherheitszone verwandelt wur-de. Tausende fliehen aus der östlichen, von der LTTE kontrollierten Stadt Va-karai, um den allgegenwärtigen Grana-tenangriffen und Luftschlägen sowie dem allgemeinen Chaos zu entkom-men. Hilfsorganisationen und Medi-en ist es untersagt, in diese Region zu kommen.

Die so genannte „internationale Ge-meinschaft“ hüllt sich in Schweigen. Unterdessen sind in den letzten acht Monaten mehr als zweitausend Men-schen, überwiegend Tamilen, in den von der Regierung kontrollierten Ge-

bieten verschwunden. Die NSSP-Lei-tung, die eine Kampagne gegen dieses Verschwindenlassen und die Angriffe auf die Tamilen führt, erhielt Morddro-hungen von staatlich unterstützten ras-sistischen singhalesischen Kräften.

Das jüngste Attentat richtete sich gegen den tamilischen Parlamentsab-geordneten Nadarajah Raviraj, der am helllichten Tag in Colombo niederge-schossen wurde. Er war auch innerhalb der singhalesischen Mehrheit ein po-pulärer Politiker, der auf Singhalesisch erklärte, warum die Tamilen, nur weil sie Tamilen sind, unterdrückt werden. Er knüpfte Verbindungen zu linken und fortschrittlichen Kräften im von Sin-ghalesen dominierten Süden, um gegen das Verschwindenlassen und die Grau-samkeiten zu protestieren, die vom Staat und von paramilitärischen Kräf-ten gegen Tamilen verübt werden. We-

Der tamilische Parlamentsabgeordnete Joseph Parajasaingham wurde während eines Kirchenbesuchs erschossen. Seine Mörder flohen in ein Armeelager.

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gen seiner Ermordung demonstrierten Tausende von KriegsgegnerInnen in Colombo.

Die EU behauptet weiterhin, dass das Einreiseverbot gegen die LTTE we-gen der „Aktionen dieser Organisation“ verhängt wurde und ruft in einer Erklä-rung vom 31. Mai 2005 auf, dass die LTTE „ihren gewalttätigen Kurs korri-gieren und zurück zu den Friedensver-handlungen kommen soll“.

Gleichzeitig wird die Regierung Sri Lankas vor außergerichtlichen Tö-tungen und der Unterstützung von pa-ramilitärischen Kräften gewarnt, aber lediglich aufgerufen, dass „die Behör-den Sri Lankas die Gewalt in den von ihnen kontrollierten Gebieten zügeln soll“. Das passiert, weil die EU aner-kennen muss, dass die LTTE nicht die einzige Partei ist, die für die Gewalt verantwortliche ist.

Allerdings hat die EU, die die LT-TE in Europa mit Bann belegt, weil sie in terroristische Aktionen verwickelt ist, keinerlei Maßnahmen gegen die Regierung Sri Lankas unternommen.

Diese massiv von Singhalesen unter-stützte Regierung des Präsidenten Ma-hinda Rajapaksa handelt ihr zufolge nicht energisch genug, um „die Kultur der Straffreiheit und alle Gewaltakte in den von der Regierung kontrollierten Gebieten zu stoppen“.

Darin ist die Botschaft erkennbar, dass die EU durchaus weiß, dass die Regierung Sri Lankas bewaffnete Ban-den fördert und ihnen die Vollmacht für einen Krieg gegen die LTTE und die tamilische Bevölkerung erteilt hat. Trotzdem begnügt sich die EU mit ei-ner Warnung.

Fast eine halbe Million Tamilen lebt innerhalb der EU. Sie wurden aus ihrem Heimatland vertrieben, weil sie sich der tamilischen Sache verbun-den fühlten. Sie machen einen bedeut-samen Teil der europäischen Arbeiter-klasse aus. Angestachelt von den USA bezeichnet die politische Elite Euro-pas die militante Führung der Tami-len als „eine terroristische Organisa-tion“. Die „internationale Gemein-schaft“, die glaubt, ein menschliches

Gesicht zu haben, hat die Tamilen an-gesichts der Angriffe der Terrorkampa-gne der Regierung verlassen. Die Linke in Europa und der übrigen Welt muss auf die Stimme der Tamilen hören und ihr Recht auf Selbstbestimmung vertei-digen.

Socialist Resistance hat mit der NSSP, der Sektion der Vierten Internationale in Sri Lan-ka, einen Aufruf gestartet, diese Fragen aufzu-greifen und den Bann gegen die LTTE aufzu-heben. Die IV. Internationale unterstützt diese Initiative (vgl. dazu die Resolution auf S. 43) GewerkschafterInnen, Bürgerrechtsinitiativen und andere fortschrittliche Kräfte sollten zu-sammengehen, um die anti-tamilischen Akti-onen in Sri Lanka und anderswo auf der Welt zu verhindern. Es ist an der Zeit, gegen die weltweite Unterstützung für einen Staat zu protestieren, der verantwortlich für den Beginn dieses mörderischen Krieges ist.

Übersetzung und Bearbeitung: Thies Gleiss

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Unser Genosse Christian Courbain ist am 10. Januar im Alter von 57 Jahren in einem Krankenhaus in Pointe-à-Pi-tre, Guadeloupe, gestorben. Er gehörte zur Leitung der „Groupe révolution so-cialiste“ (GRS), der Sektion der IV. In-ternationale auf den Antillen, und war während seines Studiums in Frankreich Mitglied der „Ligue communiste“.

Christian Courbain war noch ganz jung, als er sich der antikolonialis-tischen Bewegung in Guadeloupe an-schloss, genauer gesagt dem „Cercle culturel des étudiants guadeloupéens“ (CCEG), der sich 1965 von der kom-munistischen Partei auf Guadeloupe und dem kommunistischen Jugendver-band abgespalten hatte. Er stand der Gruppe „La Vérité“ nahe, als er 1967 an der Mobilisierung gegen den mas-siven Wahlbetrug der Kolonialbehör-den bei der Parlamentswahl vom März 1967 teilnahm; damit wurde ganz un-verblümt der Sieg der drei kommuni-stischen Kandidaten verhindert. Der Unmut in der Bevölkerung gegen die Unterdrückung der Gewerkschaften, die Arroganz der Unternehmer, die Entlassungen, die Jagd auf Antikolo-nialisten, den Wahlbetrug, die Bruta-litäten der Polizei und das rassistische

Verhalten der Gendarmerie hatten die Ereignisse in Basse-Terre (März 1967) und die blutige Repression in Pointe-à-Pitre (Mai 1967) zur Folge. Unser Genosse, damals ein junger Gymnasi-ast, hatte während dieser finsteren Ta-ge und danach einen nicht unbedeu-tenden Anteil an dem Widerstands-kampf.

Nachdem er das Abitur ge-macht hatte, studierte er am „Cen-tre d’enseignement supérieur scienti-fique“ in Fort-de-France (Martinique). Er war einer der zentralen Organisa-toren der großen Schülerdemonstra-tion gegen den Besuch des franzö-sischen Überseeministers, die am 10. Januar 1969 stattfand. Nach diesem Datum wurde die Bewegung „Mou-vement du 10 janvier“ (MXI, Bewe-gung des 10. Januar) benannt. Das MXI mobilisierte zahlreiche Gymna-siastInnen und StudentInnen und be-teiligte sich an der Volksversammlung vom 14. Mai 1971 gegen die Politik Pierre Messmers, des Ministers für die Überseedepartements. Christian spielte dabei eine aktive Rolle, vor allem als er anprangerte, unter welch skandalösen Umständen Gérard Nou-vet zu Tode gekommen war, der au-

ßerhalb von jedem Demonstrations-zug von Messmers Soldateska umge-bracht worden war. Messmer brachte Christian Courbain 1972 in Paris vor Gericht. Das löste eine breite Kampa-gne der demokratischen Bewegung in Frankreich aus, an der die GRS und die „Ligue communiste“ einen bedeu-tenden Anteil hatten. In den Gymna-sien, den Universitätsinstituten, auf den Märkten, in den fortschrittlichen Gemeinden und von den Studieren-denverbänden der DOM-TOM1* wur-den zahlreiche Veranstaltungen orga-nisiert. Und Christian Courbain wur-de freigesprochen.

Nach seinem Studium kehrte Chri-stian nach Guadeloupe zurück; mit der GRS nahm er in den letzten 30 Jahren an allen gewerkschaftlichen und anti-kolonialistischen Kämpfen teil. Er be-teiligte sich an der Bildung des „Mou-vement guadeloupéen“; es ging ihm darum, dem Antikolonialismus seine verloren gegangene Kraft wieder zu verleihen. Wir nehmen Abschied von einem der Begründer des „Mouve-ment du 10 janvier“, der, als wolle die Geschichte mit dem Auge zwinkern, am 10. Januar 2007 gestorben ist.

Aus dem Französischen: Friedrich Dorn.

1 Die „Départements d’outre-mer“ und die „Ter-ritoires d’outre-mer“ sind die beiden Gruppen, in die Reste des französischen Kolonialreichs nach der Entkolonisierung eingeteilt wurden; dazu gehören vor allem eine Reihe von Inseln im Indischen und Pazifischen Ozean. Sie wer-den als Teil Frankreichs betrachtet, folglich ist der Euro die Währung und werden dort Abge-ordnete in die Nationalversammlung in Paris gewählt. In Amerika gibt es die DOM Guade-loupe, Martinique und Französisch-Guayana. (Anm. d. Übers.).

Guadeloupe: Christian Courbain gestorben

Gilbert Pago

Zeitschrift der Sozialistischen Alternative (SOAL)

…nach 35 Jahren im Internet angekommen:

www.dielinke.at

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Aisha Amin, eine 73 Jahre alte Aktivis-tin der Labour Party Pakistan aus Shah-drai Lahore, ist für tot erklärt worden, nachdem sie drei Tage lang als vermisst gegolten hatte. Sie war eines der Opfer des Bombenanschlags auf den Zug von Delhi nach Lahore.

Ihr 23-jähriger Enkel Kamaran ge-hörte ebenfalls zu denen, die auf dem Shamhauta Express, dem zwischen In-dien und Pakistan verkehrenden Frie-denszug, ihr Leben verloren. Am 19. Februar fuhr dieser Zug von Delhi nach Lahore, als eine Bombenexplosi-on drei Zugabteile in Brand setzte. Da-durch kamen mindestens 70 Menschen ums Leben.

Aisha Amin wurde in die Ratsver-sammlung von Shahdrai gewählt und übte dieses Amt von 2001 bis 2005 aus. Mit 1272 Stimmen gewann sie ei-ne Rekordzahl, mehr als alle anderen Ratsfrauen. Im gleichen Jahr 2001 trat sie der Labour Party Pakistan (LPP) bei. Sie nahm an zahlreichen Demons-trationen teil und hatte großen Anteil an der Ausweitung des Netzwerks der LPP in der Bevölkerung. Sie war eng mit Nazli Javed, Mitglied des Natio-nalen Komitees der LPP, befreundet und half ihr, ebenfalls einen Ratssitz zu gewinnen.

Aisha Amin hat dann mit dem Auf-bau der Women Workers Help Line weitergemacht und außerdem der La-bour Education Foundation dabei ge-holfen, in ihrer Wohnung ein Erwach-senenbildungszentrum zu eröffnen. Sie nahm als eine der Schülerinnen an einem Alphabetisierungskurs teil, ob-wohl sie schon über 70 war. Sie sagte: „Für das Lernen gibt es keine Alters-grenze“.

Aisha Amin trat zu den Gemeinde-ratswahlen im Jahr 2005 nicht wieder an. Sie war eine scharfe Kritikerin des

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Aisha Amin – eine heldin des Friedens

Farooq Tariq

Systems der Kommunalverwaltung, bei dem weibliche Ratsmitglieder keinerlei Befugnis haben, der örtlichen Bevölke-rung zu helfen. Sie fragte mich mehr als einmal: „Wozu ist es gut, dass wir uns in den Rat wählen lassen, wenn wir den Menschen nicht helfen können; es gibt keine Mittel.“

Sie nahm stets an Demonstrationen teil. Ende Dezember nahm sie an ei-ner von der LPP organisierten antiim-perialistischen Demonstration in Laho-re teil.

Aisha arbeitete als Hebamme. Ob-wohl sie keine formale Ausbildung hat-te, eignete sie sich die Kenntnisse ei-ner Daiya (Hebamme) an. Als ihr Bru-der in Indien starb, verließ sie Pakistan, um mit ihrer Familie zu trauern, die in Saharan Pur [Uttar Pradesh, Indien] lebte.

Die Familie wartete drei Tage, nach-dem sie vermisst wurde, als der Zug gebrannt hatte. Zwei Verwandte fuhren nach Indien, um ihrem Verbleib nach-zugehen. Sie erhielten die Information, sie sei bewusstlos in einem Dschun-gel gefunden worden und sei wohlauf. Sie informierten uns auch darüber, dass Kamaran wohlauf sei. Kurz darauf er-reichte uns die Nachricht, dass beide tot waren.

Aisha Amin ist eines der Opfer von Leuten, die gleich wen töten, um wahr-genommen zu werden. Der Anschlag auf den Zug ist anscheinend von ir-gendeiner fundamentalistischen religi-ösen Gruppierung verübt worden, die keinen Frieden zwischen Indien und Pakistan will. Aisha Amin ist eine Frie-densheldin, die ihr Leben in einem Zug verloren hat, der als Friedenszug be-kannt ist.

Aus dem Englischen: Friedrich Dorn.

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Neuer Kurs GmbH, Dasselstr. 75-77, D-50674 KölnPostvertriebsstück, DPAG, Entgelt bezahltG9861 #5037280137*

G9861

Als GewerkschafterInnen aus vielen Ländern sind wir Teil des Protestes gegen den G8-Gipfel 2007 in Heiligen-damm. Wie keine andere internationale Institution sind diese jährlichen Gipfeltreffen Symbol der weltweiten ne-oliberalen Dominanz.

Weltwirtschaftsgipfel dienen der globalen Koordi-nation und der Machtaufteilung. Damit stabilisieren sie die neoliberale Weltwirtschaftsordnung mit ihren immer schlimmeren

Folgen für die Mehrheit der Menschen. Eine elitäre Minderheit eignet sich dabei den Reichtum an, den Mil-lionen Menschen produzieren.

Wir unterstützen den Protest gegen imperiale Machtstrategien und Kriege, gegen den Raubbau an der Natur und den immer bedrohlicher werdenden Klima-wandel. Entgegen seiner Verheißungen treibt der globa-le Kapitalismus die Menschheit in die Existenzkrise. Oh-ne Frieden ist alles nichts. Und ohne Antwort auf die dro-hende Klimakatastrophe ist alles nichts.

Die Globalisierung von Kapital- und Arbeitsmärkten hat die Beschäftigten weltweit in Konkurrenz zueinander gebracht. Skrupellos werden die Belegschaften einzelner Länder, Branchen und Standorte gegeneinander ausge-spielt – in einem Dumpingwettbewerb um Arbeitsplätze, Arbeitsbedingungen, Löhne und Menschen-würde. Als GewerkschafterInnen fordern wir daher:• Die Kernarbeitsnormen sind ein Menschen-recht

und müssen als Mindeststandards durchgesetzt wer-den. Dazu zählen die Rechte auf Bildung von Gewerk-schaften und auf das Führen von Kollektivverhand-lungen, die Abschaffung von Kinder- und Zwangs-arbeit und das generelle Diskriminierungsverbot in Arbeit und Beruf. Verstöße müssen öffentlich gemacht und mit harten Sanktionen belegt werden.

• Gesetzliche Höchstarbeitszeit: Arbeitsumverteilung ist das entscheidende Mittel gegen eine Arbeitslosig-keit von 200 Millionen Arbeitlosen und 1,4 Milliar-den „working poor“ weltweit. Prod u ktivitätsfortsch ritte müssen über Arbeitszeitverkürzungen zum gesellschaftlichen Fortschritt werden: die 30-Stunden-Woche ist das Ziel, die 40 Stun-den-Woche muss weltweit gesetzliche Höchst-arbeitszeit werden.

• Mindestlöhne, die es in einigen Ländern, wenn auch unzureichend, schon gibt, müssen zu welt-weiten Mi ndeststandards werden. Mit jeweils 60% des nationalen Durchschnittlohns müssen sie globale Gültigkeit entfalten.

• Systeme der öffentlichen Daseins-vorsorge und Zu-kunftssicherung müssen aufgebaut bzw. vor Privati-sierung und Kommerzialisierung geschützt werden. Gesundheit, Bildung, öffentliche Sicherheit und die natürlichen Lebensgrundlagen dürfen nicht zu Waren werden.

• Betriebliche Schutz- und Beteiligungsrechte müs-sen gesetzlich geregelt werden, um Beschäftigten ei-nen Mindestschutz vor Arbeitgeberwillkür zu gewähr-leisten.

Das Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit hat sich im Zuge der Globalisierung dramatisch zuguns-ten des Kapitals verschoben. Globale Finanzmärkte und grenzüberschreitend agierende Unternehmen verfügen inzwischen über ein gigantisches Erpressungspotenti-al gegenüber Nationalstaaten (Steuer- und Umweltdum-ping, Deregulierung der Arbeitsmärkte) und gegenüber nur nationalstaatlich agierenden Gewerkschaften.

Aus dieser historischen Defensive müssen wir her-auskommen, indem wir uns dem Kapital an die Fersen heften, Sprachschwierigkeiten und wechselseitige Un-kenntnis überwinden und das Gemeinsame in unseren In-teressen erkennen, grenzüberschreitend auf allen gewerk-schaftlichen Ebenen zusammenarbeiten und zu Protesten und Widerstand zusammenfinden, wie bei der Streikde-monstration gegen die Bolkesteinrichtlinie, wie bei den internationalen Streiks der HafenarbeiterInnen und See-leute und wie jetzt im Juni 2007 gegen den Weltwirt-schaftsgipfel in Heiligendamm.

Wir wissen, dass wir erst am Anfang dieses Weges ste-hen. Aber wir wissen auch, dass wir nur durch die Über-windung der Konkurrenz untereinander und mit Hil-fe global handlungsfähiger Gewerkschaften dem global agierenden Kapital wirkungsvoll entgegentreten können.

UnterzeichnerInnen siehe www.g8-gewerkschafteraufruf.de

Nein zu G8 –Gewerkschaften auf die globale Bühne!