Die Ragwurz — erfolgreich durch Täuschung

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510 | Pharmazie in unserer Zeit | 31. Jahrgang 2002 | Nr. 5 FORUM | PFLANZENPORTRÄT | Die Ragwurz – erfolgreich durch Täuschung Mit etwa 20.000 Arten sind die Orchi- deen (Orchidaceae) eine der größten Familien des Pflanzenreiches. Sie sind fast weltweit verbreitet, wobei sie ih- re größte Formenvielfalt in tropischen und subtropischen Gebieten entfalten. Dabei gibt es auch in Europa eine Fülle von Orchideen, unter denen vor allem die Gattung Ragwurz (Ophrys) aufgrund hochspezialisierter, der An- lockung potenzieller Bestäuber die- nender Anpassungen der Blüten von Interesse ist. Wie bei fast allen Orchideen ist auch bei Ophrys, die mit ca. 100 Taxa (Arten und Unterarten) im Mittel- meergebiet verbreitet ist, das mittlere, ursprünglich aufrecht stehende Blü- tenblatt des inneren Hüllkreises in auf- fälliger Weise verändert und wird durch eine 180°-Torsion des Frucht- knotens zur „Unterlippe“, die dann als Anflugorgan für Bestäuber fungiert. Diese ist nun bei der Ragwurz so be- schaffen, dass eine nahezu perfekte Nachahmung der potenziellen Bestäu- ber – verschiedene Bienen, z.B. Erd- bienen der Gattung Andrena – er- reicht wird (s.Abb.). Die Co-Evolution zwischen Blüte und Bestäuber ist je- doch nicht nur auf die Analogie hin- sichtlich Gestalt, Form und Färbung der Unterlippe beschränkt. Zusätzlich wird diese Mimikry noch durch die Ausbildung von Härchen und die Frei- setzung von Duftstoffen perfektio- niert. Bestäubt werden die Blüten ausschließlich von paarungsbereiten männlichen Bienen, die den Reizen der vermeintlichen Weibchen unterliegen. Eine Konkurrenz zwischen den „Rag- wurz-Weibchen“ und den weiblichen Bienen wird dadurch vermieden, dass die Männchen einige Tage vor den weiblichen Tieren schlüpfen. Bei der durch optische, taktile und olfaktori- sche Signale induzierten „Pseudoko- pulation“ der Männchen wird die ge- samte Pollenmasse, aufgeteilt auf zwei Pakete, auf den Bestäuber übertragen, die dann beim Besuch einer weiteren Blüte übertragen werden. Eine Analyse der beteiligten Duft- stoffe enthüllt die große Übereinstim- mung zwischen den in den Blütendüf- ten enthaltenen Stoffen und den von den Kopfdrüsen weiblicher Bienen produzierten Pheromonen. Bioche- misch besteht der Duft der Ragwurz- Arten hauptsächlich aus kurzkettigen aliphatischen Verbindungen, Monoter- penen und einigen Sesquiterpenen der Cardinenreihe mit zwei Ringsystemen, wobei im Falle des Cardinens nur die stereochemisch richtige Verbindung die optimale Verhaltensreaktion aus- zulösen vermag. Von den in den Mandibeldrüsen der weiblichen Bie- nen produzierten Duftstoffen sind z.B. Octanol, Decylacetat und Linalool auch im Duft der Ragwurz enthalten. Da die männlichen Bienen keine Be- lohnung für ihre Bestäuberdienste in Form von Nektar oder Pollen erhalten, ist es allein der komplexe Reizmix unterschiedlicher Stimuli, der den Evolutionserfolg der „Sexualtäusch- blumen“ ermöglicht. Die Früchte der Ragwurz-Arten sind überwiegend Kapselfrüchte mit zahlreichen und winzigen Samen, die aufgrund ihres geringen Gewichts als typische „Staubsamen“ über weite Strecken durch den Wind ausgebreitet werden können. Da die Gewichtsre- duktion mit dem Wegfall des Nährge- webes verbunden ist, ergibt sich als keimungsphysiologische Notwendig- keit, dass die Orchideen-Samen eine Symbiose mit „Ammenpilzen“ einge- hen müssen (Mykorrhiza). Nur bei ei- nigen ursprünglichen Orchideen, wie etwa der Gattung Vanilla, sind die relativ großen Samen in mehr oder weniger fleischige Früchte einge- schlossen. Offizinell waren die unterirdischen Speicherorgane der Orchideen, wobei neben Ophrys-Arten vor allem Vertre- ter der Gattung Orchis Verwendung fanden. Bei deren in Zweizahl an der Sprossbasis befindlichen eiförmigen Sprosswurzelknollen birgt die kleinere Tochterknolle den Trieb für das nächs- te Jahr,während die Mutterknolle nach der Fruchtreife zugrunde geht.Das aus den getrockneten Knollen als Tubera Salep gewonnene Mehl wird aufgrund seines Gehaltes an Schleimstoffen z.B. als Mittel bei reizhaften Magen-Darm- Erkrankungen eingesetzt, so dass eine Reizmilderung durch Umhüllung der entzündeten Schleimhäute erreicht wird. Anzahl und Form dieser Knollen ähneln stark den männlichen Ge- schlechtsorganen von Säugetieren, weshalb sie von den alten Griechen orchis (= Hoden) genannt wurden. Der deutsche Name Knabenkrautge- wächse nimmt ebenfalls darauf Bezug. Es ist daher nicht verwunderlich, dass bereits Plinius den Knollen, ganz im Sinne der Signaturenlehre, auch eine Funktion als Aphrodisiakum zuschrieb, ohne dass sich aber eine solche Wirk- samkeit belegen ließe. Eine heutige Nutzung der Knollen verbietet sich schon allein dadurch, dass alle Orchi- deen-Arten unter besonders strengem gesetzlichen Schutz stehen. Thomas Junghans, Bammental ABB. Trotz prächtig ausgebildeter „Bienentracht“ ist die Bienen-Ragwurz (Ophrys apifera) obligat autogam, d.h. sie vollzieht die Bestäubung selbst. Dabei ist die Unabhängigkeit von Be- stäubern sicherlich die Hauptursache dafür, dass diese Art die am weitesten verbreitete Ragwurz-Art ist.

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P F L A N Z E N P O R T R Ä T |Die Ragwurz – erfolgreich durchTäuschung

Mit etwa 20.000 Arten sind die Orchi-deen (Orchidaceae) eine der größtenFamilien des Pflanzenreiches. Sie sindfast weltweit verbreitet, wobei sie ih-re größte Formenvielfalt in tropischenund subtropischen Gebieten entfalten.Dabei gibt es auch in Europa eine Fülle von Orchideen, unter denen vorallem die Gattung Ragwurz (Ophrys)aufgrund hochspezialisierter, der An-lockung potenzieller Bestäuber die-nender Anpassungen der Blüten vonInteresse ist.

Wie bei fast allen Orchideen istauch bei Ophrys, die mit ca. 100 Taxa(Arten und Unterarten) im Mittel-meergebiet verbreitet ist, das mittlere,ursprünglich aufrecht stehende Blü-tenblatt des inneren Hüllkreises in auf-fälliger Weise verändert und wirddurch eine 180°-Torsion des Frucht-knotens zur „Unterlippe“,die dann alsAnflugorgan für Bestäuber fungiert.Diese ist nun bei der Ragwurz so be-schaffen, dass eine nahezu perfekteNachahmung der potenziellen Bestäu-ber – verschiedene Bienen, z.B. Erd-bienen der Gattung Andrena – er-reicht wird (s.Abb.). Die Co-Evolutionzwischen Blüte und Bestäuber ist je-doch nicht nur auf die Analogie hin-sichtlich Gestalt, Form und Färbungder Unterlippe beschränkt. Zusätzlichwird diese Mimikry noch durch dieAusbildung von Härchen und die Frei-setzung von Duftstoffen perfektio-niert. Bestäubt werden die Blüten ausschließlich von paarungsbereitenmännlichen Bienen,die den Reizen dervermeintlichen Weibchen unterliegen.Eine Konkurrenz zwischen den „Rag-wurz-Weibchen“ und den weiblichenBienen wird dadurch vermieden, dassdie Männchen einige Tage vor denweiblichen Tieren schlüpfen. Bei derdurch optische, taktile und olfaktori-sche Signale induzierten „Pseudoko-pulation“ der Männchen wird die ge-samte Pollenmasse, aufgeteilt auf zweiPakete, auf den Bestäuber übertragen,

die dann beim Besuch einer weiterenBlüte übertragen werden.

Eine Analyse der beteiligten Duft-stoffe enthüllt die große Übereinstim-mung zwischen den in den Blütendüf-ten enthaltenen Stoffen und den vonden Kopfdrüsen weiblicher Bienenproduzierten Pheromonen. Bioche-misch besteht der Duft der Ragwurz-Arten hauptsächlich aus kurzkettigenaliphatischen Verbindungen, Monoter-penen und einigen Sesquiterpenen derCardinenreihe mit zwei Ringsystemen,wobei im Falle des Cardinens nur diestereochemisch richtige Verbindungdie optimale Verhaltensreaktion aus-zulösen vermag. Von den in denMandibeldrüsen der weiblichen Bie-nen produzierten Duftstoffen sind z.B.Octanol, Decylacetat und Linaloolauch im Duft der Ragwurz enthalten.Da die männlichen Bienen keine Be-lohnung für ihre Bestäuberdienste inForm von Nektar oder Pollen erhalten,ist es allein der komplexe Reizmixunterschiedlicher Stimuli, der den Evolutionserfolg der „Sexualtäusch-blumen“ ermöglicht.

Die Früchte der Ragwurz-Artensind überwiegend Kapselfrüchte mitzahlreichen und winzigen Samen, dieaufgrund ihres geringen Gewichts alstypische „Staubsamen“ über weiteStrecken durch den Wind ausgebreitetwerden können. Da die Gewichtsre-duktion mit dem Wegfall des Nährge-webes verbunden ist, ergibt sich alskeimungsphysiologische Notwendig-keit, dass die Orchideen-Samen eineSymbiose mit „Ammenpilzen“ einge-hen müssen (Mykorrhiza). Nur bei ei-nigen ursprünglichen Orchideen, wieetwa der Gattung Vanilla, sind die relativ großen Samen in mehr oder weniger fleischige Früchte einge-schlossen.

Offizinell waren die unterirdischenSpeicherorgane der Orchideen,wobeineben Ophrys-Arten vor allem Vertre-ter der Gattung Orchis Verwendung

fanden. Bei deren in Zweizahl an derSprossbasis befindlichen eiförmigenSprosswurzelknollen birgt die kleinereTochterknolle den Trieb für das nächs-te Jahr,während die Mutterknolle nachder Fruchtreife zugrunde geht.Das ausden getrockneten Knollen als TuberaSalep gewonnene Mehl wird aufgrundseines Gehaltes an Schleimstoffen z.B.als Mittel bei reizhaften Magen-Darm-Erkrankungen eingesetzt, so dass eineReizmilderung durch Umhüllung derentzündeten Schleimhäute erreichtwird. Anzahl und Form dieser Knollenähneln stark den männlichen Ge-schlechtsorganen von Säugetieren,weshalb sie von den alten Griechenorchis (= Hoden) genannt wurden.Der deutsche Name Knabenkrautge-wächse nimmt ebenfalls darauf Bezug.Es ist daher nicht verwunderlich, dassbereits Plinius den Knollen, ganz imSinne der Signaturenlehre, auch eineFunktion als Aphrodisiakum zuschrieb,ohne dass sich aber eine solche Wirk-samkeit belegen ließe. Eine heutigeNutzung der Knollen verbietet sichschon allein dadurch, dass alle Orchi-deen-Arten unter besonders strengemgesetzlichen Schutz stehen.

Thomas Junghans, Bammental

A B B . Trotz prächtig ausgebildeter„Bienentracht“ ist die Bienen-Ragwurz(Ophrys apifera) obligat autogam, d.h. sie vollzieht die Bestäubung selbst.Dabei ist die Unabhängigkeit von Be-stäubern sicherlich die Hauptursachedafür, dass diese Art die am weitestenverbreitete Ragwurz-Art ist.