Der Beifuß – Heilkraut und Droge, Gewürz und Allergen

1
| FORUM © 2006 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.pharmuz.de 4/2006 (35) | Pharm. Unserer Zeit | 373 Die weltweit rund 300 Beifuß-Arten (Gattung Artemisia) kommen vor al- lem in den offenen Steppengebieten und den Halb- und Trockenwüsten der Nordhalbkugel vor, wo einzelne Artemisia-Arten vegetationsbestim- mend sein können, wie z.B. Artemi- sia californica im Chaparral, einem verbuschten Grasland mit mediterra- nem Klima an der Küste Südkaliforni- ens. Die Dominanz der Beifuß-Pflan- zen beruht dabei ganz wesentlich auf der inhibitorischen Wirkung von Ter- pentoxinen, die die Samenkeimung und das Wachstum benachbarter Pflanzen stark hemmen. Dieses als Allelopathie bezeichnete Phänomen bedingt eine sehr charakteristische Zonierung der Vegetation, bei der einzelne Büsche oder Gruppen von Büschen von Kümmerwuchs umge- ben sind, auf den eine kahle Zone folgt. Beifuß-Arten sind überwiegend Halbsträucher und ausdauernde Kräuter, die oft filzig behaart sind und häufig mehrfach tief-fieder- schnittige, fein zerteilte Blätter auf- weisen. Die Blütenköpfe dieser Ver- treter der Korbblütler sind meist sehr zahlreich und klein und bestehen ausschließlich aus Röhrenblüten, die gelb, weiß oder rötlich gefärbt sind. Innerhalb dieser Asteraceen- Gruppe vollzieht sich ein Übergang von der Insekten- zur sekundären Windblütigkeit. Mit der Anpassung an den unsteten Bestäubungsvektor Wind gehen dabei typische morpho- logische Veränderungen einher: Ver- mehrung der Zahl der Blütenköpf- chen, weit heraushängende Griffel der randständigen Blüten, abneh- mender Kittstoffgehalt der Pollen so- wie eine glatte Oberfläche der Pol- lenkörner. Einen Eindruck von der enormen Anzahl der gebildeten Pol- lenkörner bekommt man, wenn man bedenkt, dass z.B. große Exemplare des Gemeinen Beifuß (Artemisia vul- garis) 500.000 Köpfchen mit bis zu 10 Millionen Blüten enthalten. Die aus diesen von etwa Juli bis Septem- ber freigesetzten Pollen wirken dabei ähnlich wie Gräser- und Baumpollen als Allergene. So ist denn auch die Beifuß-Allergie die am häufigsten auftretende Soforttypallergie auf Kräuterpollen in Mitteleuropa. Neben Artemisia können auch Vertreter der nah verwandten, aus Nordamerika mit Vogelfutter oder durch den internationalen Reise- verkehr eingeschleppten Gattung Ambrosia als Allergene fungieren und dabei die Wirkung des Beifuß überlagern. Hier ist besonders die Beifuß-Ambrosie (Ambrosia artemi- siifolia) zu nennen, die in ihrer nord- amerikanischen Heimat Hauptverur- sacher des Spätsommer-Heuschnup- fens ist. Obwohl die Art in Deutsch- land bislang nur meist kleinere und unbeständige Vorkommen zeigt, gehen trotzdem bereits rund 1 % der allergischen Erkrankungen mit etwa 32 Millionen Euro an Behandlungs- kosten auf ihr Konto, wie eine Studie des Umweltbundesamts zu den öko- nomischen Folgen der Ausbreitung nichteinhei- mischer Tier- und Pflanzenarten ge- zeigt hat. Aufgrund des Vorhandenseins ätherischer Öle werden die aro- matisch riechen- den und bitter schmeckenden Beifuß-Arten be- reits seit dem Altertum als Heil- und Gewürz- pflanze verwen- det. Ein bekann- tes Beispiel ist der Estragon (Ar- temisia dracunculus). Das aus Asien stammende Artemisia annua wird als Lieferant des Artemisinins auch in Mitteleuropa angebaut. An dem Nachweis über die vermutete Wirk- samkeit dieses Sesquiterpenlactons mit Endoperoxidbrücke gegen Malaria und Krebs wird intensiv ge- forscht. Ebenfalls seit der Antike wird der Wermut oder Absinth (Arte- misia absinthium) kultiviert, in Süd- deutschland, z.B. am Bodensee, ist der feldmäßige Anbau seit dem 9. Jahrhundert belegt. Besonders En- de des 19. bzw. Anfang des 20. Jahr- hunderts – und vor allem in Frank- reich – wurde der Absinth als ge- süßte Mischung aus Wermutöl, Alko- hol, Anis, Zitronenmelisse und weite- ren Zutaten zum ausgesprochen po- pulären Modegetränk, vor allem der Künstler. Die mit dem Absinth-Ge- nuss einhergehenden schweren psy- chischen Störungen resultieren aus der neurotoxischen, halluzinogenen und psychoaktiven Wirksamkeit des Thujons, denen z.B. auch der abhän- gige Absinthtrinker Vincent van Gogh zum Opfer fiel. Nachdem Her- stellung und Verkauf lange Zeit ver- boten waren, erlebt der Absinth seit einigen Jahren eine ebenso zwei- felhafte wie unheilvolle Renaissance als nostalgisches Szene- und Modege- tränk. Thomas Junghans und Petra Stüttgen, Bammental PFLANZENPORTRAIT | Der Beifuß – Heilkraut und Droge, Gewürz und Allergen ABB. 1 Der Ab- sinth (Artemisia absinthium) besie- delt mäßig trocke- ne, sandige bis steinige Standorte wie Wegränder und Ruderalstel- len in wärmeren Landesteilen wie hier in der nörd- lichen Ober- rheinebene bei Mannheim. ABB. 2 Die berühmte Artemis-Statue im Ephesos-Museum in Selçuk in der Südwest-Türkei zeigt die griechische Göttin, Herrin und Beschützerin der Na- tur mit den als Brüsten oder Stierhoden gedeuteten Fruchtbarkeitssymbolen.

Transcript of Der Beifuß – Heilkraut und Droge, Gewürz und Allergen

| FO RU M

© 2006 Wiley-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim www.pharmuz.de 4/2006 (35) | Pharm. Unserer Zeit | 373

Die weltweit rund 300 Beifuß-Arten(Gattung Artemisia) kommen vor al-lem in den offenen Steppengebietenund den Halb- und Trockenwüstender Nordhalbkugel vor, wo einzelneArtemisia-Arten vegetationsbestim-mend sein können, wie z.B. Artemi-sia californica im Chaparral, einemverbuschten Grasland mit mediterra-nem Klima an der Küste Südkaliforni-ens. Die Dominanz der Beifuß-Pflan-zen beruht dabei ganz wesentlich aufder inhibitorischen Wirkung von Ter-pentoxinen, die die Samenkeimungund das Wachstum benachbarterPflanzen stark hemmen. Dieses alsAllelopathie bezeichnete Phänomenbedingt eine sehr charakteristischeZonierung der Vegetation, bei dereinzelne Büsche oder Gruppen vonBüschen von Kümmerwuchs umge-ben sind, auf den eine kahle Zonefolgt. Beifuß-Arten sind überwiegendHalbsträucher und ausdauerndeKräuter, die oft filzig behaart sindund häufig mehrfach tief-fieder-schnittige, fein zerteilte Blätter auf-weisen. Die Blütenköpfe dieser Ver-treter der Korbblütler sind meist sehrzahlreich und klein und bestehenausschließlich aus Röhrenblüten, diegelb, weiß oder rötlich gefärbt sind.

Innerhalb dieser Asteraceen-Gruppe vollzieht sich ein Übergangvon der Insekten- zur sekundärenWindblütigkeit. Mit der Anpassungan den unsteten BestäubungsvektorWind gehen dabei typische morpho-logische Veränderungen einher: Ver-mehrung der Zahl der Blütenköpf-chen, weit heraushängende Griffelder randständigen Blüten, abneh-mender Kittstoffgehalt der Pollen so-wie eine glatte Oberfläche der Pol-lenkörner. Einen Eindruck von derenormen Anzahl der gebildeten Pol-lenkörner bekommt man, wenn manbedenkt, dass z.B. große Exemplaredes Gemeinen Beifuß (Artemisia vul-garis) 500.000 Köpfchen mit bis zu

10 Millionen Blüten enthalten. Dieaus diesen von etwa Juli bis Septem-ber freigesetzten Pollen wirken dabeiähnlich wie Gräser- und Baumpollenals Allergene. So ist denn auch dieBeifuß-Allergie die am häufigstenauftretende Soforttypallergie aufKräuterpollen in Mitteleuropa.

Neben Artemisia können auchVertreter der nah verwandten, ausNordamerika mit Vogelfutter oderdurch den internationalen Reise-verkehr eingeschleppten GattungAmbrosia als Allergene fungierenund dabei die Wirkung des Beifußüberlagern. Hier ist besonders dieBeifuß-Ambrosie (Ambrosia artemi-siifolia) zu nennen, die in ihrer nord-amerikanischen Heimat Hauptverur-sacher des Spätsommer-Heuschnup-fens ist. Obwohl die Art in Deutsch-land bislang nur meist kleinere undunbeständige Vorkommen zeigt, gehen trotzdem bereits rund 1 % der allergischen Erkrankungen mit etwa32 Millionen Euro an Behandlungs-kosten auf ihr Konto, wie eine Studiedes Umweltbundesamts zu den öko-nomischen Folgen der Ausbreitung

nichteinhei-mischer Tier- undPflanzenarten ge-zeigt hat.

Aufgrund desVorhandenseinsätherischer Ölewerden die aro-matisch riechen-den und bitterschmeckendenBeifuß-Arten be-reits seit demAltertum als Heil-und Gewürz-pflanze verwen-det. Ein bekann-tes Beispiel istder Estragon (Ar-temisia dracunculus). Das aus Asienstammende Artemisia annua wirdals Lieferant des Artemisinins auch inMitteleuropa angebaut. An demNachweis über die vermutete Wirk-samkeit dieses Sesquiterpenlactonsmit Endoperoxidbrücke gegen Malaria und Krebs wird intensiv ge-forscht. Ebenfalls seit der Antikewird der Wermut oder Absinth (Arte-misia absinthium) kultiviert, in Süd-deutschland, z.B. am Bodensee, istder feldmäßige Anbau seit dem 9. Jahrhundert belegt. Besonders En-de des 19. bzw. Anfang des 20. Jahr-hunderts – und vor allem in Frank-reich – wurde der Absinth als ge-süßte Mischung aus Wermutöl, Alko-hol, Anis, Zitronenmelisse und weite-ren Zutaten zum ausgesprochen po-pulären Modegetränk, vor allem derKünstler. Die mit dem Absinth-Ge-nuss einhergehenden schweren psy-chischen Störungen resultieren ausder neurotoxischen, halluzinogenenund psychoaktiven Wirksamkeit desThujons, denen z.B. auch der abhän-gige Absinthtrinker Vincent van Gogh zum Opfer fiel. Nachdem Her-stellung und Verkauf lange Zeit ver-boten waren, erlebt der Absinth seiteinigen Jahren eine ebenso zwei-felhafte wie unheilvolle Renaissanceals nostalgisches Szene- und Modege-tränk.

Thomas Junghans und Petra Stüttgen, Bammental

P F L A N Z E N P O R T R A I T |Der Beifuß – Heilkraut und Droge, Gewürz und Allergen

A B B . 1 Der Ab-sinth (Artemisiaabsinthium) besie-delt mäßig trocke-ne, sandige bissteinige Standortewie Wegränderund Ruderalstel-len in wärmerenLandesteilen wiehier in der nörd-lichen Ober-rheinebene bei Mannheim.

A B B . 2 Die berühmte Artemis-Statueim Ephesos-Museum in Selçuk in derSüdwest-Türkei zeigt die griechischeGöttin, Herrin und Beschützerin der Na-tur mit den als Brüsten oder Stierhodengedeuteten Fruchtbarkeitssymbolen.

373_PHA_forum_Beifuß 19.06.2006 8:26 Uhr Seite 373