CHUR «Hochsitze» – Blick frei über die Dächer von … · Zum Beispiel, dass früher («zu...

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«Wenn es richtig stürmt, bewegt sich das Haus um einen halben Meter hin und her», sagt Herbert Kaserer, seit acht Jahren Haus- wart im «Wolkenkratzer» von Chur. Er wohnt zusammen mit seiner Frau im zweitobersten Stock des mit knapp 100 Metern höchsten Gebäudes von Chur, im «Lacuna» an der Belmontstrasse 1. Die sturmbedingten Bewegungen misst er mit einem Lot in seiner Woh- nung. An der Schnur hängt eine Churer Fasnachtsplakette. 25 Stockwerke, 64 Wohnungen, 7 Arztpraxen, Post, Bank, Restau- rant, Drogerie, Coiffure, PC-Shop, das Architekturbüro Domenig & Domenig, die Immobilien- und Be- triebsgesellschaft Falkenstein AG beherbergt das Haus, das Kaser- er zu besorgen hat: Auf die Hei- zung, Lüftung, elektrische Versor- gung, die beiden Lifte, die Sauber- keit etc. hat er zu achten und manchmal auch zwischen Be- wohnern zu vermitteln, wenn es Spannungen um die Waschkü- chenbenützung gibt. Regelmäs- sig geht’s auch hoch zu Arbeits- plätzen in den obersten Gefilde und zur Balustrade hinaus, «wo mich die Aussicht über die Neu- stadt, zur Altstadt hinauf und in die weite Umgebung immer wieder fasziniert», schwärmt Kaserer. Apéros früher und heute Das Dach von Belmont 1 zu be- treten ist der Öffentlichkeit eben- so untersagt wie die Besteigung des Turms der Calanda Bräu. Er mag mit rund 35 Metern den «Domenig-Tower» bei weitem nicht zu konkurrenzieren, ist aber um Dutzende Jahrzehnte älter und findet seinen Ursprung im Jahre 1780, als die «Calanda Brauerei» durch Rageth Mathis gegründet wurde. «Der Turm ist das Silo für 3000 Tonnen Malz, das durch Saug- und Pumpanlagen der Pro- duktion zugeleitet wird, wo jähr- lich rund 700’000 Hektoliter Bier produziert werden», erklärt der Verkaufsfachmann für den Ge- tränkehandel und Mann für spe- zielle Anlässe, Paul Peterhans. Ge- braut wird das gesamte Sortiment aus dem Hause Heineken, die Calanda Bräu-Produkte und viele weitere Spezialitäten. Auch wenn am 27. Oktober dieses Jahres das 225-jährige Bestehen der Calan- da Bräu mit einer grossen Fete gefeiert wird, ist die Besteigung des Turms für die Öffentlichkeit kein Thema. «Einerseits aus Sicher- heitsgründen, andererseits weil CHUR 4 508 Meter ragt der höchste Wolkenkratzer, «Taipei 101»in Taiwan, in den Himmel. Dagegen ist der St. Martinskirchturm ein Zwerg. Doch auch vom 40 Meter hoch gelegenen Turmzimmer aus zeigt sich die Welt in einem neuen Licht – von anderen Churer Hochsitzen ebenso. «Hochsitze» – Blick frei über die Dächer von Bündens Hauptstadt TEXT UND BILD: WALTER SCHMID

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«Wenn es richtig stürmt, bewegtsich das Haus um einen halbenMeter hin und her», sagt HerbertKaserer, seit acht Jahren Haus-wart im «Wolkenkratzer» von Chur.Er wohnt zusammen mit seinerFrau im zweitobersten Stock desmit knapp 100 Metern höchstenGebäudes von Chur, im «Lacuna»an der Belmontstrasse 1. Diesturmbedingten Bewegungen misster mit einem Lot in seiner Woh-nung. An der Schnur hängt eineChurer Fasnachtsplakette. 25Stockwerke, 64 Wohnungen, 7Arztpraxen, Post, Bank, Restau-rant, Drogerie, Coiffure, PC-Shop,das Architekturbüro Domenig &Domenig, die Immobilien- und Be-triebsgesellschaft Falkenstein AGbeherbergt das Haus, das Kaser-er zu besorgen hat: Auf die Hei-zung, Lüftung, elektrische Versor-

gung, die beiden Lifte, die Sauber-keit etc. hat er zu achten undmanchmal auch zwischen Be-wohnern zu vermitteln, wenn esSpannungen um die Waschkü-chenbenützung gibt. Regelmäs-sig geht’s auch hoch zu Arbeits-plätzen in den obersten Gefildeund zur Balustrade hinaus, «womich die Aussicht über die Neu-stadt, zur Altstadt hinauf und indie weite Umgebung immer wiederfasziniert», schwärmt Kaserer.

Apéros früher und heuteDas Dach von Belmont 1 zu be-treten ist der Öffentlichkeit eben-so untersagt wie die Besteigungdes Turms der Calanda Bräu. Ermag mit rund 35 Metern den«Domenig-Tower» bei weitem nichtzu konkurrenzieren, ist aber umDutzende Jahrzehnte älter und

findet seinen Ursprung im Jahre1780, als die «Calanda Brauerei»durch Rageth Mathis gegründetwurde. «Der Turm ist das Silo für3000 Tonnen Malz, das durchSaug- und Pumpanlagen der Pro-duktion zugeleitet wird, wo jähr-lich rund 700’000 Hektoliter Bierproduziert werden», erklärt derVerkaufsfachmann für den Ge-tränkehandel und Mann für spe-zielle Anlässe, Paul Peterhans. Ge-braut wird das gesamte Sortimentaus dem Hause Heineken, dieCalanda Bräu-Produkte und vieleweitere Spezialitäten. Auch wennam 27. Oktober dieses Jahres das225-jährige Bestehen der Calan-da Bräu mit einer grossen Fetegefeiert wird, ist die Besteigungdes Turms für die Öffentlichkeitkein Thema. «Einerseits aus Sicher-heitsgründen, andererseits weil

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508 Meter ragt der höchste Wolkenkratzer, «Taipei 101» in Taiwan,

in den Himmel. Dagegen ist der St. Martinskirchturm ein Zwerg.

Doch auch vom 40 Meter hoch gelegenen Turmzimmer aus zeigt sich die

Welt in einem neuen Licht – von anderen Churer Hochsitzen ebenso.

«Hochsitze» – Blick frei über die Dächervon Bündens Hauptstadt

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oben viele technische Anlagen un-tergebracht sind», sagt Paul Peter-hans, der mit 24 Jahren Tätigkeitin der Calanda Brauerei jeden Win-kel und auch Anekdoten kennt.Zum Beispiel, dass früher («zuKerkers Zeiten») in der Turm-Loftmit 360 Grad Rundumsicht dannund wann fröhliche Apéros veran-staltet wurden und dabei natür-lich auch der prächtige Blicküber die Stadt genossen wurde.Von wegen Apéros: Man tut gut

prachtvolle Aussicht über die Dä-cher der Churer Altstadt und diewohlverdiente Erfrischung oben-drauf. Bis ins Turmzimmer hinaufkann jedermann steigen, voraus-gesetzt, man meldet sich dafüran (siehe unten). «Der Raum inluftiger Höhe ist äusserst beliebtfür Gesellschaften, Klassentref-fen, Sitzungen und Anlässe», er-klärt Hanspeter Von Ott. Ausstaf-fiert ist das Turmzimmer mitKühlschrank, Kochgelegenheit,

daran, diesen erst dann zu sichzu nehmen, wenn die enge Wen-deltreppe im Innern des Martins-turms bestiegen ist. Denn nur mitleichtem Magen ist das mehroder weniger ein Kinderspiel. DerMartinskirche-Messmer Hanspe-ter Von Ott weiss zwar zu berich-ten, dass schon manche wegenPlatzangst auf halbem Weg kehrtgemacht haben. Wer es aberschafft, geniesst nach dem Stepby Step über 40 Höhenmeter

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Belmont 1-Hauswart Herbert Kaserer knapp 100 Meter über Grund.

Blick in Richtung Altstadt vom höchsten Churer Gebäude aus.

Pastoralassistent Christoph Brüning lässt’s dann und wann spontan läuten.

Geschirr und sogar ein WC hat’s.Einzig die Tranksame, die beleg-ten Brötchen oder die Gersten-suppe müssen von den jeweiligenMietern selbst hochgetragen wer-den. Jüngste Besucher des «Hoch-sitzes» über der Altstadt war eineKlasse angehender Konfirmandin-nen und Konfirmanden. Die Aus-sicht über die Stadt und in dieGassen hinunter sei zwar einma-lig, war von einigen pustend zuhören, aber es sei das erste undletzte Mal gewesen... Könnteman die Turmspitze erklimmen,müssten zusätzliche 40 Höhen-meter bewältigt werden.

ger erfreulich, aber als der neuegewählt wurde desto mehr.» Al-lerdings muss man nicht mehr inder Turmmitte an den Strickenziehen um das Geläut in Betriebzu setzen und die Gläubigen zurMesse, zur Andacht oder zur Be-sinnung zu rufen. Das machtman längst ebenerdig mit einerSchalterdrehung. Christoph Brü-ning ist allerdings ein Turmbegeis-terter und begibt sich schon malspontan über die Treppenstufenhinauf in die offene Glockenstube,«um die Aussicht zu geniessenund mich durchlüften zu lassen.»Dann und wann begleitet er Gäste,aber die Regel sei es nicht. «Dennwenn es einen Meter neben denOhren zwölf Uhr schlägt, kanndas schon schreckhaft sein undschliesslich ist die Glockenstuberundum kaum kniehoch offen.» Rundum offen ist auch der Ar-beitsweg von Jesus Couceiro. Deraus Galizien stammende Kranfüh-rer besteigt derzeit täglich 135senkrecht übereinander liegendeSprossen (2 Mal auf, 2 Mal ab),um zu seinem 40 Meter überGrund liegenden Arbeitsplatz hochüber dem Duc de Rohan zu ge-langen. Couceiro ist seit 20 Jah-ren bei Wolf Bau tätig und kenntals Hochkabinen-Kranführer dieStadt aus der Vogelperspektive sogut wie wohl kein anderer. Von

Die Glocken läuten lassenRheinquartierler müssen sich nichtwundern, wenn plötzlich die Glo-cken im 34 Meter hohen Turm derseit 1935 bestehenden Erlöserkir-che zu läuten beginnen. Es könn-te sein, dass die Emotionen vomDeutschland gebürtigen Pastoral-assistenten Christoph Brüningüberhand nehmen – wie auch schon.«Als die Deutsche Fussballmann-schaft das WM-Finale erreichte,hab ich meiner Freude mit einemGeläut Ausdruck gegeben; als derPapst gestorben ist, war es weni-

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Paul Peterhans in der «Loft» der Calanda

Bräu.

➤ Vom Malzturm der Calanda Bräu aus las-

sen sich architektonische Stile studieren.

Blick aus der Erlöserkirche-Glockenstube zur Skyline des Lacuna-Quartiers.

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seinem derzeitigen «Adlerhorst»aus steuert er seinen Arbeitskol-legen unten Materialien zu fürdie durch Wolf Bau entstehendeWohnsiedlung. Ihr verheissungs-voller Name lautet «GeschichteteGärten bei der Villa Zambail». ImOktober nächsten Jahres werdendort 31 luxuriöse Wohnungen be-zugsbereit sein.

Höchster Punkt von ChurDas 508 Meter hohe Weltrekord-Gebäude «Taipei 101» in Taiwanist ein Zwerg im Vergleich zumhöchsten Punkt von Chur. Dieserüberragt den Postplatz um rund1200 Meter und liegt 1885 Me-ter über dem Meeresspiegel: das«Füürhörnli» über dem Mitten-berg. Wer «Top of Chur» erreichenwill, muss – je nach Fitnessstand– in einen 21/2 bis 3-stündigenFussmarsch investieren. Vom Hal-denhüttli aus geht’s hoch zumMittenberg, wo am oberen Randein Pfad durch steilen Wald zuden Maladerser Heubergen führt.Dem Weg Richtung Montalin fol-gend erreicht man den heroischenPunkt mit Aussicht über die Stadt

und bis weit hinauf ins Oberland(Bild Seite 4). Schwindelfreie wa-gen den Blick in den schroffenAbgrund. Bei genauem Hinsehenerkennt man weit unten alle ver-storbenen Churer «Glünggi», dieim Scaläratobel als bemitleidens-

Turmstube MartinskircheAuskunft bei der Evang. Kirchge-meinde, Tel. 081 252 22 92oder [email protected]

werte Gestalten für ihre kleinenund grossen Sünden büssenmüssen…

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Turmzimmer der Martinskirche: Begehrter Aussichtspunkt mit Blick über die Dächer der

Altstadt (links).

…des Kranführers Jesus Couceiro. Seit 20 Jahren blickt er von oben auf Chur hinab.

Schwindel erregend hoch über der Baustelle liegt der Arbeitsplatz…