Blauwale in Chile, Chiloé-Corcovado-Region · 2011. 11. 9. · Hintergrundinformation Juli 2011 ·...

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WWF Deutschland & TRAFFIC Europe-Germany Reinhardtstrasse 14 10117 Berlin Tel.: 030 / 311 777 -0 Durchwahl: -183, -240 Fax: 030 / 311 777 639 [email protected] www.wwf.de www.traffic.org Der WWF Deutschland ist eine der nationalen Organisationen des WWF – World Wide Fund For Nature – in Gland (Schweiz). Hintergrundinformation Juli 2011 Blauwale in Chile, Chiloé-Corcovado-Region Neues Verbreitungsgebiet entdeckt Von den weltweit 124 bekannten Meeressäuge- tierarten leben allein 51 Arten vor der Küste Chi- les in Südamerika. Besonders Südchile ist Heimat eines großen Teils dieser Artenvielfalt. Erst im Jahre 2003 entdeckten chilenische Wissenschaft- ler, dass hier vor ihrer Heimatküste auch Blauwale zu Hause sind. In der Region Chiloé-Corcovado, wurde eines der wichtigsten Blauwal-Nahrungs- und Aufzuchtsgebiete der südlichen Erdhalbkugel gefunden. Der Blauwal (Balaenoptera musculus) ist das größte bekannte Tier, das jemals auf der Erde gelebt hat. Aber schon seit den 1960er Jahren zählt er auch zu den stark gefährdeten Arten. Zwi- schen dem Beginn der modernen Waljagd um etwa 1904 und dem Schutz der Blauwale ab 1967 wurden etwa 330.000 bis 360.000 Blauwale allein in der südlichen Hemisphäre getötet. Diese inten- sive Jagd ließ die Blauwalbestände innerhalb von 60 Jahren auf weniger als drei Prozent ihrer ur- sprünglichen Population auf der Südhalbkugel schrumpfen. Derzeit erholt sich der Bestand der Blauwale langsam wieder, so dass die Weltnatur- schutzunion IUCN schätzt, dass es wieder 10.000 bis 25.000 Tiere weltweit geben könnte. Umso erfreulicher war die außergewöhnliche Ent- deckung, die der chilenische Wissenschaftler Dr. Rodrigo Hucke-Gaete im Jahr 2003 in der Chiloé- Corcovado-Region vor der Südküste Chiles mach- te. Er und seine Kollegen fanden dort einen Blau- walbestand dessen Größe auf etwa 250 Tiere ge- schätzt wird. Die entdeckte Population verbringt die Sommer- und Herbstmonate in der Region, um nach Nahrung zu suchen und ihre Jungen aufzu- ziehen. Die Meeresregion Chiloé-Corcovado umfasst die Insel Chiloé und den Golf von Corcovado im Sü- den Chiles. Das Meer gilt als kalt-temperiert und ist eines der größten Ästuariensysteme der Welt, in dem Land und Wasser besonders stark verzahnt sind. Die Chiloé-Corcovado-Region beinhaltet zudem einzigartige Archipel- und Fjordökosyste- me mit einer großen, zum Teil noch unbekannten marinen Artenvielfalt. Neben zahlreichen Kalt- wasserkorallen und Fischarten wurden dort bis- lang 51 Meeressäugerarten festgestellt, was die Region in Chile weltweit zu einem „Hotspot“ der Artenvielfalt an marinen Säugetieren macht. Ne- ben dem wieder entdeckten Blauwal sind der Chi- lenische Delfin (Cephalorhynchus eutropia), der Peale´s-Delfin (Lagenorhynchus australis) und der Südamerikanische Seebär (Arctocephalus australis) dort verbreitet. Blauwalfluke © WWF-Canon / Pieter Lagendyk

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Der WWF Deutschland ist eine der nationalen Organisationen des WWF – World Wide Fund For Nature – in Gland (Schweiz).

Hintergrundinformation Juli 2011

Blauwale in Chile, Chiloé-Corcovado-Region

Neues Verbreitungsgebiet entdeckt

Von den weltweit 124 bekannten Meeressäuge-tierarten leben allein 51 Arten vor der Küste Chi-les in Südamerika. Besonders Südchile ist Heimat eines großen Teils dieser Artenvielfalt. Erst im Jahre 2003 entdeckten chilenische Wissenschaft-ler, dass hier vor ihrer Heimatküste auch Blauwale zu Hause sind. In der Region Chiloé-Corcovado, wurde eines der wichtigsten Blauwal-Nahrungs- und Aufzuchtsgebiete der südlichen Erdhalbkugel gefunden.

Der Blauwal (Balaenoptera musculus) ist das größte bekannte Tier, das jemals auf der Erde gelebt hat. Aber schon seit den 1960er Jahren zählt er auch zu den stark gefährdeten Arten. Zwi-schen dem Beginn der modernen Waljagd um etwa 1904 und dem Schutz der Blauwale ab 1967 wurden etwa 330.000 bis 360.000 Blauwale allein in der südlichen Hemisphäre getötet. Diese inten-sive Jagd ließ die Blauwalbestände innerhalb von 60 Jahren auf weniger als drei Prozent ihrer ur-

sprünglichen Population auf der Südhalbkugel schrumpfen. Derzeit erholt sich der Bestand der Blauwale langsam wieder, so dass die Weltnatur-schutzunion IUCN schätzt, dass es wieder 10.000 bis 25.000 Tiere weltweit geben könnte. Umso erfreulicher war die außergewöhnliche Ent-deckung, die der chilenische Wissenschaftler Dr. Rodrigo Hucke-Gaete im Jahr 2003 in der Chiloé-Corcovado-Region vor der Südküste Chiles mach-te. Er und seine Kollegen fanden dort einen Blau-walbestand dessen Größe auf etwa 250 Tiere ge-schätzt wird. Die entdeckte Population verbringt die Sommer- und Herbstmonate in der Region, um nach Nahrung zu suchen und ihre Jungen aufzu-ziehen. Die Meeresregion Chiloé-Corcovado umfasst die Insel Chiloé und den Golf von Corcovado im Sü-den Chiles. Das Meer gilt als kalt-temperiert und ist eines der größten Ästuariensysteme der Welt, in dem Land und Wasser besonders stark verzahnt sind. Die Chiloé-Corcovado-Region beinhaltet zudem einzigartige Archipel- und Fjordökosyste-me mit einer großen, zum Teil noch unbekannten marinen Artenvielfalt. Neben zahlreichen Kalt-wasserkorallen und Fischarten wurden dort bis-lang 51 Meeressäugerarten festgestellt, was die Region in Chile weltweit zu einem „Hotspot“ der Artenvielfalt an marinen Säugetieren macht. Ne-ben dem wieder entdeckten Blauwal sind der Chi-lenische Delfin (Cephalorhynchus eutropia), der Peale´s-Delfin (Lagenorhynchus australis) und der Südamerikanische Seebär (Arctocephalus australis) dort verbreitet.

Blauwalfluke © WWF-Canon / Pieter Lagendyk

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Historische Quellen der Chiloé-Corcovado-Region um das Jahr 1907 belegen, dass „Massen von Blauwalen“ im Golf von Corcovado vorkamen. Im Herbst und Frühjahr 1908/09 wurden von norwe-gischen Walfängern 37 Blauwale gefangen. Aus welchen Gründen auch immer geriet dieses Ver-breitungsgebiet der Blauwale danach in Verges-senheit und wurde erst fast 100 Jahre später wie-der entdeckt.

Bedrohungen der Chiloé-Corcovado-Region

In der Chiloé-Corcovado-Region leben ca. 40.000 Menschen und damit etwa 0,12 Einwohner pro Quadratkilometer. In Deutschland sind es im Ver-gleich 231 Einwohner pro Quadratkilometer. Die Chiloé-Corcovado-Region ist trotz ihrer weitge-hend intakten Natur zunehmend von wirtschaftli-chen Interessen wie Aquakultur, Fischerei und anderen Großprojekten bedroht. Der Anstieg des Schiffverkehrs, zunehmende Meeresverschmut-zung und Lebensraumverlust in den Ufer- und Ästuarien-Ökosystemen stellen bedeutende Gefah-ren auch für die Blauwale dar.

Überfischung

In den letzten 50 Jahren war ein starker Anstieg des kommerziellen Fischfangs in Chile zu ver-zeichnen. Leider gibt es bisher wenige Informatio-nen über die Umweltauswirkungen der nicht-nachhaltigen Fischereipraxis in chilenischen Ge-wässern. Beispielsweise führt der Einsatz von Grundschleppnetzen zur Zerstörung des Meeres-bodens und beeinträchtig damit die dort lebenden Organismen. Zudem gelangen auch nicht kommer-ziell genutzte, aber bedrohte Fischarten, Meeres-vögel und Meeressäuger als Beifang in die Netze und verenden. In einer Studie von Hucke-Gaete (2004) über Orkas (Orcinus orca) und Pottwale (Physeter macrocephalus) konnte gezeigt werden, dass die reichsten Fischereigründe für Schwarzen

Seehecht (Dissostichus spp.) gleichzeitig die tradi-tionellen Nahrungsgründe der zwei Walarten sind und diese durch die verstärkten Fischereiaktivitä-ten gefährdet werden.

Aquakultur

Mit dem zunehmenden Einbruch der Fischbestän-de durch Überfischung ging ein rapider Anstieg bei dem Aufbau verschiedenster Aquakulturen im Meer für z.B. Lachs und Muscheln in Chile ein-her. Seit der Einführung der Aquakulturindustrie in den chilenischen Gewässern während der 1980er Jahre ist der Wirtschaftszweig um mehr als das 150fache gewachsen. Besonders bedeutend ist die X. Region Chiles, in der auch die neu entdeck-te Blauwalpopulation vorkommt. Hier findet rund 90 Prozent der chilenischen Produktion an Aqua-kultur statt. Der sogenannte ISA-Virus (Infectious Salmon Anaemia) reduzierte die Lachsproduktion in den Jahren 2007 bis 2009 um mehr als die Hälf-te. Was von Experten unter anderem auf die schlechten Haltungsbedingungen der Lachse in einem relativ kleinen Meeresgebiet zurück geführt wird, so dass sich der Virus schnell verbreiten konnte. Die Produktionsmenge der Lachse steigt seit dem wieder langsam an und weitere hunderte von Konzessionen zum Aufbau von Lachs-Aquakulturen sind bereits beantragt und zum Teil vergeben. Als Abfallprodukte produzieren Muschel- und Lachsfarmen eine große Menge schlammiges Se-diment aus den Exkrementen oder Nahrungsresten bei der Zufütterung der Lachse. Durch die Anrei-cherung dieser organischen Stoffe im Wasser kommt es zur Reduzierung des verfügbaren Sauer-stoffgehalts im Wasser und Verschmutzung des Meeresbodens. Besonders Kaltwasserkorallen reagieren auf derartige Ablagerungen sensibel, was zu einer Minderung ihres Wachstums führt. Lachsfarmen benötigen neben einer Zufütterung den Einsatz von Antibiotika und anderer chemi-scher Zusätze, um die Gesunderhaltung der Zucht

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zu gewährleisten. Ein Teil dieser Stoffe wird auch immer aus den Farmen herausgeschwemmt und gelangt über die Nahrungskette in wildlebende Organismen. Deren Auswirkungen auf die Nah-rungskette sind zum Teil noch nicht bekannt, aber es wird vermutet, dass sie zu gesundheitlichen Schäden und eingeschränkter Fortpflanzung bei Wildtieren führen können. Ein weiteres Problem von Fischfarmen ist das ungewollte Einbringen exotischer Fischarten in die Umwelt. So sind zwi-schen 1993 und 1996 etwa vier Millionen gebiets-fremde Lachse aus Aquakulturen in Chile entwi-chen. Diese Tiere sorgten in den Gewässern um die Insel Chiloé für einen Rückgang der heimi-schen Fischbestände. Dieser wiederum kann einen Rückgang der Beutetiere für die Meeressäuger bedeuten.

Schiffsverkehr

Während der letzten zehn Jahre, seit der Golf von Corcovado die Hauptschiffsroute der inneren Ge-wässer der Chiloé-Corcovado Region und dem Pazifischen Ozeans wurde, ist der Schiffsverkehr durch Frachtschiffe, Ausflugsboote, öffentlichen Personenverkehr, Aquakultur und Fischerei stark angestiegen. Eine wichtige Bedrohung, die vom Schiffsverkehr ausgeht, sind Kollisionen mit Mee-restieren wie zum Beispiel Walen und Delfinen. Außerdem besteht die ständige Gefahr von Schiffsunfällen, die verheerende Schäden an der Umwelt verursachen können. Mit einem weiteren Anstieg des Schiffsverkehrs in der Region wird in naher Zukunft gerechnet, da von einer Ausweitung der Lachsfarmen in die Archipele und Fjorde Süd-chiles ausgegangen werden muss.

Meeres- und Küstenschutzgebiet geplant

Die Entdeckung der Blauwalpopulation in der Chiloé-Corcovado-Region macht Hoffnung, diese faszinierenden Säugetiere vor dem Aussterben bewahren zu können. Jedoch fand diese außerge-wöhnliche Entdeckung in einer Region statt, in der das zunehmende Wirtschaftswachstum beginnt, sich negativ auf das intakte und funktionsfähige Ökosystem der Chiloé-Corcovado-Region auszu-wirken.

Blauwal © WWF-Canon / Jonathan Gordon

In Kooperation mit der lokalen Nichtregierungsor-ganisation Centro Ballena Azul (CBA-Blauwalzentrum) arbeiten wir seit Jahren zusam-men, um angewandte Forschung zum Schutz der Blauwale zu betreiben. In den letzen Jahren haben wir einen Prozess unterstützt, der Wissenschaftler an einen Tisch brachte und die wertvollsten Küs-

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tengebiete Mittel- und Südchiles aufgrund von vorhandenem Wissen identifizierte. Aus diesem Wissen über Lebensräume, hochwertige Arten und Lebensraumprozessen wurden auf Karten hoch-wertige Gebiete abgegrenzt, die als Schutzgebiete ausgewiesen werden sollen. Die Region Chiloé-Corcovado gehört zu einer dieser Regionen und wurde der chilenischen Regierung offiziell als zu schützende Region vorgeschlagen. In Workshops mit den wichtigsten betroffenen Bevölkerungsgruppen soll nun die Zustimmung dieser Gruppen zu den vorgeschlagenen Gebieten eingeholt werden. Dies betrifft unter anderem die lokalen Fischer, die Betreiber der Aquakulturen und die ursprüngliche Bevölkerung der Indigenen. Weiterhin betreuen wir derzeit eine Ausstellung in der Nähe der Hauptstadt Santiago, die auf das Schicksal der Blauwale und der andere Meeresar-ten aufmerksam macht und die Unterschriften für die Einrichtung von Schutzgebieten sammelt. Die Entdeckung des Blauwal-Nahrungs- und Aufzuchtgebietes vor der Insel Chiloé im Golf von Corcovado bietet auch die einmalige Möglichkeit, die Ökologie und Verhaltensweisen der Meeres-riesen zu erforschen. WWF und CBA unterneh-men schon seit dem Jahr 2004 regelmäßige Unter-suchungen in der Region und werten Satellitenda-ten aus, um den Lebensraum der Blauwale näher zu erforschen. Mittels Fotoidentifikation, geneti-schen Untersuchungen und Nahrungsanalysen wurden auch die Bewegungen der Blauwale vor der Südküste Chiles dokumentiert sowie die Ver-bindungen und Verwandtschaftsverhältnisse zu anderen Blauwalpopulationen untersucht. Ergeb-nis der Untersuchungen ist unter anderem die un-ten stehende Karte, die die Aufenthaltsorte der Blauwale in der Chiloé-Corcovado-Region dar-stellt. Nur mit genauer Kenntnis der besonders sensiblen Gebiete der Region und der Verhaltens-weisen der Blauwale (Hauptaufenthalts-, Nah-

rungsgebiete) kann ein effektives Schutzgebiets-system für die Ökoregion aufgebaut werden. Weitere Informationen: • http://chile.panda.org/ • http://www.ballenazul.org/ WWF Deutschland

Bereich Artenschutz und TRAFFIC Tel.: 030 / 311 777 -0 Durchwahl: -183, -240 Fax: 030 / 311 777 639 [email protected] www.wwf.de

Kernverbreitungsgebiete der Blauwale im südlichen Chile: die rote Fläche kennzeichnet die Kernzone (25 % aller Blauwal-beobachtungen sind dort enthalten), die Hauptverbreitungs-zone ist gelb markiert (75 % der Beobachtungen) und hell-blau werden die allgemeinen Nahrungsgebiete markiert (95 % der Beobachtungen) – Hucke-Gaete 2004

Chile