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107 5 Das reziproke Gitter Definitionen und Beispiele Erste Brillouin-Zone Gitterebenen und Millersche Indizes Neil W. Ashcroft, David N. Mermin. Festkörperphysik. 3., verbesserte Auflage 2007. ISBN 978-3-486-58273-4. Oldenbourg Wissenschaftsverlag

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5 Das reziproke Gitter

Definitionen und Beispiele

Erste Brillouin-Zone

Gitterebenen und Millersche Indizes

Neil W. Ashcroft, David N. Mermin. Festkörperphysik. 3., verbesserte Auflage 2007. ISBN 978-3-486-58273-4. Oldenbourg Wissenschaftsverlag

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108 5 Das reziproke Gitter

Das reziproke Gitter spielt in den meisten analytischen Untersuchungen von periodi-

schen Strukturen eine fundamentale Rolle. Sehr verschiedene Wege fuhren zur Idee

des reziproken Gitters: Die Theorie der Beugung an Kristallen, die ganz abstrakte

Untersuchung von Funktionen, deren Periodizitat die eines Bravaisgitters ist – oder

auch die Frage, was vom Gesetz der Impulserhaltung noch zu retten ist, wenn die

volle Translationssymmetrie des Raumes reduziert wird auf die Symmetrie eines pe-

riodischen Potentials. In diesem kurzen Kapitel beschreiben wir einige wesentliche

und grundlegende Aspekte des reziproken Gitters unter allgemeinen Gesichtspunkten,

ohne auf irgendeine spezielle Anwendung Bezug zu nehmen.

Definition des reziproken Gitters

Wir betrachen eine Menge von Punkten R , die ein Bravaisgitter bilden, sowie eine

ebene Welle e

i k � r . Fur ein beliebig gegebenes k hat diese ebene Welle naturlich

nicht die Periodizitat des Bravaisgitters, wohl aber fur gewisse, ausgewahlte Werte

des Wellenvektors. Die Menge aller Wellenvektoren K, die ebene Wellen mit der

Periodizitat eines gegebenen Bravaisgitters erzeugen, bezeichnet man als das reziproke

Gitter dieses Bravaisgitters. In Formeln gehort der Wellenvektor K zum reziproken

Gitter eines gegebene Bravaisgitters aus Punkten R, wenn die Beziehung

e

i K � � r � R

� e

i K � r (5.1)

fur beliebiges r und fur jedes R des Bravaisgitters gilt. Kurzen wir den Faktor e

i K � r ,

so konnen wir das reziproke Gitter definieren als die Menge von Wellenvektoren G,

die

e

i K � R

� � (5.2)

fur alle R des Bravaisgitters erfullen.

Beachten Sie, daß ein reziprokes Gitter in Bezug auf ein spezielles Bravaisgitter

definiert ist. Das einem gegebenen reziproken Gitter zugrundeliegende Bravaisgitter

bezeichnet man oft als direktes Gitter, wenn man die Beziehung zwischen den beiden

Gittern betrachtet. Obwohl man fur jede beliebige Menge von Vektoren R eine Menge

von Vektoren K derart definieren konnte, daß (5.2) erfullt ware, bezeichnet man die

Menge der K nur dann als reziprokes Gitter, wenn die Menge der R ein Bravaisgitter1

bildet.

� Insbesondere dann, wenn man mit einem Gitter mit Basis arbeitet, wahlt man dasjenige reziproke Gitter

aus, welches durch das zugrundeliegende Bravaisgitter bestimmt ist – und nicht etwa eine Menge von

Vektoren K , die (5.2) erfullen, zusammen mit einer Menge von Vektoren R , die sowohl die Gitterpunkte

des Bravaisgitters als auch die Punkte der Basis beschreiben.

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Das reziproke Gitter ist ein Bravaisgitter 109

Das reziproke Gitter ist ein Bravaisgitter

Daß das reziproke Gitter selbst ein Bravaisgitter ist, folgt am einfachsten aus der in

Fußnote 7 von Kapitel 4 gegebenen Definition eines Bravaisgitters, zusammen mit der

Tatsache, daß mit zwei Vektoren K

und K

offensichtlich auch deren Summe und

Differenz die Gleichung (5.2) erfullen.

Es lohnt sich, einen etwas weniger eleganten Beweis der letzteren Aussage zu betrach-

ten, welcher explizite ein”Rezept“ zur Konstruktion des reziproken Gitters liefert.

Seien a

, a

und a

ein Satz primitiver Vektoren des direkten Gitters. Das reziproke

Gitter kann dann aufgespannt werden durch die drei primitiven Vektoren

b

� � �

a

� a

a

� a

� a

b

� � �

a

� a

a

� a

� a

� (5.3)

b

� � �

a

� a

a

� a

� a

Zum Beweis dafur, daß (5.3) ein Satz primitiver Vektoren des reziproken Gitters ist,

stellen wir zunachst fest, daß die b

i

die Beziehung2

b

i

� a

j

� � � �

i j

� (5.4)

erfullen, wobei das Kroneckersymbol � definiert ist durch

i j

� � fur i � j � (5.5)

i j

� � fur i � j �

Man kann nun jeden Vektor k als Linearkombination3 der b

i

schreiben:

k � k

b

� k

b

� k

b

� (5.6)

Ist R ein beliebiger Vektor des direkten Gitters, so gilt

R � n

a

� n

a

� n

a

� (5.7)

� Fur i �� j folgt die Gultigkeit von (5.4), da das Vektorprodukt zweier Vektoren senkrecht zu jedem der

beiden ist. Im Falle i � j gilt (5.4) aufgrund der Vektoridentitat a

� � a

� a

� � a

� � a

� a

� �

a

� � a

� a

� .� Dies ist richtig fur irgend drei Vektoren, die nicht alle in derselben Eben liegen. Man verifiziert leicht,

daß die b

i

nicht alle in derselben Ebene liegen, sofern dies fur die a

i

gilt.

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110 5 Das reziproke Gitter

mit den ganzzahligen Koeffizienten n

i

. Aus (5.4) folgt dann, daß

k � R � � � k

n

� k

n

� k

n

� � (5.8)

Nun ist e

i k � R fur alle R dann Eins (Gleichung (5.2)), wenn k � R gleich dem Produkt aus

� � und einer ganzen Zahl ist – fur jede Wahl der ganzzahligen Koeffizienten n

i

. Dazu

mussen auch die k

i

notwendigerweise ganze Zahlen sein. Damit wird die Bedingung

(5.2) dafur, daß K ein Vektor des reziproken Gitters ist, genau durch jene Vektoren

erfullt, die Linearkombinationen der b

i

nach (5.6) mit ganzzahligen Koeffizienten

sind. Deshalb (vergleichen Sie (4.1)) ist das reziproke Gitter ein Bravaisgitter und die

b

i

konnen als ein Satz primitiver Vektoren gewahlt werden.

Das Reziproke des reziproken Gitters

Da das reziproke Gitter selbst ein Bravaisgitter ist, kann man auch sein Reziprokes

konstruieren; dieses erweist sich als nichts anderes als das ursprungliche direkte Gitter.

Ein Weg, diese Feststellung zu beweisen, ist die explizite Konstruktion von Vektoren

c

, c

und c

aus den b

i

unter Verwendung derselben Formel (5.3), mittels derer

wir die b

i

aus den a

i

konstruierten. Man folgert dann mit einfachen Vektoridentitaten

(Aufgabe 1), daß c

i

� a

i

� i � � � � � � .

Ein einfacherer Beweis ergibt sich aus der Beobachtung, daß – nach der grundlegenden

Definition (5.2) – das Reziproke des reziproken Gitters gegeben ist durch die Menge

aller Vektoren G, die

e

i G � K

� � (5.9)

fur alle K des reziproken Gitters erfullen. Da jeder Vektor K des direkten Gitters diese

Eigenschaft hat (wiederum nach (5.2)), sind samtliche Vektoren des direkten Gitters

Elemente des zum reziproken Gitter reziproken Gitters. Es kann auch keine anderen

Vektoren dieser Art geben, da ein Vektor, der nicht Element des direkten Gitters ist, die

Form r � x

a

� x

a

� x

a

mit mindestens einem nichtganzzahligen Koeffizienten

x

i

hat. Fur diesen Wert von i gilt e

i b

i

� r

� e

� � i x

i

� � , so daß die Bedingung (5.9) fur

den Vektor K � b

i

des reziproken Gitters verletzt ist.

Wichtige Beispiele

Das einfach-kubische Bravaisgitter, mit einer kubischen primitiven Zelle der Sei-

tenlange a, hat als sein Reziprokes ein einfach-kubisches Gitter mit einer kubischen

primitiven Zelle der Seitenlange a . Man erkennt dies beispielsweise anhand der

Konstruktionsvorschrift (5.3), wonach fur

a

� a �x � a

� a �y � a

� a � z (5.10)

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Volumen der primitiven Zelle des reziproken Gitters 111

gilt

b

� �

a

�x � b

� �

a

�y � b

� �

a

� z � (5.11)

Das kubisch-flachenzentrierte Bravaisgitter mit einer konventionellen kubischen Zelle

der Seitenlange a hat als sein Reziprokes ein kubisch-raumzentriertes Gitter mit einer

konventionellen kubischen Zelle der Seitenlange � �

a

. Zum Beweis wendet man (5.3)

auf die primitiven Vektoren (4.5) des fcc-Gitters an, mit dem Ergebnis

b

� �

a

�y � � z � �x � � b

� �

a

� z � �x � �y � � b

� �

a

�x � �y � � z � � (5.12)

Dies sind exakt die primitiven Vektoren (4.4) des bcc-Gitters, falls man die Seitenlange

der kubischen Zelle zu � �

a

wahlt.

Das Reziproke des kubisch-raumzentrierten Gitters mit einer konventionellen ku-

bischen Zelle der Seitenlange a ist ein kubisch-flachenzentriertes Gitter mit einer

konventionellen kubischen Zelle der Seitenlange � �

a

. Man kann dies wiederum mit-

tels der Konstruktion (5.3) zeigen, es folgt aber auch aus dem obigen Ergebnis fur das

Reziproke des fcc-Gitters und dem Satz, daß das Reziproke eines reziproken Gitters

mit dem ursprunglichen direkten Gitter identisch ist.

Es sei dem Leser als Ubung uberlassen (Aufgabe 2), zu verifizieren, daß das Reziproke

des einfach-hexagonalen Bravaisgitters mit den Gitterkonstanten c und a (Bild 5.1a)

ebenfalls ein hexagonales Gitter mit den Gitterkonstanten � � � c und � � �

p

� a (Bild

5.1b) ist, das gegenuber dem direkten Gitter4 um einen Winkel von � �

um die c -Achse

gedreht ist.

Volumen der primitiven Zelle des reziproken Gitters

Ist v das Volumen5 einer primitiven Zelle des direkten Gitters, so hat die primitive

Zelle des reziproken Gitters das Volumen � � �

� v . Der Beweis ist Gegenstand von

Aufgabe 1.

Erste Brillouin-Zone

Die primitive Wigner-Seitz-Zelle (siehe Seite 93) des reziproken Gitters bezeichnet

man als erste Brillouin-Zone. Wie der Name suggeriert, betrachtet man auch hohere

� Die hexagonal dichtest gepackte Struktur ist kein Bravaisgitter; deshalb benutzt man in Untersuchungen

von Festkorpern mit hcp-Struktur das reziproke Gitter der einfach-hexagonalen Struktur (siehe Fußno-

te1).� Das Volumen einer primitiven Zelle ist unabhangig von der speziellen Wahl der Zelle; dies wurde in

Kapitel 4 gezeigt.

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112 5 Das reziproke Gitter

c

a

60◦

a

(a)

c∗

a∗

60◦

a∗

(b)

Bild 5.1: (a) Primitive Vektoren fur das einfach-hexagonale Bravaisgitter. (b) Primitive Vektoren fur das

Reziproke des von den primitiven Vektoren in (a) erzeugten Gitters. Die Achsen c und c

� sind parallel.

Das System der Achsen a

� ist gegenuber dem System der Achsen a um einen Winkel von � �

� in einer zu

den Achsen c und c

� senkrechten Ebene gedreht. Das reziproke Gitter ist ebenfalls einfach-hexagonal.

Brillouin-Zonen; dabei handelt es sich um primitive Zellen eines anderen Typs, die in

der Theorie der elektronischen Niveaus in einem periodischen Potential auftreten. Sie

werden in Kapitel 9 besprochen.

Obwohl sich die Begriffe”Wigner-Seitz-Zelle“ und

”erste Brillouin-Zone“ auf die-

selbe geometrische Konstruktion beziehen, verwendet man in der Praxis die letztere

Bezeichnung ausschließlich fur Zellen im k -Raum. Bezieht man sich insbesondere

auf die erste Brillouin-Zone eines speziellen Bravaisgitters im direkten Raum (das zu

einer bestimmten Kristallstruktur gehort), so meint man immer die Wigner-Seitz-Zelle

des zugehorigen reziproken Gitters. Da das reziproke des kubisch-raumzentrierten

Gitters kubisch-flachenzentriert ist, erhalt man deshalb als erste Brillouin-Zone des

bcc-Gitters (Bild 5.2a) die Wigner-Seitz-Zelle des fcc-Gitters (Bild 4.16). Umgekehrt

ist die erste Brillouin-Zone des fcc-Gitters (Bild 5.2b) genau die bcc-Wigner-Seitz-

Zelle (Bild 4.15).

Bild 5.2: (a) Die erste Brillouin-Zone

des kubisch-raumzentrierten Gitters.

(b) Die erste Brillouin-Zone des

kubisch-flachenzentrierten Gitters.

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Gitterebenen 113

(a) (b)

Bild 5.3: Einige Gitterebenen (schattiert gezeichnet) eines einfach-kubischen Bravaisgitters. (a) und (b)

zeigen zwei verschiedene Moglichkeiten, das Gitter als eine Schar von Gitterebenen darzustellen.

Gitterebenen

Zwischen den Vektoren des reziproken Gitters und Ebenen von Punkten des direkten

Gitters besteht eine enge Beziehung. Diese Beziehung ist die Ursache dafur, daß das

reziproke Gitter eine wesentliche Rolle in der Theorie der Beugung an Kristallen

spielt. Die Anwendung des reziproken Gitters in diesem Kontext werden wir im

nachsten Kapitel besprechen; hier beschreiben wir den Zusammenhang auf allgemein

geometrischer Ebene.

Eine Gitterebene ist in einem gegebenen Bravaisgitter definiert als beliebige Ebene, die

mindestens drei nicht-kollineare Gitterpunkte des Bravaisgitters enthalt. Aufgrund der

Translationssymmetrie des Bravaisgitters enthalt jede solche Ebene sogar unendlich

viele Gitterpunkte, die ein zweidimensionales Bravaisgitter in der Ebene bilden. In

Bild 5.3 sind einige Gitterebenen eines einfach-kubischen Gitters dargestellt.

Als Schar von Gitterebenen bezeichnen wir eine Menge von parallelen Gitterebenen

mit konstantem Abstand, die zusammengenommen samtliche Punkte des dreidi-

mensionalen Bravaisgitters enthalten. Jede Gitterebene ist Element einer solchen

Gitterebenenschar. Offenbar ist die Zerlegung eines Bravaisgitters in eine Schar von

Gitterebenen weit davon entfernt, eindeutig zu sein (vgl. Bild 5.3). Der Begriff des

reziproken Gitters ermoglicht eine sehr einfache Kassifikation samtlicher moglichen

Gitterebenenscharen, wie es der folgende Satz beschreibt:

Zu jeder Gitterebenenschar mit Abstand d gibt es Vektoren des reziproken Gitters,

die senkrecht auf den Ebenen stehen und deren kurzeste den Betrag � � � d haben.

Umgekehrt gehort zu jedem Vektor K des reziproken Gitters eine Schar von dazu

senkrechten Gitterebenen mit Abstand d , wobei � � � d der Betrag des kurzesten, zu Kparallelen Vektors des reziproken Gitters ist.

Dieser Satz ist eine direkte Folgerung aus (a) der Definition (5.2) von Vektoren

des reziproken Gitters als Wellenvektoren ebener Wellen, die an allen Platzen des

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114 5 Das reziproke Gitter

Bravaisgitters den Wert Eins annehmen, sowie (b) der Tatsache, daß eine ebene

Welle denselben Wert hat an allen Punkten in den Ebenen einer zum Wellenvektor

senkrechten Ebenenschar, deren Abstand ein ganzzahliges Vielfaches der Wellenlange

betragt.

Wir beweisen zunachst den ersten Teil des Satzes: Sei �n ein Einheitsvektor, der

senkrecht steht auf den Ebenen einer gegebenen Gitterebenenschar. Aus der Tatsache,

daß die ebene Welle e

i K � r in Ebenen senkrecht zu K konstant ist und in Ebenen, die

im Abstand � � � � � K � d liegen, denselben Wert hat, folgt, daß K � � � �n � d

ein Vektor des reziproken Gitters ist. Da eine der Gitterebenen den Punkt r � � des

Bravaisgitters enthalt, muß e

i K � r fur jeden Punkt in jeder der Ebenen gleich Eins sein.

Da die Ebenenschar samtliche Punkte des Bravaisgitters enthalt, gilt e

i K � r

� � fur alle

R, so daß K tatsachlich ein Vektor des reziproken Gitters ist. Daruberhinaus ist K der

kurzeste, auf den Ebenen der Schar senkrechte Vektor des reziproken Gitters, da jeder

Vektor kurzer als K eine ebene Welle mit einer Wellenlange großer als � � � K � d

ergibt. Eine solche Welle kann nicht denselben Wert auf allen Ebenen der Schar haben

und deshalb auch nicht an samtlichen Punkten des Bravaisgitters gleich Eins sein.

Zum Beweis der Umkehrung des Satzes sei ein Vektor des reziproken Gitters gege-

ben, und sei weiterhin K der kurzeste dazu parallele Vektor des reziproken Gitters.

Betrachten wir die Menge von Ebenen im Ortsraum, auf denen die ebene Welle e

i K � r

den Wert Eins hat. Diese Ebenen (eine unter ihnen enthalt den Punkt r � � ) sind

senkrecht zu K und liegen im Abstand d � � � � K . Da alle Vektoren R des Bravais-

gitters die Bedingung e

i K � R

� � fur jeden Vektor K des reziproken Gitters erfullen,

mussen sie samtlich in diesen Ebenen liegen: Die Gitterebenenschar enthalt eine weite-

re Gitterebenenschar. Ebenfalls ist der Abstand zwischen den Ebenen d (und nicht ein

ganzzahliges Vielfaches von d ), denn enthielte nur jede n -te Ebene der Schar Punkte

des Bravaisgitters, so ware nach dem ersten Teil des Satzes der Vektor senkrecht zu

den Ebenen mit dem Betrag � � � d – also der Vektor K � n – ein Vektor des reziproken

Gitters. Dies ware ein Widerspruch zu unserer anfanglichen Annahme, daß kein zu Kparalleler Vektor des reziproken Gitters kurzer ist als K.

Millersche Indizes von Gitterebenen

Die Korrespondenz zwischen Vektoren des reziproken Gitters und Scharen von Git-

terebene ist die Grundlage einer einfachen und praktischen Art, die Orientierung einer

Gitterebene im Raum anzugeben. Ganz allgemein beschreibt man die Orientierung

einer Ebene im Raum durch Angabe eines zur Ebene senkrechten Vektors. Wir wis-

sen, daß zu jeder Gitterebenenschar Vektoren des reziproken Gitters existieren, die

senkrecht auf den Ebenen der Schar stehen. Deshalb ist es naheliegend, einen Vektor

des reziproken Gitters als Flachennormale auszuwahlen. Um diese Wahl eindeutig zu

machen, verwendet man den kurzesten dieser Vektoren. Die Millerschen Indizes der

Gitterebene bestimmt man dann wie folgt:

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Millersche Indizes von Gitterebenen 115

Die Millerschen Indizes einer Gitterebene sind die Komponenten des kurzesten,

auf der Ebene senkrecht stehenden Vektors des reziproken Gitters, bezogen auf ein

gegebenes System primitiver Vektoren des reziproken Gitters. Die Ebene mit den

Millerschen Indizes h , k , l ist somit senkrecht zum Vektor h b

� k b

� l b

des

reziproken Gitters.

Nach dieser Definition sind die Millerschen Indizes ganze Zahlen, da jeder Vektor

des reziproken Gitters dargestellt wird als Linearkombination von drei primitiven

Vektoren mit ganzzahligen Koeffizienten. Da die Flachennormale durch den kurzesten,

auf der Flache senkrecht stehenden Vektor des reziproken Gitters gegeben ist, konnen

die ganzen Zahlen h , k , l keinen gemeinsamen Teiler haben. Beachten Sie, daß die

Millerschen Indizes von der speziellen Wahl der primitiven Vektoren abhangig sind.

Das reziproke Gitter eines einfach-kubischen Bravaisgitters ist ebenfalls einfach-

kubisch, so daß die Millerschen Indizes die Komponenten eines Vektors senkrecht

zu der zu bezeichnenden Ebene im offensichtlichen kubischen Koordinatensystem

sind. In der Regel beschreibt man die kubisch-raumzentrierten und die kubisch-

flachenzentrierten Bravaisgitter mittels einer konventionellen kubischen Zelle, d.h. als

einfach-kubische Gitter mit Basen. Da jede Gitterebene eines fcc- oder bcc-Gitters

ebenfalls Gitterebene des zugrundeliegenden einfach-kubischen Gitters ist, kann man

dieselbe elementare kubische Indizierung zur Kennzeichnung von Gitterebenen auch

in diesen Gittern verwenden. In der Praxis muß man sich lediglich bei der Be-

schreibung nicht-kubischer Kristalle daran erinnern, daß die Millerschen Indizes die

Komponenten einer Flachennormalen in einem Achsensystem sind, das im reziproken

Gitter – und nicht im direkten Gitter – gegeben ist.

Es gibt im direkten Gitter eine geometrische Interpretation der Millerschen Indizes

einer Ebene; diese Betrachtungsweise findet man manchmal als eine weitere Art, die

Indizes zu definieren. Da eine Gitterebene mit den Millerschen Indizes h , k , l senkrecht

ist zum Vektor K � h b

� k b

� l b

des reziproken Gitters, so liegt sie – fur

eine geeignete Wahl der Konstanten A – auch in der unendlich ausgedehnten Ebene

K � r � A . Diese Ebene schneidet die durch die primitiven Vektoren a

i

des direkten

Gitters festgelegten Koordinatenachsen an den Stellen x

a

� x

a

und x

a

(Bild 5.4),

wobei die x

i

festgelegt sind durch die Bedingung, daß die x

i

a

i

die Ebenengleichung

erfullen: K � x

i

a

i

� � A . Aus K � a

� � � h � K � a

� � � k und K � a

� � � l folgt

x

A

� � h

� x

A

� � k

� x

A

� � l

� (5.13)

Somit sind die Schnittpunkte einer Gitterebene mit den Kristallachsen umgekehrt

proportional zu den Millerschen Indizes der Ebene.

Die Kristallographen pflegen den Karren vor das Pferd zu spannen, indem sie die

Millerschen Indizes definieren als Satz teilerfremder ganzer Zahlen, die umgekehrt

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116 5 Das reziproke Gitter

a1

x1a1

x2a2

a2

a3

x3a3

Bild 5.4: Eine Darstellung der kristallographischen Definition der Millerschen

Indizes einer Gitterebene. Die schattiert gezeichnete Ebene kann Teil der unend-

lich ausgedehnten Ebene sein, in welcher die Punkte der Gitterebene liegen, oder

aber Teil jeder zur Gitterebene parallelen Ebene. Die Millerschen Indizes sind

umgekehrt proportional zu den x

i

.

proportional sind zu den Achsenabschnitten der Kristallebene mit den Kristallachsen:

h � k � l �

x

x

x

� (5.14)

Einige Schreibweisen zur Angabe von Richtungen im

Kristall

Gitterebenen bezeichet man ublicherweise durch Angabe ihrer Millerschen Indizes

in runden Klammern: h � k � l � ; so benennt man in einem kubischen System eine

Ebene mit dem Normalenvektor (4,-2,1) (beziehungsweise, vom kristallographischen

Standpunkt aus gesehen, eine Ebene mit den Achsenabschnitten (1,-2,4) entlang der

kubischen Achsen) als (4,-2,1)-Ebene. Die Kommata kann man dabei ohne Gefahr

einer Konfusion weglassen, wenn man �n statt � n schreibt; damit vereinfacht sich

die Schreibweise zu �

� � � . Eine eindeutige Interpretation dieser Symbolik ist nur

dann moglich, wenn man das benutzte Achsensystem kennt. Bei der Beschreibung

von Kristallen mit kubischer Symmetrie verwendet man immer das einfach-kubische

Achsensystem. Bild 5.5 zeigt einige Beispiele von Ebenen in kubischen Kristallen.

Mittels einer ahnlichen Schreibweise bezeichnet man Richtungen im direkten Git-

ter, verwendet aber eckige anstelle von runden Klammern, um Verwechslungen mit

den Millerschen Indizes (sie geben Richtungen im reziproken Gitter an) auszuschlie-

ßen. Beispielsweise liegt die Raumdiagonale eines einfach-kubischen Gitters in der

Richtung [111], und allgemein der Gitterpunkt n

a

� n

a

� n

a

in der Rich-

tung � n

n

n

� , vom Ursprung aus gesehen. Man verwendet weiterhin eine besondere

Notation, um eine Schar von Gitterebenen zusammen mit allen weiteren Scharen zu

bezeichnen, die zu ihr aufgrund der Kristallsymmetrie aquivalent sind.

So sind die Ebenen (100), (010) und (001) in einem kubischen Kristall aquivalent;

man benennt sie gemeinsam als f 100 g -Ebenen. Allgemein schreibt man f h k l g , um

die h k l � - Ebenen und alle weiteren zu bezeichnen, die aufgrund der Symmetrie des

Kristalls aquivalent zu ihnen sind. Entsprechend faßt man die Richtungen � � � � � , � � � � � ,

� � � � � , �

� � � � , � �

� � � und � � �

� � in einem kubischen Kristall als h � � � i zusammen.

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Aufgaben 117

a3

a1

a2

(010)

a3

a1

a2

(110)

a3

a1

a2

(111)

Bild 5.5: Drei Gitterebenen in einem einfach-kubischen Bravaisgitter und ihre Millerschen Indizes.

Damit beschließen wir unsere allgemein gehaltene Betrachtung des reziproken Gitters.

Die Theorie der Beugung von Rontgenstrahlen an einem Kristall, ein wichtiges

Beispiel fur die Nutzlichkeit und die analytische Kraft dieses Konzeptes, lernen wir

in Kapitel 6 kennen.

Aufgaben

5.1 (a) Zeigen Sie, daß die in (5.3) definierten primitiven Vektoren des reziproken

Gitters der Beziehung

b

� b

� b

� �

� � �

a

� a

� a

(5.15)

genugen. (Hinweis: Schreiben Sie b

– nicht b

oder b

– als Funktion der a

i

und

machen Sie Gebrauch von den Orthogonalitatsrelationen (5.4).)

(b) Nehmen Sie an, daß primitive Vektoren aus den b

i

auf dieselbe Art (Gleichung

(5.3)) konstruiert seien, wie die b

i

aus den a

i

. Zeigen Sie, daß diese Vektoren mit den

a

i

identisch sind, daß also gilt

� �

b

� b

b

� b

� b

� a

� etc� (5.16)

(Hinweis: Schreiben Sie im Zahler b

(nicht b

) in Abhangigkeit von den a

i

,

verwenden Sie die Vektoridentitat A � B � C � � B A � C � � C A � B � sowie

die Orthogonalitatsrelationen (5.4) und das Ergebnis (5.15) aus (a).)

(c) Zeigen Sie, daß

v � j a

� a

� a

� j (5.17)

Neil W. Ashcroft, David N. Mermin. Festkörperphysik. 3., verbesserte Auflage 2007. ISBN 978-3-486-58273-4. Oldenbourg Wissenschaftsverlag

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118 5 Das reziproke Gitter

das Volumen einer primitiven Zelle eines Bravaisgitters ist. Die a

i

sind drei primitive

Vektoren. (Mit (5.15) folgt das Volumen einer primitiven Zelle des reziproken Gitters

zu � � �

� v .)

5.2 (a) Zeigen Sie, daß das Reziproke des einfach-hexagonalen Bravaisgitters

ebenfalls ein einfach-hexagonales Gitter mit den Gitterkonstanten � � � c und � � �

p

� a

ist, das relativ zum direkten Gitter um einen Winkel von � �

um die c -Achse gedreht

ist. Verwenden Sie die primitiven Vektoren nach (4.9) sowie die Konstruktion (5.3)

(oder auch eine beliebige andere Methode).

(b) Fur welchen Wert von c � a ist dieses Verhaltnis fur direkte und reziproke Gitter

gleich?

(c) Als trigonales Bravaisgitter (vgl. Kapitel 7) bezeichnet man ein Gitter, das durch

drei primitive Vektoren vom gleichen Betrag a aufgespannt wird, die miteinander

jeweils den Winkel � einschließen. Zeigen Sie, daß das reziproke eines trigonalen

Bravaisgitters ebenfalls trigonal ist, wobei der Winkel �

� gegeben ist durch � c o s �

c o s � � � � � c o s � � sowie der Betrag a

� eines primitiven Vektors durch a

� � � � a � � �

� c o s � c o s �

� � � � .

5.3 (a) Zeigen Sie, daß die Dichte der Gitterpunkte (pro Einheitsflache) in einer Git-

terebene gegeben ist durch d � v , wobei v das Volumen der primitiven Zelle bezeichnet

und d den Abstand benachbarter Ebenen in der Ebenenschar, zu der die betrachtete

Ebene gehort.

(b) Zeigen Sie, daß die Gitterebenen mit der hochsten Dichte von Punkten in

einem kubisch-flachenzentrierten Bravaisgitter die Ebenen f � � � g , in einem kubisch-

raumzentrierten Bravaisgitter die Ebenen f � � � g sind. (Hinweis: Am einfachsten nutzt

man die Beziehung, die zwischen Gitterebenenscharen und Vektoren des reziproken

Gitters besteht.)

5.4 Zeigen Sie, daß jeder Vektor K des reziproken Gitters ein ganzzahliges Vielfa-

ches des kurzesten, dazu parallelen Vektors K

des reziproken Gitters ist.

(Hinweis: Nehmen Sie das Gegenteil an und leiten Sie dann ab, daß infolge der Tat-

sache, daß das reziproke Gitter ein Bravaisgitter ist, ein Vektor des reziproken Gitters

parallel zu K und kurzer als K

existiert.)

Neil W. Ashcroft, David N. Mermin. Festkörperphysik. 3., verbesserte Auflage 2007. ISBN 978-3-486-58273-4. Oldenbourg Wissenschaftsverlag