Post on 20-Jun-2019
PROF. DR. STEPHAN FISCHER
Digitaler Wandel: Die Mischung mach t’s
Agilität ist kein Patentrezept für Erfolg
6INSIGHTS | TTS FORUM 2018
Ist die Rede von digitaler Transformation, so taucht unwei
gerlich ein Begriff auf: Agilität. Dabei scheint „agil“ ein geradezu
magischer Zustand zu sein, in dem der digitale Wandel
mühelos gemeistert werden kann und den es für Unternehmen
unbedingt zu erreichen gilt. Doch ist Agilität tatsächlich
ein Garant für betriebliches Überleben in der digitalen (R)Evolu
tion? Nun, es kommt darauf an. Doch worauf?
Die Wissenschaft gibt darauf jeden-
falls (noch) keine Antwort: Es gibt auch
2018 weltweit keine einzige Studie,
die eine Korrelation zwischen Agilität
und Unternehmenserfolg nachgewie-
sen hat. Dies lässt allerdings nicht den
Schluss zu, dass kein Zusammenhang
existiert. Dass der empirische Beweis
bis dato ausblieb, mag auch an der
Schwierigkeit liegen, andere Einfluss-
faktoren auf den betrieblichen Erfolg
statistisch auszuschließen. Weiterer
Knackpunkt ist das Fehlen einer Über-
einkunft darüber, wie sich Agilität ei-
gentlich definiert.
Scrum ist nicht genug Ein weit verbreitetes Missverständnis:
Agiles Vorgehen ist gleich Scrum. Bei
Scrum handelt es sich lediglich um
eine spezifische Methode im Projekt-
management – das ist damit nur ein
kleines Puzzleteil von vielen: „Sie wer-
den nicht erfolgreich sein, wenn Sie
nur an einer Schraube drehen“, pro-
phezeit Prof. Dr. Fischer, Experte für
die Förderung agiler Strukturen. Nä-
her kommen wir dem Ganzen mit dem
Gedanken, der hinter Scrum steht:
kurze Arbeitsetappen, in denen stark
kollaborativ gearbeitet wird und auf
die eine Review- bzw. Feedbackrun-
de folgt. Das Konzept lässt erahnen:
Hinter Agilität steht die Art und Wei-
se, wie gearbeitet wird, aber auch, mit
welcher Einstellung. Noch vor weni-
gen Jahrzehnten waren Unternehmen
mit starken hierarchischen Struktu-
ren und klarer Machtverteilung eine
Normalität, in die sich die Mitarbeiter
fügen mussten. Heute fordern die Ar-
beitnehmer ganz selbstverständlich
eine Feedbackkultur, Transparenz bei
den Arbeitsabläufen und einen hohen
Grad der Selbstbestimmung. Die Aus-
wirkungen auf die Unternehmen sind
weit reichend und komplex. Damit
stellen die digitale Transformation so-
wie der Ruf nach mehr Agilität vor al-
lem HR-Experten und Führungskräf-
te vor neue Herausforderungen. Doch
sind Unternehmen, deren Mitarbeiter
ein „agiles Mindset“ haben, automa-
tisch erfolgreicher? Nicht immer,
denn Agilität ist kein Allheilmittel.
Agil ist, wer sich anpassen kannDie Erkenntnisse der Evolutionsbio-
logie sind direkt auf die Nachhaltig-
keit des Unternehmenserfolgs über-
tragbar: Wer sich anpassen kann,
überlebt. Für Unternehmen, die auf
den digitalen Wandel flexibel reagie-
ren, stehen die Chancen auf langfris-
tigen Erfolg sehr gut. Doch wie viel
Flexibilität ist gefragt? Wer mit kleine-
ren Innovationen an verfügbaren Pro-
dukten und Services auf Veränderun-
gen reagieren kann, schafft dies eher
mit Stabilität denn mit Agilität. Wer
sich jedoch einem disruptiven Wan-
del gegenübersieht, der kann nur mit
echten Innovationen bestehen und
muss sich selbst komplett neu erfin-
den. Das Problem: Veränderte Kun-
denbedarfe oder Ideen des Wettbe-
werbs bleiben für ein Unternehmen
trotz Marktanalysen ein Buch mit sie-
ben Siegeln: Selbst mit noch längeren
Akkulaufzeiten oder ansprechende-
ren Designs hätten die damaligen
Marktführer für Mobiltelefone mit Ein-
führung der Smartphones ihre Stel-
lung niemals halten können. Das gro-
ße Interesse an Fotos und Musik für
unterwegs war Nokia und Co. offen-
sichtlich verborgen geblieben.
KEYNOTE | PROF. DR. STEPHAN FISCHER
„Hinter Agilität steht die Art und Weise, wie gearbeitet wird,
aber auch, mit welcher Einstellung.“
7INSIGHTS | TTS FORUM 2018
Empowern Sie schon oder micro-managen Sie noch?Die digitale Transformation erfordert
neben der Anpassung an den Markt
auch ein Umdenken innerhalb der
Organisation. Wer Führungsverant-
wortung trägt, sieht sich heute einer
neuen Konstellation gegenüber: Mit-
arbeiter erwarten von ihren Vorgesetz-
ten Kommunikation und Zusammen-
arbeit auf Augenhöhe. „Der Ansatz
,Command-and-Control‘ funktioniert
nicht mehr“, ergänzt Fischer. Statt
engmaschiger Kontrolle von Arbeits-
ergebnissen ist Vertrauen gefragt,
konstruktives Feedback in beide Rich-
tungen löst Lob und Tadel „von oben“
immer mehr ab. Als Faustregel gilt:
Je weniger Machtzentren im Unter-
nehmen, umso besser funktioniert
agiles Arbeiten. Der damit verbunde-
ne Vertrauensvorschuss fällt beiden
Seiten nicht immer leicht – auf der ei-
nen Seite der Führungskraft, die ein-
fach nicht loslassen kann, im Wissens-
transfer eine Gefährdung ihrer Macht
und somit ihrer Position in der Orga-
nisation wittert. Auf der anderen Sei-
te dem unsicheren oder überforder-
ten Mitarbeiter, der in klaren Struktu-
ren mit exakten Vorgaben bessere
Leistungen bringt. Die gute Nachricht:
Für Unternehmen ist es sogar von
Vorteil, wenn nicht alle agil sind. Ei-
ne ausgewogene Mischung aus agi-
lem und traditionellem Vorgehen ist
durchaus gesund. Jede Organisation
muss dabei seine eigene Balance fin-
den, ein Patentrezept gibt es nicht.
Agilität macht attraktiv2013 zeigte eine Studie – befragt wur-
den allerdings nur Ingenieure techni-
scher Unternehmen –, dass sich der
Agilitätsgrad signifikant und positiv
auf das Image eines Unternehmens
auswirkt. Im Kampf um Nachwuchs-
talente und Fachkräfte könnte dies
ein entscheidender Wettbewerbsvor-
teil sein. Wie gut ein Unternehmen
diesen Vorteil nutzt, hängt davon ab,
inwieweit das Thema Agilität bei Re-
cruiting, Personalentwicklung und
Mitarbeiterbindung zum Tragen
kommt. Kein einfaches Unterfangen:
Den HR- Experten steht derzeit kein
Werteinventar zur Verfügung, um im
Auswahl prozess den Agilitätsgrad bei
Bewerbern zu testen, auch in der Eig-
nungsdiagnostik fehlen entsprechen-
de Methoden. Die Frage, mit welchen
Anreizsystemen Mitarbeiter mit Affini-
tät zur Agilität motiviert werden kön-
nen, entwickelt sich zur Grundsatz-
diskussion. In einer agilen Kultur, die
kollaboratives Arbeiten fördern will,
wären individuelle Zielvereinbarun-
gen kontraproduktiv. Ohne konkrete
Handlungsanweisungen bleibt das Ri-
siko des „Mismatch“ zwischen Unter-
nehmen und Kandidaten demnach
bestehen.
Erscheint es angesichts all dieser Un-
wägbarkeiten nicht verlockend, der
Agilität wenig oder gar keine Beach-
tung zu schenken? Davor warnt Fi-
scher: „Wenn Sie es nicht tun, macht
es ein anderer!“
KEYNOTE | PROF. DR. STEPHAN FISCHER
Facts & Figures
• Prof. Dr. Stephan Fischer ist
1966 geboren und steht nach
eigenen Aussagen „an der
Grenze zur Generation X“.
• Seine aktuellen Arbeiten
befassen sich mit der Frage,
welche Bedingungen und
Veränderungsprozesse
in Organisationen Agilität
fördern.
• Seit 2013 ist er Studiendekan
für den Masterstudiengang
„Human Resources Manage-
ment“ an der Hochschule
Pforzheim.
• Seit 2012 leitet er das Institut
für Personalforschung an der
Hochschule Pforzheim.
• Aktuelle Arbeiten befassen
sich mit der Frage, welche
Be dingungen und Verände-
rungsprozesse in Organi-
sationen Agilität fördern.
• Er hat Soziologie, Jura und
BWL/VWL studiert.
„Eine ausgewogene Mischung aus
agilem und traditionellem Vorgehen
ist durchaus gesund.“
8INSIGHTS | TTS FORUM 2018