Platzbildung bei Mies van der Rohe - RWTH Aachen University · 9 Ludwig Mies van der Rohe, Brief an...

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Lutz Robbers 70 Lutz Robbers Platzbildung bei Mies van der Rohe Das Jahr 1923 markierte die Ankunft Ludwig Mies van der Rohes im Zen- trum der Weimarer Architektur-Avantgarde. In diesem Jahr präsentierte Mies seine Arbeiten auf insgesamt vier Ausstellungen: der Großen Berli- ner Kunstausstellung, der Ausstellung der Arbeitsgemeinschaft für neue Kunst und Dichtung in Magdeburg, der De Stijl Schau in der Galerie de l’Effort Moderne in Paris und der Ausstellung Internationale Architektur in Weimar. In unterschiedlichen Kombinationen wurden hier die inzwischen zu Ikonen der modernen Architektur gewordenen Modelle, Zeichnungen und Fotomontagen des Hochhauses Friedrichstraße, des Glashochhauses, des Bürohauses in Eisenbeton, des Landhauses in Eisenbeton und des Landhauses in Backstein gezeigt. Gleichzeitig trat er erstmalig mit sei- nen theoretischen Ideen an die Öffentlichkeit. Nachdem er seinen Artikel „Hochhäuser“ im Jahr zuvor publiziert hatte, umreißt Mies in der Zeitschrift G:Material zur elementaren Gestaltung, an deren Gründung er maßgeblich beteiligt war, in insgesamt drei Beiträgen die Grundzüge seines architek- tonischen Denkens.1 Wüster konstruktivistischer Formalismus Von besonderer Bedeutung ist seine Teilnahme an der von Walter Gropius organisierten Ausstellung Internationale Architektur, die im Rahmen der Bauhausausstellung vom 15. August bis zum 30. September 1923 in Weimar stattfand. Unter dem Motto „Kunst und Technik – Eine neue Einheit“ sollten Arbeiten von knapp dreißig deutschen und internationalen Architekten die 1 Ludwig Mies van der Rohe: Hochhäuser, in: Frühlicht, 1922, H. 4, S. 122–124; ders.: Bürohaus, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1923, H. 1, o.S.; ders.: Bauen, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, H. 2, 1923, o.S.; ders.: Industrielles Bauen, in: G: Zeitschrift für elementare Gestaltung, 1924, H. 3, o.S.

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Lutz Robbers

Platzbildung bei Mies van der Rohe

Das Jahr 1923 markierte die Ankunft Ludwig Mies van der Rohes im Zen-trum der Weimarer Architektur-Avantgarde. In diesem Jahr präsentierte Mies seine Arbeiten auf insgesamt vier Ausstellungen: der Großen Berli-ner Kunstausstellung, der Ausstellung der Arbeitsgemeinschaft für neue Kunst und Dichtung in Magdeburg, der De Stijl Schau in der Galerie de l’Effort Moderne in Paris und der Ausstellung Internationale Architektur in Weimar. In unterschiedlichen Kombinationen wurden hier die inzwischen zu Ikonen der modernen Architektur gewordenen Modelle, Zeichnungen und Fotomontagen des Hochhauses Friedrichstraße, des Glashochhauses, des Bürohauses in Eisenbeton, des Landhauses in Eisenbeton und des Landhauses in Backstein gezeigt. Gleichzeitig trat er erstmalig mit sei-nen theoretischen Ideen an die Öffentlichkeit. Nachdem er seinen Artikel

„Hochhäuser“ im Jahr zuvor publiziert hatte, umreißt Mies in der Zeitschrift G:Material zur elementaren Gestaltung, an deren Gründung er maßgeblich beteiligt war, in insgesamt drei Beiträgen die Grundzüge seines architek-tonischen Denkens.1

Wüster konstruktivistischer Formalismus

Von besonderer Bedeutung ist seine Teilnahme an der von Walter Gropius organisierten Ausstellung Internationale Architektur, die im Rahmen der Bauhausausstellung vom 15. August bis zum 30. September 1923 in Weimar stattfand. Unter dem Motto „Kunst und Technik – Eine neue Einheit“ sollten Arbeiten von knapp dreißig deutschen und internationalen Architekten die

1 Ludwig Mies van der Rohe: Hochhäuser, in: Frühlicht, 1922, H. 4, S. 122–124; ders.: Bürohaus, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1923, H. 1, o.S.; ders.: Bauen, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, H. 2, 1923, o.S.; ders.: Industrielles Bauen, in: G: Zeitschrift für elementare Gestaltung, 1924, H. 3, o.S.

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programmatische Kehrtwende des Bauhauses hin zu einem funktionalis-tischen Paradigma bezeugen. Im Gegensatz zu den expressionistischen Phantasiegebilden der Frühphase des Bauhauses sollte ein neuer „Bauleib“ geschaffen werden, „der seinen Sinn und Zweck aus sich selbst heraus durch die Spannung seiner Baumassen zueinander funktionell verdeut-licht und alles Entbehrliche abstößt, das die absolute Gestalt des Baues verschleiert.“2 Durch die Ausstellung von Hochhausprojekten aus moder-nen Materialen wie Eisenbeton, Stahl und Glas von Mies, Gropius, Mart Stam und Max Taut, Siedlungsplanungen mit variierbaren Haustypen von Farkas Molnár oder auch Le Corbusiers Projekt einer Ville contemporaine de trois millions d’habitants sollte das Bild einer europaweit triumphierenden Moderne präsentiert werden.3

Gropius hatte der Architektur von Mies eine wichtige Rolle zugedacht. In Vorbereitung auf die Ausstellung erläutert er in seiner schriftlichen Anfrage an Mies die Intention der Ausstellung, die moderne Architektur „nach der dynamisch-funktionellen Seite“ und „weg von Ornament und Profil“ zu präsentieren.4 Mies bietet Gropius daraufhin an, zwei Modelle nach Wei-mar zu senden: das Modell des Glashochhauses mit dem geschwungenen Grundriss und das horizontal geschichtete Holzmodell seines Bürohauses in Eisenbeton. Diese sollten, so der Wunsch Mies’, „nebeneinander zu einer Platzbildung“ vereinigt werden. „Ich habe das ausprobiert; die Wirkung ist ausgezeichnet und ich glaube auch sie [Gropius] würden dann verstehen, weshalb das Geschäftshaus nur die Horizontal-Gliederung hat.“5 Seine schnelle positive Antwort deutet darauf hin, dass Mies die von Gropius initiierte inhaltliche Neuausrichtung des Bauhauses grundsätzlich unter-stützte. Zugleich klingt der abschließende Satz seines Briefes aber auch wie eine Mahnung an Gropius, der bereits 1919 als Organisator der vom Arbeitsrat für Kunst in Berlin veranstalteten Ausstellung unbekannter Ar-chitekten die Einsendungen von Mies und Ludwig Hilberseimer abgelehnt hatte:6 „Da ich jeden Formalismus welcher Art er auch sei ablehne und

2 Walter Gropius: Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses Weimar, in: Staatliches Bauhaus Weimar 1919–1923, Weimar/München o.J., S. 15.

3 Klaus-Jürgen Winkler: Die Architekturausstellungen in Weimar, in: Hellmut Th. Seemann/Thorsten Valk (Hgg.): Klassik und Avantgarde. Das Bauhaus in Weimar 1919–1925, Göttingen 2009, S. 261–281. Für eine differenzierte Erläuterung der Rolle der Architektur am Bauhaus vgl.: Berry Bergdoll: Paradoxes of Architecture and Design in and after the Bauhaus, in: Bauhaus 1919–1933: Workshops for Modernity, New York 2009, S. 41–61.

4 Walter Gropius: Brief an Ludwig Mies van der Rohe, 4. Juni 1923. Library of Congress, Washington D.C., The Papers of Mies van der Rohe, Box 1, Folder G.

5 Ludwig Mies van der Rohe: Brief an Walter Gropius, 14. Juni 1923. Ebd. 6 Siehe Ludwig Hilberseimer: Berliner Architektur der 20er Jahre, Mainz 1967, S. 29–30.

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aus dem Wesen der Aufgabe heraus ihre Lösung versuche, so wird nie eine formale Verwandtschaft die einzelnen Arbeiten verbinden.“7

Mies sollte sich in seiner Vorahnung bestätigt sehen. Knapp drei Monate später, kurz nach seinem Besuch der Bauhaus-Ausstellung, drückte er in einem Schreiben an Werner Jakstein seine Verärgerung aus über das, was er in Weimar gesehen hatte:8

„Am Sonntag, dem 16. September, finden ganz prinzipielle Besprechun-gen der G-Leute hier in Berlin statt. Ich werde diesen Augenblick be-nutzen, um klarzustellen, wo jeder steht, ich werde meinen Standpunkt ganz klar und eindeutig bekannt geben, es wird sich da entscheiden, wer zu uns halten kann, und wer nicht. […] Gerade der wüste konstrukti-vistische Formalismus, den ich in Weimar und die dort herrschenden künstlerischen Nebel, haben mich veranlasst, meinen Standpunkt im G-Heft erneut zu formulieren, zumal im ersten Heft ein Teil dessen, was ich geschrieben habe, irrtümlich nicht gebracht worden ist.“9

Tatsächlich entpuppt sich die versprochene Klarstellung, die Mies in der zweiten Ausgabe von G unter dem Titel „Bauen“ publiziert, als Beweis für die scheinbare Unfähigkeit, die Dinge beim Namen zu nennen. Tautologisch fordert er „Bauen wieder zu dem zu machen, was es allein sein sollte, nämlich BAUEN.“10 Mies findet sich in einer paradoxen Situation: Einer-seits deutet sein resolutes Eintreten gegen den vermuteten Formalismus

7 Mies van der Rohe: Brief an Gropius (Anm. 5).8 Werner Jakstein (1876–1961) war Baurat der Stadt Altona, der mit zahlreichen Architekten

wie Mies, J.J.P. Oud und Cornelis van Eesteren in Verbindung stand. Vgl. Olaf Bartels: Archi-tektur als nationale Frage? Die Hansen-Rezeption durch Werner Jakstein und die Altonaer Architektur zwischen 1910 und 1930, in: Ulrich Schwarz (Hg.): Christian Frederik Hansen und die Architektur um 1800, München 2003, S. 181–94.

9 Ludwig Mies van der Rohe, Brief an Werner Jakstein, 13. 9. 1923. Research Papers, Docu-ments and Tape Recordings Related to Mies van der Rohe and the Establishment of the Museum of Modern Art’s Mies van der Rohe Archive, compiled by Ludwig Glaeser. Canadian Center of Architecture, Montreal. In Vorbereitung auf die Ausstellung in der Galerie de l’Effort Moderne in Paris, die im Oktober 1923 eröffnet wurde, schrieb Mies an Theo van Doesburg und wiederholt sein Urteil über die Bauhausausstellung: „Über Weimar werden Sie schon von Richter gehört haben. Ich fürchte, daß von dort aus eine konstruktivistische Mode Deutschland wellenartig überschwemmen wird. Man konnte in Weimar sehen, wie leicht das jonglieren [sic] mit konstruktivistischen Formen ist, wenn man nur das Formale anstrebt; dort ist die Form das Ziel, während Sie bei unseren Arbeiten das Resultat ist. Mir scheint es auch wichtig nach aussen hin eine scharfe Trennung zwischen konstruktivistischen For-malismus und wirklich konstruktiver Schärfe herbei zu führen.“ Ludwig Mies van der Rohe, Brief an Theo van Doesburg, 27. 8. 1923, Library of Congress, Washington D.C., The Papers of Mies van der Rohe, Box 2, Folder V.

10 Ludwig Mies van der Rohe: Bauen 1923 (Anm. 1) o. S. Hervorhebung original.

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im konstruktivistischen Gewand auf einen fundamentalen Bruch im Pro-jekt der Architektur-Avantgarde der frühen zwanziger Jahre, der Mies als dringlich genug erschien, eine „klare Trennung der Geister“11 innerhalb der G-Gruppe einzufordern. Andererseits scheint er nicht in der Lage, den vermuteten Bruch an formalen, stilistischen oder programmatischen Merkmalen festzumachen.12

Im Folgenden wird es darum gehen, die von Mies intendierte „Platzbil-dung“ als mögliche Alternative zum funktionalistisch-konstruktivistischen Paradigma zu deuten, der sich mit der Bauhausausstellung ankündigt. Im Begriff der „Platzbildung“ verdichtet sich ein Geflecht von Diskursen, die grundlegend sind für die Entwicklung des architektonischen Denkens von Mies und dies zu einem Zeitpunkt als er, wie er selbst später äußerte, begann „Architektur zu verstehen“.13 Die Entflechtung dieser Diskurse ist die Absicht dieses Artikels.

Zuerst einmal ist es bemerkenswert, dass Mies nicht den konstruktiv-funktionalen Charakter oder die Materialehrlichkeit seiner Bauten betont, sondern den Begriff des „Platzes“ und damit die Frage nach der Rolle des Urbanen in den Mittelpunkt stellt. Abgesehen von seinen Entwürfen für die Weißenhofsiedlung in Stuttgart (1927) und den Wettbewerb für eine Neugestaltung des Alexanderplatzes (1929) erscheint Mies auffallend zu-rückhaltend bezüglich städtebaulicher Fragen. Das ist umso verwunder-licher, wenn man bedenkt, dass gerade im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts in Deutschland intensive Debatten zur Frage der Großstadt geführt wurden, an denen bereits vor dem Ersten Weltkrieg Architek-ten wie Peter Behrens, August Endell und Bruno Möhring teilnahmen.14 Gleichwohl gibt es Hinweise, die deutlich zeigen, dass Mies sich schon früh für Fragen der Stadt interessierte. In seiner Privatbibliothek finden sich zentrale Titel zum Thema Städtebau wie Die einheitliche Blockfront als Raumelement im Städtebau von Walter Curt Behrendt (1911), Der Städtebau nach den Ergebnissen der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin (1911)

11 Mies van der Rohe: Brief an Jakstein (Anm. 9). 12 Zwar drückt Mies in einem späteren Interview seine Enttäuschung über das von Gropius

entworfenen Direktorenzimmer und dessen Umbau des Jenaer Theaters (1922) aus (diese erschienen ihm als rein „dekorativ, wie die Wiener Werkstätten“), doch ist fraglich, ob sich seine negative Reaktion tatsächlich auf einzelne Exponate bezog. Ludwig Mies van der Rohe in einem Interview mit Dirk Lohan. Tonbandaufnahme, CCA (Anm. 9).

13 Ludwig Mies van der Rohe in Peter Blake: A Conversation with Mies, in: Four Great Makers of Modern Architecture: Gropius, Le Corbusier, Mies van der Rohe, Wright, New York 1970, S. 101.

14 Vgl. Jean-Louis Cohen: German Desires of America: Mies’s Urban Visions, in: Terence Riley/Barry Bergdoll (Hgg.): Mies in Berlin, New York 2001, S. 363–71.

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von Werner Hegemann, Platz und Monument von Albert Erich Brinckmann (in der Aus gabe von 1921), Bruno Tauts Auflösung der Städte (1920) als auch die deutsche Übersetzung von Le Corbusiers Urbanisme (1925 im franzö-sischen Original erschienen, 1929 in deutscher Übersetzung).15 Bereits 1910 partizipiert Mies an einer von der Deutschen Gartenstadtgesellschaft organisierten Reise nach London zur International Town Planning Tagung, auf der Teile der von Hegemann organisierten und vorher bereits in Berlin und Düsseldorf präsentierten Allgemeinen Städtebau-Ausstellung gezeigt wurden.16 Im Zeitraum 1911/1912 hält sich Mies mehrmals in der gerade fertiggestellten, ersten deutschen Gartenstadt Dresden-Hellerau auf. Dort besuchte er seine zukünftige Frau Ada Bruhn, die als Tanzschülerin an der Bildungsanstalt für rhythmische Erziehung von Émile Jaques-Dalcroze ein-geschrieben war. Und auch später, besonders durch seine enge Bekannt-schaft mit Hilberseimer, war Mies ohne Zweifel über die städtebaulichen Debatten bestens informiert.

Die Architekturhistoriker Manfredo Tafuri und Francesco Dal Co haben auf die klaren urbanen Bezüge in einigen architektonischen Projekte von Mies hingewiesen. In seinem Hochhaus Friedrichstraße Projekt oder im späteren Seagram Building in New York erkennen sie eine radikal negative Dialektik: Indem die Bauten ihre kritische Distanz zur sie umgebenden Stadt bewahren und sich weder als Projektionsfläche noch als Träger von Bedeutungen eignen, fungieren sie als totale Leerstellen inmitten der Ka-kofonie bedeutungsloser großstädtischer Zeichen und Bilder.17 Der Platz ist folglich nicht mehr im traditionellen Sinne als ein umschlossener Ort im städtischen Gefüge zu verstehen, der seine zentrierende Funktion erlangt, indem er durch seine Offenheit Distanz schafft und sich damit als Projek-tionsfläche zur Einschreibung symbolischer Bedeutungen anbietet. Auch ist ein Platz hier nicht als Repräsentationsraum oder Bühne zu verstehen, auf dem das öffentliche Leben aufgeführt bzw. zur Schau gestellt wird. In der Interpretation von Tafuri und Dal Co schafft Mies stattdessen ein radikales „Void“, das sich gerade nicht als Gegensatz zur mit Bedeutung beladenen, materiellen Stadt versteht. Vielmehr stellen Mies’ Leerstellen

15 Siehe Mies van der Rohe Collection. Special Collections, University of Illinois Chicago, Daley Library.

16 Vgl. Franz Schulze: Mies van der Rohe – A Critical Biography, Chicago 1985, S. 41; Werner Hegemann: Der Städtebau nach den Ergebnissen der Allgemeinen Städtebau-Ausstellung in Berlin, Berlin 1911.

17 Vgl. auch Manfredo Tafuri: The Stage as „Virtual City“: From Fuchs to the Totaltheater, in: The Sphere and the Labyrinth, Cambridge, Mass. 1987, S. 111–12; Michael K. Hays: Critical Architecture: Between Culture and Form, in: Perspecta 21, 1981, S. 14–29.

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die Limitation der von der historischen Avantgarde aufgezwungenen Dia-lektik von Ordnung und Freiheit, Gesetz und Zufall bloß. Gerade im geteilten Bewusstwerden der Unmöglichkeit der Wiederherstellung einer sinnvollen Sprache in einer heillos industrialisierten und technisierten Welt eröffnen sich Möglichkeiten für neue Formen von Gemeinsinn und Öffentlichkeit.18

Mein Aufsatz nimmt die Interpretation von Tafuri und Dal Co als Aus-gangspunkt um zu zeigen, dass es Mies in seinen Projekten gerade um die Möglichkeit eines Durchgangs zu einer neuen Sprache geht. Er verortet das Städtische nicht mehr im klassischen Spannungsfeld zwischen physi-scher Form der Stadt (urbs) und sozialem Raum (civitas). Vielmehr verweist

„Platzbildung“ auf ein Verständnis von Architektur als ein dynamisches, mit den Mitteln der formalen Analyse und Repräsentation nicht greifbares Dis-positiv, das die Möglichkeit des Entstehens neuer Formen von Öffentlichkeit durch unerwartete Interferenzen von Menschen und Dingen eröffnet. Ar-chitektur erscheint nicht als Mittel, um die dynamischen Prozesse der mo-dernen technisierten Welt zu beherrschen oder zu organisieren, sondern sie hilft, eine „neue Ordnung“ zu bauen, wie Mies 1928 notierte, und zwar eine Ordnung, „die dem Leben freien Spielraum zu seiner Entfaltung läßt.“19

Montage der Erscheinungen

Die besondere Rolle, die Gropius den Modellen von Mies für die Bauhaus-Ausstellung zugewiesen hatte, erschließt sich aus der einzigen existieren-den fotografischen Aufnahme, auf der die von Mies intendierte „Platzbil-dung“ sichtbar wird (Abb. 1). Besucher, welche die im ersten Obergeschoss des Kunstschulgebäudes stattfindende Architekturausstellung besuchten, wurden am Treppenansatz von zwei Ensembles aus Modellen und Zeich-nungen empfangen. Auf der einen Seite erkennt man, auf einem Brett platziert, die Modelle von Mies für ein Bürohaus und das Glashochhaus. Auf dem Bild nicht zu erkennen ist die von Mies in seinem Brief an Gropius er-wähnte Fotografie seines Landhauses in Eisenbeton. Auf der anderen Seite flankiert das Hochhausmodell für den Chicago Tribune Wettbewerb (1922) von Gropius und Adolf Meyer den Eingang zur Ausstellung. Augenscheinlich sollte die Gegenüberstellung der beiden vertikalen Modelle den Besucher

18 Manfredo Tafuri/Francesco Dal Co: Modern Architecture, Vol. 1, London 1986, S. 130–34.19 Mies van der Rohe: Die Voraussetzungen baukünstlerischen Schaffens [1928], in: Fritz

Neumeyer: Mies van der Rohe. Das kunstlose Wort, Berlin 1986, S. 365.

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programmatisch auf die Ausstellung einstimmen. Ob sich die Entrüstung von Mies über den „wüsten konstruktivistischen Formalismus“ auf die von Gropius implizierte Affinität der beiden Hochhausmodelle bezieht, ist nicht nachzuweisen, erscheint jedoch nahe liegend. Vergleicht man jedoch die beiden Modelle, die Skelettbauten darstellen, so zeigen sich elementare Unterschiede: Während das filigrane Glasmodell von Mies seinen konstruk-tiven Kern sichtbar macht, ähnelt das rechteckige Gipsmodell des Chicago Tribune Towers einer geschlossenen Plastik, das weder den konstruktiven noch den materiellen Charakter des Gebäudes widerspiegelt.

Das Nebeneinander der Projekte von Gropius und Mies als Essenz der gesamten Ausstellung wiederholt sich in einer 1923 von der Firma Continen-tal Photo angefertigten Fotomontage, die sehr wahrscheinlich von Gropius selbst in Auftrag gegeben wurde (Abb. 2).20 Das Bild kombiniert Aufnahmen von fünf auf der Ausstellung gezeigten Modellen. Im Vordergrund erkennt man einen Teilausschnitt des Bürohaus-Modells, dahinter die nach dem Prinzip des Baukastensystems entworfenen Siedlungshäuser von Gropius und Fréd Forbát (1922), das ebenfalls von Gropius entworfene Bürogebäu-de des Sommerfeldkonzerns (1922) und dahinter vor weißem Hintergrund

20 Siehe Klaus-Jürgen Winkler: Bauhaus-Alben 4, Weimar 2009, S. 58.

Abb. 1: Ausstellung Internationale Architektur, Bauhausausstellung, Weimar, 1923, Fotografie.

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die Modelle des Chicago Tribune Towers und des Glashochhauses. Im Stil der von Paul Citroen zur gleichen Zeit produzierten Großstadtmontagen stellt das Bild die moderne Metropole als Durcheinander architektonischer Formen dar. Die Fotomontage scheint jenen Eindruck erwecken zu wollen, den Georg Simmel in seinem Aufsatz über „Die Großstädte und das Geis-tesleben“ als die „rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder“ und als „die Unerwartetheit sich aufdrängender Impressionen“ beschreibt.21

Dagegen präsentiert Mies mit dem Nebeneinander von Glashochhaus und Bürohaus eine klar gegliederte, kalkulierte Komposition von Objekten, Materialien und Farben. Das Großstädtische erscheint bei Mies gerade nicht als Kakophonie der Formen und Stile, die Sinne und Verstand überwältigen,

21 Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, in: ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, H. 1, Frankfurt a. M. 1995, S. 117.

Abb. 2: Modelle der Architekturausstellung Weimar 1923, Fotomontage.

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sondern als orchestriertes Spiel von Kontrasten auf unterschiedlichen Ebenen: auf Ebene der Form zwischen der Betonung der horizontalen Schichtung des Bürohauses mit seinem rechteckigen Grundriss und der vertikalen Ordnung des Hochhauses mit seinem organisch geschwungenen Grundriss; auf der Ebene des Materials zwischen der Solidität des Eisen-betons und der Leichtigkeit der Glashaut; auf der Ebene der Wahrnehmung zwischen dem dunklen, geschlossen Büroblock und der ephemeren Offen-heit des kristallenen Turms.

Gleichzeitig entpuppt sich diese offenbar eindeutige Dialektik als kom-plexes Spiel von Widersprüchen. Der scheinbar rechtwinklige Bürohaus-Quader erscheint bei genauerer Betrachtung als ein umgedrehter Pyra-midenstumpf; die horizontale Schichtung flächiger Brüstungsstreifen wird unterbrochen von dematerialisierenden Fensterbändern, auf denen sich eine starke Lichtquelle als Reflektion bricht (möglicherweise das Blitzlicht des Fotografen) – ein Effekt, der dem scheinbar massigen Baukörper eine ungeahnte Schwerelosigkeit verleiht. Auf der Schwarz-Weiß-Aufnahme ist zudem nicht erkennbar, dass das aus Holz gefertigte Modell nicht grau bzw. schwarz, sondern rot lackiert war. Das Glashochhaus wiederum erscheint durch die Betonung der Geschossschichten erstaunlicherweise horizontal gegliedert. Die einzigen Elemente, die die Vertikale betonen, sind die im In-nern des Gebäudes als schwarze Linie sichtbaren Stützen. Auch mutet der

Abb. 3: Ausstellung Internationale Architektur, Bauhausausstellung, Weimar, Detail, 1923, Fotografie.

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Glasturm durch das von Mies intendierte „reiche Spiel von Lichtreflexen“22 auf der geschwungenen Vorhangfassade weniger transparent an, als auf dem ersten Blick angenommen.

Dieses Spiel mit einem mehrdeutig-instabilen Erscheinungsbild war zu dieser Zeit ein zentrales Anliegen seiner Entwürfe. Mies experimentierte mit dem Verhalten der verschiedenen Materialien und Konstruktionen un-ter wechselnden Lichtbedingungen und in unterschiedlichen Medienfor-maten. Beispielsweise zeigt eine 1922 in Bruno Tauts Zeitschrift Frühlicht veröffentlichte Fotografie das Glashochhaus-Modell „von unten gesehen“ als opak-schwarzen Monolithen, der sich radikal vom hell-transparenten Baukörper unterscheidet, der auf der Aufnahme der Weimarer Ausstellung zu sehen ist (Abb. 3). Paradoxerweise ähnelt das schwarze Hochhausmodell – besonders wenn man das Bild um 90° dreht – dem dunklen Bürohaus. Dieses Spiel mit kontingenten Erscheinungsformen setzt sich fort in den unterschiedlichen Darstellungen des Bürohauses: Auf der berühmten Koh-lezeichnung, die als Illustration neben dem „Bürohaus“ Artikel in der ersten Ausgabe von G veröffentlicht ist, erscheint das Bürohaus gerade nicht als dunkel geschlossener Block, sondern als hell strahlender Baukörper, der sich von der finsteren, amorphen Stadtsilhouette abhebt (Abb. 4).23

Die Gestaltung von instabilen Kontrast-Analogien als wiederkehrendes

22 Mies van der Rohe 1922 (Anm. 1), S. 124.23 Ebd.

Abb. 4: Ludwig Mies van der Rohe, Bürohaus, 1923, Kohle und Crayon, Museum of Modern Art, New York.

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formales Prinzip der Zeichnungen, Fotomontagen und Modelle, die Mies in den frühen zwanziger Jahren anfertigt, unterscheidet sich grundsätzlich von der visuellen Rhetorik seiner früheren Fotomontagen wie z. B. sein Pro-jekt für das Bismarckdenkmal (1910). Hier geht es darum, die projektierten Bauten in eine möglichst realistische Abbildwirklichkeit zu integrieren, die vom Standpunkt eines virtuellen Betrachters ausgeht. Ein Jahrzehnt später ändert Mies die visuelle Rhetorik seiner Bilder. Anstelle eines Höchstmaßes an Realismus geht es ihm um die Erzeugung von Spannungsverhältnissen im Bild: zwischen alt und neu, hell und dunkel, groß und klein, horizontal und vertikal. In seinen großformatigen Kohlezeichnungen des Hochhau-ses Friedrichstraße (1921) und des Bürohauses (1923) bilden die strahlend hellen Mies’schen Bauten einen Kontrast mit den dunklen Silhouetten der historischen Häuserfassaden. Für die Titelblattzeichnung der dritten Aus-gabe von G wiederholt Mies dieses Motiv: Schematisch-abstrakt hebt sich das in die Höhe schießende Turmhaus, das hier als rechteckiges Feld aus

Abb. 5: Ludwig Mies van der Rohe, Titelblatt G: Zeitschrift für elementare Gestaltung, 1924, H. 3.

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parallelen Streifen erscheint, von der schwarzen Silhouette eines kleinen, konventionellen Hauses ab (Abb. 5).

Auch seine Modelle zeigt Mies in Verbindung mit Darstellungen traditio-neller Häusertypen. Auf der Aufnahme, welche die „Platzbildung“ in Weimar zeigt, erkennt man zwischen Bürohaus und Glashochhaus ein weiteres drei-dimensionales Exponat. Hierbei handelt es sich um ein Gipsrelief, das eine Straßenfront generischer, mehrgeschossiger Berliner Gründerzeitgebäude darstellt. Interessanterweise war dieses Relief keineswegs als eine rein de-korative Beigabe gedacht. In seinem Brief an Gropius 1923 beschrieb Mies es als essentiellen Bestandteil seiner Ensembles. Es taucht auf verschie-denen fotografischen Aufnahmen des Glashochhaus-Modells auf (Abb. 6).

Bei dem Gipsrelief handelt es sich um eine Auftragsarbeit, die Mies von Oswald Herzog, einem expressionistischen Künstler aus dem Umkreis der Novembergruppe und des Arbeitsrats für Kunst, hat anfertigen lassen.24

24 Zu Herzog vgl. Spyros Papapetros: Malicious Houses: Animation, Animism, Animosity in German Architecture and Film – from Mies to Murnau, in: Grey Room, 2005, H. 20, S. 23–27.

Abb. 6: Ludwig Mies van der Rohe, Glashoch-haus Modell, 1922.

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Werner Graeff, Mitbegründer von G und eine Zeit lang Angestellter von Mies, erinnerte sich später, dass Mies immer um die Schaffung von Kontrasten bemüht war. Es sei seine Intention gewesen, die traditionelle Bebauung der Friedrichstraße nicht detailgetreu darzustellen, sondern so, dass die grundsätzlichen formalen Merkmale betont würden. Graeff zufolge sei es Mies darum gegangen, gerade nicht mit Bezug auf den existierenden räumlichen Kontext zu entwerfen. Die Bauten, so Mies, seien in Wirklichkeit immer umgeben von Objekten, die „ganz anders“ seien.25

Herzogs Gipsminiatur unterstreicht dieses „ganz anders“, indem sie einen formalen und materiellen Kontrast zu den Haut- und Knochenbauten von Mies bildet. Doch wäre es irreführend, aus dieser vorsätzlichen Kolli-sion von Alt und Neu auf eine lineare Geschichtslogik zu schließen. Herzogs Relief oder die gezeichneten, meist ins konturlose Schwarz abgleitenden Silhouetten des gründerzeitlichen Berlins sind nicht als Vorgänger einer zukünftigen Architektur, sondern vielmehr als Ruinen zu verstehen: Ruinen sowohl einer unzeitgemäßen Architektur als auch einer obsoleten urbanen Wahrnehmung. Im Gegensatz zu den urbanen Tabula rasa Visionen Le Corbusiers oder Hilberseimers, in denen die historische Stadt aus dem Bild verschwunden ist, betonen bei Mies gerade die im Bild verbliebenen

„Ruinen“ der verbliebenen Stadt die Möglichkeit einer potentiell revolutio-nären „Jetztzeit“.26 Anstatt als Kontrast die Neuartigkeit des Bürohauses zu akzentuieren, „beunruhigen“ die schemenhaften aber gleichzeitig vertrau-ten Gebäude den Betrachter und fordern ihn auf, „einen bestimmten Weg“ zu gehen.27 Und es ist die Zeitschrift, die als „Wegweiser“ fungiert und dem erwachenden Betrachter ermöglicht, sich im neuen Raum zu orientieren.

25 „Ja ich weiß noch, Mies sagte: ‚Ja, die meisten machen da Entwürfe und die anschließenden Bauten, die passen auch zu ihren.ʻ Und das will er nicht. Denn in Wirklichkeit, wenn man was zu bauen hätte, steht es zwischen Zeug, das ganz anders ist.“ Werner Graeff, im Interview mit Werner Glaeser, 17. September 1972, Tonbandaufnahme, Mies van der Rohe Research Papers, CCA (Anm. 9)

26 Walter Benjamin bezeichnet mit dem Begriff der „Jetztzeit“ „jene Gegenwart des histori-schen Subjekts, die in der revolutionären Unterbrechung der Geschichte als einer bloßen Linearität von Ereignissen auf eine mit ihr objektiv korrespondierende Vorzeit zurückgreift und diese als Antizipation ihres eigenen Zustands entziffert.“ Heinrich Kaulen: Rettung und Destruktion. Untersuchungen zur Hermeneutik Walter Benjamins, Tübingen 1987, S. 233.

27 Ich beziehe mich hier mit meiner Formulierung direkt auf Benjamins Versuch, die ge-schichtliche Bedeutung der Fotografie herauszuarbeiten: „Die photographischen Aufnahmen beginnen bei Atget, Beweisstücke im historischen Prozeß zu werden. Das macht ihre ver-borgene politische Bedeutung aus, Sie fordern schon eine Rezeption in bestimmtem Sinne. Ihnen ist die freischwebende Kontemplation nicht mehr angemessen. Sie beunruhigen den Betrachter; er fühlt: zu ihnen muß er einen bestimmten Weg suchen. Wegweiser beginnen ihm gleichzeitig die illustrierten Zeitungen aufzustellen.“ Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders.: Gesammelte Schriften 1.2, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1972, S. 485.

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„Geschichte ist das, was heute geschieht“ schrieb Hans Richter in der letzten Ausgabe von G und betonte damit die grundsätzliche Einsicht der G-Gruppe, dass Geschichte nicht als lineare Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart zu verstehen sei, sondern dass sich die Vergangenheit erst

„aus dem tiefen und bejahenden Begreifen des Heute“ erschließt.28 Mies war überzeugt, dass seine eigene Gegenwart „grundverschieden“ von vergan-genen Epochen sei. Gegen den „Mangel an historischem Sinn“ und gegen den Glauben an den „ewigen Wert“ der Baukunst stellt Mies eine vitalisti-sche Definition der Geschichte, die auf der Kontingenz des Lebens gründet:

„Man verkennt die wirklichen Zusammenhänge der Dinge, sowohl in Be-zug auf das Neue als auch in Bezug auf das Alte. Alles, was bisher wur-de, war eng verbunden mit dem Leben, aus dem es hervorwuchs, und ein Wandel der Dinge setzt immer einen Wandel des Lebens voraus.“29

Mies geht es letztendlich nicht um die Form, sondern um die Orchestration eines endlos wandelnden Spiels von Differenzen, die in sich instabil und unauflöslich bleiben. Das wird besonders deutlich, wenn er im Medium Fotografie arbeitet. Für die Fotomontagen des Hochhausprojektes Fried-richstraße greift er auf eine Reihe von technischen Verfahren zurück, die der Fähigkeit des fotografischen Apparates entgegen wirken, eine präzise Abbildrealität zu produzieren. Er dunkelt die im Bild sichtbaren traditionel-len Häuserfassaden nach, sodass sich einerseits der starke Kontrast mit dem hellen Glaskörper des Hochhauses verstärkt, andererseits die archi-tektonischen Details an Sichtbarkeit verlieren (Abb. 7). Auch verwendet er bewusst Langzeitaufnahmen der belebten Friedrichstraße, auf denen menschliche Figuren als verwischte Schatten dargestellt sind – ein ge-spenstischer Effekt, der sich auch auf Fotografien aus dem 19. Jahrhundert beobachten lässt, als die chemo-technischen Voraussetzungen noch keine schnellen Belichtungszeiten zuließen. Da in den frühen zwanziger Jah-ren der technische Entwicklungsstand der Fotografie jedoch längst soweit fortgeschritten war, dass „die Erscheinungen spiegelhaft“30 aufgezeichnet werden konnten, handelt es sich hier um eine bewusste Entscheidung von Mies, seine Entwürfe in verwischte und verdunkelte Fotografien zu

28 G [Hans Richter]: Geschichte ist das, was heute geschieht, in G: Zeitschrift für elementare Gestaltung, 1926, H. 5/6, o.S.

29 Ludwig Mies van der Rohe: Vortrag, Ort, Datum und Anlass unbekannt, unveröffentlichtes Manuskript vom 17. März 1926, in: Neumeyer 1986 (Anm. 19), S. 311.

30 Walter Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie, in: ders. 1972, (Anm. 27) S. 376–77.

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montieren. Der Unterschied wird deutlich, wenn man beispielsweise die 1927 von Heinz Hajek-Halke produzierte Fotomontage betrachtet (Abb. 8), in der das Glashochhaus von Mies aus der 1922 in Bruno Tauts Frühlicht veröffentlichten Aufnahme ausgeschnitten und in eine belebte Straßen-szene montiert wurde, in der Automobile und Passanten klar konturiert zu erkennen sind.31

Nun könnte man diese vorsätzliche Missachtung technischen Fortschritts als die Vortäuschung einer falschen Aura interpretieren, d. h. die Wiederho-lung jener fotografischen Mode nach 1880, die nachträglich mittels Retusche

„schummrige Töne“ und „künstliche Reflexe“ ins eigentlich klar detaillierte Bild setzte.32 Stattdessen deutet die Einschreibung von Bewegung und Zeit in den Fotomontagen von Mies eher auf ein alternatives Verständnis modernen

31 Das Bild erschien 1927 auf dem Innentitel des populärwissenschaftlichen Magazins Wissen und Fortschritt. Es kündigte den Artikel von einem gewissen Dr. Kurt Dieth zum Thema

„Glasarchitektur, eine verwirklichte Utopie“ an.32 Benjamin 1972 (Anm. 27), S. 377.

Abb. 7: Ludwig Mies van der Rohe, Ideenwettbewerb Hochhaus am Bahnhof Friedrich-straße, 1922, Fotomontage, Bauhaus-Archiv Berlin.

85Platzbildung bei Mies van der Rohe

Wissens, das gerade nicht auf der Verfügbarkeit der Objektwelt für den ana-lytischen Blick des handelnden Subjektes basiert. Seine Bilder und Bauten tragen eben nicht zur „Entschälung der Gegenwart“ bei, so Walter Benjamin, sondern wirken vielmehr als Schleier, welche die Dingwelt vor dem empi-risch-objektivierenden Blick schützen. Zugleich verhindert Mies, indem er gegen die Präsentation seiner Architektur als exaktes „Abbild“ arbeitet, die von Benjamin evozierte Möglichkeit einer „heilsamen Entfremdung zwischen Umwelt und Mensch“, die z. B. in den detaillierten Stadtaufnahmen Eugène Atgets und später in der surrealistischen Fotografie zutage tritt. Gerade diese Erfahrung der Entfremdung, so Benjamin, würde dem Betrachter eine bislang unentdeckte Realität des „Optisch-Unbewussten“ vor Augen führen und dem „politisch geschulten Blick das Feld“ freimachen.33

Für Mies sind die fotografischen Bildmedien weder Werkzeuge, die dem rational-empirischen Blick die Objektivierung der Welt erleichtern,

33 Ebd., S. 371, 379.

Abb. 8: Heinz Hajek-Halke, Innentitel der Zeitschrift Wissen und Fortschritt, 1927, H. 1, Fotomontage

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noch eröffnen diese den Blick auf ein alternatives, bislang „ungesichtetes Naturfundament“.34 Bildmedien sind für ihn nicht unbedingt Mittel der Re-präsentation, sondern technische Dispositive zur Schaffung von Präsenz, die es dem modernen Subjekt erlauben, „eine Sequenz von Momenten so zu gestalten, daß diese ein hohes Maß an Kontingenz zuläßt.“35

G – Gestaltung – Film

Ein Schlüssel zum besseren Verständnis von Mies’ „Platzbildungen“ findet sich in den Diskursen in und um die Zeitschrift G: Material zur elementaren Gestaltung, deren erste Ausgabe im Juli 1923 und damit mehr oder weniger zeitgleich mit der Bauhausausstellung publiziert wurde. Die Zeitschrift war für Mies nicht bloß ein Vehikel zur Verbreitung bereits vorgefasster theore-tischen Ideen. Vielmehr war Mies als ein „Hauptmitarbeiter“36 aktiv an der Entwicklung und Ausrichtung von G beteiligt. Zudem weist vieles darauf hin, dass der Kontakt mit der G-Gruppe, jener heterogenen Mischung aus ehe-maligen Dadaisten und Expressionisten samt Vertretern des sowjetischen Konstruktivismus und des holländischen De Stijl, einen entscheidenden Einfluss auf das Denken von Mies hatte.

Auf den ersten Blick erscheint G als „konstruktivistische Zeitschrift“.37 Jedoch fehlt ihr im Gegensatz zu anderen Avantgarde Publikationen wie beispielsweise der fast zeitgleich von El Lissitzky und Ilja Ehrenberg he-rausgegebenen Zeitschrift Veshch-Gegenstand-Objet eine klar definierte programmatische Agenda. G war weniger ein Medium für die Durchsetzung ideologischer Ziele; vielmehr spiegeln gerade die ersten drei Ausgaben, die zwischen Juli 1923 und Juni 1924 erschienen, die Interferenzen verschie-dener, scheinbar konkurrierender intellektueller und künstlerischer Strö-mungen, die im Berlin der frühen zwanziger Jahre aufeinander trafen. Hier finden sich Artikel von Ex-Dadaisten wie Hans Richter und Raoul Hausmann, vom sowjetischen Konstruktivisten El Lissitzky und vom Protagonisten der

34 Vgl. Siegfried Kracauer: Photographie, in: Das Ornament der Masse, Frankfurt a.M. 1963, S. 38.

35 Jean-François Lyotard: Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 1989, S. 83–84.36 Vgl. Hans Richter: Begegnungen von Dada bis heute, Köln 1973, S. 54. Siehe auch Raoul

Hausmann: More on Group ʻGʼ, Art Journal 24, 1965, H. 4, S. 350–52. Zum engeren Kreis der Mitarbeiter zählten Hans Richter, Theo van Doesburg, Werner Graeff und El Lissitzky.

37 Wolf Tegethoff: From Obscurity to Maturity: Mies van der Rohe’s Breakthrough to Modernism, in: Franz Schulze (Hg.): Mies van der Rohe. Critical Essays, New York 1989, S. 42.

87Platzbildung bei Mies van der Rohe

De Stijl Bewegung Theo van Doesburg. Was diese heterogene Gruppe ver-band, die aus so unterschiedlichen Künstlern und Intellektuellen wie Mies, Richter, Graeff, Hausmann, El Lissitzky, van Doesburg, Friedrich Kiesler, Georg Grosz, Adolf Behne und Hans Prinzhorn bestand, war die geteilte Überzeugung der Notwendigkeit „neue Neigungen und Bedürfnisse“ und

„neues Leben“ durch eine neue, affirmative Haltung gegenüber der moder-nen Technik zu schaffen.38

Von den in G behandelten Themen wie Architektur, Malerei, Mode, In-dustriedesign, Fotografie und Städtebau spielt vor allem der Film eine zentrale Rolle.39 Schon in der ersten, gerade mal vierseitigen Ausgabe sticht das Thema des bewegten Bilds visuell und inhaltlich hervor (Abb. 9).

38 Hans Richter/Werner Graeff: Ewige Wahrheiten, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1923, H. 1, o.S.

39 Tatsächlich scheint G als Ersatz für ein nicht verwirklichtes Filmprojekt entstanden zu sein. Richter und der schwedische Künstler Viking Eggeling experimentierten seit 1920 mit abstrakten Filmen, kämpften jedoch aufgrund ihrer fehlenden Kompetenzen mit technischen Schwierigkeiten. Auf Anraten von van Doesburg investierten Richter und Eggeling das wenige zur Verfügung stehende Geld in die Gründung der Zeitschrift G. Vgl. Richter 1973 (Anm. 36), S. 189.

Abb. 9: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1923, H. 1, Doppelseite Innen.

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Der „Bürohaus“ Artikel von Mies ist umgeben von zwei Beiträgen, die sich dezidiert mit dem Film beschäftigen. Illustriert mit einem perforierten Filmstreifen diskutiert Hausmann den „optophonetischen Film“ und die Möglichkeit, mittels des Films „über das Zufällige zu einer neuen Form-verbindlichkeit zu gelangen.“40 In Richters Beitrag geht es wiederum um die Suche nach einer neuen Formsprache durch den Film. Begleitet von der schematischen Darstellung eines perforierten Filmstreifens, der über die Länge der doppelten Innenseite die Entwicklung des Zusammenspiels abstrakter Rechtecke veranschaulicht, präsentiert Richter in kurzen Wor-ten eine radikale Neudefinition des Films:

„Der Film ist ein Spiel von Lichtverhältnissen. […] Die auftretenden ‚Formen‘ sind de facto Begrenzungen von Vorgängen in verschiedenen Dimensionen (oder von Dimensionen in verschiedener Zeitfolge). Die Linie dient zur Begrenzung bei Flächenvorgängen (als Material der Flächenbegrenzung), die Fläche als Begrenzung bei Raumvorgängen. und ––– sind HilfsmittelDas eigentliche Konstruktionsmittel ist das Licht, dessen Intensität und Menge. […] Der einzelne sinnliche Gehalt der Fläche etc. – die ‚Form‘ (ob abstrakt oder natürlich) – ist vermieden. Die auftretenden Formen sind weder Analogien noch Symbole, noch Schönheitsmittel. Der Film vermittelt in seinem Ablauf (Vorführung) ganz eigentlich die Spannungs- und Kontrastverhältnisse des Lichts. […] Es wird versucht, den Film so zu organisieren, daß die einzelnen Teile untereinander und zum Ganzen in aktiver Spannung stehen, sodaß das Ganze in sich geistig beweglich bleibt.“41

Das Wesen des Films liegt weder in seiner Fähigkeit, die Wirklichkeit lebensnah aufzunehmen und wiederzugeben, noch ein illusionistisch-fiktives Spektakel zu produzieren. Die aufblitzenden, sich überlagernden Rechtecke und Linien in Richters Filmen sind nicht als figurative oder ab-strakte Formen zu verstehen, die Bedeutungen transportieren, sich auf eine profilmische Realität beziehen oder das ästhetische Empfinden des Zuschauers reizen. Vielmehr verweisen die sichtbaren Gebilde auf ein ir-reduzibles „Ganzes“, das nicht als Standbild dargestellt werden kann. Film

40 Raoul Hausmann: Vom sprechenden Film zur Optophonetik, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1923, H. 1, o.S.

41 Hans Richter: Demonstration des Materials, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1923, H. 1, o.S. Hervorhebungen original.

89Platzbildung bei Mies van der Rohe

ist für Richter ein spannungsgeladener „Vorgang“, der nicht kontemplativ oder analytisch ‚gelesen‘, sondern körperlich und in der Dauer erlebt wird.

Richters Beitrag ist als Resümee jener filmischen Experimente zu verstehen, mit denen er und der schwedische Künstler Viking Eggeling sich seit 1918 beschäftigt hatten. Mittels sequentieller Zeichnungen und Rollenbilder, später auch mithilfe kinematografischer Aufnahmen, arbei-teten beide intensiv an einer neuen „universellen Sprache“.42 Dem Modell musikalischer Komposition folgend schufen sie eine Syntax kontrastie-render elementarer Formen, die weder symbolische noch mimetische Verweise auf die Wirklichkeit erlauben, noch als universelle geometri-sche Formen zu verstehen sind. Beispielsweise stellen Richters Fugue (1920) und Eggelings Drei Momente des Horizontal-Vertikalorchesters (1921, Abb. 10) „Hauptmomente von Vorgängen dar, die in Bewegung gedacht sind.“43 Jedoch erst mit Hilfe der kinematografischen Apparatur wurde es möglich, die Bildserien in der Zeit erlebbar zu machen. Die fertig gestell-ten „absoluten Filme“ – Richters Rhythmus 21 (1921) und Eggelings Diago-nal Symphonie (1924) – veranschaulichen diese neue Sprache. Bedeutung wird hier nicht mehr mittels isolierter Objekte oder Zeichen transportiert,

42 Richter und Eggeling verfassten 1920 ein achtseitiges, heute verschollenes Pamphlet mit dem Titel „Universelle Sprache“. Die Grundthesen dieser Schrift, die als konzeptuelle Vorla-ge für G gelten kann, wurden ein Jahr später von Richter als „Prinzipielles zur Bewegungs-kunst“ in De Stijl publiziert. Zur „Universellen Sprache“ vgl. Eva Wolf: Von der universellen zur poetischen Sprache, in: Hans Richter (Hg.): Malerei und Film, Frankfurt a.M. 1989, S. 16–23; Malcolm Turvey: Dada Between Heaven and Hell: Abstraction and Universal Language in the Rhythm Films of Hans Richter, in: October, 2003, H. 105, S. 13–36; Bruce R. Elder: Hans Richter and Viking Eggeling. The Dream of Universal Language and the Birth of the Absolute Film, in: Alexander Graf/Dietrich Scheunemann (Hgg.): Avant-Garde Film, Amsterdam 2007, S. 3–53.

43 Hans Richter: Prinzipielles zur Bewegungskunst, in: De Stijl IV, 1921, H. 7, S. 109.

Abb. 10: Viking Eggeling, Drei Momente des Horizontal-Vertikalorchesters, in: De Stijl 5, 1921, H. 7.

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sondern im Spiel der sich in der Zeit entwickelnden Kontrastbeziehungen zwischen den sich wandelnden Dingen produziert. Das Ziel ist dabei nicht die Aufhebung der formalen Kontraste, sondern die Organisation und die Aufrechterhaltung der Spannung zwischen den Elementen, damit „das Ganze geistig beweglich“ bleibt. Rhythmisch organisierte Polarität wird von Richter und Eggeling zu einem „generellen Lebensprinzip“, eine neue Form filmischen Denkens, das „Eindeutigkeit im Vielfältigen“ ermöglicht.44 Indem der Film der Logik der Repräsentation widerspricht, signalisiert er einen grundsätzlichen epistemischen Bruch, der auch in den anderen in G behandelten Disziplinen zutage tritt.45 Film bleibt jedoch das Leitmedium, wie Hausmann bereits 1921 unterstrich: „Unsere Kunst ist schon heute der Film! Zugleich Vorgang, Plastik und Bild! Unübertrefflich!“46 Ähnliche Ansätze für eine dynamisch-relationale Dingwelt finden sich in anderen Texten der ersten Ausgabe von G: El Lissitzky spricht vom „Gleichgewicht“ in seinem Prounenraum, das „beweglich und elementar“ sein müsse; van Doesburg plädiert für eine „neue Gestaltung“, die aus den „elementaren Mitteln“ erwachse; Graeff beschreibt „die neue großartigere Technik der Spannungen, der unsichtbaren Bewegungen“.47

Besonders zu unterstreichen ist die Rolle von Adolf Behne, der diese grundlegenden Begriffe und Konzepte in seinem Versuch des Theoreti-sierens der modernen Architektur einfließen lässt. In seinem 1923 fertig gestellten Buch Der moderne Zweckbau bezeichnet er Architektur als eine

„gestaltete Wirklichkeit“, welche die ehemals bestehende statische Ordnung durch ein „neues, kühneres, in weiten Spannungen ausbalanciertes und labiles Gleichgewicht, das unserem Wesen besser entspricht (Polarität)“ ersetzt.48 Im Gegensatz zu den Funktionalisten, die Architektur in einem zweckrationalen Sinn als Werkzeug benutzen, bauen die von Behne ge-priesenen Rationalisten Spielräume für die Entfaltung des eigenen Willens

44 Ebd. S. 110.45 Richter betrachtet den Film als Erziehungsinstrument für die menschliche Psyche, die mit

einer „gewissen,Denkfähigkeitʻ“ ausgestattet sei, die aber brach liege. „Diese Denkfähigkeit gibt der Seele Machtmittel: Urteilskraft und Aktivität, d. h. Eigenschaften, die dem gan-zen Menschen in seinem Handeln zugute kommen und für seine allgemeine Orientierung unentbehrlich sind.“ Vgl. Hans Richter: Die schlecht trainierte Seele, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1924, H. 3, o.S.

46 Raoul Hausmann: PRÉsentismus: gegen den Puffkeismus der teutschen Seele, in: De Stijl IV, 1922, H. 9, S. 138.

47 El Lissitzky: Prounenraum, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1923, H. 1, o.S.; Theo van Doesburg: Zur elementaren Gestaltung, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1923, H. 1, o.S; Werner Graeff: Es kommt der neue Ingenier, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1923, H. 1, o.S.

48 Adolf Behne: Der moderne Zweckbau, Frankfurt a. M. 1964 (Originalausgabe 1926), S. 41.

91Platzbildung bei Mies van der Rohe

und zur „Selbstbesinnung.“49 Auch Behne zeigt eine affirmative Haltung der Technik gegenüber, doch macht er eine klare Unterscheidung zur rein rational-funktionalistischen Architektur, indem er den Begriff der „Gestalt“ als „das wirkliche Sein“ voraussetzt.50 Das gestaltende Subjekt öffnet Spiel-räume, nicht indem es einzelne Objekte schafft, sondern indem es die

„Dinge zueinander im Verhältnis“ betrachtet.51 Bezogen auf die Architektur bedeutet das für Behne, dass diese erst als „lebendige, konkrete ‚Gestalt‘“52 wirken kann, wenn sie in den Kontext der Bewegungen und Rhythmen des urbanen Raumes gesetzt wird. Folgt man Behnes Argumentation, die er in seinem in G publizierten Artikel „Über Städtebau“ entwickelt, so ist die Gestaltung des urbanen Raumes – genau wie für Richter der Film – eine übergreifende, universelle Praxis: „Alle Disziplinen elementarer Gestaltung münden in den Bau der neuen Stadt.“ 53

Inmitten dieser Diskurse finden sich die ersten Versuche von Mies, Ar-chitektur im Sinne einer elementaren Gestaltung zu fassen. Dabei sind die begrifflichen Parallelen mit Richter offensichtlich: Film als „Spiel von Lichtverhältnissen“ ist fast identisch mit der Absicht von Mies, mit seinem Glashochhaus „ein reiches Spiel von Lichtreflexen“ zu erzeugen, wie er in seinem 1922 in Frühlicht erschienen Artikel schreibt.54 Das vitalistische Grundargument Film als zeitbasierte Bewegungskunst zu verstehen findet sich auch in der Forderung nach einer Architektur wieder, die „Lebendig. Wechselnd. Neu.“55 sei, wie Mies es in seinem Artikel „Bürohaus“ formuliert. In diesem Sinne erscheinen die Bauten von Mies – genau wie die Rechtecke und Linien („ und –––“) in Richters Filmen – als „Hilfsmittel“, die lebendige Prozesse begrenzen und nur in der Zeit erfahren werden können.

49 Ebd., S. 55–59.50 Ausdrücklich zitiert Behne Denker wie Paul Tillich, Kurt Riezler und Salomo Friedlaender. In

Der moderne Zweckbau zitiert er z. B. aus Tillichs System der Wissenschaften nach Gegenstän-den und Methoden (1923) den Satz: „Gestalt ist eigentlich das Konkrete, das wirkliche Sein.“ (Behne 1926 [Anm. 48], S. 65). Auch bei Riezler erscheint „Gestalt“ als Schlüsselbegriff, nicht nur für den Bereich des künstlerischen Schaffens, sondern auch für sein politisches Denken um Bereiche wie Geschichte, Nation und Staat (Kurt Riezler: Gestalt und Gesetz, München 1924). Der expressionistische Autor Friedlaender, der schon früh die anthropozentrische Haltung kritisierte und stattdessen den Mensch als Teil der Dingwelt sah, identifizierte Differenz als grundsätzliches Merkmal aller Phänomene. Hier sei angemerkt, dass Fried-laender mit verschiedenen Bekannten von Mies verkehrte (Hannah Höch, Raoul Hausmann, Ludwig Hilberseimer, Viking Eggeling) und seit seinem Artikel „Präsentismus: Rede des Erdkaisers an die Menschen“ (1913) Einfluss auf die spätere Dada Bewegung hatte (Salomo Friedlaender: Schöpferische Indifferenz, München 1918).

51 Adolf Behne: Über Städtebau, in: G: Material zur elementaren Gestaltung, 1923, H. 2, o.S.52 Behne 1926 (Anm. 48), S. 67.53 Ebd.54 Mies van der Rohe 1922 (Anm. 1), S. 124.55 Mies van der Rohe: Bürohaus 1923 (Anm. 1).

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Alexanderplatz: Spielraum für neue urbane Lebensformen

In seinen Arbeiten aus den zwanziger Jahren finden sich lediglich zwei dezidiert städtebauliche Projekte. Zum einen entwirft Mies den Masterplan für die Weißenhofsiedlung als ein in sich geschlossenes, rhythmisches Gefüge von ineinander greifenden, unterschiedlich großen Kuben, das zwar die topographischen Gegebenheiten der Hanglage reagiert, gleichzeitig aber indifferent zum existierenden urbanen Kontext bleibt. Tatsächlich suggerieren die ersten Entwurfszeichnungen von 1925 und die Aufnahme des Gipsmodells (Abb. 11) gestalterische Parallelen mit den Arbeiten von Eggeling und Richter als mit städtebaulichen Vorbildern.

Direkten Bezug auf den städtischen Platz und den existierenden urba-nen Kontext nimmt dagegen der Beitrag von Mies für den 1929 von Martin Wagner organisierten Wettbewerb zur Neugestaltung des Berliner Alexan-derplatzes. Wagner forderte die Schaffung eines „Weltstadtplatzes“, wobei die „Durchschleusung des Verkehrs“ von primärer, die Fragen formaler Gestaltung der umliegenden Bauten hingegen von sekundärer Bedeu-tung waren.56 Insgesamt fünf Straßen sollten auf den hufeneisenförmigen, nach Osten hin geschlossen umbauten Platz einmünden. Der prämierte Vorschlag der Brüder Hans und Wassili Luckhardt und Alfons Anker setzt diese Vorgaben präzise um: Horizontale Fensterbänder und geschwun-gene Fassaden zeichnen den Fluss des Verkehrs nach und generieren gleichzeitig eine geschlossene Platzanlage (Abb. 12). Dagegen verzichtet

56 Martin Wagner: Formprobleme eines Weltstadtplatzes, in: Das Neue Berlin, H. 2, 1929, S. 33–34.

Abb. 11: Ludwig Mies van der Rohe, Weißenhofsiedlung, 1925, Modell (verschollen).

93Platzbildung bei Mies van der Rohe

Mies in seinem Wettbewerbsbeitrag bewusst auf eine geschlossene Platz-bebauung und orchestriert stattdessen mit insgesamt elf isoliert stehenden Gebäuden unterschiedlicher Größe ein Gefüge, das gewisse Bezüge zur unregelmäßigen Blockstruktur erlaubt, gleichzeitig aber unabhängig von den Verkehrslinien erscheint – eine Missachtung der Wettbewerbsvorgaben, die ihm den letzten Platz einbrachte.57

Ludwig Hilberseimer verteidigte kurz nach der Wettbewerbsentschei-dung das Projekt von Mies. Seine Kritik richtet sich gegen jene Vorgaben, die mit der intendierten „geschlossenen Platzwirkung“ einen Klassizismus implizieren, jedoch gleichzeitig dem Primat der Funktionalität des Verkehrs gehorchen. Architektur, so Hilberseimer, werde hier „durch den Verkehr vergewaltigt.“ Mies hingegen habe „dieses starre System durchbrochen und den Platz unabhängig von den Verkehrsbahnen, die ihrer Funktion gemäß verlaufen, allein nach baukünstlerischen Gesichtspunkten zu ge-stalten versucht.“58 Auch Wilhelm Lotz unterstreicht gerade die vorsätzliche Distanz zum gegebenen Kontext als positive Eigenschaft des Mies’schen Entwurfs: „Er kennt nicht die zarte Rücksichtnahme auf andere Baulich-keiten und auf vorhandene lineare Bindungen, seine Bauten stehen eigen-willig und kristallklar da.“ Mies zeige, dass das „Stadtbild“ eben kein „aus Schaubildern zusammengestelltes Etwas“ sei, sondern ein „organisches

57 Vgl. Paul Sigel: Ein Platz. Viele Plätze. Projektionen und Spurensuche am Berliner Alexan-derplatz, in: Arnold Bartetzky/Marina Dmitrieva/Alfrun Kliems (Hgg.): Imaginationen des Urbanen: Konzeption, Reflexion und Fiktion von Stadt in Mittel- und Osteuropa, Berlin 2009, S, 88–94.

58 Ludwig Hilberseimer: Würdigung des Projektes Mies van der Rohe, Alexanderplatz, in: Das Neue Berlin, 1929, H. 2, S. 39–40.

Abb. 12: Wassili und Hans Luckhardt/Alfons Anker, Wettbewerbsprojekt Alexanderplatz, 1929.

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Lebewesen“. Das Verbindende, schreibt Lotz in Mies’sche Manier, zeige sich gerade nicht in der „formalistischen“ Angleichung, sondern in je-ner gemeinsamen, mystischen Entsprechung mit dem „Geist der Zeit“59.

59 Wilhelm Lotz: Wettbewerb für ein Bürohaus am Hindenburgplatz in Stuttgart, in: Die Form, H. 6, 1929, S. 153.

Abb. 13: Ludwig Mies van der Rohe, Neugestaltung des Alexanderplatzes, Fotomontage und Modell, 1929.

95Platzbildung bei Mies van der Rohe

Interessanterweise verwendet Mies für jenes lebendige Stadtbild eine Luft-postkarte des Fotografen Wilhelm Niemann.60

Betrachtet man die in der Zeitschrift Das Neue Berlin abgedruckte Foto-montage – eine Luftperspektive des Alexanderplatzes, in die Mies seine verschiedenen Gebäudequader eingezeichnet hat – so werden die Paral-lelen mit der in 1923 in Weimar intendierten „Platzbildung“ offensichtlich (Abb. 13). Um den Verkehrskreisel herum positioniert er in scheinbar freier Komposition die verschiedenen Quader. Das entstehende Spiel mit forma-len Differenzen wird nicht nur durch das kontingente Erscheinungsbild der Bauten kompliziert, deren Glasfassaden zwischen weiß und schwarz oszillieren. Zudem provoziert Mies Kontraste mit existierenden Gebäuden und urbanen Strukturen. Klar erkennt man die inzwischen zerstörte Geor-genkirche und den Bahnhof Alexanderplatz, der von einem 17-stöckigen Hochhaus und einem flacheren, L-förmigen Gebäude eingerahmt wird. Besonders ungewöhnlich wirkt der im Vordergrund sichtbare typische Berliner Häuserblock. Dieser scheint in den Platz vorzudringen, zudem widerspricht der rechteckige Bildausschnitt der perspektivischen Logik des Gesamtbildes.

Der von Mies vorgeschlagene Platz ist nicht als Lichtung in der chao-tischen Textur der Großstadt zu verstehen, auch ist er kein städtebauli-ches Mittel zur Schaffung von Ordnung, repräsentativer Gestaltung und Monumentalität. Die Komposition von Mies ist weder eine rein rational-funktionalistische Anpassung der Stadt an die neuen Verkehrsbedingungen, noch handelt es sich hier um einen Versuch, das Neue mit dem Alten in eine kontextuelle Verbindung zu bringen. Vielmehr ist sein Vorschlag im Lichte der von Mies konstatierten „grundlegenden Strukturänderungen des Daseins“ zu verstehen.61 Die „Technifizierung des Lebens“ und „die uns beherrschende Macht der Wirtschaft“, so Mies, führten unweigerlich dazu, dass der Verkehr „ungeheure Dimensionen“ annehme und „mit brutaler Gewalt in den Organismus unserer Städte“ eingreife.62 Diese Situation sei grundsätzlich neu und „in nichts mit de[n] frühere[n] Epochen zu verglei-chen“.

Gleichzeitig ist sich Mies der Tatsache bewusst, dass „die äußere Gestalt unseres Lebens sich noch keinen neuen Ausdruck zu schaffen“ vermochte. Sein Vorschlag für die Neugestaltung des Alexanderplatzes zeigt folglich

60 Rolf Sachsse: Mies und die Fotografen II. Medium und Moderne als Enigma, in: Helmut Reuter/Birgit Schulte (Hgg.): Mies und das Neue Wohnen, Ostfildern 2008, S. 260–262.

61 Mies van der Rohe 1926 (Anm. 29), S. 315.62 Ebd., S. 314–316.

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keine konkrete, realisierbare Zukunftsvision einer neuen Stadt. Auch liest sich die Ansicht nicht als funktionale Komposition eines urbanen Wahrneh-mungsparcours aus Sicht des durch die Stadt fahrenden Automobilisten. Die von Mies entworfene Platzkomposition ist vielmehr als erster Vorbote einer kommenden, noch nicht existierenden Architektur zu verstehen. Sie schärft das Bewusstsein für die neue Situation, indem sie den fundamen-talen Unterschied zu den „alten, längst erstorbenen Lebensformen“63 – die bei Mies durch das Bild der historischen Stadt weiterhin präsent blei-ben – deutlich macht. In seinen Notizen (1927/1928) vermerkt Mies: „Von einer neuen Baukunst wird erst dann die Rede sein können, wenn neue Lebensformen sich gebildet haben“.64 Seine Bauten stellen somit keine funktionalen oder ästhetischen Lösungen dar. Sie sind vielmehr „Hilfs-mittel“ zur Erzeugung von neuen bzw. zur Bewusstmachung von bereits existierenden, aber noch unbewussten Lebensformen. So betrachtet ge-staltet Mies bewusst, was gemäß Walter Benjamin oder Sigfried Giedion die Ingenieursbauten des 19. Jahrhunderts noch unbewusst leisten: kollektive

„Traumbereiche“ und „Bildphantasien […] an die Schwelle des Erwachens zu führen“ und damit „den Blick auf das Nächste, für Zeit und Raum der je gegenwärtigen Geschichte zu schärfen.“65

Gleiches gilt für die von Mies intendierte „Platzbildung“: Architektur ist hier kein Instrument zur Durchsetzung funktionalistischer Projekte im städtischen Raum. Der Platz erscheint bei Mies weder als idealisierte Agora, noch als politischer Repräsentationsraum, noch als Teil der Ver-kehrsinfrastruktur. Auch fungiert er nicht als moderne Leerstelle zur Si-cherung kritischer Distanz. Im Begriff der „Platzbildung“ kristallisiert sich jene Mischung aus lebensphilosophischen und technikaffirmativen Ideen mit einem materialistisch-messianischen Geschichtsbild, wie sie in vielen Texte in G erkennbar wird und für die Mies ohne Zweifel bereits durch sei-nen Aufenthalt in Dresden-Hellerau in den frühen 1910er Jahren sensibi-lisiert war. „Platzbildung“ impliziert nichts anderes als die Schaffung von Spielräumen, welche die Möglichkeit für das Entstehen unvorhersehbarer

„Lebensvorgänge“66 eröffnen, eine Vorstufe zur antizipierten Emergenz einer völlig neuen Architektur. Mit Mies zeigen sich die ersten Umrisse eines

63 Ebd., S. 315.64 Mies van der Rohe: Notizheft, 1927/1928, Blatt 6, in: Neumeyer 1986 (Anm. 19), S. 330.65 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, in: ders.: Gesammelte Schriften 5, hg. von Rolf

Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1972, S. 571.66 Mies van der Rohe 1986 (Anm. 19), S. 362. Im ersten Absatz seines Vortrags argumentiert

Mies, dass die Baukunst „nur von einem geistigen Zentrum aus aufzuschließen und nur als Lebens vorgang zu begreifen“ sei.

97Platzbildung bei Mies van der Rohe

kontingenten Raums im Werden und einer neuen Öffentlichkeit, in der un-erwartete Konstellationen zwischen Menschen und Dingen möglich wer-den.67 Und gerade in diesem Vorstoß in eine epistemische Terra incognita in der Hoffnung „neues Leben und Überfluß“68 zu schaffen, liegt die tiefere Bedeutung von Mies’ „Platzbildung“.69

67 Zur politischen Dimension einer Rekonzeption der „Dinge“ vgl. Bruno Latour: From Real-politik to Dingpolitik or How to Make Things Public, in: Peter Weibel/Bruno Latour (Hgg.): Making Things Public, Cambridge, Mass. 2005, S. 4–31.

68 Richter/Graeff 1923 (Anm. 37), o.S.69 Ich verweise hier auf Jacques Rancière, der das Politische als eine offene, sich jeglicher

Festschreibung widersetzende Praxis der Divergenz beschreibt. Vgl. Jacques Ranciere: Aux bords du politique, Paris 2004, S. 223–254.