Grundpraktikum Physikalische Chemie
V 1
Gaskinetische Definition der Temperatur - Geschwindigkeitsverteilung in einem
zweidimensionalen Modellsystem Kurzbeschreibung Dieser Versuch soll verdeutlichen, wie die für uns selbstverständliche Größe der
Temperatur eines makroskopischen Systems durch die Bewegung der Teilchen auf
mikroskopischer Ebene bestimmt ist und wie sie mit der Energie dieser Teilchen
zusammenhängt. Aus Sicht der statistischen Thermodynamik ist die Temperatur
eines idealen Gases proportional zur mittleren kinetischen Energie der Gasteilchen
bzw. proportional zur quadratisch gemittelten Teilchengeschwindigkeit. Allgemein ist
die Temperatur ein Maß dafür, wie viel Energie in den Freiheitsgraden gespeichert
ist. In diesem Versuch werden die zwei Translationsfreiheitsgrade einer Ansammlung
von Kunststoffscheiben (Pucks) untersucht, die sich auf einem Luftkissentisch
nahezu reibungsfrei bewegen können und durch häufigen Kontakt mit einem
Rüttelrahmen eine konstante mittlere kinetische Energie besitzen. Durch Stöße
untereinander verteilt sich diese Energie ständig auf die Gesamtheit der Pucks.
Durch statistische Auswertung von Langzeitaufnahmen mit einer Digitalkamera wird
ein Histogramm der hieraus resultierenden Geschwindigkeitsverteilung erstellt. Es
soll analysiert werden, in wie weit sich die gefundene Verteilung mit dem Konzept
einer Maxwell-Boltzmann Geschwindigkeitsverteilung in einem zweidimensionalen
Gas bei einer gegebenen Temperatur beschreiben lässt.
Überarbeitetes Versuchsskript, H.E. Hoster 19.10.2009, L.A. Kibler 08.10.2010
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1. Theoretische Grundlagen
1D-Geschwindigkeitsverteilungsfunktion. Die Geschwindigkeiten von Teilchen in
einem realen System sind im Grunde quantisiert, aber in der Regel nicht sehr genau
messbar. Daher kann die Teilchengeschwindigkeit praktisch jeden beliebigen
kontinuierlichen Wert annehmen. In einer quantitativen Beschreibung ist es nicht
möglich anzugeben, wie viele Teilchen sich mit einer exakt bestimmten
Geschwindigkeit bewegen. Dies würde auf kein Teilchen zutreffen, da man diese
Geschwindigkeit unendlich genau angeben müsste. Sinnvoll ist allerdings die
Angabe der Wahrscheinlichkeit, mit der ein Teilchen eine Geschwindigkeit v* mit v1 <
v* ≤ v2 hat. Dies geschieht über die Verteilungsfunktion der Geschwindigkeit
*dp(v v)f(v)
dv≤
= ,
die besagt, um wie viel die Wahrscheinlichkeit p zunimmt, dass die Geschwindigkeit
v* eines Teilchens unterhalb eines bestimmten Wertes v liegt, wenn diese Schwelle v
um die Differenz dv erhöht wird.
Bemerkung: Für ein System mit Nges Teilchen kann f(v) auch geschrieben werden als *
ges
1 dN(v v)f(v)N dv
≤= .
Anschaulicher und dichter am Charakter experimenteller Daten ist allerdings der
Ausdruck
p(v, Δv )= ∫Δ+
Δ−
⋅vv
vv
)v(fdv21
21
,
der besagt, mit welcher Wahrscheinlichkeit die Geschwindigkeit v* eines Teilchens im
Bereich v-½ Δv < v*< v+½ Δv liegt. Für hinreichend kleine Geschwindigkeitsintervalle
gilt näherungsweise
p(v,Δv) ≈ Δv·f(v)
Für den eindimensionalen Fall lautet die Verteilungsfunktion
f(v) = A·B
mv²exp2k T
⎛ ⎞−⎜ ⎟⎝ ⎠
mit A = const.
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Dieser Zusammenhang ist nicht trivial und kann auf verschiedenen Wegen mit den
Verfahren der statistischen Thermodynamik hergeleitet werden, siehe z.B. Wedler,
Kapitel 4. An dieser Stelle soll es genügen, den Zusammenhang anschaulich zu
begründen. Nach dem Boltzmann’schen e-Satz gilt für das Verhältnis der
Besetzungszahlen bzw. –wahrscheinlichkeiten zweier Zustände mit den Energien ε1
und ε2 und gleichem statistischen Gewicht (Entartungsgrad)
⎟⎟⎠
⎞⎜⎜⎝
⎛ ε−ε=
εε
=εε
Tkexp
)(p)(p
)(N)(N
B
12
2
1
2
1 .
Analog sollte für die Wahrscheinlicheiten p(v1,Δv) und p(v2,Δv) der Zusammenhang
⎟⎟⎠
⎞⎜⎜⎝
⎛ −=
⎟⎟⎟⎟
⎠
⎞
⎜⎜⎜⎜
⎝
⎛ −=⎟⎟
⎠
⎞⎜⎜⎝
⎛ ε−ε=
ΔΔ
Tk)vv(mexp
Tk
mvmvexp
Tkexp
)v,v(p)v,v(p
BBB 221
21
21
22
21
22
12
2
1
gelten. Setzt man v2 = 0 und berücksichtigt p(v, Δv ) ≈ Δv⋅f(v), so erhält man
2
1 1 1 1
B
p(v , v) m v v f(v ) f(v )expp(0, v) 2k T v f(0) f(0)
⎛ ⎞Δ − ⋅ Δ ⋅= ≈ =⎜ ⎟⎜ ⎟Δ Δ ⋅⎝ ⎠
woraus mit A = f(0) unmittelbar folgt
f(v1) = A·21
B
mvexp2k T
⎛ ⎞−⎜ ⎟⎜ ⎟⎝ ⎠
,
was gezeigt werden sollte.
Bemerkung: Für infinitesimale Breiten von Δv ist dies tatsächlich richtig, allerdings wird hier
stillschweigend von der Tatsache Gebrauch gemacht, dass die Zahl der in einem Impuls- und damit
auch Geschwindigkeitsintervall vorhandenen Zustände nur von dessen Breite abhängt, nicht aber von
dessen Position auf der Impuls- bzw. Geschwindigkeitsachse. Würde man jedoch zwei
Energieintervalle mit Breite Δε um zwei Energien ε1 und ε2 betrachten, so müsste die
energieabhängige Zustandsdichte berücksichtigt werden (vgl. Wedler, Kapitel 4) wodurch das
statistische Gewicht beider Intervalle nicht mehr gleich wäre.
Da das Teilchen irgendeine Geschwindigkeit ∞<<∞− *v haben muss, gilt die
Normierungsbedingung
∫∞
∞−
==∞< 1dv)v(f)v(p * , aus der sich nach B
mv²f(v)dv A dv exp 12k T
∞ ∞
−∞ −∞
⎛ ⎞−= =⎜ ⎟
⎝ ⎠∫ ∫
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die noch fehlender Konstante A berechnen lässt. Mit
∫∞
∞−
π=− a/²)axexp(dx folgt somit 122
=π=⎟⎟⎠
⎞⎜⎜⎝
⎛−∫
∞
∞−
m/kTATk²mvexpdvA
B
,
also A=Tk
mBπ2
und entsprechend
f(v) = kT
mπ2
·2
B
mvexp2k T
⎛ ⎞−⎜ ⎟⎜ ⎟⎝ ⎠
.
Der Verlauf einer solchen Kurve ist
nebenstehend exemplarisch dargestellt.
Die Geschwindigkeitsverteilungsfunktion
gilt unabhängig für jede Raumrichtung,
d.h., eine Geschwindigkeitskomponente
in y-Richtung hat keinen Einfluss auf die
Wahrscheinlichkeiten, die x-Komponente
der Geschwindigkeit in verschiedenen
Intervallen anzutreffen.
0
0,1
0,2
0,3
0,4
0,5
-3 -2 -1 0 1 2 3
v / (m/s)
f(v) /
(s/m
)
Abb. 1: 1D-Geschwindigkeitsverteilung
Es muss also im 2D-Fall gelten f(vx,vy) =
f(vx)·f(vy) (siehe Abb. 2) bzw. im 3D-Fall
f(vx,vy,vz) = f(vx)·f(vy)·f(vz).
Wahrscheinlichkeiten dafür, dass die
Geschwindigkeitskomponenten vx* und
vy* eines Teilchens in Intervallen der
Breite Δv um die Werte vx und vy liegen
werden entsprechend berechnet nach
p(vx,vy,Δv) ≈ (Δv)² f(vx)·f(vy) (2D) bzw.
p(vx,vy,,vz,Δv) ≈ (Δv)³ f(vx)·f(vy)·f(vz) (3D). Abb. 2: 2D-Geschwindigkeitsverteilung
2D-Geschwindigkeitsverteilung. Wie aus Abb. 2 ersichtlich, hängt die Wahrschein-
lichkeitsdichte f(vx,vy) in zwei Dimensionen nur vom Betrag des Geschwindigkeits-
vektors x
y
vv
v⎛ ⎞
= ⎜ ⎟⎝ ⎠
ab, nicht aber von seiner Richtung. Statistische Analysen
betrachten daher nicht die Häufigkeiten von Geschwindigkeiten, deren Vektor in ein
Grundpraktikum Physikalische Chemie, Versuch1: Gaskinetische Definition der Temperatur 5
Kästchen der Fläche (Δv)² zeigt (siehe Abb. 3), sondern die Häufigkeiten von
Geschwindigkeiten, deren Betrag v* im Bereich v-½ Δv < v*< v+½ Δv liegt (siehe Abb.
4). Dies führt jedoch dazu, dass die Flächen im Geschwindigkeitsraum, die in einer
Statistik verglichen würden, nicht mehr gleich groß sind (siehe Abbildungen 3 und 4).
Dies gilt sowohl für den infinitesimalen Fall, in dem die ‚v-Ringe’ die Fläche 2πv·dv
haben, als auch in der ‚realen’ Auszählung, in der Bereiche der Größe 2πv·Δv
miteinander verglichen werden.
vy
vx
vΔv
Δv
vy
vx
vΔv
Abb. 3: Würde die 2D-Geschwindig-keitsverteilung in einem kartesischen Koordinatensystem ausgewertet, hätten alle verglichenen Kästchen die gleiche Größe (Δv)².
Abb. 4: Erfasst die Statistik nur die Geschwindigkeitsbeträge, so vergleicht man Ringe mit Umfang 2πv und Fläche ≈2πvΔv.
Im vorliegenden Praktikumsversuch wird Statistik über Geschwindigkeitsbereiche der
Form vi - (Δv/2) < v*< vi + (Δv/2) mit vi = (i+½)·Δv geführt, wobei die Zahl i = 0,1,2,…
mit der Strichlänge in Pixeln zusammenhängt, welche wiederum proportional zur
Geschwindigkeit ist. Da Δv hinreichend klein gewählt wird, macht sich der flache
Gipfel der 2D Geschwindigkeitsverteilung bei vx = vy = 0 (siehe Abb. 2 und 4)
bemerkbar, so dass die linear mit v und damit mit i ansteigende Fläche der v-Ringe
die Statistik zunächst dominiert. Wenn Δv hinreichend klein gewählt wird, sollte die
Zahl der im Experiment gefundenen Teilchen mit Geschwindigkeit v ± (Δv/2) für
kleine i linear mit v bzw. i ansteigen:
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i, v kleini i
0 0
i
N(v , ) 2 v v 2 (i 1 2) v v i 1 2 2i 1N(v , ) 2 v v 2 (0 1 2) v v 1 2
N(v , ) const. (2i 1)
ΔΔ π ⋅ Δ π ⋅ + Δ ⋅ Δ += = = +
Δ π ⋅ Δ π ⋅ + Δ ⋅ Δ
⇒ Δ = ⋅ +
≈vv
v
Diesen Trend, den Sie in Ihrer Auswertung finden werden, kann somit schon allein
durch die Art der Zählung erklärt werden. Für Vorhersagen über den genauen
Verlauf der zu erwartenden Zählstatistik benötigt man die Integrale der 2D-
Geschwindigkeitsverteilung (Abb. 2) über die jeweiligen v-Bereiche, also v-Ringe mit
Durchmesser v und Breite Δv (vgl. Abb. 4). Mit f(vx,vy) = f(vx)·f(vy) ergibt sich:
2 2 22y x yx
x yB B B
x y x yv ,v auf v Ringx y
2 2x y
x yBv ,v auf v Ringx y
mv m(v v )mvm m mf(v ,v ) exp exp exp2 kT 2k T 2 kT 2k T 2 kT 2k T
p(v, v) dv dv f(v ,v )
m(v v )mdv dv exp2 kT 2k T
−
−
⎛ ⎞ ⎛ ⎞− − +⎛ ⎞−⎜ ⎟ ⎜ ⎟= =⎜ ⎟⎜ ⎟ ⎜ ⎟ ⎜ ⎟π π π⎝ ⎠ ⎝ ⎠ ⎝ ⎠
Δ =
⎛ ⎞− +⎜ ⎟=⎜ ⎟π ⎝ ⎠
∫∫
∫∫
Wählt man die Breite Δv des v-Rings hinreichend klein, so ist f(vx,vy)=f(vx)·f(vy) darin
nahezu konstant (=fmittel(v)) und es gilt nach Pythagoras 222 v)vv( yx =+ , d.h.
2 2 2x y
x y mittelB B
m(v v ) mvm mf(v ,v ) exp exp f (v)2 kT 2k T 2 kT 2k T
⎛ ⎞− + ⎛ ⎞−⎜ ⎟= ≈ =⎜ ⎟⎜ ⎟⎜ ⎟π π ⎝ ⎠⎝ ⎠
,
so dass die Integration näherungsweise durch Multiplikation von fmittel(v) mit der
Fläche des v-Ringes ersetzt werden kann:
( )
( )
mittel
Fläche v Ring
B
B
2D
def
2DB
p(v, v) f (v) 2 v v
m mv²exp 2 v v2 kT 2k T
m mv²v v expkT 2k T
v f (v)
m mv²mit f (v) v expkT 2k T
−
Δ ≈ ⋅ π ⋅ Δ
⎛ ⎞−= ⋅ π ⋅ Δ⎜ ⎟π ⎝ ⎠
⎛ ⎞−= Δ ⎜ ⎟
⎝ ⎠
= Δ ⋅
⎛ ⎞−= ⎜ ⎟
⎝ ⎠
0
0,1
0,2
0,3
0,4
0,5
0,6
0,7
0 1 2 3 4 5 6
v / (m/s)
f(v) /
(s/m
)
Abb. 5: 2D-Verteilungsfunktion der Geschwindigkeitsbeträge. (vgl. mit 2D-Verteilungsfunktion der Geschwindigkeitsvektoren in Abb. 2)
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(Die Näherung für kleine Δv ist natürlich nichts anderes als die Überführung der
Integration in Polarkoordinaten, die zum gleichen Ergebnis führt.) Damit folgt die 2D-
Geschwindigkeitsverteilung unmittelbar aus (i) der 1D- Geschwindigkeitsverteilung,
(ii) der Unabhängigkeit der x- und y-Komponenten der Geschwindigkeit, und (iii) der
Berücksichtigung der Zählweise, also der Beschränkung auf den Betrag der
Geschwindigkeit (bzw. der Verwendung von Polarkoordinaten).
An keiner Stelle der Herleitung wurden Annahmen über die Größe und Art der
beweglichen Teilchen gemacht, so dass die Geschwindigkeitsverteilung sich im
Prinzip auch bei beweglichen makroskopischen Objekten im Gleichgewicht wieder
finden sollte. Dies ist Gegenstand des vorliegenden Praktikumsversuchs.
Momentaufnahmen für 32 Teilchen eines 2D-Gases.
vgl. Animation online, URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Temperatur
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2. Versuchskonzept Durch die aus den Löchern im Lufttisch ausströmende Luft entsteht ein Luftkissen,
welches den etwa 15 Pucks eine nahezu reibungsfreie Bewegung ermöglicht (siehe
z.B. Försterling/Kuhn). Wie Atome eines Gases können die Pucks untereinander
durch elastische Stöße Energie austauschen. Die für sie erreichbare Fläche wird von
einem straff in einem Rahmen gespannten Drahtseil begrenzt. Da nicht alle Stöße
untereinander und mit der Wand perfekt elastisch erfolgen, die Reibung nicht
vollständig eliminiert werden kann und die Pucks auch einen gewissen
Luftwiderstand haben, verliert dieses eigentlich abgeschlossene System ständig
etwas Energie. Dieser Verlust wird durch eine kreisende Bewegung des Rahmens
ausgeglichen, welcher die Pucks bei Berührung beschleunigen kann. Die
Gesamtenergie des Systems kann durch Veränderung der Rüttelbewegung des
Rahmens angepasst werden. Eine statistische Auswertung ist dann sinnvoll, wenn
sich ein dynamisches Gleichgewicht ausgebildet hat und die Gesamtenergie des
Systems bei gegebener Rüttelgeschwindigkeit konstant ist.
Zur Erfassung der Geschwindigkeitsverteilung ist einer der Pucks mit einer
lichtemittiertenden Diode (LED) ausgestattet. Diese sendet Blinksignale aus, was bei
Langzeitbelichtungsaufnahmen mit einer Digitalkamera gut sichtbare helle Striche
erzeugt, deren Länge zur (bekannten) Einschaltdauer der LED proportional ist. Es
wird eine Statistik über verschiedene Strichlängen erstellt, woraus eine diskrete
experimentelle Geschwindigkeitsverteilungsfunktion berechnet wird. Diese kann
dann auf Konsistenz mit theoretischen Vorhersagen untersucht werden, wofür auf
vier verschiedene Arten Kandidaten für den die kontinuierliche theoretische
Geschwindigkeitsverteilung bestimmenden Wert qT = kBT / m bestimmt werden.
3. Fragen Zentraler Gedanke des Versuchs ist die Überprüfung von Vorhersagen aus der sta-tistischen Thermodynamik an von Hand ausgezählten Häufigkeiten. Sie sollten daher erklären können, wie (i) Erwartungswerte aus Verteilungsfunktionen und (ii) statistische Mittelwerte aus den gezählten Häufigkeiten bestimmt werden.
1. Zeigen Sie die folgenden Zusammenhänge für die Erwartungswerte von v und v²
(nötige Integrale finden Sie im Anhang): mkT²v
2π
= ; ;²vmkT21
=
2. Zeigen Sie, dass für die wahrscheinlichste Geschwindigkeit in 2D gilt mkT
v w =
Grundpraktikum Physikalische Chemie, Versuch1: Gaskinetische Definition der Temperatur 9
3. Was versteht man unter der ‚Methode der kleinsten Quadrate’?
4. Erklären Sie, welche Rolle die Entropie, die Gesamtenergie und die Teilchenzahl bei der Herleitung der Boltzmannstatistik spielen.
5. Wie sieht die 2D-Verteilungsfunktion für die Energie aus?
4. Messablauf 1. Justieren Sie die Digitalkamera und schießen Sie ein Foto von einem Objekt
bekannter Größe, beispielsweise einem DIN-A4 Blatt.
2. Schalten Sie den blinkenden Puck ein und notieren Sie die Blinkdauer (beim Betreuer erfragen) in Ihr Laborjournal. Legen Sie den Blinkpuck zusammen mit 14 weiteren Pucks auf den Lufttisch (air table).
3. Schalten Sie das Luftkissen ein. Falls notwendig, korrigieren Sie zusammen mit Ihrem Betreuer eventuelle Schräglagen des Tisches.
4. Schalten Sie den Rüttelrahmen ein. Zählen Sie über etwa eine Minute die Umdrehungen und berechnen Sie daraus die Rüttelfrequenz in Hz.
5. Machen Sie in Zusammenarbeit mit Ihrem Betreuer eine Aufnahme über 8 min.
6. Führen Sie in Zusammenarbeit mit Ihrem Betreuer die Auswertung der Aufnahme durch. Die Bilder werden unter Corel PhotoPaint invertiert, so dass die vom Blinkpuck erzeugten Striche schwarz erscheinen. Sie werden dann in ein leeres CorelDraw-Dokument kopiert. Dort wählen Sie ein Zeichenwerkzeug, stellen die Strichdicke auf 4 Pixel ein und die Farbe am besten auf Rot. Während Sie einen Strich übermalen, zeigt das Programm (bis zum nächsten Mausklick) die Strichlänge in Pixeln an. Notieren Sie zunächst die Breite der Striche, die der Breite der LED entspricht. Diese wird in späteren Auswerteschritten von der Strichlänge abgezogen, beim Auszählen sollten Sie damit keine Zeit verlieren und die Längen immer vom Anfang bis Ende des dunklen Bereichs messen:
7. Verwenden Sie für die ‚Strichliste’ das Ergebnisblatt. Auf diese Weise haben bereits die Rohdaten die Form der (experimentellen) Verteilungsfunktion. Als Länge gilt jeweils die abgerundete angezeigte Pixelanzahl (wird später korrigiert).
8. Berechnen Sie die experimentelle Verteilungsfunktion (einschl. Fehler) und stellen Sie diese grafisch dar. Tabelle 1 enthält hierzu einige Anhaltspunkte.
9. Berechnen Sie nach den in Tabelle 2 zusammengestellten Verfahren vier mögliche Kandidaten für den entscheidenden Parameter qT=kBT/m der theoretischen Verteilungsfunktion. Diskutieren Sie, wie gut sich die experi-mentellen Daten über die 2D-Maxwell-Boltzmann-Verteilung erklären lässt, und worin eventuelle Abweichungen begründet liegen könnten.
Grundpraktikum Physikalische Chemie, Versuch1: Gaskinetische Definition der Temperatur 10
5. Leitfaden zur Auswertung:
qT=kBT/m. Für ein 2D-Gas ist die Temperatur ein Maß für die mittlere kinetische
Energie: kin BT E /k= . Wegen des Zusammenhangs 21kin 2E mv= ist die mittlere
kinetische Energie außerdem eng verknüpft mit dem Erwartungswert der
quadratischen Geschwindigkeit eines Teilchens der Masse m:
T= kinE / kB= ²vmk21
B
.
Als Maß für die ‚Temperatur’ des im Versuch betrachteten Modellsystems mit
makroskopischen Teilchen kann somit ebenfalls die mittlere quadratische
Geschwindigkeit des beobachteten Pucks, multipliziert mit seiner Masse m
angesehen werden. Damit ergibt sich eine besonders übersichtliche Form der
Geschwindigkeits-verteilungsfunktion
2 2
2 2B B
m mv 2 vf(v) v exp v expk T 2k T v v
⎛ ⎞⎛ ⎞− −⎜ ⎟= = ⋅ ⋅⎜ ⎟ ⎜ ⎟⎝ ⎠ ⎝ ⎠,
welche die Bedeutung der mittleren quadratischen Geschwindigkeit unmittelbar
veranschaulicht. Da die virtuelle Temperatur jedoch auf verschiedene Arten aus den
experimentellen Daten berechnet werden soll, führen wir zu ihrer Beschreibung die
Größe qT = kBT / m = <v²>/2 ein. Als eine allgemeine Kurzform der Geschwindigkeits-
verteilungsfunktion ergibt sich damit 2
T T
1 vf(v) v expq 2q
⎛ ⎞−= ⎜ ⎟
⎝ ⎠.
Experimentelle Verteilungsfunktion. Die ‚Strichliste’, die Sie bei der Auswertung
des Digitalfotos erstellt haben, besitzt bereits eine Form, die der theoretischen 2D-
Geschwindigkeitsverteilung ähnelt. Um das Experiment mit einer nach Boltzmann
berechneten Verteilungsfunktion vergleichbar zu machen, müssen die gezählten
Häufigkeiten N(i) zunächst in Häufigkeiten von Geschwindigkeiten in bestimmten
Intervallen N(vi,Δv) und dann in Punkte einer Geschwindigkeitsverteilungsfunktion
fexp(vi) umgerechnet werden. Die notwendigen Formeln und Größen sind in Tabelle 1
zusammengefasst. Der erste Schritt ist nur eine ‚Umdeklaration’ des Histogramms,
d.h. N(vi,Δv) = N(i) = N( vi-(Δv/2) < v*≤ vi+(Δv/2) ). Es wird hierbei berücksichtigt, wie
viel mm einem Pixel entsprechen, wie lange die LED am Blinkpuck jeweils hell ist,
und wie groß die LED selbst im Bild erscheint, d.h., wie ‚lang’ der Strich eines
eigentlich ruhenden Pucks erscheint.
Grundpraktikum Physikalische Chemie, Versuch1: Gaskinetische Definition der Temperatur 11
Tabelle 1. Wichtige Größen und Rechenvorschriften
Größe, Berechnung und Einheit Erläuterung
Primäre Messdaten:
L (Zahl) i (natürliche Zahl = {0, 1, 2, …})
(abgerundete) Länge eines Striches auf dem Digitalfoto in Pixel, z.B. Länge t = i Pixel
N(i) = N (i ≤ L < i+1)
(L = Strichlänge / Pixel,
nur gerundet notiert)
Zahl der Striche mit i ≤ L < i+1 wenn beim Zählen die Strichlängen immer abgerundet wurden. Bei Auf- und Abrundung: Längenbereich i-(1/2) ≤ L < i+(1/2)
b [mm Pixel-1] Maßstab des Digitalfotos
s = tÿb [mm] Zurückgelegte Strecke des Pucks
τ [ms] Blinkdauer des Pucks
Δv = s / τ [m s-1] Geschwindigkeit des Blinkpucks = Geschwindigkeitsintervall des Histogramms
a (nicht gerundet!) Breite der Striche = Breite der LED in Pixel
Umrechnung in Geschwindigkeiten:
vi = (i+½-a) ⋅Δv [m s-1] Aus Strichlänge berechnete Geschwindigkeit wenn beim Zählen immer abgerundet wurde.
vi = (i-a)⋅Δv [m s-1] Aus Strichlänge berechnete Geschwindigkeit wenn beim Zählen auf- und abgerundet wurde.
N(vi,Δv) Zahl der Striche, deren Länge einer Geschwin-digkeit v* im folgenden Bereich entspricht: vi-(Δv/2)<v*≤ vi+(Δv/2)
Berechnung der Verteilungsfunktionen:
ftheo(v) = ⎟⎟⎠
⎞⎜⎜⎝
⎛ <
ges
*
N)vv(N
dvd [s m-1]
2
T T
1 vv expq 2q
⎛ ⎞−= ⎜ ⎟
⎝ ⎠
‚Theoretische’ Verteilungsfunktion: Zunahme des Anteils N(v*<v)/Nges pro infinitesimalem Geschwindigkeitsschritt dv an der Stelle v (berechnet nach Maxwell-Boltzmann in 2D).
qT = kBT / m [m² s-²] Bestimmt den Verlauf der Verteilungsfunktion; kann auf verschiedenen Wegen aus den exp. Daten bestimmt werden.
fexp(vi)=ges
i
Nv)v,v(N
ΔΔ [s m-1]
‚Experimentelle’ Verteilungsfunktion: Zunahme des Anteils N(v*<v)/Nges pro endlichem Geschwindigkeitsschritt Δv an der Stelle vi.
Grundpraktikum Physikalische Chemie, Versuch1: Gaskinetische Definition der Temperatur 12
Da die Verteilungsfunktion definiert ist als
ftheo(v)= ⎟⎟⎠
⎞⎜⎜⎝
⎛ <
ges
*
N)vv(N
dvd ,
also als Zunahme des Anteils N(v*<v)/Nges pro infinitesimalem Geschwindig-
keitsschritt dv, kann die den gezählten Häufigkeiten zugrunde liegende Verteilungs-
funktion abgeschätzt werden über die Zunahme des gezählten Anteils N(v*<v)/Nges
pro endlichem Geschwindigkeitsschritt Δv, also
ges
exp Nv)v,v(N)v(f
ΔΔ
= .
Man kann diese Rechnung auch als ‚Normierung’ des ursprünglichen Histogrammes
ansehen, durch welche die explizite Abhängigkeit des Datensatzes von Stich-
probengröße, Blinkdauer und Auflösung des Fotos eliminiert wird.
Fehlerrechnung. Die Fehler der experimentellen Geschwindigkeitsverteilung sind
Zählfehler, die grob abgeschätzt werden können über
ΔN(i)= )i(N ⇒ Δgesges
iiexp Nv
)i(NNv
)v,v(N)v(f
Δ=
ΔΔ
= .
Zwar handelt es sich eigentlich um Fehler beim Abmessen der Strichlängen, diese
führen jedoch zu falschen Zuordnungen und damit falschen N(i)-Werten.
Um beurteilen zu können, wie gut sich die durch Auszählen gefundene Geschwindig-
keitsverteilung durch eine Maxwell-Boltzmann Geschwindigkeitsverteilung erklären
lässt, werden aus den experimentellen Daten Kandidaten für den Parameter
qT=kBT/m ermittelt und die resultierenden Verteilungsfunktionen ftheo(v) mit der
punktweise definierten Verteilungsfunktion fexp(v) verglichen. Zur Bestimmung von qT
bieten sich vier verschiedene Methoden an. Die ersten drei verwenden klare
Merkmale von ftheo(v) und fexp(vi), die zur Deckung gebracht werden, während die
vierte eine ‚Bestanpassung’ nach der Methode der kleinsten Quadrate darstellt.
Grundpraktikum Physikalische Chemie, Versuch1: Gaskinetische Definition der Temperatur 13
Tabelle 2. Bestimmung von qT=kBT/m aus den experimentellen Daten
Angepasste
Größe
Bestimmung
aus Experiment
Zusammenhang mit qT
(nach Theorie)
Häufigste bzw.
wahrscheinlichste
Geschwindigkeit
vw
v(max(N(i)))
2w
BTw v
mTkq
mkTv ==⇒=
Mittel- bzw.
Erwartungswert
der
Geschwindigkeit
∑∑
=
ii
iii
exp )v(N
)v(Nvv
²v2m
Tkqq2
q2²vexp
q1²vdv)v(fvdvv
BTT
0 TT0
π==⇒
π=
⎟⎟⎠
⎞⎜⎜⎝
⎛−⋅⋅=⋅⋅= ∫∫
∞∞
Mittel- bzw.
Erwartungswert
der quadratischen
Geschwindigkeit
∑∑
=
ii
iii
exp )v(N
)v(N²v²v
2²v
mTkqq2
q2²vexp
q1³vdv)v(f²vdv²v
BTT
0 TT0
==⇒=
⎟⎟⎠
⎞⎜⎜⎝
⎛−⋅⋅=⋅⋅= ∫∫
∞∞
Minimierung der
Abstandsquadrate
(AQS)
( )∑=
⎟⎟⎠
⎞⎜⎜⎝
⎛
⋅ΔΔ
−⎟⎟⎠
⎞⎜⎜⎝
⎛−=
gesN
i ges
i
T
i
T
iT Nv
)v,vNq²vexp
qv)q(AQS
0
2
2,
zu berechnen für eine Reihe von Werten von qT
Wenn man die AQS für einige
Werte berechnet und graphisch
aufträgt, lässt sich die Position
des besten Wertes für qT (also
kleinstes AQS) leicht abschätzen
(siehe nebenstehende Grafik: der
beste Wert ist qT=0,05556). 0,95
0,96
0,97
0,98
0,99
1
1,01
0,05 0,052 0,054 0,056 0,058 0,06q_i=kT/m
AQ
S
1
Grundpraktikum Physikalische Chemie, Versuch1: Gaskinetische Definition der Temperatur 14
Tabelle 3. Aufbau einer typischen Auswertetabelle unter Excel.
Primärdaten Weiter gerechnet Verteilungsfunktionen
kBT/m
aus vmax
kBT/m
aus <v>
kBT/m
aus <v²>
kBT/m
aus χ2
Bewer-tung
s N v N⋅v N⋅v² f_exp Δf_exp f_theo_1 f_theo_2 f_theo_3 f_theo_4 (f_theo_4 -f_exp)²
Pixel m/s m/s m²/s² s/m s/m s/m s/m s/m s/m s/m
0 N(0) ges
0
NvN⋅Δ
ges
0
NvN⋅Δ
1 N(1) ges
1
NvN⋅Δ
ges
1
NvN⋅Δ
2 N(2) ges
2
NvN⋅Δ
ges
2
NvN⋅Δ
... ... ... ...
Nges=
∑i
)i(N
∑i
i )i(Nv
∑
ii )i(N²v
Σ dieser Spalte
=AQS
0
0,5
1
1,5
2
2,5
3
3,5
0 0,5 1 1,5v [m/s]
f(v) d
v
Experiment
aus v_waus <v>
aus <v²>best_fit
v / m s-1
Grundpraktikum Physikalische Chemie, Versuch1: Gaskinetische Definition der Temperatur 15
6. Anhang
Wichtige Integrale im Zusammenhang mit Geschwindigkeitsverteilungen
²a21²)axexp(³xdx
41a²)axexp(²xdx
a21²)axexp(xdx
a²)axexp(dx
a1)axexp(dx
0
2/3
0
0
0
=−⋅
π=−⋅
=−⋅
π=−⋅
=−⋅
∫
∫
∫
∫
∫
∞
−∞
∞
∞
∞−
∞
7. Literatur
Försterling/Kuhn: Physikalische Chemie in Experimenten P. Ander, A. Sonnessa: Principles of Chemistry, § 5-5 R. Becker: Theorie der Wärme, § 25 O. Hittmaier, G. Adam: Wärmetheorie, S. 207 f S.M. Blinder: Advanced Physical Chemistry, § 12 Lehrbücher der physikalischen Chemie (Atkins, Wedler)
8. Weitere Fragen
Wie lautet nun die gaskinetische Definition der Temperatur?
Warum ist die Temperatur eine intensive Größe?
Was sagen die Hauptsätze der Thermodynamik über die Temperatur aus?
Wie funktioniert im Labor die Messung der Temperatur?
Worin besteht der Unterschied zwischen Temperatur und Wärme?
Was versteht man unter thermischem, mechanischem, chemischem und
thermodynamischem Gleichgewicht?
Welche Aussagen zur Entropie kann man für diesen Modellversuch treffen?
Grundpraktikum Physikalische Chemie, Versuch1: Gaskinetische Definition der Temperatur 16
Teamname: Messdatum τhell / ms:
10 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 100 110 120 130 140 150 160 170Pixel Pixel
mm / Pixel
mPuck / kg: fRüttel/ Hz:
dv / (m/(s Pixel))
Aus Auswertung: vmax / (m/s) <v> / (m/s) <v²> / (m²/s²)
0123456789
1011121314151617181920212223242526272829303132333435363738394041424344454647
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