Bildung als Herausforderung. Wohin steuert das deutsche Bildungssystem?
Kai Maaz Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung didacta die Bildungsmesse 2017 | Stuttgart | 17. Februar 2017
Der nationale Bildungsbericht
Das deutsche Bildungssystem zwischen Bildungsexpansion und -integration
Sechs zentrale Handlungsfelder
• Anhaltende Expansion zu höherer Bildung und Probleme im unteren Qualifizierungsbereich
• Soziale Disparitäten als bekanntes, anhaltendes Strukturproblem
• Regionale Disparitäten als bekanntes, sich verschärfendes Strukturproblem
• Verschiebungen in der Qualifikationsstruktur
• Bedarfsgerechtigkeit des öffentlichen Bildungssystems als Problem
• Migration als multidimensionale Herausforderung und Chance
Das deutsche Bildungssystem zwischen Bildungsexpansion und -integration:
Anhaltende Bildungsexpansion und zugleich Probleme im unteren Qualifizierungsbereich
• Relative Konstanz im mittleren Qualifikationsbereich, Rückgang beim Hauptschulabschluss, unveränderter Anteil formal Nichtqualifizierter
• Personen mit Migrationshintergrund ähnlich oft mit Hochschulabschluss wie die ohne Migrationshintergrund, aber häufiger ohne beruflichen Abschluss
Steigender Bildungsstand der Bevölkerung, aber an der steigenden Bildungsbeteiligung partizipieren nicht alle gleichermaßen
• An der steigenden Bildungsbeteiligung partizipieren nicht alle gleichermaßen
• Auf die Gruppe der formal gering oder nicht Qualifizierten ist weiterhin verstärkt der bildungspolitische Blick zu richten
• Auch geht es darum, die Zahl der Jugendlichen, die das allgemeinbildende Schulsystem ohne einen qualifizierten Schulabschluss verlassen, weiter zu verringern
• Von besonderer Bedeutung bleibt dabei die Gestaltung der Schnittstelle zwischen erstem allgemeinbildendem (Haupt-)Schulabschluss, Berufsvorbereitung im Übergangssystem und Berufsausbildung
Anhaltende Bildungsexpansion und Probleme im unteren Qualifizierungsbereich
Das deutsche Bildungssystem zwischen Bildungsexpansion und -integration:
Soziale Disparitäten als bekanntes, anhaltendes Strukturproblem
• Anteil an unter 3-jährigen Kindern mit Migrationshintergrund in Kindertages-einrichtungen seit 2009 verdoppelt (22 %), aber größere Differenz zu Kindern ohne Migrationshintergrund
• Erst zuletzt leichte Verringerung der Differenz zu Kindern ohne Migrations-hintergrund bei den 3- bis unter 6-Jährigen
Zunehmender Trend der Bildungsbeteiligung im Kindergartenalter bei bestehenden Disparitäten
Seltenere Nutzung von non-formalen Bildungs-angeboten durch Kinder aus sozial weniger begünstigten Familien und mit Migrationshintergrund
• Etwa ein Viertel der 3- bis 5-Jährigen mit Sprachförderbedarf im Deutschen
• Erhöhter Sprachförderbedarf und häufiger verspätete Einschulung bei Kindern aus Elternhäusern mit niedrigem Schulabschluss sowie mit nicht deutscher Familiensprache
Sprachliche Disparitäten bereits vor Schulantritt
• 15-Jährige mit Migrationshintergrund erzielen niedrigere Kompetenzwerte als Jugendliche ohne Migrationshintergrund
• Dies betrifft insbesondere Jugendliche aus der Gruppe mit niedrigem sozioökonomischen Status
Disparitäten in den Kompetenzen bleiben bei Verbesserungen weitgehend bestehen
Unterschiede in der Bildungsbeteiligung nach Migrationshintergrund
Unterschiede in der Bildungsbeteiligung nach Migrationshintergrund
• Bei gleichem sozioökonomischen Status verringern sich die Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund in der Verteilung der Bildungsgänge 2012
Unterschiede in der Bildungsbeteiligung nach Migrationshintergrund
Jugendliche mit maximal Hauptschulabschluss weiter mit großen Zugangsproblemen zur Berufsbildung
46,6 27,3
49,7 32,3
52,9 35,5
19,3
12,9
20,3
13,6
22,9
17,3
34,1
59,8
30,0
54,1
24,2 47,3
0
10
20
30
40
50
60
70
80
90
100
2005 Deutsche 2005 Ausländer 2009 Deutsche 2009 Ausländer 2014 Deutsche 2014 Ausländer
Duales System Schulberufssystem Übergangssystem
• Zugang von Studienberechtigten zu dualem und Schulberufssystem weit unterproportional zu ihrem Anstieg bei den Schulabschlüssen
• Mittlerer Schulabschluss mit Abstand wichtigstes Schulniveau in Berufsausbildung
• Nur jeder zweite ausländische Jugendliche, der ins Berufsbildungssystem übergegangen ist, beginnt eine vollqualifizierende Ausbildung
Abb. E1-8web: Neuzugänge in das berufliche Ausbildungssystem 2005 bis 2014 nach Ausbildungssektoren und Staatsangehörigkeit (in %)
• Hohe Stabilität der Berufszusammensetzung in den Segmenten über die letzten Jahre
• Beide obere Segmente fast reine Berufsfelder für Studienberechtigte und Neuzugänge mit mittlerem Abschluss
• Quantitative Verschiebung zu oberen Segmenten
Starke Segmentation der Berufe nach Vorbildungsniveau
• Positive Entwicklungen in der Bildungsgangbeteiligung schlagen sich bei den erreichten Abschlüssen v. a. beim mittleren Abschluss nieder
• Ausländische Jugendliche mehr als doppelt so häufig ohne Hauptschulabschluss und weniger als halb so oft mit allgemeiner Hochschulreife
Deutliche Unterschiede zuungunsten ausländischer Jugendlicher in der Qualifikationsstruktur
• Weiter steigende Gesamtweiterbildungsteilnahmequote, aber soziale Disparitäten nach Bildungs- und Erwerbsstatus sowie Migrationshintergrund
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Verstärkte Teilnahme an Weiterbildung bei fortdauernden Disparitäten
Weiterbildungsteilnahme 2007 und 2014 nach Migrationshintergrund, allgemeinbildendem und beruflichem Abschluss
• Die Frage der sozialen Selektivität bleibt trotz Erfolgen aktuell
• Ansätze zum Abbau sozialer Selektivität sollten über die verschiedenen Bildungsbereiche hinweg entwickelt und ausgebaut werden, statt punktueller Schritte in der jeweiligen Bildungsstufe oder -einrichtung
• Eng verbunden mit den sozialen Disparitäten sind migrationsspezifische Disparitäten beide sind bei der Entwicklung von Lösungsansätzen parallel zu berücksichtigen
• Es ist gelungen, den Anteil der Personen mit Migrationshintergrund ohne einen allgemeinbildenden und beruflichen Bildungsabschluss zu reduzieren
• Unterschiede zu Personen ohne Migrationshintergrund bleiben jedoch unübersehbar und müssen weiter abgebaut werden
Soziale Disparitäten als bekanntes, anhaltendes Strukturproblem
Das deutsche Bildungssystem zwischen Bildungsexpansion und -integration:
Regionale Disparitäten als bekanntes, sich verschärfendes Strukturproblem
• Über ein Drittel der Kinder mit nicht deutscher Familien-sprache besucht Kindertageseinrich-tungen, in denen die Mehrheit der Kinder zu Hause ebenfalls kaum oder wenig Deutsch spricht
• In Ballungszentren betrifft dies mehr als die Hälfte aller Kinder mit nicht deutscher Familiensprache
Ausgeprägte migrationsspezifische Segregations-tendenzen in Kindertageseinrichtungen
• Zunehmender Trend einer 2-Säulen-Struktur neben der Förderschule
• Länderunterschiede in der Kombination und schulinternen Organisation mehrerer Bildungsgänge innerhalb einer Schulart
• Immer mehr Schülerinnen und Schüler in integrierten Klassen
Schulstrukturen der Länder weiterhin hoch differenziert
• Angebot und Nachfrage im dualen System seit 2007 rückläufig
• Besonders prekäre Ausbildungsmärkte in Verdichtungsräumen Nordrhein-Westfalens, Hessens und Niedersachsens sowie in Schleswig-Holstein
Extreme regionale Disparitäten in Angebots-Nachfrage-Relation v. a. in West-Ost-Richtung
• Regionale Disparitäten sind ausgeprägt und schreiben sich fort
• Die regionale Betrachtungsperspektive sollte je nach Bildungsbereich neu unterschiedlich ausgerichtet sein:
• Ist es in der frühkindlichen Bildung und Grundschule noch das engere Wohnumfeld, so erweitert sich die Region im Bereich der Sekundarschule
• Für die berufliche Bildung ist der Blick eher auf strukturell verknüpfte Wirtschaftsräume zu richten, bei denen Ländergrenzen keine Relevanz haben müssen
• Unterschiede zu erkennen und auf sie ausgleichend zu reagieren, bleibt eine zunehmend wichtiger werdende Anforderung für alle Beteiligten in Bildungspolitik und Bildungspraxis eine proaktive regionale Bildungspolitik wird immer mehr mit Blick auf die Zielfunktionen des Bildungssystems wichtig
Regionale Disparitäten als bekanntes, sich verschärfendes Strukturproblem
Das deutsche Bildungssystem zwischen Bildungsexpansion und -integration:
Verschiebungen in der Qualifikationsstruktur
• Kontinuierlicher Rückgang der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss
• Anhaltender Anstieg beim mittleren Abschluss und der allgemeinen Hochschulreife
• Zunehmend erreichen Jugendliche im Zeitverlauf mehrere Schulabschlüsse
Trend zu höher qualifizierenden Abschlüssen hält an
• Weiter rückläufige Neuzugänge zu den vollqualifizierenden Sektoren der Berufsausbildung; 2015 erstmals seit 10 Jahren Anstieg der Neuzugänge zum Übergangssystem (um 7,5 %)
• Teilweiser Ausgleich des demografischen Rückgangs in den ostdeutschen Länder durch Zuwanderung westdeutscher Studierender
Seit 2013 mehr Studienanfängerinnen und -anfänger als Neuzugänge zum dualen System
• In der öffentliche Debatte in Deutschland wird in den vergangenen Jahren das Verhältnis zwischen dualer Ausbildung und Hochschulbildung verstärkt thematisiert
• Hier ist weiterhin auf notwendige Differenzierungen zu drängen und der Frage nachzugehen, ob und wie weit neue Segmentationslinien und soziale Disparitäten entstehen
• Zu klären ist, welche Auswirkungen der Trend zur Hochschulbildung sowohl für die berufliche Ausbildung als auch für das Hochschulsystem hat und zu neuen Ausbildungsstrukturen führt: z. B. duale Hochschulstudiengänge, neue Formen der Durchlässigkeit und des Hochschulzugangs
• Zu beobachten ist weiterhin, wie sich bei einem anhaltenden Trend zum Hochschulstudium die Übergänge in den Arbeitsmarkt und Berufsperspektiven für die Absolventinnen und Absolventen der unterschiedlichen Ausbildungsabschlüsse entwickeln
Verschiebungen in der Qualifikationsstruktur
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Das deutsche Bildungssystem zwischen Bildungsexpansion und -integration:
Bedarfsgerechtigkeit des öffentlichen Bildungssystems als Problem
• Freie Träger stellen 11 % des Schulangebots, darunter v. a. kirchliche Träger
• Grundschulen und Förderschulen haben anteilig die meisten Schulen in freier Trägerschaft
• Starker Anstieg insbesondere in Ostdeutschland
• In ländlichen Regionen ersetzen sie teilweise das rückläufige Angebot öffentlicher Schulen
Deutlicher Anstieg von Schulen in freier Trägerschaft
Schulen in freier Trägerschaft 2006/07 und 2014/15 nach Ländern
• Am Rande des Hochschulsystems Diffusionsprozesse durch neue Kooperationsformen mit nicht akademischen Einrichtungen
• Studienanfängeranteil an privaten Hochschulen ebenfalls leicht steigend
Weiter steigende Zahl privater Hochschulen
• Die zunehmenden (v. a. privaten) Initiativen zur Gründung von Schulen und Entwicklung von Studiengängen lassen sich auch als Mängel in der Bedarfsgerechtigkeit der öffentlichen Bildungsinfrastruktur deuten
• Zur Diskussion stehen mit der institutionellen Heterogenisierung wenigstens drei Fragen an alle Akteurinnen und Akteure im Bildungswesen
• Wird damit eine Dynamik freigesetzt, die eher zur Erweiterung von Bildungsoptionen für alle führt oder eher zu neuen sozialen Segmentationsprozessen?
• Wird mit ihr die demokratische Legitimation und gesellschaftliche Integrationsfunktion des Bildungssystems gestärkt?
• Welche Rückwirkungen hat sie auf das öffentliche Bildungssystem?
Bedarfsgerechtigkeit des öffentlichen Bildungssystems als Problem
Das deutsche Bildungssystem zwischen Bildungsexpansion und -integration:
Migration als multidimensionale Herausforderung und Chance
• Anteil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund im Jahr 2013 bei 21 %, insbesondere aus EU-Mitgliedsstaaten
• Großteil lebt in Westdeutschland und Berlin (96 %)
• Anteil der Kinder unter 10 Jahren mit Migrationshintergrund liegt bei einem Drittel der altersgleichen Bevölkerung; in einzelnen Ballungszentren bei mehr als 50 %
Anstieg v. a. bei der jüngeren Bevölkerung mit Migrationshintergrund
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• Zwischen Januar 2015 und April 2016 ca. 682.000 Asylerstanträge
• Mehrheit der Asylbegehrenden unter 25 Jahre alt
• 59.000 unbegleitete ausländische Minderjährige zum 31. März 2016
Kontinuierlicher Anstieg der gestellten Asylanträge seit 2013
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• Zwischen 2010 und 2016 Ausbau der Vorbereitungsklassen teilweise um mehr als das 20-fache
• EU-Binnenwanderung als auch vermehrte Zuwanderung von Schutz- und Asylsuchenden als mögliche Ursachen
Seit 2010 erheblicher Ausbau der Vorbereitungs-klassen in den Ländern
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• Bedarfsberechnung auf Basis der EASY-Registrierten und der Asyl-antragszahlen in 2 Varianten
• Jährlich 2,2 bis 3 Mrd. Euro für frühkindliche Bildung, Schule und Ausbildung zusätzlich erforderlich
Substanzieller Personal- und Finanzbedarf für die Integration Schutz- und Asylsuchender
• Es ist gelungen, den Anteil der Personen mit Migrationshintergrund ohne einen allgemeinbildenden und beruflichen Bildungsabschluss zu reduzieren
• Unterschiede zu Personen ohne Migrationshintergrund bleiben jedoch unübersehbar und müssen weiter abgebaut werden
• Migrationshintergrund stellt kein isoliertes Phänomen dar, sondern wirkt sich bei Bildungsprozessen immer zusammen mit anderen Merkmalen aus
• Die insgesamt zunehmende Heterogenität von Lerngruppen ist auch als Potenzial zu sehen (z. B. internationale Netzwerke, Mehrsprachigkeit) es bedarf der Entwicklung innovativer pädagogischer Lösungen
Migration als multidimensionale Heraus-forderung und Chance
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Zentrale Herausforderungen
• Weiterer Ausbau vorschulischer Bildungs- und Betreuungsangebote
• Möglichst frühe Diagnose und Förderung von Entwicklungsrückständen und auf den Kompetenzerwerb bezogene Defizite
• Von besonderer Bedeutung bleibt die Gestaltung von Schnittstellen individueller Bildungsverläufe, insbesondere die, zwischen dem erstem allgemeinbildendem (Haupt-)Schulabschluss, Berufsvorbereitung im Übergangssystem und Berufsausbildung
• Kompetenzrückstände in den Basiskompetenzen kompensieren
• Entzauberung des oft als Worthülse benutzten Begriffs der „individuellen Förderung“ und flächendeckende Umsetzung eines individuell fördernden Unterrichts
• Kreative Rekrutierung des pädagogischen Personals und wo noch nicht geschehen, eine Reform der Lehrerausbildung
• Entwicklung und Schärfung ganztagsschulischer Konzeptionen
Zentrale Herausforderungen
• Für alle jungen Menschen ob mit oder ohne Migrationshintergrund wäre eine durchgängige sprachliche Förderung in allen Schulfächern wünschenswert und in der Berufsbildung eine integrative Sprachförderung
• Migrationsspezifische Disparitäten sind eng mit sozialen Disparitäten verbunden beide sind bei der Entwicklung von Lösungsansätzen parallel zu berücksichtigen
• Ansätze zum Abbau von Bildungsungleichheiten sollten über die verschiedenen Bildungsbereiche hinweg entwickelt und ausgebaut werden, statt punktueller Schritte in der jeweiligen Bildungsstufe oder -einrichtung
• Öffnung des Bildungssystems und Flexibilisierung von Bildungsverläufen
• Eine Herausforderung für das ganze Bildungssystem stellt die große Zahl der Schutz- und Asylsuchenden dar Insellösungen für diese Personengruppe sollten als Dauerperspektive vermieden werden – auch wenn sie temporär notwendig sind
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit
Prof. Dr. Kai Maaz
Deutsches Institut für Internationale Pädagogische Forschung Warschauer Straße 34-38 10243 Berlin
030 – 293360–45 [email protected]
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