Praxis der Holistischen
Neuropsychologischen
Rehabilitation
• Dipl-Psych. Wolfgang Kühne
Asklepios Klinik Schaufling
Fachmesse Integra, Wels 15.09.2004
• Viele SHT-Betroffene mit guter
körperlicher Genesung erleben große
Probleme bei der beruflichen und
sozialen Wiedereingliederung v.a.
wegen kognitiver, emotionaler und
verhaltensbezogener
Verletzungsfolgen.
• Diese Folgen werden vom Betroffenen
oft unterschätzt oder nicht
wahrgenommen
• Auch für Familien und Freunde,
Vorgesetzte und Arbeitskollegen sind
diese Unfallfolgen meist schwer zu
verstehen
Komponenten eines holistischen
neuropsychologischen
Therapieprogramms
(nach Prigatano 2004)
5 miteinander verbundene Aktivitäten:
• Aufbau eines therapeutischen Milieus
• Kognitives Training in Kleingruppen
• Psychotherapie
• Geschützte Arbeitsversuche
• Aktive Einbeziehung, Unterstützung
und Schulung von Familienmitgliedern
Das Intensiv-Reintegrations-
Programm IRP
• intensive neuropsychologische,
emotionale und psychosoziale
Förderung
• in einer stabilen Kleingruppe
(6 - 8 Rehabilitanden)
• Dauer: 12 Wochen
• Beginn jeweils Januar, Mai und
September
Grundpfeiler der Rehabilitation im IRP
• Lernen in der Gemeinschaft statt
Vereinzelung
• Aktive Trainingsgruppe mit Übernahme
von Verantwortung für den
Rehaverlauf, keine passive
Patientenrolle
• Erleben eigener Stärken und
Schwierigkeiten
• Lernen am Modell der anderen
Rehabilitanden
• Training von kognitiven, psychosozialen und alltagspraktischen Fähigkeiten
• Förderung von Selbst-Management-Kompetenzen zur Alltagsbewältigung
• Emotionale Unterstützung• Entwicklung einer realistischen
Selbsteinschätzung durch die aktive Auseinandersetzung mit eigenen Problemen (Einsichtsförderung) und das Herausarbeiten erhaltener Stärken (Ressourcenorientierung)
• Vorbereitung einer sinnvollen regelmäßigen (Arbeits-)Tätigkeit
Allgemeine Ziele der Therapie
Möglichst hohe Lebensqualität und
Unabhängigkeit; mit den Verletzungs-
folgen leben lernen, (“Frieden schließen
mit dem nicht mehr Änderbaren”);
Erwerb von Kompensationsmethoden,
Reorganisation und Adaptation als ein
Weg zur Reintegration
Selbstwert aufbauen und fördern (“Ich bin
wertvoll”)
Prinzipien
• Die Individualität jedes Patienten beachten (Lebensweg, Beeinträchtigungen, Ressourcen,Copingbemühungen), Vermeidung von Verallgemeinerungen (“Frontalhirnsyndrom”)
• multimodales ekklektizistisches flexibles Vorgehen notwendig (“kein Schulendenken”)
• stark strukturiertes Vorgehen mit vielen Redundanzen und Wiederholungen
• Verwendung von schriftlichen Hilfen
Montag Dienstag Mittwoch Donnerstag Freitag
8.00 – 10.00
Tagesplanung, Vorbereitung auf die Gruppeindividuelle Zusatztherapien(KG, Sport, etc.)
Tagesplanung, Vorbereitung auf die Gruppeindividuelle Zusatztherapien(KG, Sport, etc.)
Tagesplanung, Vorbereitung auf die Gruppeindividuelle Zusatztherapien(KG, Sport, etc.)
Tagesplanung, Vorbereitung auf die Gruppeindividuelle Zusatztherapien(KG, Sport, etc.)
Tagesplanung, Vorbereitung auf die Gruppeindividuelle Zusatztherapien(KG, Sport, etc.)
10.00- 11.00
Wochen-Planung
Kognitive Therapie
Kognitive Therapie
Kognitive Therapie
Wochen-Rückblick
11.00-12.00
Gruppe: Leben mit einer Hirnschädigung
SozialesKompetenz-training
SozialesKompetenz-training
SozialesKompetenz-training
Gruppe: Leben mit einer Hirnschädigung
12.00–13.00
Mittagessenund Pause
Mittagessenund Pause
Mittagessenund Pause
Mittagessenund Pause
Mittagessenund Pause
13.00–14.00
Individuell: Sport, Koordination, Motorische Trainingstherapie, Ergometer, Entspannung etc.
14.00-15.00
PC- gestütztesNeuropsycholo-gisches Training
PC-gestütztes Neuropsycholo-gisches Training
PC-gestütztesNeuropsycholo-gisches Training
PC-gestütztesNeuropsycholo-gisches Training
PC-gestütztesNeuropsycholo-gisches Training
15.00-17.00
Zeit für individuelleTherapien und Einzelgespräche
Zeit für individuelleTherapien und Einzelgespräche
Zeit für individuelleTherapien und Einzelgespräche
Zeit für individuelleTherapien und Einzelgespräche
Angehörigen-beratung/seminar
Zusätzlich: Klinikinterne oder externe Belastungserprobung (zeitlich variabel vormittags oder nachmittags)
Aufbau einer therapeutischen
Gemeinschaft und eines
therapeutischen Milieus
Vermehrte Schwierigkeiten
im Zusammenleben
mit Familienangehörigen,
Freunden und
Arbeitskollegen gehören zu den
häufigsten langfristigen
Problemen von
Menschen mit
Schädelhirnverletzungen
„Du schaffst es nur allein,
aber alleine kannst Du es nicht
schaffen“
Motto einer Selbsthilfegruppe
Soziale und emotionale Intelligenz
fördern• Störungen der höheren zerebralen
Funktionen haben meist auch psychosoziale Konsequenzen.
• Die Fähigkeit, Emotionen und soziale
Signale wahrzunehmen und korrekt
einzuschätzen
• Regulation und Kontrolle sozialer und emotionaler Impulse und Äußerungen• Empathie und Perspektivenwechsel
• Fähigkeit zu kooperativem Handeln
• Fähigkeit, Hilfe anzufordern /
anzunehmen
Kognitive Förderung und kognitives Training
• PC-gestützt und schriftliche Aufgaben • Zunächst Aufbau ausreichender
Konzentrationsfähigkeit (ggf. mit regelmäßigen kurzen Pausen)• Präzise Beachtung der Instruktionen
und entsprechende Umsetzung• Routinemäßige selbständige
Überprüfung des Arbeitsergebnisses(Selbst-Monitoring, Kontroll-Check)
• Kompensation von Merkfähigkeitsproblemen
Einsicht in die Verletzungsfolgen als Voraussetzung für die erfolgreiche Rehabilitation
Kernproblem: Das Gehirn als Organ, das unsere Erfahrungen auswertet bzw. bewertet und dadurch Einsichten ermöglicht, ist verletzt
• Erfahrungen werden u.U. ignoriert, verzerrt wahrgenommen oder fehlinterpretiert
• Gefahr von Selbstüberschätzung o. Bagatellisierung der Unfallfolgen (v.a. der nicht unmittelbar erlebbaren)
> v.a. bei bifrontalen Läsionen ist Einsicht oft sehr schwierig zu erzielen
Förderung von Einsicht und Kompensationskompetenz
• Perspektivenwechsel anregen • Dosierte Konfrontation:
auf Diskrepanzen zwischen Selbst- und Fremdeinschätzung hinweisen
• Ziele formulieren, Ziele überprüfen• Rückmeldungen aus der Gruppe als
Spiegel und Lernchance fördern• Realitätsüberprüfungen unterstützen;
ggf. kontrolliertes Scheitern in realen Alltagssituationen
Zwischenbilanz: Wo stehe ich ? • Was sind meine Stärken ?
Auf welche Fähigkeiten kann ich aufbauen ?
• Was sind zur Zeit meine wichtigsten (verletzungsbedingten) Schwierigkeiten und Probleme ?
• Was kann ich (muss ich) tun, damit ich mit meinen Schwierigkeiten besser zurecht komme (d.h. erfolgreicher werde/ zufriedener lebe) ?
• Welches Vorgehen (Denken, Fühlen, Handeln) ist dabei hilfreich? Was davon setze ich bereits um ? Welche Erfahrungen mache ich dabei ?
Psychotherapie
• mit den Verletzungsfolgen leben zu lernen
• Unterstützung der Rehabilitanden im Kampf mit dem „Normalitätsverlust“ und dem erlebten Riss durch ihr Leben
• Selbstwert aufbauen und fördern• Frustration, Verwirrtheit, Ohnmacht,
Ängste reduzieren helfen (Kontrolle -in Teilbereichen- wiedererlangen)
Die subjektive Seite einer
Hirnverletzung
Wie erleben selbst betroffene
Ärzte und Psychologen ein
schweres SHT?
Lawrence R. Freedman, Professor für
innere Medizin:
„I felt that I had been far, far away and
had now returned“. „I would have
wanted to hear about the experiences
to be anticipated after such an injury,
about their evolution, about their
impact on me personally and
professionally.“
Die subjektive Seite einer
Hirnverletzung
Wie erleben selbst betroffene
Ärzte und Psychologen ein
schweres SHT?
Frederick Linge, Psychologe:
„Loneliness is so much a part of head
injury.“ and „Hope is a primary
necessity for rehabilitation: it sustains
survivor and family for the long
journey that lies ahead.“
2 Erfolge in meinem Leben, die mir sehr wichtig sind („auf die ich stolz bin“)
> Nennen Sie bitte jeweils den Erfolg
(Titel bzw. Überschrift: Worum geht es ?)
> Beschreiben Sie den Erfolg Anschauliche Schilderung Ihres Weges zum Erfolg; Was mussten Sie dafür tun? Welche Schwierigkeiten mussten Sie überwinden?
> Warum ist dieser Erfolg wichtig für Sie ?Was bedeutet dieser Erfolg weiterhin für Sie ?
Vom Opfer zum Überlebenden
Opfer• Angst• Hadern mit dem
Schicksal • Wut auf Verursacher• keine Perspektive im
Leben• passiv, abwartend• Hilflosigkeit, Ohnmacht,
Depressivität• Resignation
Überlebender• Hoffnung• Nach vorne schauend • “zweite Chance”, “das
Beste daraus machen”• “Frieden schließen mit
der Situation”• aktiv, kämpfend• wieder schrittweise
Kontrolle und Einfluss auf das eigene Leben nehmend
Geschützte Arbeitsversuche
• Klinikinterne oder –externe Bealstungserprobungen
• Zeitlich variabel: von 1 bis 2 Stunden täglich bis zu halbtags oder ganztags
• Inhaltliche Tätigkeit abhängig von Interessen, Fähigkeiten und Risiko-bewertungen
• Einsatz ähnlich wie Praktikanten in realen Arbeitssituationen
Berufliche Wiedereingliederung
• ca. 25 % der Tln. arbeiten nach dem IRP langfristig wieder halb- bis vollschichtig
• ca. 55 % üben eine regelmäßige stundenweise Tätigkeit aus
• ca 20 % können keine regelmäßige Tätigkeit ausüben
Übergänge:
• Bei den meisten Tln. ist nach dem IRP
eine individuelle ambulante
Nachbetreuung und Case-
Management wichtig und indiziert
(Unterstützung des Transfers der
Rehaerfolge/ -erfahrungen)
• Alltagsstrukturierung wesentlich
• ggf. berufsfördernde Maßnahmen
Die Bedeutung der Angehörigen / Familien
• SHT führt zur langfristigen Belastung der ganzen Familie; die Belastungen nehmen über die Jahre nicht ab, sondern oft zu
• Psychische Belastung von (Ehe-)Partnern wegen Rollenkonflikten meist höher als von Eltern
• Gefahr der sozialen Isolierung von Familien, Abnahme der Außenkontakte
Die Bedeutung der Angehörigen / Familien
• Nach 2 bis 5 Jahren schwinden häufig die Kräfte und die Motivation der Angehörigen zur Förderung der Verletzten; vermehrt Krisen und Trennungen
• 49 % der beim Unfall verheirateten Paare lassen sich innerhalb von 8 Jahren nach schwerem SHT scheiden (Yurdakul, 1997)
• Wenn ein Elternteil ein SHT erlitten hat, haben 40 % der Kinder Schulprobleme (Pessar, 1993)
Einbeziehung von Angehörigen und Freunden
• Interview zu Reha-Beginn: Belastungen der Angehörigen, ihre Reha-Ziele und ihre Erwartungen
• Individuelle Beratungen • Telefonkontakte• Informationsseminare• Angehörigengruppe• Beratung nach Reha-Ende
Häufige zentrale Themen
• Prognose: was ist realistischerweise zu
erwarten ? Was wird problematisch
bleiben, was kann sich noch ändern ? Was
ist dazu nötig /hilfreich ?
• Problembewertung: was kann R. willentlich
beeinflussen? Was ist organisch ?
• Perspektive: wie entwickelt sich mein
Leben ?
Welche Lebensqualität werde ich haben ?
Ansatzpunkte zur Unterstützung der Angehörigen
• Information und Edukation: wiederholt, aktuell;
verständliche anschauliche Information bzgl.
Verletzungsfolgen (Video, Handouts)
• Aufklärung über zu erwartende Alltagsfolgen,
Abbau von Mißverständnissen/Fehlattributionen
• Rehabilitation und Alltagsbewältigung als
längerfristigen gemeinsamen Lern- und
Problemlöseprozess verstehen
Emotionale Stabilisierung und Unterstützung der Angehörigen
• Befinden der Angehörigen beachten
• Bearbeiten von Trauer, Wut, Hilflosigkeit
• Distanz zur ausschließlichen Helferrolle fördern
• lebbare Balance zwischen den Bedürfnissen des
Angehörigen und denen des Verletzten suchen
• Anpassung an bleibende Beeinträchtigungen
schrittweise unterstützen und ermöglichen
Die therapeutische Beziehung
• ihre Qualität entscheidet oft über Fortschritt und Ergebnis der Rehabilitation
• offen und positiv, aber nicht naiv • klare und realistische Grenzen setzen• bereit zur engagierten
Auseinandersetzung• Rückmeldung gebend• transparent, strukturierend• belastbar
Therapeutische Aufgaben(nach Gauggel et al 1998 u. Sampson & Marthas 1977)
• Unterstützung und Hilfestellung
• Information / Edukation• Hinweise / Vorschläge• Klarstellung• Hinterfragen• Wiederholung,
Betonung, Zusammenfassung
• Rückmeldung• Konfrontation
• Offenes unterstützendes Klima u. Vertrauen fördern
• verletzungsrelevantes Grundlagenwissen vermitteln
• Anregungen und Lösungsvorschläge
• neue Erfahrungen und Einsichten ermöglichen
• Realitätsüberprüfungen fördern
• If I were asked I would counsel someone with a devastating injury not to focus on their losses and what might have been, but to fully live the life they have now and to carve out new and achievable dreams to fit it.“
(Claudia Ocborne: Over my head – a doctor´s own story of head
injury from the inside looking out)
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