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© Bayerischer Rundfunk 2013
KULTURKRITIK UND SENDUNG: Samstag, 19. Januar 2013
LITERATUR 14.05 – 15.00 Uhr, Bayern 2
22.05 – 23.00 Uhr WH
Diwan Büchermagazin Redaktion und Moderation: Knut Cordsen Bruno Preisendörfer, Der waghalsige Reisende. Johann Gottfried Seume und das ungeschützte Leben. Galiani Rezensent: Bernd Noack Wilhelm Genazino, Tarzan am Main. Spaziergänge in der Mitte Deutschlands. Hanser Rezensentin: Cornelia Zetzsche Bastei Lübbe Academy Knut Cordsen im Gespräch mit Ann-Kathrin Schwarz und Mario Giordano über "Deutschlands erste verlagseigene Autorenschule" Luiz Ruffato, Es waren viele Pferde. Assoziation A Rezensent: Peter B. Schumann Helmut Krausser, Nicht ganz schlechte Menschen. Dumont Rezensent: Jochen Rack Hans Fallada, Der Bettler, der Glück bringt. Osterwold Audio Hörbuch-Tipp von Monika von Aufschnaiter Diwan-Rätsel
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BEITRAG: Peter B. Schumann ANLAGE 3
Autor: In Brasilien gilt dieses Buch als einer der besten Romane des letzten Jahrzehnts.
Das ist nicht erstaunlich, denn es ist ein Solitär in der an ungewöhnlichen Werken
nicht gerade reichen brasilianischen Gegenwartsliteratur. Sein Autor Luiz Ruffato
verzichtet darin auf jegliche Geschichte, bietet auch kein Personal, an dem er sich
abarbeitet, keinen Spannungsbogen, keinerlei Identifikation für den Leser und
auch kein Thema, auf das dieser sich gerne einlässt. Immerhin hält er an zwei
klassischen Idealen fest: der Einheit des Ortes und der Zeit. Denn es gibt einen
gemeinsamen Schauplatz: São Paulo, diesen Moloch von 19 Millionen
Einwohnern, die größte Stadt im größten Land Lateinamerikas, wo der Reichtum
generiert wird und die Armut hoffnungslos wuchert. Und es gibt einen einzigen
Tag, der offensichtlich für alles gilt, was Luiz Ruffato dann auf 160 Seiten
ausbreitet: der 9. Mai 2000, ein Dienstag.
Alles Übrige bleibt Fragment, wird in 69 Teilstücken angerichtet, die vereinzelten
Wetterberichte, Rezepte, Zeitangaben, Psalme und Kontaktanzeigen
mitgerechnet. Die eigentliche Welt, in die der Leser blicken soll, ist zersplittert wie
die Gesellschaft, von der das Buch handelt: die untere Mittelschicht, die
Arbeiterklasse und auch die Arbeitslosen, die Randexistenzen und die
Ausgestoßenen – ein Universum, um das sich brasilianische Autoren nur selten
und meist mit literarischen Mitteln kümmern, die Luiz Ruffato für völlig
unangemessen hält.
Ruffato: Die wenigen Versuche, die unternommen wurden, um die Unterschicht und die
Armut in Brasilien zu beschreiben, waren naturalistischer Natur. Aber man wird
dem Kosmos der Industriearbeiter so nicht gerecht. Ich empfinde es als einen
Widerspruch, ihn mit den Mitteln des traditionellen bürgerlichen Romans
darzustellen, ein Paradox. Also habe ich den bürgerlichen Roman implodieren
lassen, um eine andere Form zu schaffen.
Autor: Luiz Ruffato stammt aus der Welt, die ihn in seinem gesamten Werk beschäftigt,
vor allem auch in seinem späteren fünf-bändigen Zyklus Provisorisches Inferno. Er
wurde 1961 in Cataguases, in der tiefsten Provinz und in ärmlichen Verhältnissen
geboren. Sein Vater war Popcorn-Verkäufer, seine Mutter Wäscherin. Die einzige
Perspektive, die sich ihm zunächst bot, war die eines Facharbeiters, eines
Mechanikers. Es gelang ihm jedoch, Publizistik zu studieren und dann als
Journalist zu arbeiten. Er lernte die Literatur kennen, eine ganz andere Art zu
denken. Doch es sollte noch mehr als zwei Jahrzehnte dauern, bis er das Buch
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mit dem seltsamen Titel Es waren viele Pferde veröffentlichte, das jetzt endlich auf
Deutsch erschienen ist – dank des kleinen Verlags Assoziation A.
Ruffato: In dem Epitaph am Anfang des Bandes heißt es: „Es waren viele Pferde / doch niemand kennt mehr ihren Namen / ihre Fellfarbe, woher sie kamen.“ Diese Zeilen aus einem Gedicht über einen der ersten Aufstände der Brasilianer gegen die
Portugiesen schildern die Pferde der Kämpfenden als eine Menge, die nicht
wusste, worum es eigentlich ging. Und so ähnlich geht es den Personen in
meinem Buch. Andererseits ist es ein Bild für den sinnlosen Wettkampf im
Kapitalismus, den einige gewinnen, während andere auf der Strecke bleiben.
Autor: Desolat ist die Gesellschaft, die Luiz Ruffato in seiner großartigen Collage
unterschiedlichster Versatzstücke der Wirklichkeit vorführt. Sie artikuliert sich
durch viele Einzelstimmen, die ihre Schwierigkeiten, ihre Konflikte, ihre Hoffnungs-
losigkeit und vor allem auch ihre Schwäche ausdrücken. Diese Arbeiterklasse hat
längst ihren Kampfgeist, für den sie einst berühmt war, begraben. Dafür ist einer
der Ihren, Lula da Silva, Staatspräsident geworden: ein Arbeiter-Präsident, der
den Kapitalismus verteidigt und die Armut verringert hat – wie Luiz Ruffato vor
kurzem öffentlich bekundete.
Er hat sein erstes großes Werk allerdings bereits 2001 geschrieben, als von
solchen Widersprüchen noch nichts zu spüren war. Das Bild der Gesellschaft von
São Paulo, das er entwirft, kann deprimierender nicht sein. „Lauter arme Schweine“ – so heißt es gleich zu Beginn – werden hier abgebildet, und auf der
letzten Seite erstirbt auch der letzte Funke Solidarität aus Angst vor der latenten
Gewalt. Selbst die Gruppe der 68er, die damals gegen die Diktatur revoltierte und
der Luiz Ruffato am Schluss sein längstes Kapitel widmet, besteht aus lauter
Gescheiterten.
Nur wenige brasilianische Autoren haben sich bisher so kritisch mit den sozialen
Verhältnissen in São Paulo auseinandergesetzt. Vorbild ist der düstere
Stadtroman Null von Ignacio de Loyola Brandão aus dem Jahr 1974. Doch damals
verheerten die Militärs Brasilien mit Folter und Mord. Heute, in der Demokratie, hat
sich zwar die Landschaft aufgehellt, aber die gesellschaftlichen Chancen sind für
viele genauso gering wie früher. Das zeigt Luiz Ruffato eindringlich in diesem
Band, den Michael Kegler hervorragend übersetzt hat.
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