Krieg in der Geschichte
(KRiG)
KRIEG IN DER GESCHICHTE
(KRiG)
Herausgegeben von
Stig Förster · Bernhard R. Kroener · Bernd Wegner · Michael Werner
Band 109
MINDERHEITEN-SOLDATEN
Ethnizität und Identität in den Armeen
des Ersten Weltkriegs
FERDINAND SCHÖNINGH
Oswald Überegger (Hg.)
Minderheiten-Soldaten
Ethnizität und Identität in den Armeen
des Ersten Weltkriegs
FERDINAND SCHÖNINGH
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(Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA;
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Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn
E-Book ISBN 978-3-657-78599-5ISBN der Printausgabe 978-3-506-78599-2
Der Herausgeber: Oswald Überegger studierte Geschichte und Politikwissenschaft an der
Leopold-Franzens-Universität Innsbruck und ist seit 2013 Direktor des
Kompetenzzentrums für Regionalgeschichte der Freien Universität Bozen.
Er habilitierte im Fach Zeitgeschichte 2017.
Titelbild: Gruppenfoto von italienischsprachigen Soldaten der Habsburgerarmee aus
dem Trentino (Museo Storico Italiano della Guerra, Rovereto)
Reihensignet: Collage unter Verwendung eines Photos von John Heartfield.
© The Heartfield Community of Heirs/VG Bild-Kunst, Bonn 1998.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur Reihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Minderheiten-Soldaten. Staat, Militär und Minderheiten im Ersten Weltkrieg –
eine Einführung
Von Oswald Überegger (Bozen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Zwischen Pflichterfüllung und Nationalgefühl. Die tschechischen Soldaten
der k.u.k. Armee
Von Richard Lein (Budapest) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25
»Italiani d’Austria«. Italienischsprachige Soldaten der Habsburgermonarchie
im Ersten Weltkrieg
Von Andrea Di Michele (Bozen). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
Kriegserfahrung als nationale Identitätsstifterin? Ethnische Polen und Dänen
als preußische Soldaten
Von Jens Boysen (Chemnitz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Die fragmentierte Front. Elsässische und lothringische Soldaten im Ersten
Weltkrieg
Von Volker Prott (Birmingham) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85
»England’s difficulty is Ireland’s opportunity.« Die Iren im britischen Heer
des Ersten Weltkriegs und das Problem multipler Loyalitäten
Von Christoph Jahr (Berlin) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
Gab es ein Minderheitenproblem in der Zarenarmee im Ersten Weltkrieg?
Von Reinhard Nachtigal (Freiburg) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119
Heralding a new society, and venerating the English King. Australische,
neuseeländische und indische Soldaten in Gallipoli und an der Westfront
Von Daniel Marc Segesser (Bern) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159
Jüdische Soldaten im Ersten Weltkrieg – eine Minderheit?
Von Gerald Lamprecht (Graz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
Schlussbemerkungen: Militärische Minderheiten als interdisziplinäre
Herausforderung
Von Nicola Labanca (Siena) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
Vorwort zur Reihe
»Der Krieg ist nichts als die Fortsetzung der politischen Bestrebungen mit veränder-
ten Mitteln. [...] Durch diesen Grundsatz wird die ganze Kriegsgeschichte verständ-
lich, ohne ihn ist alles voll der größten Absurdität.« Mit diesen Sätzen umriss Carl
von Clausewitz im Jahre 1827 sein Verständnis vom Krieg als historisches Phänomen.
Er wandte sich damit gegen die zu seiner Zeit und leider auch später weit verbrei-
tete Auffassung, wonach die Geschichte der Kriege in erster Linie aus militärischen
Operationen, aus Logistik, Gefechten und Schlachten, aus den Prinzipien von Stra-
tegie und Taktik bestünde. Für Clausewitz war Krieg hingegen immer und zu jeder
Zeit ein Ausfluss der Politik, die ihn hervorbrachte. Krieg kann demnach nur aus
den jeweiligen politischen Verhältnissen heraus verstanden werden, besitzt er doch
allenfalls eine eigene Grammatik, niemals jedoch eine eigene Logik.
Dieser Einschätzung des Verhältnisses von Krieg und Politik fühlt sich Krieg in
der Geschichte grundsätzlich verpflichtet. Die Herausgeber legen also Wert darauf,
bei der Untersuchung der Geschichte der Kriege den Blickwinkel nicht durch eine
soge nannte militärimmanente Betrachtungsweise verengen zu lassen. Doch hat seit
den Zeiten Clausewitz’ der Begriff des Politischen eine erhebliche Ausweitung er-
fahren. Die moderne Historiographie beschäftigt sich nicht mehr nur mit Außen-
und mit Innenpolitik, sondern auch mit der Geschichte von Gesellschaft, Wirtschaft
und Technik, mit Kultur- und Mentalitätsgeschichte und, nicht zuletzt, mit der Ge-
schich te der Beziehungen zwischen den Geschlechtern. All die diesen unterschied-
lichen Gebieten eigenen Aspekte haben die Geschichte der Kriege maßgeblich
mitbe stimmt. Die moderne historiographische Beschäftigung mit dem Phänomen
Krieg kann deshalb nicht umhin, sich die methodologische Vielfalt der gegenwärti-
gen Geschichtswissenschaft zunutze zu machen. In diesem Sinne ist Krieg in der
Ge schichte offen für die unterschiedlichsten Ansätze in der Auseinandersetzung
mit dem historischen Sujet.
Diese methodologische Offenheit bedeutet jedoch auch, dass Krieg im engeren
Sinne nicht das alleinige Thema der Reihe sein kann. Die Vorbereitung und nach-
trägliche »Verarbeitung« von Kriegen gehören genauso dazu wie der gesamte Kom-
plex von Militär und Gesellschaft. Von der Mentalitäts- und Kulturgeschichte mili-
tärischer Gewaltanwendung bis hin zur Alltagsgeschichte von Soldaten und
Zivilpersonen sollen alle Bereiche einer modernen Militärgeschichte zu Wort kom-
men. Krieg in der Geschichte beinhaltet demnach auch Militär und Gesellschaft im
Frieden.
Geschichte in unserem Verständnis umfasst den gesamten Bereich vergangener
Realität, soweit sie sich mit den Mitteln der Geschichtswissenschaft erfassen lässt.
In diesem Sinne ist Krieg in der Geschichte (abgekürzte Zitierweise: KRiG) grund-
sätzlich für Studien zu allen historischen Epochen offen, vom Altertum bis unmit-
telbar an den Rand der Gegenwart. Darüber hinaus ist Geschichte für uns nicht nur
die vergangene Realität des sogenannten Abendlandes. Krieg in der Geschichte be-
VORWORT ZUR REIHE8
zieht sich deshalb auf Vorgänge und Zusammenhänge in allen historischen Epochen
und auf allen Kontinenten. In dieser methodologischen und thematischen Offen-
heit hoffen wir den spezifischen Charakter unserer Reihe zu gewinnen.
Stig Förster Bernhard R. Kroener Bernd Wegner Michael Wegner
Minderheiten-Soldaten. Staat, Militär und Minderheiten
im Ersten Weltkrieg – eine Einführung
von
Oswald Überegger
Die anhaltende Konjunktur des wissenschaftlichen Interesses an der Geschichte des
Ersten Weltkriegs hat der spezifischen Forschung zum Thema in quantitativer wie
qualitativer Hinsicht zweifellos Auftrieb verliehen. Die gegenwärtige Aufmerksam-
keit, die der ›Urkatastrophe‹ zuteilwird, ist freilich vielfach – und im medialen Dis-
kurs wohl primär – eine Folge des ›Centenaires‹ von 2014, dem sich jetzt jenes von
2018 anreiht.1 Damit wird der ›Große Krieg‹ – noch einmal und wohl in ähnlicher
Intensität wie 2014 – im Mittelpunkt des wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und
medialen Interesses stehen. Das Kriegsende 1918 und die aus der Pariser Friedens-
ordnung 1919/20 hervorgegangene neue Welt – werfen förmlich eine ganze Reihe
von Fragen und Diskussionspunkten auf, die mit Blick auf die Bedeutung der damit
verbundenen Epochenzäsur und die ›ewige‹ Frage nach dem ›Ort‹ des Ersten Welt-
kriegs in der Geschichte des vergangenen 20. Jh. kontroversiell diskutiert werden.
Trotzdem lässt sich der historiographische Gang der Dinge nur aus einer Longue-
durée-Perspektive zusammenhängend und sinnhaft verstehen. Stark vereinfacht
dargestellt, hat im deutschsprachigen Raum vor allem die Operationalisierung all-
tags- und mentalitätsgeschichtlicher Ansätze in der Weltkriegsforschung schon ab
den späten 1980er-Jahren einen prägenden, multiplen Perspektivenwechsel nach
sich gezogen.2 Der vorherrschende Blick auf die als historisch relevante Entschei-
dungsträger identifizierten politischen und militärischen Eliten verlor einerseits
durch die neue Thematisierung der zivilgesellschaftlichen Implikationen des Krie-
ges sukzessive an wissenschaftlicher Attraktivität. Das individuelle oder kollektive
Kriegserlebnis nicht-kombattanter gesellschaftlicher Gruppen wurde erstmals auf
breiterer Ebene zum wissenschaftlichen Untersuchungsobjekt. Im Rahmen der sich
relativ zeitgleich ebenfalls neu etablierenden ›Militärgeschichte von unten‹ verschob
sich schließlich andererseits auch der geschichtswissenschaftliche militärhistori-
sche Fokus stärker auf das Kriegserlebnis des einfachen Soldaten. Seit den 1990er-
Jahren differenzierten sich die im Rahmen dieser paradigmatischen Interessensver-
lagerung entwickelten verschiedenen Zugänge weiter aus; im Rahmen der neuen
1 Vgl. zur wissenschaftlichen Bilanz des ›Centenaires‹ von 2014: Jost Dülffer, Einhundert Jahre Erster Weltkrieg. Eine Bilanz des Jahres 2014, in: Osteuropa 64 (2014) 11-12, S. 45–58; auch: Stig Förster, Hundert Jahre danach. Neue Literatur zum Ersten Weltkrieg, in: Neue politische Literatur 60 (2015), S. 5–25.
2 Vgl. etwa: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hrsg.), »Keiner fühlt sich hier mehr als Mensch…«. Erlebnis und Wirkung des Ersten Weltkriegs (Schriften der Bibliothek für Zeitgeschichte, Neue Folge 1), Essen 1993.
OSWALD ÜBEREGGER10
Kriegserfahrungs-Forschung und kulturgeschichtlicher bzw. -wissenschaftlicher
Forschungsimpulse wurden sie auch mit Blick auf ihre theoretisch-methodische
Grundierung zusehends verfeinert, konkretisiert und operationalisierbar gemacht.3
Hand in Hand mit diesem neuen Interesse für den ›gewöhnlichen‹ Soldaten rück-
ten bisher stets vernachlässigte oder tabuisierte Themen- und Fragestellungen in
den Mittelpunkt des geschichtswissenschaftlichen Interesses – etwa die Geschichte
des soldatischen Kriegsalltags, die verschiedenen Formen von militärischen Verwei-
gerungshaltungen oder auch – um auf das Thema des vorliegenden Sammelbandes
zu sprechen zu kommen – die Rolle und Bedeutung jener Soldaten, die nationalen,
ethnischen, religiösen oder auch anderen Minderheiten angehörten. Die Kriegserin-
nerungen des elsässischen Soldaten Dominik Richert etwa wurden nach ihrer deut-
schen Erstveröffentlichung4 1989 kurzfristig zu einer Art kanonischem Text, der auch
einen starken Impuls für eine intensivere inhaltliche wie theoretisch-methodische
Reflexion einer aufstrebenden »Militärgeschichte von unten«5 insgesamt darstellte.
Letztere etablierte sich als Konterpart einer konventionell ausgerichteten, zumeist
außeruniversitär betriebenen Militärgeschichte, in der das Interesse für das solda-
tische Führungspersonal und die primär unter dem traditionellen militärischen
›Kerngeschäft‹ subsumierte Geschichte der militärischen Strategien und Operatio-
nen (vornehmlich als herkömmliche Schlachtengeschichte) weiterhin überwog.
Dessen ungeachtet und von einzelnen territorialen Sonderfällen – etwa grenzregio-
nale nationale Minderheiten, die im Fokus einer aktiven regionalgeschichtlichen
Historiographie (bspw. Elsaß-Lothringen, Tiroler Raum usw.) standen – einmal ab-
gesehen, spielten die ›Minderheiten-Soldaten‹ innerhalb einer zudem kaum als kon-
kretes Forschungsfeld profilierten Weltkriegsforschung als Minderheitenforschung
eine lediglich untergeordnete Rolle.6 Unter dem lange nicht näher konkretisierten
Begriff der (Kriegs-)Minderheiten subsumierte sich in der Weltkriegshistoriographie
vor allem die Situation ziviler nationaler Minderheiten im Krieg. Im Zentrum stand
der jeweilige staatliche Umgang mit den so genannten ›Feindstaatenausländern‹
oder ›enemy aliens‹ als Konsequenz des Kriegsausbruchs und der damit verbunde-
nen zahlreichen gegenseitigen Kriegserklärungen, die insbesondere ganze Gruppen
3 Vgl. für viele andere: Thomas Kühne/Benjamin Ziemann (Hrsg.), Was ist Militärgeschichte, Pader-born u. a. 2000; Georg Schild/Anton Schindling (Hrsg.), Kriegserfahrungen – Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit. Neue Horizonte der Forschung, Paderborn u. a. 2009.
4 Bernd Ulrich/Angelika Tramitz (Hrsg.), Dominik Richert, Beste Gelegenheit zum Sterben. Meine Erlebnisse im Kriege 1914–1918, München 1989.
5 Wolfram Wette, Die unheroischen Kriegserinnerungen des Elsässer Bauern Dominik Richert, in: Wolfram Wette, Der Krieg des kleinen Mannes. Eine Militärgeschichte von unten, München 1998; vgl. auch: Christian Koller, Alsacien, Déserteur! Die Kriegserfahrung des Elsässer Bauern Dominik Richert im Spiegel seiner Memoiren, in: BIOS – Zeitschrift für Biographieforschung und Oral His-tory 13 (2000), S. 225–239.
6 Vgl. als knappen aktuellen Überblick das Kapitel »Minorities, National Integration and the Attitu-des towards war«, in: André Loez, Between Acceptance and Refusal – Soldiers’ Attitudes Towards War, in: 1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, ed. by Ute Daniel, Pe-ter Gatrell, Oliver Janz, Heather Jones, Jennifer Keene, Alan Kramer, and Bill Nasson, issued by Freie Universität Berlin, [http://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/between_acceptance_and_refusal_-_soldiers_attitudes_towards_war], 10.05.2017, S. 21–24.
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von teilweise voll integrierten Immigranten mit einem Mal als suspekt erscheinen
ließen.7 Die Frage der Internierung und Diskriminierung sowie der staatlicherseits
praktizierten Repressionsmaßnahmen, schließlich auch die Erfahrungs- und Wahr-
nehmungsebenen der Betroffenen bildeten einen attraktiven Forschungsstrang, zu
dem vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten eine Vielzahl von Publikationen er-
schien.8
Rolle und Bedeutung von Minderheiten-Soldaten in den Armeen des Ersten Welt-
kriegs stellen also ein forschungsmäßig lange vernachlässigtes spezielles Thema der
Minderheitengeschichte des Ersten Weltkriegs dar, das bisher nicht systematisch
und – vor allem – nicht aus einer komparativen Perspektive betrachtet wurde.9
Die Beiträge dieses Sammelbandes sind das Produkt einer an der Freien Univer-
sität Bozen im Jahre 2015 stattgefundenen Tagung,10 deren Ziel es war, die bestehende
einschlägige Forschung zusammenzuführen und das Thema anhand verschiedener
konkreter Fallbeispiele unter Berücksichtigung mehrerer grundlegender Fragestel-
lungen in einer stärker analytischen und vergleichenden Art und Weise zu fokussie-
ren. In diesem Kontext lehnt sich die Definition dessen, was unter ›Minderheiten-
Soldaten‹ zu verstehen sei, einerseits an klassische Differenzierungsmodelle an,
wonach es sich bei Minderheiten handelt um:
»A group numerically inferior to the rest of the population of a State, in a non-dominant
position, whose members – being nationals of the State – possess ethnic, religious or lin-
guistic characteristics differing from those of the rest of the population and show, if only
implicitly, a sense of solidarity, directed towards preserving their culture, traditions, reli-
gion or language.«11
7 Sehr stark in diese Richtung gehen die Arbeiten von Panikos Panayi. Vgl. Panikos Panayi, Dominant Societies and Minorities in the Two World Wars, in: ders., Minorities in Wartime. National and Ra-cial Groupings in Europe, North America and Australia during the Two World Wars, Oxford 1993, S. 3–23; ders., Germans as Minorities during the First World War. A Global Comparative Perspec-tive, Farnham 2014; vgl. zuletzt auch zusammenfassend: ders., Minorities, in: Jay Winter (Hrsg.), The Cambridge History of the First World War, Bd. 3: Civil Society, Cambridge 2014, S. 216–241.
8 Vgl. dazu als Überblicke mit neuester Forschungsliteratur: Matthew Stibbe, Civilian internment and civilian internees in Europe, 1914–1920, in: Immigrants and Minorities 26 (2008) 1-2, S. 49–81; ders., Enemy Aliens and Internment, in: 1914-1918-online. International Encyclopedia of the First World War, ed. by Ute Daniel, Peter Gatrell, Oliver Janz, Heather Jones, Jennifer Keene, Alan Kra-mer, and Bill Nasson, issued by Freie Universität Berlin, [http://encyclopedia.1914-1918-online.net/article/enemy_aliens_and_internment], 10.05.2017.
9 Selbst im Programm der an der Universität Chester 2014 stattgefundenen, thematisch einschlägi-gen Tagung zu »Minorities and the First World War« lassen sich nur einzelne Beiträge zum Thema der soldatischen Minderheiten finden. Vgl.: https://www.chester.ac.uk/node/21354.
10 »Minderheiten-Soldaten. Ethnizität und Identität in den Armeen des Ersten Weltkrieges«, organi-siert vom Kompetenzzentrum für Regionalgeschichte der Freien Universität Bozen am 9. Novem-ber 2015. Für den Band neu hinzugekommen sind die Beiträge von Andrea Di Michele, Volker Prott und Reinhard Nachtigal.
11 Nach der klassischen Definition von Francesco Capotorti, zit. bei: United Nations Human Rights, Office of the High Commissioner, Minorities under international law, [http://www.ohchr.org/EN/Issues/Minorities/Pages/internationallaw.aspx], 14.04.2017.
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Dementsprechend beziehen sich die im Band versammelten Fallstudien, erstens,
auf vornehmlich grenzregional verankerte nationale Gruppen verschiedener Staa-
ten, deren Minderheiten-Status sich im Zuge des Nation-Building-Prozesses im 19. Jh.
erst artikuliert bzw. verschärft hatte.12 »Nationale Minderheiten im heutigen Wort-
sinn konstituierten sich erst in Wechselwirkung mit der modernen Nationsbildung
der jeweiligen Majoritäten und mit der Formierung von Nationalstaaten.«13 In dem
Maße, wie die Nationsidee immer offensichtlicher den Charakter einer leitideolo-
gischen Orientierung annahm, wurden Minderheiten als gesellschaftliche Gruppen
immer stärker sichtbar und als quantitative Größe vermessen.14 Die Tatsache, dass
sich die Kategorien der Differenz und folglich auch die Formen von Inklusion und
Exklusion immer stärker an nationalen Zugehörigkeitsmustern orientierten, ver-
komplizierte den Status von ethnischen bzw. nationalen Minderheiten innerhalb
des zunehmend ›nationalisierenden‹ Staates.15 Zwar ist es natürlich richtig, dass es
sich bei der Diversität im Militär um ein »klassisches Problem« handelt, »mit dem
sich Armeen schon immer konfrontiert sahen«; der moderne Nation-Building-Pro-
zess stellte aber zweifellos eine Zäsur in dem Verhältnis zwischen Mehrheit und
Minderheit dar.16
Und zweitens rekurriert die Definition von Minderheit auf die Gruppe der »dis-
persed European minorities« und meint damit Minderheiten, die in diversen Staa-
ten präsent waren, wie beispielsweise die Juden, denen der abschließende Beitrag
dieser Publikation von Gerald Lamprecht gewidmet ist.17
Sozialwissenschaftlich bzw. organisationssoziologisch gesprochen, geht es also
vorwiegend um die so genannte »skewed group« (schiefe bzw. verzerrte Gruppe)
und damit um eine Minderheitengruppe, die von der Majorität vor allem als über-
schaubares, einheitliches Kollektiv wahrgenommen wird. Aufgrund der mehrheits-
seitig herrschenden Tendenz zur Konstruktion einer in sich geschlossenen, homo-
genen Gruppe geraten individuelle Handlungs- und Verhaltensmuster infolge einer
12 Vgl. zur Frage der ›nationalen Minderheiten‹ die begriffsgeschichtliche Analyse von Kai Struve, »Nationale Minderheit« – Begriffsgeschichtliches zu Gleichheit und Differenz, in: Leipziger Bei-träge zur jüdischen Geschichte und Kultur II (2004), S. 233–258.
13 Rudolf Jaworski, Nationalstaat, Staatsnation und nationale Minderheiten. Zur Wechselwirkung dreier Konstrukte, in: Hans H. Hahn und Peter Kunze (Hrsg.), Nationale Minderheiten und staat-liche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jh., Berlin 1999, S. 19–27, hier S. 21.
14 Vgl. dazu etwa die Anmerkungen von Hans Lemberg, Minderheiten als Konfliktursache?, in: Ralph Melville, Jiří Pešek und Claus Scharf (Hrsg.), Zwangsmigrationen im mittleren und östlichen Europa. Völkerrecht – Konzeptionen – Praxis (1938–1950) (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte, Beihefte 69), Mainz 2007, S. 99–109, insbes. S. 99f.
15 Vgl. Hans Henning Hahn, Nationale Minderheiten und Mehrheitsnationen im 19. Jahrhundert. Ei-nige grundsätzliche Überlegungen zur kollektiven Identitätsbildung, in: ebd., S. 205–210, hier S. 207.
16 Thomas Hallmann, Diversity Management im Militär. Eine historische Betrachtung anhand aus-gewählter Fallbeispiele, in: Gerhard Kümmel (Hrsg.), Die Truppe wird bunter: Streitkräfte und Min-derheiten (Militär und Sozialwissenschaften 47), Baden-Baden 2012, S. 47–71, hier S. 47.
17 Vgl. zur Differenzierung den Abschnitt über »Typologies of minorities«, in: Panayi, Minorities, S. 217–219.
MINDERHEITEN-SOLDATEN 13
dominierenden stereotypen Zuschreibungspraxis in das Hintertreffen.18 Öffentliche
Sichtbarkeit und Wahrnehmungsintensität der Minderheit als solche waren schließ-
lich auch Voraussetzung dafür, dass die jeweilige Minorität staatlicher- und militä-
rischerseits als Problem empfunden wurde. In einem als vormodern-autokratisch
zu charakterisierenden Großreich wie Russland, in dem der Nationalisierungspro-
zess noch nicht so weit fortgeschritten war, bestand das Minderheitenproblem in
lediglich geringerem Ausmaß.19 In ähnlicher Weise verhielt es sich etwa mit den jü-
dischen Soldaten innerhalb der k.u.k. Armee, die »nur schwer als (Minderheiten-)
Gruppe festzumachen«20 waren. Im letzteren Fall verbanden sich Staatspatriotismus
und Kriegsunterstützung sogar mit der Hoffnung auf einen weiteren Meilenstein in
der gruppenspezifischen Emanzipationsgeschichte.21
In Ergänzung zu den skizzierten klassischen Einordnungsmodellen versteht sich
›Minderheit‹ im Kontext dieses Bandes allerdings auch als kriegsimmanentes Dif-
ferenzierungskonzept. Auf diese Weise macht es analytisch durchaus auch Sinn,
Soldatengruppen als Minderheitenkollektive zu begreifen, die a priori und vorder-
gründig wohl nicht als solche erscheinen mögen. Hier sind es vornehmlich Rekru-
tierungsweisen, Einsatzkontexte und kollektive Wahrnehmungsmuster, die – das
zeigt etwa der Beitrag von Daniel Marc Segesser – Minderheitenkonstellationen
kriegsimmanent evozierten. Gerade mit Blick auf diese nicht vordergründig und
augenscheinlich fassbaren ›anderen‹ Minderheitencharaktere, die weit über rein
sprachliche, nationale, ethnische oder religiöse Distinktionsmuster hinausgehen
und tief in den Bereich der kriegsimmanenten sozialen und kulturellen Gruppen-
bildung hineinreichen, gibt es international noch beträchtlichen Forschungsbedarf.
Auch Segesser ortet unter den Soldaten der Dominions eine kriegsimmanente Form
der Nationalisierung, sodass sich die »Primäridentifikation […] mehr und mehr auf
die immer häufiger als eigenständig wahrgenommene, unmittelbare Herkunftsna-
tion [verschob].«22 Insofern stellte der Erste Weltkrieg auch in diesem Fall eine un-
verkennbare Zäsur mit Blick auf die Veränderung von Identitäten und nationalen
Verortungen dar.
18 Vgl. zu diesen organisationssoziologischen Überlegungen, basierend auf den Studien von Rosabeth Moss Kanter und anderen, die Ausführungen von Gerhard Kümmel, Die Minderheiten, das Fremde und das Militär: Eine Einleitung, in: Kümmel, Truppe, S. 9–25.
19 Vgl. dazu die Anmerkungen von Reinhard Nachtigal, S. 153–158.20 Gerald Lamprecht in seinem Beitrag über die jüdischen Soldaten in diesem Band, S. 179.21 Vgl. nunmehr auch Marsha Rozenblit, Der Habsburg-Patriotismus der Juden, in: Helmut Rumpler
(Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848–1918, Band XI: Die Habsburgermonarchie und der Erste Weltkrieg, Teil 1: Vom Balkankonflikt zum Weltkrieg, 1. Teilband: Der Kampf um die Neuordnung Mitteleuropas, Wien 2016, S. 887–917, hier S. 892–897.
22 Daniel Marc Segesser in seinem Beitrag über die australischen, neuseeländischen und indischen Soldaten, S. 170.
OSWALD ÜBEREGGER14
Problemfelder und Fragen
Bezüglich der weiter oben erwähnten grundlegenden Fragestellungen, die im Kon-
text des Themas von hoher Relevanz sind, ist vor allem auf drei Problemfelder zu
verweisen, die direkt oder indirekt, mehr oder weniger stark mit dem komplexen
Beziehungsgeflecht zwischen nationalisierendem Staat, nationaler Minderheit und
»konnationalem Patronagestaat«23 zusammenhängen, das Rogers Brubakers tref-
fend als »triadic nexus« bezeichnet hat.24 Innerhalb dieser Trias gestalten sich die
Beziehungen zwischen den Subjekten weniger als eindeutige, sondern eher als zwi-
schen inklusiven und exklusiven Strategien konkurrierenden bzw. situativ changie-
renden dynamischen und fluiden Ausverhandlungs- und Interpretationsprozessen,
die auf der Wahrnehmung der Praxis des jeweiligen Gegenübers basieren.25
In diesem thematischen Kontext steht ein erster Fragenkomplex dieses Sammel-
bandes im Zusammenhang mit den konkreten Kriegserfahrungen und dem Charak-
ter der Kriegslebenswelten von Minderheiten-Soldaten, was immer man auch unter
Minderheiten-Soldaten in spezifischen Situationen verstehen mag. Diese Kriegsle-
benswelten waren selbstredend in hohem Maße von politischen und militärischen
Zuschreibungen innerhalb der skizzierten Trias und der perspektivisch jeweils unter-
schiedlich beantworteten zentralen Frage nach dem Loyalitätsverhältnis der Min-
derheiten zur Staatsnation abhängig. Nationale Minderheiten wurden vielfach in
sehr pauschaler Weise als unzuverlässige und illoyale Staatsbürger kategorisiert,
wobei insbesondere der Typus grenzregionaler Minderheiten teilweise mit einer Art
doppeltem Misstrauen (des nationalisierenden Staates, vielfach aber auch des kon-
nationalen Patronagestaates) konfrontiert war. Die Frage nach diesen Stereotypisie-
rungen und Schwarz-Weiß-Etikettierungen, ihrem realen bzw. fiktiven Hintergrund
sowie ihren konkreten Auswirkungen auf die Kriegslebenswelt der Soldaten ist ein
erstes zentrales Bestimmungsmoment, das wohl nur aus einer komparativen Pers-
pektive sinnvoll und gewinnbringend zu beantworten ist. Welche Gemeinsamkeiten
und Unterschiede lassen sich im Umgang mit den Minderheiten aus einer verglei-
chenden Perspektive festmachen, und welche Bedingtheiten und Faktoren evozier-
ten bestimmte Handlungs- bzw. Reaktionsmuster innerhalb der Akteure des skiz-
zierten Beziehungsgeflechtes?
Ein weiterer, noch spezifischerer Fokus steht in einem Zusammenhang mit der
zentralen Frage nach der Transformation nationaler Identitäten im Krieg: Wie stark
waren nationale Identitäten im Spannungsfeld zwischen Nation und Region? Sind
23 Gerhard Seewann, Mehrheits- und Minderheitsstrategien und die Frage der Loyalität 1919–1939, in: Mathias Beer und Stefan Dyroff (Hrsg.), Politische Strategien nationaler Minderheiten in der Zwi-schenkriegszeit, München 2013, S. 15–25, hier S. 15.
24 Vgl. Rogers Brubaker, Nationalism Reframed: Nationhood and the National Question in the New Europe, Cambridge 1996. Vgl. dazu auch Peter Haslinger/Joachim von Puttkamer, Staatsmacht, Minderheit, Loyalität – konzeptionelle Grundlagen am Beispiel Ostmittel- und Südosteuropas in der Zwischenkriegszeit, in: Peter Haslinger und Joachim von Puttkamer (Hrsg.), Staat, Loyalität und Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1918–1941, München 2007, S. 1–16, hier S. 1f.
25 Vgl. ebd. S. 2.
MINDERHEITEN-SOLDATEN 15
nationale Identifikationsmuster etwas – darauf weisen verschiedene neuere Studien
teilweise hin –, was man in der Forschung bisher überschätzt hat? Was bedeuteten
Nation und nationales Bewusstsein beispielsweise für den einfachen Trentiner
Bauern, der 1914 im Verbande der k.u.k. Armee in den Krieg zog, oder für den Elsäs-
ser Soldaten, der 1914 in das deutsche Heer eingereiht wurde? Spielen nationale
Identifikationen wirklich etwa auch eine wichtige Rolle für das Phänomen der mi-
litärischen Verweigerung, oder ist letztere auch innerhalb der Gruppen von Minder-
heiten-Soldaten ganz überwiegend eine direkte Folge des Krieges und der von ihm
ausgehenden Desillusionierung? Sind diese Gruppen-Konstruktionen von nationa-
len Minderheiten, mit denen geschichtswissenschaftlich vielfach operiert wird, letzt-
lich eine unzulässige Reduktion von Komplexität? Und haben wir es auch mit Blick
auf die Minderheiten-Soldaten defakto mit einer Vielzahl von teilweise stark diffe-
rierenden Mehrfach-Identitäten zu tun? Welche Rolle spielen die verschieden stark
ausgeprägten Separatismen/Irredentismen und die jeweilige Haltung des konnatio-
nalen Patronagestaats für die konkreten Handlungsmuster der Minderheiten-An-
gehörigen im Krieg? Und schließlich stellt sich auch noch die Frage nach der bereits
angedeuteten Transformation von Identität während des Krieges. Wann ist die im
Krieg zweifellos zu beobachtende Politisierung oder Nationalisierung eine wirkliche
Ideologisierung und wann nimmt sie eher den Charakter einer reaktionären oder
sekundären Politisierung als Reaktion auf erfahrene Diskriminierung bzw. Ungleich-
behandlung an? Oder ist sie vielfach schlichtweg auch nur Ausdruck einer ›oppor-
tunistischen‹ Entscheidung? Verstärkt der Krieg in Verbindung mit Sieg oder Nie-
derlage Formen der Alterität oder bringt er zumindest situativ auch so etwas wie
eine integrative Sogwirkung hervor? Damit verbunden stellt sich die Frage nach den
Erwartungshaltungen: Loyalität im Krieg als eine Art Hoffnungsträger, als ›Motor‹
für einen erhofften Emanzipationsschub?
Ein dritter und letzter Fragenkomplex ist mit dem Thema der erinnerungskultu-
rellen Deutungen angesprochen, das in diesem Band nur eine untergeordnete Rolle
spielt, nichtsdestotrotz aber von großer Bedeutung ist: Geschichtspolitische Verein-
nahmung und Umdeutung sowie retrospektive Politisierung/Nationalisierung be-
ginnen ganz offensichtlich schon im Krieg und setzen sich nach 1918 fort, unabhän-
gig davon ob nun im Rahmen verschiedener, auch regionaler Dolchstoßlegenden
oder im Rahmen diverser nationaler Gründungsmythen neu entstandener Natio-
nalstaaten. Im Falle der Sukzessionsstaaten der Habsburgermonarchie ist dieses
Phänomen natürlich ganz besonders eklatant. Ohne die Freilegung dieser Geschichte
von Instrumentalisierung und retrospektiver Politisierung ist letztlich auch die Ge-
schichte der Minderheiten-Soldaten im Ersten Weltkrieg nicht zu verstehen.
Loyalität und Identität
Mit Blick auf den oben skizzierten Fragenkomplex in Zusammenhang mit den zwi-
schen Minderheit und Staat bestehenden Loyalitätskonstellationen und der damit
OSWALD ÜBEREGGER16
verbundenen kriegsimmanenten Veränderung von Identität gilt es zunächst darauf
hinzuweisen – das zeigen die in dieser Publikation versammelten Beiträge in ein-
mütiger Deutlichkeit –, dass sich die tief verankerte Loyalitätsskepsis, die vielfach
schon vor 1914 unter den politischen, vor allem aber militärischen Eliten gegenüber
den ethnischen Minderheiten grassierte, in der Krisensituation des Kriegs noch ein-
mal verstärkte und sich tendenziell zu einer Art Generalverdacht auswuchs. Das in
den Armeen praktizierte ›Diversity Management‹ speiste sich vor allem aus diesen
stereotypen kollektiven Verdächtigungen, die es aus militärischer Perspektive zweck-
mäßig erscheinen ließen, den Minderheiten pauschal zu misstrauen und an ihrer
Loyalität den Titularnationen gegenüber zu zweifeln.26 Das galt für den Verdacht,
den die k.u.k. Militärs beispielsweise den italienisch- oder tschechischsprachigen
Soldaten der Habsburgermonarchie gegenüber hegten genauso wie jenem der deut-
schen Armeeführung gegenüber Elsass-Lothringern oder polnischen Soldaten. Wie
der Beitrag von Christoph Jahr zeigt, war die Situation der Iren im britischen Heer
eine ähnliche.27 Diese kollektiven Verdächtigungen waren als Zuschreibungen in
schier dominanter Weise präsent, obwohl die zumeist reibungslose Mobilisierung
im Sommer 1914 und das militärische Verhalten der Soldaten im Verlauf des Krieges
kaum Anlass zu Beanstandungen gaben. Die Integration in die Kriegsarmeen voll-
zog sich zumeist ohne größere Probleme, und auch das Phänomen der militärischen
Verweigerung von Minderheiten-Soldaten unterschied sich quantitativ und quali-
tativ nicht substanziell, sondern eher graduell von jener der Soldatenmehrheit. Die
Beiträge dieses Bandes und andere Neuforschungen weisen zudem unzweifelhaft
darauf hin, dass sich auch die Verweigerungshaltungen von Angehörigen nationaler
Minderheiten nur zu einem geringen Teil ursächlich mit politischen bzw. nationa-
len, im weitesten Sinne ideologischen Bekenntnissen oder Überzeugungen in Ver-
bindung bringen lassen.28 Es überwogen persönliche oder kriegsimmanente Motiva-
tionen, die vielfach auch die Folge einer nüchternen, recht unideologischen
Kosten-Nutzen-Strategie, und demnach also »fluide« waren, wie Volker Prott am Bei-
spiel der elsässischen Soldaten veranschaulicht.29 Neben der in zunehmendem Maße
als drückend empfundenen Kriegslebenswelt, der Sehnsucht nach einem Ende des
Krieges und der als Minderheiten-Angehöriger erfahrenen Diskriminierung traten
nationale und politische Desertionsmotive, die sich abseits einer nationalpatriotisch
euphorisierten politischen (Minderheiten-)Elite lediglich fallweise rekonstruieren
lassen, deutlich in den Hintergrund. Das gilt für die bereits erwähnten Elsässer ge-
nauso wie für Tschechen und Italiener in der Habsburgerarmee30 oder beispielsweise,
wie neue Forschungsergebnisse zeigen, etwa auch für die estnischen Soldaten in der
26 Vgl. Kümmel, Minderheiten, S. 15.27 Vgl. den Beitrag von Christoph Jahr, S. 103–117.28 Vgl. dazu auch die Anmerkungen von Oswald Überegger, Politik, Nation und Desertion. Zur Rele-
vanz politisch-nationaler und ideologischer Verweigerungsmotive für die Desertion österreichisch-ungarischer Soldaten im Ersten Weltkrieg, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 8 (2008) 2, S. 109–119.
29 Vgl. dazu die Anmerkungen von Volker Prott, S. 8630 Vgl. die Anmerkungen von Volker Prott, S. 85–101, und Andrea Di Michele, S. 45–68.
MINDERHEITEN-SOLDATEN 17
russischen Armee, worauf Reinhard Nachtigal aufmerksam macht.31 Insgesamt kann
man mit Blick auf das Verhältnis zwischen Minderheit und Staat wohl am treffends-
ten von einer Strategie der »minimalen Loyalität« (Jens Boysen) sprechen.32 Ange-
hörige ethnischer und nationaler Minderheiten zogen in der Regel nicht patriotisch
enthusiasmiert in den Krieg, verhielten sich im militärischen Sinne aber mehr oder
weniger korrekt und kamen ihren staatsbürgerlichen soldatischen Pflichten insge-
samt ziemlich beanstandungslos nach.
Neben den im Kriegsverlauf kaum weiter auffälligen Desertionsraten der Min-
derheiten-Soldaten zeigt auch die weitgehend gescheiterte Politik der Gewahrsams-
mächte, in Kriegsgefangenschaft geratene fremdstaatliche Minderheiten-Soldaten
für die eigene Armee anzuwerben, dass genuin nationale Motivationen kaum auf
breiterer Ebene vorhanden gewesen sein dürften. Mit rund 1.650 von über 20.000
in Kriegsgefangenschaft geratenen Elsässern und Lothingern ließ sich nur eine Min-
derheit im einstelligen Prozentbereich für einen Eintritt in die französische Armee
gewinnen. Ähnlich verhielt es sich bei den kriegsgefangenen polnischen Soldaten
des deutschen Heeres oder den in deutsche oder österreichisch-ungarische Kriegs-
gefangenschaft geratenen Soldaten russischer Minderheiten.33 Wie Andrea Di Mi-
chele in seinem Beitrag aufzeigt, hielt sich auch die Bereitschaft der in russische
Kriegsgefangenschaft geratenen italienischsprachigen k.u.k. Soldaten, sich in die
italienische Armee einreihen zu lassen, sehr in Grenzen.34 Gänzlich gescheitert war
ferner das Projekt zur Bildung eines aus irischen Kriegsgefangenen in Deutschland
bestehenden Freiwilligenkorps, das auf deutscher Seite hätte kämpfen sollen. Von
den rund 3.000 irischen Kriegsgefangenen hatten lediglich 56 ihr Interesse bekun-
det.35 Unabhängig davon, ob man nun auf die polnische Minderheit im ostdeutschen
Grenzgebiet oder die Italiener im habsburgischen adriatischen Küstenland blickt,
die Masse der sich aus dem ländlichen Raum und entsprechend bildungsschwachen
Milieus rekrutierenden Soldaten war vielfach nur rudimentär nationalisiert oder
kaum über nationale Themen politisiert. Demgegenüber waren häufig lokale und
regionale Identitäten und Zugehörigkeitsmuster von ungleich entscheidender Re-
levanz.36 Auf diese Diskrepanz zwischen nationalen, regionalen und lokalen Identi-
täten gilt es in der künftigen Forschung mehr Augenmerk zu werfen.
Ungeachtet der skizzierten realen Verhältnisse und als direkte Konsequenz des
erwähnten Generalverdachts installierten die militärischen Führungskader der euro-
päischen Armeen des Ersten Weltkriegs sich strukturell durchweg ähnelnde spezielle
Kontrollmechanismen, die von intensiveren Überwachungsmaßnahmen (die ver-
schiedenen Spielarten der Zensur, Entfernung aus gewissen Frontabschnitten usw.)
bis hin zur offensichtlichen Diskriminierung (Beschimpfungen, Misshandlungen,
31 Vgl. dazu den Beitrag von Reinhard Nachtigal, S. 140–145.32 Vgl. dazu die Anmerkungen von Jens Boysen, S. 82.33 Vgl. dazu die Anmerkungen von Volker Prott, S. 91, Jens Boysen, S. 80f. und Reinhard Nachtigal,
S. 119–158.34 Vgl. den Beitrag von Andrea Di Michele, S. 60–66.35 Vgl. den Beitrag von Christoph Jahr, S. 112.36 Vgl. dazu die Anmerkungen von Richard Lein, S. 27, und Jens Boysen, S. 82f.
OSWALD ÜBEREGGER18
Verweigerung der Urlaubsgewährung u. dgl.) reichten und damit letztlich rasch auch
einen stark repressiven Charakter annahmen. Das den ebenfalls pauschal als poli-
tisch unzuverlässig betrachteten eigenen nationalen Minderheiten zugedachte Re-
pressionsinstrumentarium des deutschen Heeres ähnelte etwa frappierend dem
Vorgehen des österreichisch-ungarischen Militärs – nicht zuletzt auch in seiner kon-
traproduktiven Wirkung. Unbenommen aller strukturellen Ähnlichkeiten gestaltete
sich die Übersetzung des Misstrauens in die konkrete Diskriminierungspraxis aber
auch unterschiedlich. So scheint etwa das Vorgehen der k.u.k. Armee gegen die ita-
lienischsprachige Minderheit ungleich radikaler gewesen zu sein als jene des briti-
schen Heeres gegen die Iren. Selbstredend waren dafür auch kriegsimmanente
Gründe ausschlaggebend. Die Erfahrung persönlicher Diskriminierung und Un-
gleichbehandlung führte auf der Seite der betroffenen Minderheiten-Soldaten zu
einer raschen Frustration und umgehenden Desillusionierung, die in den Selbst-
zeugnissen der Betroffenen gut dokumentiert sind. Die Diskriminierungs-Erfahrung
der Soldaten, wie sie etwa der elsässische Deserteur Dominik Richert in beeindru-
ckender Weise schildert,37 gleicht den in zahlreichen Selbstzeugnissen österreichi-
scher Soldaten und Deserteure italienischer Nationalität dokumentierten Kriegs-
erfahrungen.38 Daraus resultierte letztlich eine Form der kriegsimmanenten,
sekundären Nationalisierung bzw. Politisierung, die – nicht überall und in verschie-
denen Ausprägungen und Nuancen – eine Art nicht unbedingt und primär national
oder politisch motivierten, sondern vor allem reaktionären Frust-Irredentismus be-
förderte: Unbeschadet einer grundsätzlich bestehenden Loyalität zur Titularnation
führten das Kollektiv diskriminierender Maßnahmen und das pauschale Misstrauen
allerdings schließlich zu einer sukzessiven Entfremdung, die sich vor allem in der
zweiten Kriegshälfte dann auch in höhere militärische Verweigerungsraten über-
setzte, die angesichts der Tatsache, dass Desertionen generell im Zunehmen begrif-
fen waren, allerdings kaum überraschen können.
Ressentiments als kriegsimmanente Medialisierungsprozesse
Der militärische Blick auf die Minderheiten-Soldaten und das sich daraus ableitende
Handeln basierten auf verschiedenen Komponenten, die in ihrer Gesamtheit die
Entwicklungsgenese dieses (vorgefertigten) Bildes nachvollziehbar werden lassen.
Die innerhalb der militärischen Führungsriegen traditionell vorhandenen Ressen-
timents präjudizierten ein pejorativ konnotiertes Bild der Minderheiten insgesamt,
das sich in der Krisenzeit des Krieges und aufgrund der Konstellation der Kriegs-
37 Vgl. Richert, Gelegenheit.38 Vgl. dazu die vom Museo Storico del Trentino und vom Museo Storico Italiano della Guerra, Ro-
vereto, herausgegebene Reihe »Scritture di guerra« mit edierten Tagebüchern und Kriegserinne-rungen von Trentiner Soldaten. Seit 1994 sind insgesamt zehn Bände erschienen. Vgl. auch den Beitrag von Andrea Di Michele in diesem Band.
MINDERHEITEN-SOLDATEN 19
bündnisse (unter den jeweiligen Kriegsgegnern befand sich auch so mancher kon-
nationaler Patronagestaat der jeweiligen Minderheit) deutlich verschärft hatte. Ob-
wohl das reale militärische Verhalten zu Beginn und im weiteren Verlauf des Kriegs
kaum konkreten bzw. größeren Anlass zur Beunruhigung gab, hielt sich das spezi-
fische Bild der unzuverlässigen ethnischen oder nationalen Minderheiten hartnä-
ckig. Dieses Faktum resultierte auch aus einem – bisher lediglich in seinen Kontu-
ren erforschten – spezifischen Medialisierungsprozess, der im Rahmen der bereits
erwähnten Tendenz, Minderheiten als homogene Gruppe zu begreifen und auf diese
Weise von den Renitenzen und Verweigerungshaltungen einzelner auf eine ver-
meintliche Gruppenpraxis zu schließen, dafür sorgte, dass das bestehende Bild stän-
dig perpetuiert und im Laufe des Krieges radikalisiert wurde. Obwohl es meist jeder
realen Grundlage entbehrte, erschien das als unzuverlässig und illoyal gebrand-
markte Verhalten der Minderheiten-Soldaten öffentlich gleichsam als ›self-fulfilling
prophecy‹. Richard Lein beschreibt diesen Medialisierungsprozess anhand eines
tschechischen Beispiels eindrücklich: Obwohl sich im Nachhinein eindeutig heraus-
gestellt hatte, dass sich das Scheitern zweier tschechischer Infanterieregimenter im
Frühjahr 1915 an der Ostfront nicht auf ein ausschließliches und spezifisches Versa-
gen der tschechischen Soldaten zurückführen ließ, blieben das militärische Miss-
trauen und das schlechte Image der tschechischen Truppenkörper, die sich in Wirk-
lichkeit an zahlreichen Frontabschnitten wacker geschlagen hatten, für die gesamte
Dauer des Krieges bestehen. Ähnliche Anschuldigungen gegen zwei mehrheitlich
tschechische Infanterieregimenter wiederholten sich im Rahmen eines – an sich
unbedeutenden – Gefechtes nahe der Stadt Zborów im Juli 1917 und führten zu einer
polarisierenden, medial inszenierten öffentlichen Debatte über die Frage der Loya-
lität der tschechischen Soldaten, die letztlich suggerierte, dass sich letztere »in zu-
nehmendem Maß illoyal verhalten [würden], auch wenn dies bekanntlich nicht den
Tatsachen entsprach.«39 Realiter hatten rund 1,2 Millionen tschechische Soldaten
vielfach bis zum Ende des Krieges anstandslos im Verbunde der k.u.k. Armee ge-
dient.
Ähnliche Schuldzuweisungen schlugen etwa auch den irischen Soldaten im März
1918 entgegen, als die britische Front infolge der Frühjahrs-Offensive des deutschen
Heeres einzubrechen drohte.40 Und in derselben hartnäckigen Weise hielt sich der
Topos der Unzuverlässigkeit auch im Fall der italienischen Minderheit in der k.u.k.
Armee. Auch hier waren es die Konsequenzen ähnlicher Medialisierungsstrategien,
die dazu beitrugen, dass sich in der Öffentlichkeit derlei Stereotypen langfristig hal-
ten konnten.41 Schließlich beschreibt auch Dominik Richert in seinem Tagebuch,
wie sich diese öffentlich transportierten und vor allem im Offizierskorps tief sitzen-
den, vorgefertigten Aversionen den nationalen Minderheiten gegenüber vielfach
39 Vgl. den Beitrag von Richard Lein, S. 38.40 Vgl. dazu den Beitrag von Christoph Jahr, S. 114.41 Vgl. den Beitrag von Andrea Di Michele, S. 45–68.
OSWALD ÜBEREGGER20
erst im persönlichen Kontakt zwischen (Minderheiten-)Soldaten und (Mehrheits-)
Offizieren relativierten und fallweise auch auflösten.42
Die zweifellos im Falle der ›Besiegten‹ auch im Kontext der durchschlagenden
Rechtfertigungsrhetorik zu sehende Schuldzuweisung an die nationalen Minder-
heiten und die ihnen entgegengebrachte generelle Skepsis fügen sich allerdings in
den (langfristigen) Prozess der als Top-down-Zuschreibung zu verstehenden Kons-
truktion grenzregionaler Identitäten ein, bei denen es sich letztlich primär um »in-
ventions of nationalist activists« handelte, »intent on creating the objects for their
policies of nationalization.«43 Diese Art ›gap‹ zwischen einer zusehends dominan-
ten nationalisierenden Perspektive, die Grenzregionen und ihre Gesellschaften fast
ausschließlich als in nationaler Hinsicht konfrontative Differenz-Räume wahrnahm,
und einer bei weitem nicht im zugeschriebenen Ausmaß nationalisierten (Grenz-)
Bevölkerung war für eine Vielzahl von nationalen Minderheiten im Ersten Weltkrieg
zweifelsohne verhängnisvoll.
Letztlich nahmen sich die von den Militärs ergriffenen Maßnahmen als weitge-
hend kontraproduktiv aus. Die sich aus dem skizzierten Generalverdacht ableiten-
den verschiedenen Praktiken der militärischen Führung erreichten genau das Gegen-
teil des Beabsichtigten: Sie konterkarierten das bestehende Loyalitätsverhältnis der
Elsässer, Lothringer, Trentiner, Triestiner, Polen, Dänen und anderer Minderheiten
zu den entsprechenden staatlichen Titularnationen, das gegen Ende des Kriegs dann
vielfach nur mehr in Ansätzen vorhanden war. Während die Tatsache fortschreiten-
der soldatischer Desillusionierung zweifellos mehrere Gründe hat, nehmen sich die
Ursachen dieses Entfremdungsprozesses weitgehend als militärisch ›hausgemacht‹
aus. Letztlich gehörten sie mit zu den ›Triebfedern‹ militärischer Verweigerung, die
man von Seiten des Militärs stets zu verhindern gesucht hatte.
Rechtfertigungsstrategien und Erinnerungspolitik
Gerade in Österreich war, wie bereits erwähnt, die Betonung politischer und natio-
naler Ursachen von Verweigerungshaltungen ein wesentlicher, konstitutiver Be-
standteil der militärischen und staatlichen Rechtfertigungsargumentation im Rah-
men der Dolchstoß-Legende.44 Teilweise noch während des Ersten Weltkrieges
42 Vgl. dazu den Beitrag von Volker Prott, S. 92.43 Pieter M. Judson, Guardians of the Nation. Activists on the Language Frontier of Imperial Austria,
Cambridge (MA)/London 2006. Auf die Widersprüchlichkeit bzw. Uneindeutigkeit grenzregiona-ler Identitäten hat schon eindringlich Peter Thaler hingewiesen, der von »zones of fluid identity« spricht und für »a more fluid side of national identity« plädiert. Peter Thaler, Fluid Identities in Central European Borderlands, in: European History Quarterly 31 (2001) 4, S. 519–548; vgl. auch Pieter M. Judson, Do Multiple Languages Mean a Multicultural Society? Nationalist »Frontiers« in Rural Austria, 1880–1918, in: Johannes Feichtinger und Gary B. Cohen (Hrsg.), Understanding Mul-ticulturalism. The Habsburg Central European Experience (Austrian and Habsburg Studies 17), New York/Oxford 2014, S. 61–82.
44 Vgl. dazu generell ausführlicher: Überegger, Politik.
MINDERHEITEN-SOLDATEN 21
entstanden, fand diese Variante des Dolchstoßes nach 1918 als Erklärungsansatz für
die Niederlage in hegemonialer Art und Weise Eingang in das kommunikative Nach-
kriegs-Gedächtnis, wurde schließlich auch nach 1945 als vermeintliche Gewissheit
beharrlich weitertradiert und ist noch heute vornehmlich in pseudo- und populär-
wissenschaftlichen Arbeiten präsent. Diesen Deutungen zufolge, die in der Offiziers-
historiographie der Zwischenkriegszeit ihren Höhepunkt fanden, »blieben von allen
Nationen nur die Deutschen, die einzig verläßliche Stütze des Staates und des Hee-
res, auf sich selbst gestellt.«45 »Die Deutschösterreicher dürfen für sich den Ruhm
geltend machen«, urteilt das von Offiziershistorikern erarbeitete Monumentalwerk
»Österreich-Ungarns letzter Krieg«, »daß sie den Staat, den sie vor allem gründen
und tragen halfen, bis zuletzt mit dem Aufgebot der äußersten Kräfte verteidigt ha-
ben, und daß sie in ihrer Kampfentschlossenheit und ihren Opfern allen anderen
Völkern der Monarchie vorangegangen [...] sind.«46
Derlei Rechtfertigungsanstrengungen suchten die während des Krieges errunge-
nen militärischen Erfolge primär als Erfolge deutschösterreichischer Truppenver-
bände der k.u.k. Armee zu verbuchen, während die Schuld für die Niederlage – wenn
sie nicht überhaupt geleugnet wurde – eindeutig dem nicht-deutschen Part der be-
waffneten Macht – und damit vor allem den nationalen Minderheiten innerhalb der
multinationalen Habsburgerarmee – zugeschrieben wurde. Dem solcherart auf poli-
tisch-nationale Kausalitäten zurückgeführten Desertions- und Verratsvorwurf an
die nichtdeutschen Einheiten der österreichisch-ungarischen Armee als integrativer
Teil des Dolchstoß-Vorwurfes ist aus geschichtswissenschaftlicher Sicht über lange
Zeit hinweg kaum kritisch entgegengetreten worden. Das mag schließlich auch da-
ran liegen, dass der Verweis auf politisch-nationale Verweigerungshintergründe nach
1918 nicht nur auf österreichischer Seite rechtfertigungsstrategische Wichtigkeit be-
saß; der als politisches Bekenntnis interpretierten militärischen Verweigerung kam
vielmehr auch in den Sukzessionsstaaten der Habsburgermonarchie eine wichtige
Legitimationsfunktion zu. Sie gehörte gewissermaßen zu den ›Gründungsmythen‹
der neuen postimperialen Nationalstaaten in Ostmittel- und Südosteuropa. Erfolgte
auf der einen Seite die militärische (und teilweise auch politische) Rechtfertigung
der Niederlage u. a. auch auf dem Rücken der nationalen Minderheiten, avancierten
letztere auf der anderen Seite zum regelrecht heroisierten staatlichen Legitimations-
faktor innerhalb eines Prozesses der Konstruktion einer weitgehend fiktiven Tradi-
tion, gleichsam im Hobsbawm’schen Sinne. Soldatische Verweigerungsformen, über
deren Ursachen und Hintergründe man sich hier wie dort also einig zu sein schien,
wurden auf diese Weise – unabhängig voneinander und zwischen Helden- und Ver-
ratsrhetorik changierend – gleich in zweifacher Richtung politisch instrumentali-
siert. Das gilt nicht nur für die Minderheiten der Habsburgermonarchie, sondern
etwa auch für den in diesem Band von Volker Prott beschriebenen Fall der Elsass-
Lothringer und anderer Minderheiten. Die spezifischen Ausprägungen von konkre-
45 Alfred Krauß, Die Ursachen unserer Niederlage. Erinnerungen und Urteile aus dem Weltkriege. München 1920, S. 73.
46 Zit. bei: Carl von Bardolff, Deutsch-österreichisches Soldatentum im Weltkrieg, Jena 1937, S. 33.