Forensische Traumatologie - Schussverletzungen
Dr. med. J. ManhartFacharzt für Rechtsmedizin
Universitätsmedizin RostockInstitut für RechtsmedizinDirektor: Prof. Dr. med. A. Büttner
Rostock, 27.11.2015
Für Ärzte in Weiterbildung,Fachärzte mit wenig Leichenschaupraxis,Polizisten und Juristen
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Wichtiger Hinweis
Es ist nicht gestattet, während der Vorlesung zu fotografieren oder zu filmen!
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Schuss – Übersicht
- Definition
- Waffen, Munition
- Ballistik
- Einschuss, Ausschuss
- Schussentfernung (Nahschuss, Fernschuss)
- Kriminalistische Aspekte (Selbst/Fremdbeibringung)
- Empfehlungen zur Spurensicherung im klinischen Bereich
- ärztliche Leichenschau
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Schuss – ärztliche Leichenschau
Hände weg von der Waffe! (Polizeidomäne !)- immer nichtnatürlicher Tod, immer Meldepflicht, immer Leichenschau mit Polizei
- Vorsicht bei der Interpretation Einschuss / Ausschuss
- auf Obduktion verweisen
- Hände eintüten
Situationsfehler ?- Fehlen der Waffe
- Mehrfachschüsse
- fehlende Blutspuren an den Händen bei absolutem Nahschuss in den Kopf
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Zerstörung anatomischer Strukturen (Schusskanal)
Druckschwankungen und Dislokationen im Gewebe (Dehnung und Scherung - temporäre Wundhöhle)
Hydrodynamische Sprengung (Flüssigkeitsreiche Gewebe)
Energieabgabe an Gewebe abhängig von Geschossgeschwindigkeit
Mündungsgeschwindigkeit:
Kurzwaffen – 250-400 m/s
Langwaffen – 700-1000 m/s
Schrot < 300 m/s
Schuss = Sonderform der stumpfen Gewalt
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Faustfeuerwaffen oder Kurzwaffen
o RevolverPatronenlager drehbar hinter dem Lauf
o PistolenPatronenlager fest mit Lauf verbunden
Handfeuerwaffen oder Langwaffen
o Flinten (jagdlich); „Pumpgun“
mit glattem Lauf
o Büchsen (jagdlich); Gewehre (militärisch)mit gezogenem Lauf
Schusswaffen
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Geschoss / ProjektilTreibmittel / PulverZündelementHülse
metrische Kaliberbezeichnung in mmz.B. 6,35 / 7,65 / 9 mm
angloamerikanische Bezeichnung in inchz.B. 45 = 0.45 in ~ 11,4 mm
Munition/Patrone
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nach Material
o Vollgeschosse
o Mantelgeschosse
– Vollmantelgeschosse
– Teilmantelgeschosse
– Hohlspitzgeschosse
nach Verhalten bei Eindringen
o formstabil
o deformierend (Querschnittsvergrößerung)
o zerlegend (Masse“teilung“)
Geschosse/Projektile
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Innenballistik
Abgangsballistik
Aussenballistik
Endballistik(bei biologischen Geweben Wundballistik)
Ballistik
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Zündung
Treibmittelabbrand
Gasentwicklung
Gasdruck > sog. Ausziehdruck
….und endlich: Geschossbewegung
Innenballistik
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nach Mündungsdurchgang weitere Expansion der unter Druck stehenden Gase
Gase überholen das Geschoss
nach einigen cm Weg verzögern die Gase und werden vom Geschoss überholt
Abgangsballistik
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Verletzungseffekteo Temporäre Wundhöhle (Schusskanal-Kontusionszone-Kommotionszone)
o Sekundärgeschosse (zerlegende Geschosse)
o zentrale Grösse: Energie Eab, die beim Geschossdurchgang an das Gewebe abgegeben wird (Eab [J/cm])
Endballistik = Wundballistik
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Hohlmantel
Temporäre Wundhöhle
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flüssigkeitsgefüllte Hohlorgane (z.B. Herz, Blase)
flüssigkeitsreiche Organe (Gehirn)
Infolge Inkompressibilität des „Wasseranteils“:
Zerreißungen der Hohlorgane
Berstung des Schädels
Hydrodynamischer Sprengeffekt
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Hydrodynamischer Sprengeffekt
Hydrodynamischer Sprengeffekt
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Hydrodynamischer Sprengeffekt
Hydrodynamischer Sprengeffekt
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1. Knochen sind keine Sekundärgeschosse (Energieabgabe zu gering)
2. beschossene Personen werden nicht
zurückgeschleudert (Impulserhaltungssatz!)
3. Projektile sind nicht steril (tmax ca. 180°C)
4. Sofortige Handlungsunfähigkeit nur bei Kopftreffern
5. Schussversuche werden nicht an Tieren/ Menschen durchgeführt
Rothschild et al. Rechtsmedizin 2010
Irrtümer in der Wundballistik
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Streifschuss
Prellschuss (< 0,1 J/ mm2)
Steckschuss
Gellerschuss (Abpraller) / Rikoschett (abgeknickter Schusskanal)
Durchschuss (Sonderform: 2 Segment Treffer)
Krönleinschuss (hydrodynamischer Sprengeffekt)
Schussformen
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Kontusionssaum
Dehnungshof
(fakultativ)
Einschuss - Charakteristika
Defekt aufgrund der Hautelastizität < Kaliber in platten Knochen trichterförmige Erweiterung in Schussrichtung
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Einschuss
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absoluter Nahschuss
relativer Nahschuss
Fernschuss
Schussentfernungsbereiche (Nahschuss-Fernschuss)
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aufgesetzte Waffe:
Stanzmarke
Schmauchhöhle
evtl. strahlige Platzwunden über knöchernen Widerlagern (Kopfschuss)
CAVE: Abstreifring und Kontusionssaum können fehlen !
Schussentfernung - Absoluter Nahschuss
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Stanzmarke
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Schmauchhof– näherer relativer Nahschuss:
deutliche Schmauchantragungen, ca. 15 cm bei Faustfeuerwaffen, ca. mehrere Dezimeter bei Gewehren
– weiterer relativer Nahschuss:nur Pulvereinsprengungen
Schmauchnachweisverfahren:– REM– GC– chemisch
Schussentfernung - Relativer Nahschuss
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CAVE: mit Ausschuss verwechselbar
Nur Einschusszeichen (Substanzdefekt, Abstreifring, Kontusionssaum, Dehnungshof)
Fehlen von Schmauch !
Schussentfernung - Fernschuss
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meist kein Substanzdefekt (adaptierbar)
oft unregelmäßige Wundränder
oft schlitzförmig
oft größer als der Einschuss
kein Abstreifring
gelegentlich Schürfsaum
in platten Knochen
o trichterförmige Erweiterung in Schussrichtung
Ausschuss
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Vergrößerung der Ausschußöffnung durch mitgerissene Knochenfragmente
Ausschuss
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Sektionsanmeldung:
Offenbar suizidaler Kopfschuss, Mundschuss mit Ausschuss rechte Schläfe….
Weitere Infos:
Männlicher Leichnam.
Alt. Krebs. Abschiedsbrief.
Erste Inaugenscheinnahme:
eine Schussverletzung !?
Fall – Schuss - Leichenschau
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Abschiedsbrief
„Mir ist der Katheter nach der letzten Spülung gezogen worden. Ich hatte die leichte Idee, dass mit dem (unleserlich) …. ich mit der Spritze die Blase spülen kann. Irrtum. Hiermit sage ich Adee, machts gut“
Vorerkrankungen: radiogene, chronische Cystitis (z. N. UrothelCA, ColonCA)
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Fall – Schuss - Leichenschau
Mundschuss?
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Schrot
Bolzenschussapparate
Schreckschusswaffen
Leuchtgeschosse
Gummigeschosse
Sondergeschosse
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Schrotpatronen mit 200 - 500 Schrotkörnern
Durchmesser 2 - 4,5 mm
Kaliberbezeichnung historisch:Anzahl der Bleikugeln, die zusammen die Masse eines englischen Pfunds (453,6 g) haben
aus Flinten verschossen
sog. Würgebohrung, um Schrotgarbe zu steuern
Schrot
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34Schrot
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Stahlbolzen wird ca. 10 cm tief in den Hirnschädel getrieben
projektillose Kartuschen
nach Schussabgabe Rückführung in Ausgangsstellung durch Federkraft
Stanzverletzung mit Impression
typische Stanzmarke mit i.d.R. zwei Schmauchhöfen
Bolzenschussapparate
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Kurzwaffen mit Laufattrappeno Laufattrappe fest mit dem Griff verbunden
o Hartmetallsteg, um aufbohren zu vermeiden
o Vorladen von Projektilen „bedingt“ möglich
kurze Laufattrappeno Mündungsenergien: 0,45 - 0,75 J/mm2
lange Laufattrappeno Mündungsenergien: 0,25 J/mm2
Grenzenergiedichte Haut <0,1 J/mm2
Schreckschusswaffen
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- Unfall - häufig Fernschüsse
- Jagdunfälle
- Schießstandunfälle
- Spielunfälle bei Zugang für Kinder
- Unfälle bei Waffenreinigung
- Suizid- Tötungsdelikt
Kriminalistische Aspekte (I)
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Suizido Eine Schussverletzungo Einschusslokalisation erreichbar (Schläfe, Mund)o Waffe zumindest in der Näheo Schusshand mit Schmauchnachweis o „Backspatter“ an Schusshand
Homizido Mehrere Schussverletzungeno Einschusslokalisationen verteilto Waffe abhandeno Schusshand ohne Schmauch, Blutspuren
Kriminalistische Aspekte (II)
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Einschuss und/oder Ausschuss ?
Lage, Art (Nahschusszeichen?) und Verlauf der Schussverletzungen
Geschosse ? nicht mit Pinzette fassen ⇒ Identifikation der Waffe
Schusshand („Schlitten“verletzungen, Blutspuren, (Schmauch)) ?
Kriminalistische Aspekte (III)
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Handlungsfähigkeit !
äußerst variabel !
Bsp:
Suizid mit Langwaffe (Brennecke)
3 Schüsse !
(bedeutet: 1x nachgeladen!!)
Kriminalistische Aspekte (VII)
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41Schuss – Empfehlungen zur Spurensicherung im klinischen Bereich
1. Notwendigkeit der Spurensicherung- Fotografieren (wenn es die Notfallbehandlung zulässt)
2. Asservate / Beweismittel- getragene Bekleidung- Verbandmaterial von der Notversorgung
- „Abklatsch“ der Haut vom Verletzungsbereich vor dem Abwaschen anfertigen (z. B. mit selbstklebendem Verband)
- Wundexzisate bei Steck- und Durchschuss asservieren (und nicht in die Pathologie geben!!!)
- Projektile / Geschossteile (Gummihandschuhe!)
- Fotoaufnahmen und bildgebende Untersuchungen
Asservate gehören in die Hände der Polizei !
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42Schuss – Empfehlungen zur Spurensicherung im klinischen Bereich
- Kein Sondieren der Schussverletzungen!- in den Weichteilen ist der Schusskanal nicht röhrenförmig, sondern kollabiert
und / oder blutgefüllt
- Gewebsschichten verschieben sich gegeneinander
- Gefahr von Artefakten beim Sondieren
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43Schuss – Sicherung des Projektils – Cave!
so NIE !!!Quelle: Heide S et al. (2012) Rechtsmedizin 22: 396 - 398
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Forensische Bildgebung – klinischAltersdiagnostik am Lebenden – bei fehlenden oder unstimmigen
Angaben zum Geburtsdatum
• Strafmündigkeit (14. Lebensjahr)
• Asylverfahren (16. Lebensjahr)
• Jugend – Erwachsenenstrafrecht (18. – 21. Lebensjahr)
• Rentenverfahren (65. Lebensjahr) nach SGB VI
• Empfehlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forensische Altersdiagnostik der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin: http://agfad.uni-muenster.de/german/empfehlungen.htm
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Forensische Bildgebung – klinischAltersdiagnostik am Lebenden im Strafverfahren – Methodik:
1. körperliche Inspektion mit Erfassung anthropometrischer Maße (Körperlänge, -gewicht und -bautyp), der sexuellen Reifezeichen sowie mögliche altersrelevante Entwicklungsstörungen
2. Röntgenuntersuchung der linken Hand
3. zahnärztliche Untersuchung mit Erhebung des Zahnstatus und die Röntgenuntersuchung des Gebisses
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Forensische Bildgebung – klinischAltersdiagnostik – Röntgen der linken Hand
Kleinkind
16 Jahre Erwachsener
Quellen: http://www.pruenergang.de/mvz_kiel_patienten_kinderradiologie_tipps_und_information_fuer_eltern.html,
http://www.radiologie-frankfurt.de/Untersuchungen/Rontgen/rontgen.html,
http://www.radiologie-bingen.de/leistungsangebot/roentgengrundlagen.html,
alle aufgerufen am 25.03.2014
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Forensische Bildgebung - postmortal
• = jede Anwendung von konventionellem Röntgen, CT, MRT oder Angiographie am Verstorbenen oder Leichenteilen zu diagnostischen Zwecken
• Indikationen am IfRM Rostock:
1. Schussverletzungen
2. Unbekannte Leichen (z. B. Brandleichen)
3. Säuglinge/ Kleinkinder
4. Tötungsdelikte
• Durchführung und Befundung durch und in Zusammenarbeit mit dem IfDIRder Universität Rostock bzw. Radiologie der HELIOS Kliniken Schwerin
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Virtuelle Autopsie – „Virtopsy“
Forschungsteam der Universität Zürich
Virtopsy als Ergänzung, nicht als Ersatz der klassischen Obduktion
© Virtopsy Zürich, www.virtopsy.com, aufgerufen am 25.03.2014
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Das „Virtopsy“ - Projekt
Vor der Obduktion:Anwendung bildgebender Verfahren
(CT, MRT, Oberflächenscanner, ggf. Biopsien)
© Virtopsy Zürich, www.virtopsy.com, aufgerufen am 25.03.2014
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Virtopsy – Anwendungen
• Fremdkörpersuche
• Sicherung von „flüchtigen“ Befunden (z. B. Gaseinschlüsse)
• Skelettstatus
• Geschlechtsdimorphismus – Identitätssicherung
• Lokalisation von Befunden (z. b. Herd- oder Focus/Tumorsuche?)
Rekonstruktion – „blutarme“ Darstellung von Befunden
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Forensische Bildgebung im rechtsmedizinischen Alltag
• 60 Jahre alt gewordener Mann• partnerschaftliche Probleme
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Pm-CT nach Kopfschuss: Localizer
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Pm-CT nach Kopfschuss: Schusskanal
Einschuss rechts Ausschuss links
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Pm-CT nach Kopfschuss: Projektilendlage
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Pm-CT nach Kopfschuss: 3D-Rekonstruktion
Einschuss rechts Ausschuss links
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PmCTA = postmortale CT-Angiographie
© Abb.: Pathologe 2011 Suppl 2 32 292–295
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„Virtopsy“ in der Praxis
• Massenkarambolage A 19• Identifizierung der Opfer• Im CT: künstliches Hüftgelenk • In der Obduktion: Seriennummer der Prothese
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„Virtopsy“ in der Praxis
Verdacht auf
Neugeborenentötung: Totgeburt
oder Lebendgeburt?
• Im CT: belüftete Lungen
• In der Obduktion:
Lungenschwimmprobe positiv
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Fazit – Schuss ärztliche Leichenschau
Hände weg von der Waffe! (Polizeidomäne !)- immer nichtnatürlicher Tod, immer Meldepflicht, immer Leichenschau mit der Polizei
- Vorsicht bei der Interpretation Einschuss / Ausschuss
- auf notwendige Obduktion verweisen
- Hände eintüten
Situationsfehler ?- Fehlen der Waffe
- Mehrfachschüsse
- fehlende Blutspuren an den Händen bei absolutem Nahschuss in den Kopf
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KontaktUniversitätsmedizin RostockInstitut für Rechtsmedizintel. 0381/494 99 01
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Schluss mit Schuss !
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