Eine performative Installationvon
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i nh a l t
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6 0 Einleitung
8 1 interview
16 2 Projektbeschreibung
18 3 theoretischer hintergrund
24 4 thesen
28 5 Entschleunigungserfahrung
32 6 Protokolle
38 7 erkenntnisgewinn
42 8 fazit
44 9 ausblick
46 10 Produkte
50 11 Fingerübungen
52 12 Fußnotenverzeichnis
53 13 literaturverzeichnis
54 14 impressum & danksagung
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W i r b i t t e n v i e l m a l s u m E n ts c h l e u n i g u n g
Nein, dies ist kein Pamphlet gegen den Fort- schritt und gegen unsere »beschleunigte Ge-sellschaft«... Und doch geht es darum, einmal kritisch zu hinterfragen, was es mit der heute allgegenwärtigen Beschleunigung von techno- logischen Möglichkeiten und sozialen Wandlun-gen auf sich hat. Welche Rolle spielt sie beim selbstständigen, kreativen Arbeiten? Und was passiert, wenn man einmal im Leben auf die Bremse tritt anstatt nur aufs Gaspedal, einen Moment lang innehält und seine Lebensum-stände hinterfragt: Was bedeutet Beschleuni-gung für mich, mein soziales Umfeld und mein Leben? Was brauche ich wirklich, um beruflich und privat glücklich zu sein? Und wie kann ich mein Leben freiheitlich gestalten, ohne mich als Großstädter vom allgemeinen Beschleuni-gungswillen vereinnahmen zu lassen und den-noch produktiv zu sein? In der festen Hoffnung, einige Antworten auf die vorangegangenen Fragen zu finden, haben Florin Schmidt und ich uns ein Zeitfenster von einem Monat geschaffen, um uns in völliger Ab-stinenz von modernen Kommunikationsmitteln und Massenmedien dem kreativen Arbeiten mit analogen, also »entschleunigten« Produktions-mitteln zu widmen. Es handelt sich um einen Selbstversuch, in dem wir der beruflichen wie privaten »Beschleunigung« des Lebens trotzen. Zudem untersuchen wir, welche Auswirkungen diese Maßnahme auf uns selbst, unser kreatives Arbeiten und unseren Alltag hat. Dies bedeutet im Umkehrschluss nicht, dass wir in dieser Karenzzeit (im Sinne einer Bedenk-
zeit) nicht produktiv gewesen wären. Im Gegen-teil. Während der Projektzeit haben wir sowohl reale Kundenaufträge als auch freie Arbeiten realisiert. Darüber hinaus haben wir uns alle für die Umsetzung nötigen analogen Arbeits- techniken angeeignet. In der folgenden Dokumentation beschreibe ich zunächst das vierwöchige Projekt »Büro für Entschleunigung«, das als performative Installa-tion angelegt ist. Im dritten Kapitel gebe ich den soziologischen Kontext der Arbeit wieder, um in die Begrifflichkeiten wie Be- und Entschleu-nigung aus theoretischer Perspektive einzufüh-ren. Dieses bildet die Grundlage für Thesen, die ich in Kapitel 4 aufstelle, um eine Prognose über den Verlauf des Projekts und seine Auswirkun-gen auf mich zu geben. Im Anschluss (Kapitel 5) schildere ich meinen persönlichen Hintergrund und mein bisheriges Leben als selbstständiger Kommunikationsde- signer in der digitalisierten Gesellschaft, damit die veränderten Lebens- und Arbeitsabläufe in vollem Umfang nachvollziehbar werden. Im sechsten Kapitel beschreibe ich anhand von Tagesprotokollen das Erlebte und seine Aus- wirkungen auf meine Wahrnehmung in Bezug auf mich selbst, Zeitstrukturen und Arbeits-abläufe. In Kapitel 7 überprüfe ich anhand mei-ner konkreten Erfahrungen die aufgestellten Thesen und erläutere meinen Erkenntnisge-winn. Diesen runde ich in Kapitel 8 mit einem Fazit und in Kapitel 9 mit dem Versuch ab, mit langfristigen Entschleunigungsstrategien einen Ausblick in meine Zukunft zu geben.
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7 EINLEITUNG
CT Wir sind hier im »Büro für Entschleunigung« bei »Schmidt & Bruns Gebrauchsgraphik«. Wieso Gebrauchsgraphik?
CB Gebrauchsgraphik ist der all- gemeingültige Terminus aus den Sechziger Jahren für den Berufs-stand des Grafikers.
CT Also ihr habt euch einen gan-zen Monat Zeit genommen, euch quasi in diese vergangene Arbeits-welt der 1960er hinein zu verset-zen. Nicht nur in die Arbeitswelt, sondern auch in die Lebenswelt?
FS Hauptsächlich in die Arbeits welt, obwohl wir auch privat kein Handy oder Internet benutzen. Festnetztelefon geht noch.
CB Kein Radio, kein Fernsehen, kein Internet, kein Handy, keine Magazine, keine Nachrichten oder aktuelle Zeitungen.
CT Aber ihr trefft euch weiterhin mit euren Bekannten und Freun-den?
FS Ja, aber auch weniger – da man ja nicht mehr so vernetzt ist.
CB Es ist schon etwas weniger ge- worden, aber alle nehmen Rück-sicht, d. h. keiner kommt mit irgend-welchen neuen YouTube-Filmen.
CT Das wollt ihr doch auch nicht? Wenn euch nun jemand erzählt: »Ich habe heute Morgen in den Nachrichten gehört...« Das schon?
FS Das lässt sich kaum vermeiden.
CT Wie hat sich der Prozess der Entschleunigung lebensweltlich be-merkbar gemacht? Hat sich in den letzten vier Wochen so etwas wie ein anderer Lebensrhythmus einge-stellt?
CB Ja schon. Wir arbeiten relativ gleich bleibend zu festen Zeiten wie Angestellte im Büro. Dabei ist die Beschleunigungskurve stetig gefallen und die Entschleunigung ist nach und nach eingetreten. Am Anfang war noch ein gewisser Be- schleunigungswille da: Man hatte das Gefühl, dass man noch ganz viel schaffen muss und es doch alles etwas schneller gehen sollte. Mit der Zeit ist das Tempo aber bei allen Sachen heruntergegangen. Man hat es beim Schlafen gemerkt oder wie man sich in der Stadt be-wegt. Diese vier Wochen sind na-türlich eine künstliche Pause und man hinterfragt schon sehr viel.
CT Ihr arbeitet hier auch an Auf-trägen, für die ihr angefragt worden seid?
FS Die Aufträge haben wir uns vorweg und im Rahmen des Projek- tes gesucht. Und die bearbeiten wir momentan.
CT Und diese Aufträge füllen auch den ganzen Arbeitsmonat aus?
FS Ja, sogar ziemlich gut. Da-durch, dass hierbei viele zeitgenös- sische Arbeitsweisen einfließen
wie Bleisatz, Holzdruck, Siebdruck und das Arbeiten im Fotolabor. Das hat uns in der ersten Woche auch etwas nervös gemacht.
CB Man brauchte ein wenig Zeit zum Akklimatisieren und Erlernen der genannten Techniken. Gerade hatten wir auch eine Präsentation und eine Motiventwicklung für ein Plattenlabel. Dort haben wir uns gemeinsam auch noch einmal für ein neu zu entwickelndes Fotomo- tiv entschieden. Alleine das dauert schon mindestens einen Arbeitstag. Von umgerechnet 22! Das macht sich natürlich sofort bemerkbar. Da sind zwei feste Aufträge absolut genug. Außerdem haben wir neben her auch noch ein paar freie Arbei-ten gemacht.
CT Ihr müsstet euch ja theore-tisch an dem messen, was heute mit der Computergrafik möglich ist. Oder nehmt ihr auch die alten Preise der Sechziger Jahre?
CB Das wollten wir ursprünglich.
FS Es ist schon mit den Auftrag-gebern geklärt, dass man sich an-derweitig einigt – da das Ganze ja mehr ein Experiment ist, mit dem wir feststellen wollten, ob das Kon-zept marktfähig wäre. Ich könnte mir vorstellen, dass, wenn man spe-ziell diese Dienstleistung anbietet, einige Unternehmen sicher bereit wären, das Geld zu zahlen und den zeitlichen Aufwand in Kauf zu neh-men. Vielleicht bieten wir das auch in Zukunft an.
Der Journalist Christoph Twickel hat uns Ende Mai in unseren Räumlichkeiten in der Caffamachereihe 44 des Hamburger Gängeviertels besucht, um mit uns über unser Projekt »Büro für Entschleunigung« zu sprechen.
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INTERVIEW
CB Wir haben den Versuch ja »Performative Installation« genannt. Das Büro als Raum ist die Ins- tallation und unser Tun und Aus- sehen ist die Performance. Und wir wollten unsere Arbeitsleistung be-wusst nicht entlohnt haben, weil wir ja selber gefördert werden. Deshalb haben wir Aufträge von Leuten angenommen, die etwas machen, was uns auch gut gefällt. Wie z. B: das Label »Pingipung«. So ließe sich dieses Modell sicher auch auf die Realität übertragen. Wir eröffnen nach dem Projekt unter dem Namen »On&On« auch unser eigenes Büro, das von der Ausrichtung etwas analoger orien-tiert sein soll. Eher eine Schnitt-stelle zwischen Kunst und Design.
CT Ihr kommt ja quasi aus einer Welt, in der man durch die Ver-netzung extrem einfach und un-mittelbar über E-Mail, Facebook, Handy usw. immer sofort ange-schlossen ist an Kunden, Freun-de, Nachrichten. Davon habt ihr euch für einen Monat abgekappt. Ich vermute mal, dass es dort auch so etwas wie einen »Phan-tomschmerz« gibt. Das »Abge-schnittensein« macht ja irgend- etwas mit euch. Habt ihr eine kon-krete Erfahrung, an der euch dies besonders aufgefallen ist? Jenseits eurer Techniken, eures Auftretens, des Lebens, von dem was man so machen kann und was man nicht machen kann.
CB (denkt nach) Komischerwei-se ist es uns beiden überhaupt nicht schwer gefallen. Das fehlen-de Handy und Internet waren gar kein Problem. Vielleicht auch, weil
man unterbewusst wusste, dass es nur vier Wochen sind. Schade war, dass man mit Freunden nicht gut kommunizieren konnte. Die soziale Interaktion war schon etwas spär-lich gesät. Mein Lebensgefühl ist aber definitiv besser geworden – wie man sich bewegt oder wie man schläft. Es ist alles ein wenig run-tergefahren und mein Kopf ist freier und offener für neue Ideen. Durch die fehlende ständige Input-aufnahme.
FS Bei mir war es ganz ähnlich. Was man komischerweise vermisst hat, war eher das Handy als das Internet. Aus dem einfachen Grun- de, besser mit den Leuten in Kon- takt treten zu können. Um sich
zu treffen oder Termine zu verschie- ben. Man musste sich mehr struk-turieren und nach exakten Zeiten gehen. Ich bin da sehr viel entspan-nter geworden. Selbst fünf Minuten auf die Bahn zu warten, hat mich sonst schon nervös gemacht. Ich gehe mittlerweile meist ruhig wie bei einem Spaziergang. Die Be-schleunigungskurve geht langsam runter und man wird entspannter.
CB Ein freier Künstler oder Eso-teriker würde sicherlich sagen, dass vier Wochen gar nichts Aus- sagekräftiges sind. Das Experiment ist auch eher auf die digitale Bo- heme zugeschnitten. Ich bin auch ein totaler Input-Mensch. Ich ha- be immer ein Magazin und ein Buch dabei und höre meistens unter-wegs Musik. Ich nehme durch-geh- end auf. Durch das Projekt war nun alles, was man aufnimmt, zufälliger. Die Informationsaufnahme war
nicht so gezielt und nicht so ge-ballt.
CT Die Informationsaufnahme ist nicht so gezielt? Man hat also nicht so viel Wahlmöglichkeiten?
CB Genau.
FS Das ist auch ein großer Punkt. Die ganze Verfügbarkeit fällt auf ein- mal weg. Das entspannt ungemein.
CT Ihr habt euch das Jahr 1966 als Karenzpunkt ausgesucht. Habt ihr einfach auf die Zeitleiste getippt und gesagt: »Das ist es jetzt«?
FS Nicht so ganz. Die Ursprungs- idee ist schon zwei Jahre alt und aus einer Idee heraus entstanden, in der wir mit diversen Projekten ziemlich im Stress waren. Nachdem wir die Idee aktuell wieder aufge-griffen hatten, sollte es schon et- was weiter weg sein. Alle Jahrzehn- te danach waren für uns zu dicht dran. Zu greifbar.
CB Man hat ja als junger Mensch von anderen Jahrzehnten meist eine romantische Vorstellung wie die denn gewesen sein könnten... Außerdem gab es 1966 die ersten Spiegelreflex- und Super-8-Kame-ras, die wir auch gerne benutzen wollten. Umso weiter wir uns in Rich-tung frühere Jahrzehnte entfernt hätten, desto schwieriger wäre die Umsetzung gewesen (denkt nach) Als visueller Mensch geht man im-mer vom Ästhetischen aus und wir beide mögen die Sechziger sehr gerne.
CT Gab es einen Prozess ,in der sich diese zeitliche Referenz noch mal mit neuer Bedeutung oder so etwas aufgeladen hat? Habt ihr eine neue Erfahrung mit der Zeit gemacht?
CB Wir haben uns schon im Vor-aus viel über die Zeit informiert... Aber es ging uns bewusst nicht darum, uns in einem Korsett der Sechziger zu verschnüren, weil man dadurch automatisch begrenzter
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Entschleunigung bedeutet mehr,
einfach mal innezuhalten.
c h r i sto p h b r u n s
ist. Wir benutzen die Sechziger Jahre als eine Projektionsfläche. »Schmidt&Bruns Gebrauchsgra-phik« ist der Name für die Projekt-ionsfläche und das eigentliche The- ma ist das »Büro für Entschleu-nigung«. Wir wollen die Sechziger nicht imitieren, sondern sie dienen lediglich dazu, die Rahmenbedin-gungen einzuhalten. Wir brauchten diesen Rahmen, um das Projekt konsequent durchzuziehen.
CT Mit den Texten und der Musik der Zeit bis 1966 gibt es auch neue Erfahrungen, die man damit macht, vermute ich mal? ... Man entdeckt ja auch immer. Gleichzeitig haben sie eine Patina, vom Sound oder von der Art der Sprache. Habt ihr so etwas aufgenommen?
FS Bestimmte Sachen kehren auch wieder. Wie CDs, die man in seiner Jugend rauf und runter gehört hat, ist es bei uns jetzt so mit den Platten, bei denen wir uns schnell auf ein paar bestimmte Alben eingespielt haben und die-se auch bewusster gehört haben. Ganz im Gegensatz zu unseren ganzen iTunes-Playlisten und giga-byteweise Musik, die man sonst auf dem iPod hat.
CB Man nimmt die Sprache auch anders wahr – da man sich mit den Medien, die man nutzt, intensiver beschäftigt. Weil man weiß, man hat auch nur das. Die Auswahl ist wesentlich kleiner.
FS Das ist auch schön, weil man das sonst nie tut, da man immer vor zu viele Wahlmöglichkeiten gestellt wird: auch mal innezuhalten und sich damit auseinanderzusetzen...
CT Entschleunigung heißt ja nun nicht, dass man weniger Stress hat – oder ist der Stress einfach an-ders? Ihr habt ja Arbeitsvorgänge, die viel mehr Zeit in Anspruch neh- men wie z. B. ein Schreiben aufzuset- zen oder eine Vorlage herzustellen. All das produziert ja auch Zeitstress. Was heißt dann Entschleunigung? Weniger in derselben Zeit machen?
CB Entschleunigung bedeutet halt mehr, einfach mal innezuhalten.
FS Es hängt viel damit zusammen, dass wir uns von der äußeren Welt abgekapselt haben und gar nicht diesen Anforderungen gerecht werden müssen. Wir haben uns unser eigenes Zeitfenster geschaf-fen, in dem wir mit unserem Tempo arbeiten können.
CB Das »Büro für Entschleuni-gung« ist in sich schon ein Bruch bzw. ein Oxymoron. Ein Büro ist eher ein Ort der Beschleunigung, an dem man effizient arbeitet. Entschleunigung war, von unserer Definition aus, sein eigentliches Tun bzw. kreatives Arbeiten einfach mal zu hinterfragen. Also einmal kurz innezuhalten, anzuhalten. Den Kopf einmal durchzuspülen. Und sich einmal zu fragen, wo stehe ich, wie arbeite ich und möchte ich das eigentlich. Deswegen auch die ent-schleunigten Produktionsmittel. Sich etwas neu beizubringen und in diesem Kosmos zu arbeiten. Natürlich ist dies kein Abbild der Realität, sondern man hat vier Wo-chen lang, wie schon erwähnt, ein künstliches Zeitfenster... Wir sind in diesen Wochen auch auf die Begrifflichkeit des »Rasenden Still-standes« nach Paul Virilio einge-gangen. In der heutigen Zeit, in der sich soziale, gesellschaftliche und technische Prozesse immer weiter beschleunigen, geht das ideendyna-mische und kreative Konstrukt im- mer weiter verloren, was ich auch an mir selber gemerkt habe. Durch die massive Inputaufnahme ist man ständig damit beschäftigt, zu ver-gleichen und zu verarbeiten, ob bei Tag oder Nacht. Eine klare Ent-schleunigungserfahrung war, dass man mehr Luft hatte für neue Ideen. So ist eine These, die wir entwickelt haben: »weniger Input, mehr Output«. Einfach zu überle-gen, wo man mal einen Gang raus-nehmen kann und ob man sozial und kulturell über jedes Stöckchen springen muss. Ein wenig mehr Müßiggang betreiben. Soweit es einem möglich ist!
CT Hat das geklappt?
CB Bei mir auf jeden Fall. Man sinniert und hinterfragt mehr. Mehr Selbstreflexion. Brauche ich das alles? Muss ich den ganzen Tag bei Facebook dabei sein? Und muss ich 35-mal pro Tag meine Mails checken? Die ganzen Vor-gänge, die man reflexartig inne hat, halten einen selbst von vielem ab.
CT Darauf geht auch meine Fra-ge hin: Jede Lücke wird gefüllt. Ich stehe an der Haltestelle und war-te. Also kann ich noch mal Mails checken oder Musik hören oder eine SMS schreiben, während wir uns unterhalten. Also das Auffüllen von Zeit mit allen möglichen Kom-munikationsvorgängen. Das fällt ja wohl weg bzw. passiert sicherlich in einer anderen Taktung?!
CB Wir haben uns diesbezüglich auch mit Georg Simmel befasst, der von der »Steigerung des Ner-venlebens« gesprochen hat. Durch stetige Beschleunigung wächst Rast- und Ruhelosigkeit, der Kon-kurrenzdruck und die Manie, sich ständig mit Informationen zu be-fassen. Seine These war ebenfalls, dass das Geschmacks- und Stil-empfinden nachlässt... Das kann man teilweise gut auf die heutige Zeit übertragen. Man hat jegliche Option und man hat das Gefühl, dass jede Idee schon gedacht und in jeder Variante umgesetzt wurde. So dass man sich auch als Kreati-ver fragt, ob man da noch etwas beitragen muss. Es gibt imk Grun-de genommen ja irgendwie schon alles.
CT Es gibt bzw. gab ja umgekehrt schon immer diese Sehnsucht nach der guten alten Zeit. Ein bisschen sieht es hier ja aus wie bei »Mad Men«. Die Leute mögen »Mad Men« und gehen bei »Manufac-tum« einkaufen. Sie sehnen dieses Handgemachte, noch nicht von der digitalen Revolution kontami-nierte, herbei. Wie steht ihr dazu? Ist das mit eingeflossen oder war das ein Motiv?
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FS In jedem Fall. Das ganze Pro-jekt ist aus unserer eigenen Sehn-sucht heraus entstanden. Man merkt auch oft, wenn man sich mit anderen unterhält, dass viele das Projekt gut finden. Man spürt dann eine gewisse Sehnsucht beim Ge-genüber.
CB Genau – diese Ambivalenz. Vor zwei Jahren, als die Idee ent-standen ist, war es uns mit allem viel zu viel, und so kamen wir auf die Idee eines Büros, wo man al-les per Hand macht. Genau diese Sehnsucht nach etwas Standhaf-tem, Ruhigem war der Grund für das Projekt.
CT Können wir uns jeden Tag entscheiden, ob und in welchem Maße wir an der Beschleunigung und Verdichtung der Zwischenräu-me durch digitale Hilfsmittel teil-nehmen? Man kann sein iPhone ja auch auslassen oder nur einmal am Tag E-Mails checken. Das sind ja al-les Dinge, die wir vermeintlich frei entscheiden könnten. Ist das so oder gibt es einen äußeren Zwang, der einem das aufdrückt?
FS Den gibt es auf jeden Fall. Wenn man sich zu viel rausnimmt, läuft man Gefahr den Anschluss zu verpassen. Bei uns ist es eher ein Beobachten für später, inwieweit man sich entschleunigen kann. Wie viel braucht man überhaupt? Wenn man sich zu sehr raus hält, wird es sicher schwierig.
CB Für unseren Bereich wird es auch schwierig. Es ist definitiv mög- lich. – aber für den digitalen, krea-tiven Bereich nur bedingt. Gerade wenn man selbstständig ist. Wir haben natürlich überlegt, wie man die Entschleunigung bzw. Erfah-rung übersetzen könnte. Man nimmt sich beispielsweise eine Stunde pro Tag Zeit für eine »Entschleunigte Stunde«, in der man einfach mal nichts macht. Nur einfach mal über- legen, was man am Tag erlebt hat und was einem die einzelnen Leu-te mitgeteilt haben. Aber mehr ist sicher nicht drin.
CT Die Zeit, die ihr euch gewählt habt, also das Jahr 1966, war ja die Zeit, als sich die Leute viele Gedan-ken gemacht haben über das Ver-hältnis von Privatem, Politischem und Ökonomischem. Und Slogans auftauchten wie: »Das Private ist politisch«. Dann, über 40 Jahre später, leben wir jetzt in einer Zeit, in der man ganz oft, gerade wenn man als Kreativer freiberuflich tä-tig ist, schwer unterscheiden kann, was privat ist und was zur Arbeit ge-hört... So ist es bei eurem Versuch sicherlich etwas anderes, wenn man sagt: »Von neun bis fünf gehe ich in mein Büro und dort bin ich mit meiner Arbeit beschäftigt und dann gehe ich raus und bin mit et-was anderem beschäftigt.« Das ist doch etwas, was man schon lange nicht mehr hatte, oder? Was ist das für ein Vorgang?
FS Du hast sehr gut beschrieben, wie es vorher bei uns war. Da hat sich das Private und Berufliche extrem vermischt. Wir sind beide keine »Nine-till-five-Menschen«. Bei mir trifft das noch weniger zu, da ich komplett selbstständig arbeite und damit auch meine Pro-bleme habe. So ist es strukturell auch eine totale Umstellung. Man hat sich während des Projektes tatsächlich abends nie Arbeit mit nach Hause genommen.
CB Viele Jobs, die wir erledigen, entstehen daraus, dass das Private und das Arbeitsleben völlig flie-ßend sind. Was auch bei dem Job kaum anders möglich ist, da das nichts ist, was man von neun bis sechs machen kann. Weil man dar-über hinaus interessiert sein muss. Aber es würde sicherlich auch ana- loger funktionieren... Aber so wie wir hier momentan arbeiten, ist es real sicherlich nicht umsetzbar. Es ist eher eine Art Kapsel, da wir die-ses ganze Spielchen mal nicht mit-machen wollten. Wir haben Auf-traggeber, die akzeptieren, dass wir langsam und analog arbeiten und dass sie uns schlecht erreichen. Aber als reales Arbeitsmodell ist das sicher schwierig.
CT Früher hat man sich ja ent-schuldigt, wenn man außerhalb der Öffnungszeiten angerufen hat. Das ist ja etwas, was bei denen, die mit der digitalen Revolution auf-gewachsen sind, anders gewor-den ist. Man beansprucht keinen Schutzraum mehr für sich.
CB Wir hatten ja feste Besuchs-zeiten, und außerhalb dieser konn-te man im Voraus telefonisch einen Termin mit uns vereinbaren. Die Leute kamen trotzdem oft einfach zu irgendeiner Zeit vorbei. Es wur- de von außen nicht wirklich akzep-tiert.
CT Wie arbeitet ihr denn sonst? Womit verdient ihr euer Geld? Wie läuft normalerweise euer Ar-beitstag ab?
CB Ich bin im Verlagswesen tätig, sowohl online als auch offline. Die Hälfte der Arbeitswoche gehe ich in einen Verlag, aber mache abge-sehen davon freie zuhause Grafik jobs. Ich komme also morgens in den Verlag, mache dann irgend-wann Mittagspause, und abends, wenn ich nach Hause komme, esse ich etwas und checke dann meine außerberuflichen, aber trotzdem beruflichen Mails, und erledige dann manchmal noch einen Job von 22 bis 24 Uhr am Rechner zu Hause. Mein Büro ist sowohl zu-hause als auch im Verlag als auch bei Kunden. Abends besucht man diese und geht was trinken und bespricht Jobs. Ich kenne diese zeitlich festen Strukturen sehr gut – während es bei Florin das exakte Gegenteil ist. In diesem Falle ma-chen wir beide unabhängig vonein-ander unsere Erfahrungen.
FS Genau. Ich hatte die ganze Zeit diese Homeoffice-Situation, die mich extrem gestört hat, da sich dort das Privat- und Berufs-leben sehr mischt. Bei mir sind es viel Illustrationsjobs oder kleine Grafikaufträge. Im künstlerischen Bereich mache ich auch etwas in Richtung Wandgestaltung mit mei-nem Bruder zusammen.
INTERVIEW11
CT Wer gibt dir Jobs?
FS Mal Werbeagenturen für ei-nen Pitch oder ein Modelabel. Das ist durch das Künstlerische alles etwas internationaler geworden über eine Webpräsenz, über die man kontaktiert wird. Oder man gestaltet in einer anderen Stadt ein Schaufenster. So ist es mit dem Geld schwer, da auch nichts Re-gelmäßiges reinkommt. Man muss sich immer ein Polster schaffen. So hilft es mir hier auch ganz gut, da wieder eine Struktur reinzube-kommen. Das will ich dann danach auch weiterführen und nicht mehr von zu Hause arbeiten.
CB Da Florin das analoge Arbei-ten viel mehr kennt als ich. Ich arbeite sehr viel digital und kaum analog, während er mehr analog arbeitet, aber diese Strukturen weniger kennt. Deswegen hat hier jeder seine eigenen, neuen Erfah-rungen mit diesem Projekt.FS Es war für mich keine beson-dere Umstellung, analog lange an einer Sache zu arbeiten. Es war ähnlich wie zwei Wochen an einer Serie von Bildern zu arbeiten.
CT Das kommt oft vor?
FS Ja. Für mich war es eher das Strukturelle, was neu war.
CB Das ist auch der Grund, wa-rum wir nach diesem Projekt ge-meinsam ein festes Büro haben wollen und kein Homeoffice mehr: Wir wollen diese Vermischung von Privatem und Arbeit zu Hause nicht mehr. Das kenne ich auch von anderen Leuten, die das auch nicht mehr wollen.
CT Die Zeit, in die ihr euch rein-versetzt habt, war ja eher die Zeit, in der man weg wollte vom Nine-till-five. Gerade Grafik und Werbung waren ja damals die Avantgarde eines anderen Lebens, in der man gerade diese Vermischung haben wollte. Muss man das nur verteu-feln oder sind wir da nicht auch Nutznießer eines Fortschritts, der
da erzielt worden ist? Eine Art Be-freiung… Weil grafisches Arbeiten auch ein Teilhaben ist an all den Prozessen, die da dazugehören – auf Konzerte gehen und einen be-stimmten Lifestyle ausleben. Das macht die Sechziger doch auch attraktiv als Jahrzehnt! Deshalb as-
soziiert man mit dem Jahrzehnt, im Gegensatz zu den Fünfzigern, auch einen Aufbruch in der Arbeitswelt, oder?
FS Da vertreten wir in dem Jahr-zehnt eben eher die konservative Ecke.
CB Das ist, was wir vorhin auch meinten. Dieses Romantisierende, dass sich jeder eine Zeit, in der er nicht gelebt hat, anders vorstellt. Natürlich war es eine Zeit des Um-bruchs, aber wir haben für uns von der Schnelligkeit eher ein ruhiges Innehalten projiziert. Wir wollen auf gar keinen Fall irgendetwas verteufeln, oder sagen: Bitte ent-schleunigt euch alle, Facebook ist furchtbar usw. Wir machen das nach wie vor gerne. Es geht mehr um den bewussteren Umgang da-mit. Dieses Innehalten. Ich glaube, gerade wegen dieses Lifestyles sind wir seit Jahren selbstständig und wir machen auch unser Büro auf, weil wir genau das lieben und gerne machen. Wir haben im Vor-aus auch Interviews mit Grafikern geführt, die genau in dieser Zeit gearbeitet haben. Es war auch schön zu sehen, dass einer der Grafiker, der früher bei Reemtsma gearbeitet hat, sagte: Der techni-sche Fortschritt ist super. Ich kann genauer arbeiten und präziser.
CT Wie kam es dazu, dass das
Gängeviertel (ehemals von Künst-lern besetzter Gebäudekomplex in Hamburg) der Austragungsort dieses Projektes ist?
FS Ganz einfach. Der Raum ist ein Atelierraum von meinem Bru-der und mir, den wir seit Ende
2009 haben. Es hat sich angebo-ten. Auch vom »Altertümlichen« her. Man kann sich hier gut rein-versetzen und das Gängeviertel ist eh ein kleines Gallisches Dorf umgeben von Glasbauten.
CB Es ist ein Freiraum und eine tolle Projektionsfläche. Das Zusam- menleben im Gängeviertel ist nicht entschleunigt, aber es ist ein ande-res Gefühl, sich hier zu bewegen. Gang runter. Und es ist natürlich auch eine Haltungsfrage, die uns hier sowieso zugesagt hat.
CT Konntet ihr das Umfeld in euer Projekt integrieren oder habt ihr an Versammlungen teilgenom-men? Oder habt ihr das außen vor gelassen?
FS Das haben wir nicht direkt in unser Projekt mit einbezogen.
CB Es ist schon ein Miteinander. Man ist kein einzelner Körper, der nichts mit dem Ganzen zu tun hat., man ist integriert.
CT Wen habt ihr interviewt?
CB Wir haben im sozialen Umfeld nach Grafikern, die zu jener Zeit festangestellt waren, mal rumge-fragt und haben sie dann kontak-tiert und uns getroffen und die In-terviews aufgezeichnet. Einfach, um einen genauen Einblick zu kriegen
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Für mich war es eher das Strukturelle,
was neu war. f lo r i n sc h m i dt
und ein Gefühl dafür zu bekom-men. Die Interviewten haben uns auch diverse Accessoires mitgege-ben. Wie das Rechenbuch für das grafische Gewerbe aus den Fünf-zigern.
FS Das liest sich wie ein Mathe-matikbuch. Heutzutage wird einem durch den Rechner fast alles abge-nommen.
CB Wir haben uns mit dem Jahr-zehnt ja auch auseinander gesetzt und wollten mit Leuten sprechen, die zu der Zeit gearbeitet haben, um ein Gefühl dafür zu bekommen.
CT Was haben die euch erzählt von der Arbeitsweise von damals? Was war der Erkenntnisgewinn für euch? Also von dem, was sie an Le-bensgefühl vermittelt haben?
CB Es war gesperrter und be-grenzter. Es war nichts so frei. Und heute interessieren sich ja alle gesellschaftlich für Kunst und De-sign. Man hatte schon das Gefühl, dass es früher eher eine Tätigkeit war. Es war mehr ein Job als heute, wo es eher mit Lifestyle zu tun hat. Es war viel reglementierter. Man hatte nicht die Möglichkeiten, die wir heute haben – dass man mit dem Rechner bis zur Produktion alles alleine machen kann. Ich ma-che alles alleine. Ich bin das Büro. Früher hat eine Person die Rein-zeichnung gemacht, eine den Satz und einer hat die Fotos arrangiert und den Fotosatz gemacht. Weni-ger flexibel und die Arbeitsweise war viel ungenauer. Und der Beruf war – in Anführungszeichen – nicht so »cool«, wie er heute ist wo jeder kreativ sein möchte.
CT Offensichtlich ja auch, weil eine Menge Handwerk und techni-sches Know-how dazugehörte, das man beherrschen musste. Hand-werklich haben die Berufe heute eine andere Aura. Ihr habt das ja jetzt vier Wochen lang gemacht. Was sind die Sachen, aus denen heraus man so eine Art Selbstbe-wusstsein bezieht – als jemand, der den Beruf ausübt?
FS Es hat einen in dem Respekt vor dieser handwerklichen Tätig-keit bestärkt und dass man sich bewusst macht, wie viel Schritte einem durch diese Rechenmaschi-ne abgenommen werden.
CB Das Handwerk sind heute eher die Computerprogramme, also Programme muss man genau-so können – aber dieses Wissen an Trends, Zeitgeist und Stilistiken ist heutzutage ein Gewinn. Dadurch, dass man dieses große Sammel-surium hat. Sowohl früher als auch heute musste und muss man ein Art gesellschaftliches Bewusstsein haben. Wenn man etwas schafft, was sich andere Leute angucken, ob künstlerisch oder werblich, muss man einen Einblick haben auf Strömungen, ob gesellschaft-lich oder politisch. Das Handwerk ist nur anders geworden. Heut-zutage muss man sich durch die komplette Vernetzung mehr damit beschäftigen, was wo und wie pas-siert. Das ursprüngliche Handwerk wird einem mehr als früher abge-nommen. Und dadurch ist man freier und kann noch mehr über Ideen transportieren.
FS Damals war das Handwerkli-che im Vergleich zum Kreativen ein
größerer Komplex. Von der Umset-zung ist es heute weniger aufwendig.
CT Habt ihr das Gefühl, Berufe zu haben oder glaubt ihr wenn ihr eine Zusatzausbildung macht oder einen anderen Weg einschlagt auch etwas komplett anderes machen zu können? Ich bin Journalist und habe trotzdem oft so ein Bauchla-dengefühl. Diese Unsicherheit da- rüber, was jetzt eigentlich das Hand- werk ist, was ich beherrsche und wie viel das eigentlich wert ist. Gibt mir das einen gewissen Status? Wenn man vier Wochen so arbeitet wie in den Sechziger Jahren, kriegt man ein anderes Gefühl zum Handwerk des Berufstandes, dem man ange-hört. Ihr macht nichts anderes als vorher – nur macht ihr es anders.
CB Das Bauchladengefühl kenne ich sehr gut. Das ist eines der Pro-bleme dieses Berufstandes. Man lebt durchgehend mit dem Gefühl, sich immer ranhalten zu müssen, Ich verspüre schon oft Zugzwang. Aber das ist auch schön, weil man dann auch mal sagen kann, ich ma-che keine Grafik mehr, sondern ich habe gerade eine gute Idee und mache mal zwei Jahre Projektma-nagement für den Kulturbereich. So kommt man über das, was man gelernt hat an andere Bereiche und schweift mal aus.
FS Die Digitalisierung verwässert schon ein wenig unseren Berufs-stand. Viele bauen selber ihren Flyer. Und es werden sehr viele grafische Erzeugnisse in Umlauf gebracht. Einer der interviewten Grafiker sagte auch, dass seit der digitalen Revolution einfach sehr viel Müll produziert wird.
INTERVIEW13
CB Durch diese Lifestyle-Aura, die der Berufsstand hat, dieses »Immer-kreativ-sein«, hat man im-mer wieder unwissende Leute, ob im Bereich Wandgestaltung, Illu-stration oder Grafik, die denken, dass man ja als Kreativer den gan-zen Tag nur Spaß hat und deswe-gen auch Material und Stunden nicht oder kaum bezahlt zu be-kommen braucht. Es wird nicht mehr so als Handwerk anerkannt. Da z. B. jeder ein bisschen Schrift in Word setzen kann. Deswegen ist die handwerkliche Unterscheidung auch heutzutage viel subtiler. Das ist auch das Problem an diesem Job. Dass jeder irgendwie gerade kreativ ist.
CT Ist das auch mal so eine Art Ansage? Dass man nicht irgendwer ist, der mit dem Laptop unterwegs ist und den man einfach anrufen kann, sondern man kommt vorbei und gibt einen Auftrag und verhan-delt darüber? Ich mache viele Jobs auf Zuruf, wo ich davon ausgehe, dass man sich schon irgendwie ei-nig wird und mal redet man auch über Geld, aber eigentlich gibt es nicht diesen Vorgang mit Büro und Vertrag. Verträge kriegt man eher für Abrechnungsangelegenheiten im Nachhinein zugeschickt. Ist das bei euch auch so?
CB Genauso ist es! Vertrag ist beim Kunden oft eher ein Schimpf- wort. Man hat das Gefühl, man verschreckt denjenigen, der einem das Geld gibt. Ich mache den Stun-denlohn vom Auftraggeber abhän-gig. Heutzutage kann man kaum mehr mit einem festen Stunden-lohn und dem Prinzip »Friss oder
Stirb« arbeiten. Das geht nicht. Es geht bei mir mehr nach der einfa-chen Formel »Brotjob vs. Herzjob«. Brotjobs machen oft nicht so viel Spaß und die Kunden sind etwas dröger. Aber darüber hinaus habe ich die Möglichkeit, Herzjobs zu machen, über die man dann neue Aufträge akquirieren und sich po-sitionieren kann. Eben dieses stän-dige Wechselspiel.
CT Bei einem Workshop, den ich letztens mit Tänzern und Choreo-graphen auf Kampnagel gemacht habe, sprachen wir auch über die Arbeit und den schönen Begriff der »Querfinanzierung«. Sehen eure Ab- rechnungen hier anders aus als die, die ihr in eurem normalen Ar-beitsleben macht?
FS In diesem Projekt fallen die Abrechnungen bisher weg.
CT Habt ihr mit den Interviewten darüber gesprochen, wie sie damals Verträge geschlossen, Aufträge an- genommen und ihre Leistungen ab- gerechnet haben?
CB Nein. Es ging uns eher um die Arbeits- und Lebensweise.
CT Vielleicht kann man zum Ab-schluss noch mal über eure Quelle reden, das Buch »Beschleunigung« von Hartmut Rosa und über die Thesen, die ihr mit auf den Weg genommen habt.
CB Rosa ist ein Soziologe aus Jena. Ursprünglich wollten wir als Gegenvergleich auch Peter Glotz mit einführen, aber die Zeit reich-te bisher nicht aus. Was für uns so
interessant an dem Buch war, und was uns auch vorher nicht bewusst war, ist, dass man über Zeitstruk-turen jegliches politische oder ge- sellschaftliche Phänomen empi-risch aufarbeiten kann. Strukturen, die epochal, gesellschaftlich oder staatlich vorgegeben sind. Rosa spricht beispielweise von Hand-lungs- und Verflechtungsketten. Aufeinander folgende Tätigkeiten, die wir auch aktuell mit denen vorher abgeglichen haben. Wie oft hat man vorher dieses und jenes gemacht und was machen wir jetzt gerade?! Aber auch die Rast- und Ruhelosigkeit, von der Georg Sim-mel spricht. Der ständige Input-Gedanke. Aber auch, dass man sich ständig mit seinen Koope-rationspartnern synchronisieren muss. Privat z. B. mit der Freundin, mit der man schon morgens Termi-ne vereinbart. Im Digitalen sowie-so. Wie solche Verflechtungs- und Handelungsketten aussehen und auch der dem Mensch innewoh-nende Effizenz- und Beschleuni-gungswille, den wir am Anfang auch sehr stark verspürt haben. Einfach die Empfindung für Zeit. Wir woll-ten überprüfen, ob sich die Wahr-nehmung für Zeit ändert. Rosa spricht von drei Zeitebenen: zum einen die Freizeit- und Alltagsebe-ne, dann die auf das ganze Leben bezogene Daseinsebene und die epochale Ebene, also die Epoche, in der man eigentlich lebt. Diese drei Ebenen synchronisiert man die ganze Zeit miteinander. Bei jeder Entscheidung, die man trifft. Wie definiere ich mich selber? Und das war in den vier Wochen schon eine ganz andere Erfahrung. Eben weil man sich mal ganz andere
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Gedanken macht. Sehr viele trivi-ale Inhalte sind weggefallen, die sonst den Kopf verstopfen. Ich habe mal gelesen, dass es Hormo-ne gibt, die nachts während des Schlafens den Kopf spülen. Wie wenn man einen Rechner defrag-mentiert. Unnötige Erinnerungen und Erfahrungen werden wegge-spült. Deswegen war als körper-liche Erfahrung auch der Schlaf besser als vorher. Auch ein Thema war die eingangs schon erwähnte Ambivalenz der Beschleunigung. Die war sowohl in Marx‘ Kommu-nistischem Manifest schon Thema – als auch bei Goethe. Diese ewige Sehnsucht nach Innehalten und
Stillstehen. Wir sind auch zu der Erkenntnis gekommen, dass all diese Erkenntnisse, die seit der In-dustriellen Revolution und vorweg entstanden sind, sich sehr gut auf die heutige Zeit beziehen lassen. Es drehte sich normalerweise bei jeder Vernissage oder jedem Kino-film, den man besucht, immer um die Frage: »Kann ich das irgendwie produktiv für mich nutzen?« Statt-dessen sollte man probieren, seine Zeit auch mal völlig unproduktiv zu gestalten. Müßiggang zu betreiben. Was im Renaissance-Zeitalter ein Luxusgut war. So haben wir das Buch von Hartmut Rosa eher als theoretischen Unterbau für das
Projekt benutzt. Natürlich könnte man das Ganze mit mehr Zeit sehr viel weiter treiben. Und wir hätten auch Lust dazu. Aber man verliert, selbst mit Fördergeldern, einen Monat lang Einnahmen! Man muss sich ja auch wieder synchronisieren.
CT Danke für das Gespräch.
Das Gespräch führte Christoph Twickel.
Christoph Twickel, Jg. 1966 lebt als Journalist und Autor in Hamburg, arbeitet als Radio-Moderator für den NDR und ByteFM, als Autor für Spiegel Online, Spex, Brand Eins.
INTERVIEW15
P r o j E k t b E S c h r E ib u n g
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Das Projekt »Büro für Entschleunigung« mit der Unterzeile »Schmidt & Bruns Gebrauchsgraphik« ist als performative Installation angelegt. Der eingerichtete Büroraum stellt die Installation dar, während die Arbeit selbst und unsere äußere Erscheinung die Performance beinhaltet.
Der Ausgangspunkt des Projektes war, kreatives Arbeiten mit »entschleunigten« Produktionsmitteln in der digitalen Gesellschaft aktiv zu untersuchen. Ein spezielles Augenmerk haben wir auf die Bereiche »analoge Produktionsweisen«, »Massenmedien« und »Zeitstrukturen« gelegt. Hierbei haben wir für den Zeitraum von einem Monat auf die Nutzung von Massenmedien und moderne Kommunikationsmittel verzichtet – mit Ausnahme von solchen, die bis zum Jahre 1966 vorhanden waren oder entstanden sind. Das Jahr 1966 haben wir als maßgebliche zeitbezo-gene Projektionsfläche gewählt, weil uns dieses Jahr sowohl stilistisch als auch geschichtlich immer beson-ders interessiert hat. Frühere Zeiträume hätten in der Wahl der Produktionsmittel und spätere bei der Einbeziehung historischer Kontexte Nachteile gehabt. Des Weiteren kamen 1966 die ersten Spiegelreflex- und Super-8-Kameras auf den Markt. Beide Medien wollten wir gern einsetzen. Äußerlich haben wir uns ebenfalls in Kleidung und Frisur an das Jahrzehnt angepasst, um dem Lebens-gefühl für unsere Untersuchungen näher zu kommen. Hierbei sei vorweg gesagt, dass es uns nicht darum ging, ein Abbild dieser Zeit zu schaffen. Dies hätte unserer Meinung nach eher den Effekt eines künstler- isch einengenden Korsetts gehabt, das den notwendi-gen Freiraum eher limitiert hätte. Eben diesen geistigen und gegenständlichen Freiraum haben wir in einem Atelier des Hamburger Gängeviertels vorgefunden und in ein Büro im Stile der Fünfziger und Sechziger Jahre verwandelt. Dort haben wir mit analogen Ar-beitstechniken Aufträge für reale Kunden umgesetzt. Die Aufträge wurden im Vorfeld akquiriert, während wir uns folgende Arbeitstechniken während dieses einen Monats angeeignet haben: Holz- und Siebdruck, Bleisatz, Kalligrafie, analoge Fotografie und -entwick-lung sowie den Umgang mit der Schreibmaschine. Der Büroname »Schmidt & Bruns Gebrauchsgra-phik« setzt sich, wie in den Sechziger Jahren üblich, aus
unseren Nachnamen zusammen. Wobei »Gebrauchs- graphik« der übliche Terminus für den Berufsstand des heutigen »Kommunikationsdesigners« war. Dies ist auch der Studiengang, in dem Florin und ich aus-gebildet sind. Vor dem Studium hat Florin das Fach-abitur für Gestaltung erworben, während ich eine Ausbildung zum Mediengestalter für Print und Opera-ting in einer Druckerei und Werbeagentur absolviert habe. Seit einigen Jahren arbeiten wir als Freelancer, sowohl gemeinsam als auch einzeln, in den Bereichen Grafik, Editorial-Design, Wandgestaltung, Urban Art und Illustration. Zudem realisieren wir mit zwei Freun-den unter dem Namen »cacao collective« diverse mul-timediale Installationen. Wegen der aufgezählten Tätigkeiten zählen wir uns zur »Digitalen Bohème«, die vermutlich auch einen Großteil der Leserschaft dieser Dokumentation dar- stellt. (Der Begriff »Digitale Bohème« bezeichnet frei-schaffende Medienberufler mit künstlerischen Ambi-tionen, die neue Kommunikationstechnologien nutzen, um ihre individuellen Handlungsspielräume zu erweitern.) Wie in diesem Milieu üblich, verschmelzen auch bei uns unser Privat- und Arbeitsleben seit Jahren miteinander. Der Beruf und die Liebe zum visuellen Schaffen setzen häufig voraus, dass man sich dauerhaft und eingehend mit Zeitgeist-Entwicklungen ausein-andersetzt, ob gesellschaftlich, politisch oder rein visuell. Genau diese Auseinandersetzung und der begleitende Erfolgsdruck, um ein ausreichendes Ein-kommen zu erzielen, bewirkten eine dauernde Rast- und Ruhelosigkeit. Aus diesem Zustand heraus ent-stand eine starke Sehnsucht nach etwas Standhaftem und Ruhigem – einem Innehalten. Vor ungefähr zwei Jahren waren Florin und ich in mehreren Projekten gleichzeitig involviert. Der Stress-pegel dabei war so hoch, dass uns die romantische Vorstellung eines Büros, in dem man »entschleunigt« und auf analogem Wege für sich arbeiten kann, schlicht- weg begeisterte: ohne Druck, das ständige Flimmern
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von Bildschirmen und dem dauernden Klingeln von Mobiltelefonen. Diese Idee haben wir vor geraumer Zeit überdacht und nun projektgebunden in Form eines Selbstver-suchs umgesetzt. Der Versuch handelt davon, sich in einem künstlich geschaffenen Zeitfenster von vier Wochen die eige-nen Arbeits- und Lebensbedingungen vor Augen zu führen und diese mit dem Ziel zu hinterfragen, was man als kreativ Schaffender benötigt, um den eigenen Prioritäten entsprechend Arbeits- und Privatleben in der »beschleunigten Gesellschaft« zu gestalten. Die Zeit des Selbstversuchs haben wir wegen des Kontra-stes zu unserem normalen Alltag »Entschleunigungs-erfahrung« genannt, die ich in dieser Dokumentation beleuchten werde. Als theoretische Grundlage dien-ten uns die Werke »Beschleunigung« des Soziologen Hartmut Rosa sowie »Die Großstädter und das Gei-stesleben« des Soziologen Georg Simmel. Beide Au-toren setzen sich mit dem Thema der Beschleunigung im urbanen Milieu auseinander. Im weiteren Verlauf werden wir zur Untersuchung unserer Fragestellun-gen einige Variablen der Autoren auf unsere Unter-nehmung anwenden und erläutern.
In der Vorbereitungsphase zum Projekt führten wir Interviews mit diversen Personen, die im Jahr 1966 als Grafik-Designer tätig waren, um ein Gefühl für die Arbeitsweise und dem dazugehörigen Lebensgefühl für diese Epoche zu bekommen. Es liegt uns fern, mit diesem Projekt den Einzug von digitalen Technologien in unseren Alltag verteufeln zu wollen. (Einer der in-terviewten Grafiker äußerte sich beispielsweise sehr erfreut über die technischen Neuerungen seit seiner aktiven Berufszeit. Seiner Meinung nach impliziere der technische Fortschritt ein schnelleres, komplexe-res und genaueres Arbeiten. Man spare mit heutigen Produktionsmitteln beträchtlich an Zeit. Diese Ein-schätzung können wir nachvollziehen.) Mit dem Pro-jekt »Büro für Entschleunigung« möchten wir vielmehr einen sensiblen und reflektierten Umgang mit moder-nen Medien fördern. Es geht uns nicht zuletzt auch um den gezielten, sinnvollen Konsum von Informationen. Um diese Überlegungen für den Leser transparent zu gestalten, bedarf es zunächst der Erläuterung unserer theoretischen Ausgangslage. Im folgenden Abschnitt werde ich in zentrale Begriffe zur »Sozialen Beschleu-nigung« einführen, um unser Anliegen aus dieser Per-spektive vorzustellen.
17 PROJEKTBESCHREIBUNG
t h E o r E t i S c h E rh i n t E r g r u n d
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Das Phänomen »Soziale Beschleunigung« ist ein wesentlicher Bezugspunkt unserer Untersuchungen, da sie den Grundstein für das gesamte Projekt bildet. Der Soziologe Hartmut Rosa beschreibt dieses Phänomen als die erhöhte Geschwindigkeit des sozialen Wandels.
Demnach unterliegen moderne Gesellschaften seit Jahrhunderten der »Sozialen Beschleunigung«. Einen massiven Höhepunkt erreicht dieses Phänomen im 18. Jahrhundert in der Sattelzeit vor der Industriellen Revolution und bezeichnet den Übergang der Frühen Neuzeit zur Moderne. Dieser ist geprägt von der Idee des Fortschritts. Durch den Wechsel von der Agrar- zur Industriegesellschaft vollzieht sich eine beschleu-nigte Entwicklung der Technologie und in den Wissen- schaften. Dementsprechend gründet die »Beschleu-nigungslogik« jener Zeit auf Fortschritt, die in Gesell-schaft und Technologie ihren Niederschlag findet. Ungefähr zwei Jahrhunderte später löst die »Digi- tale Revolution« um 1989 herum einen ähnlich bedeu-tenden sozialen Wandel aus, der in fast alle Lebens-bereiche hinein wirkt. Durch die neuen Kommunika-tionsmittel (z.B. Computer) verstärken sich Prozesse der globalen Vernetzung um ein Vielfaches. Es be-steht allerdings ein entscheidender Unterschied zwi-schen der »Beschleunigungslogik« des 18. und der des 20. und 21. Jahrhunderts. Im 18. Jarhundert be-inhaltete diese den Gedanken des gesellschaftlichen Fortschritts, während an der Schwelle des 20. zum 21. Jahrhunderts laut Rosa die »Soziale Beschleunigung« hauptsächlich dazu dient, das kapitalistische Wirt-schaftssystem aufrecht zu erhalten. Nach Hartmut Rosa ist die »soziale Beschleuni-gung« in drei Formen zu unterteilen: die technische Beschleunigung, die Beschleunigung des sozialen Wandels und die Beschleunigung des Lebenstempos. Die technische Beschleunigung bezieht sich auf die Produktion, den Transport und die Kommunikation. Also auf die immer schnellere Bewegung von Men-schen, Gütern und Informationen. Diese sei deswegen Beschleunigung »in« der Gesellschaft. Die Beschleunigung des sozialen Wandels dage-gen ist eine Beschleunigung »der« Gesellschaft selbst. Der Philosoph Hermann Lübbe spricht gar von einer »Gegenwartsschrumpfung«.1 Das meint eine in immer kürzeren Abständen nötige, Neubeschreibung von Gegenwart und Zukunft durch eine zunehmende In-novationsverdichtung. Was in einem Bereich heute noch Gültigkeit besitzt, hat diese in einem anderen
Segment schon längst verloren. Dies lässt sich konkret an der allgemeinen Arbeitssituation aufzeigen. Im Gegensatz zu den Fünfziger Jahren wechselt der Mensch heute wesentlich öfter die Arbeitsstelle. Ehe-paare lassen sich wesentlich häufiger scheiden usw. Die Gegenwart, also das konkrete »Ereignisjetzt« so-zialer Situationen, schrumpft in zunehmendem Maße und wird häufig bestimmt durch frühere bzw. künftige Ereignisse.
Die Beschleunigung des Lebenstempos lässt sich dagegen als eine »Verdichtung von Handlungsepiso- den«2 sowie als »Veränderung der Zeiterfahrung« be-schreiben. Die Handlungsstränge des Individuums werden komplexer, vielschichtiger und verknappter. Sie verdichten sich zunehmend durch Massenmedien und moderne Kommunikationmedien. Demgemäß be-zeichnet Rosa die Beschleunigung als eigenständiges Grundprinzip der Moderne, als »die in einem »kapita-listischen Wirtschaftssystem angelegten Steigerungs-prinzipien des Wachstums und der Beschleunigung, welche kulturprägend und strukturbildend für die Lebens- und Gesellschaftsform der Moderne sind«3.
»Was ist Zeit? Wenn niemand
mich fragt, weiß ich es. Will ich es einem Fragendem
erklären,so weiß ich
es nicht. Au g u st i n u s vo n h i p p o, um 4 0 0
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Diese neuzeitliche »Akzelerationsdynamik ist dem- nach ein dynamischer Vorgang bzw. ein sich selbst an-treibender zirkulärer Prozess«,4 der drei externe Mo-toren beinhaltet. Diese sind, wie oben beschrieben, sowohl ökonomischer, kultureller und sozialstrukturel-ler Natur, die sich in einer ständigen Wechselwirkung gegenseitig stimulieren. Die kumulative Wirkung ist nach Rosa die immer weitergehende Beschleunigung von Prozessen, denn auf eine Aktion folgt immer eine Reaktion. Auf diese Weise gewinnt die gegenseitige Stimulierung beständig an Tempo. Dieses Tempo ist »ein Ausdruck für die Menge der Verflechtungsketten, die sich in jeder einzelnen gesellschaftlichen Funkti-on verknoten.«5 Diese Verflechtungsketten werden in der Spätmoderne stetig länger und kleinteiliger. Der
Philosoph Marshall Berman beschreibt die Modernität als einen »Zustand unaufhörlicher Dynamik«6. Diese totale Dynamisierung von sozialen Prozessen verur-sache eine veränderte Qualität der Zeit und damit eine »kategoriale Veränderung und Neubestimmung sowohl des individuellen als auch des kollektiven Selbstverständnisses«.7 Das heißt, dass der Identitäts-wandel des Einzelnen und der Wandel sozialer Struk-turen durch Modernisierung sich gegenseitig bedin-gen. Laut Rosa drohe die »soziale Beschleunigung« in der Spätmoderne in ihr Gegenteil – in eine erstarrte Steigerungsspirale – umzuschlagen. Das könnte dazu führen, dass sich gesellschaftliche Synchronisation und Integration nicht mehr aufrechterhalten lassen. Es kommt zu einer »Verzeitlichung der Zeit«,8 infolge dieser sich stetig steigernden Beschleunigungsprozes-se. Durch dieses »institutionell und strukturell erzwun-gene Tempo« sei der Mensch überfordert. Er müsse sich in seinem Handeln stets an den Zeitmustern und Aktivitäten seiner »Kooperationspartner« orientieren und seine Zeit gezwungenermaßen rigide planen. Die-se Zeitpraxis sei jedoch nicht die Folge individueller Entscheidungen, sondern folge einem gesellschaftlich vorgegebenen Muster. Die von Rosa kritisch kommen-tierte Disziplinargesellschaft in der westlichen Welt zeichnet sich durch internalisierte und stark etablierte Zeitstrukturen aus. Für das Individuum sei ein Aus-weichen aus dieser »strikten zeitlichen Regulierung«9
nicht möglich, ohne dass sich gesellschaftliche Nach-teile ergeben wie z.B. eine Ausgrenzung oder Diskri-minierung. In modernen Gesellschaften werden drei unter-schiedliche Zeitperspektiven und –horizonte gleichzei-tig ausgebildet. Die Zeitstrukturen des Alltagslebens bestimmen das Handeln in Bezug auf Arbeit und Frei-zeit, also der »Alltagszeit«. Hier geht es darum, die Geschwindigkeit und die Dauer der alltäglichen Hand-lungen beständig zu synchronisieren und Arbeit und Freizeit effizient miteinander in Einklang zu bringen. Die zweite Zeitperspektive ist die der Lebenszeit und beinhaltet die Frage nach der Gestaltung des Lebens von Individuen. In dieser bezieht der Mensch seine Entscheidungen und Handlungen auf die gesam-te Lebensdauer, z.B. bei der Wahl seiner Ausbildung, seines Ehepartners usw. Die dritte Perspektive dagegen ist die übergreifen- de Zeit ihrer Epoche, also die so genannte Weltzeit.10 Damit ist die Einbettung des eigenen Lebens in seine Generation und sein Zeitalter gemeint. Diese drei Zeitebenen bestimmen das »In-der-Zeit-Sein«11 der ge- sellschaftlichen Akteure. Die Zeit von Individuen in modernen Gesellschaften findet demnach auf drei Ebenen statt. Dieses »In-der-Zeit-Sein« wird immer häufiger zum modernen Qualitätsmerkmal für indivi- duelle Leistungsfähigkeit, vorausgesetzt, es gelingt, alle drei Ebenen permanent miteinander zu synchro-nisieren. Dementsprechend führt jede Entscheidung in einer Zeitebene zu einer Wechselwirkung in den
THEORETISCHER HINTERGRUND19
anderen Ebenen. Darüber hinaus gibt es eine vierte Zeit, die in jeder Kultur durch Rituale und Feste prak-tiziert wird und als »Sakralzeit« 12 bezeichnet wird und als Auszeit gilt. Diese - auch heilige Zeit genannt - steht über der linear verlaufende Zeit des Lebens und ist in einer metaphysischen Ebene angesiedelt. In dieser Zeit wird dem Menschen ein staatlich oder kulturell verankertes Moment des Besinnens zuteil, das mitunter dazu dient, die drei regulären Zeitebenen miteinander in Einklang zu bringen. Dies ist jedoch in hohem Maße von der sozialen und kulturellen Struk-tur der jeweiligen Gesellschaft abhängig. So verfügen, laut Otthein Rammstedt, »einfache und undifferen-zierte Gesellschaften über ein ‚occasionales’ Zeitbe-wusstsein, welches nur zwischen Vergangenheit und Zukunft unterscheidet.«13 Während frühere ständisch differenzierte Gesellschaften eher einem zyklischen Zeitbewusstsein zugeneigt waren, welches die »Zeit als Kreislauf immer wiederkehrender Prozesse und Zustände erfahren wird.«14 Während zwischen Vorher und Nachher unterschieden wird, sind Vergangenheit und Zukunft gleichbedeutend. In den »stärker ausdif-ferenzierten Gesellschaften der Neuzeit«15 ist das Zeit- bewusstsein ein lineares und basiert auf dem Prin-zip von Kausalität und Fortschritt. Daher wird heute von einem linearen Zeitbewusstsein mit offener Zu-kunft gesprochen. Die Zeiterfahrung der modernen Gesellschaft ist laut Rammstedt durch Bewegung und Beschleunigung geprägt, während sie im Gegensatz zur Zeiterfahrung und –wahrnehmung früherer Gesellschaften ungewiss ist. Im Mittelalter beispielsweise galt durch den gro-ßen Einfluss von Kirche und Religion die Zukunft als gewiss und fest verankert. Das »Rasen der Ereignisge-schichte«,16 wie der Philosoph Paul Virilio es bezeich-net – lässt einen gewissen Halt, wie ihn die Menschen in früheren Epochen im Glauben gefunden haben, vermissen. Virilio konstatiert zudem, dass sich der räumliche Bezug des Menschen zur Welt durch die mittlerwei-le fehlenden Grenzen im Internet gänzlich verändert hat. Distanzen und die Zeit für deren Überwindung schrumpfen im virtuellen Raum dadurch ganz gewal-tig. Dies führt dazu, dass die nicht-virtuelle Welt in eine Art Stillstand gerate. Der rastlose Wandel in der
virtuellen Realität findet eine Entsprechung in der Beschleunigung des Lebenswandels im realen Leben. Dies wiederum führt zum »Rasenden Stillstand«.17
Diese »Komplementärerfahrungen« von Stillstand und Beschleunigung sind ihre gegenseitigen Kehrsei-ten. Das Gefühl, dass alles immer noch etwas schneller gehen kann und muss, also der permanente, selbst auferlegte Druck des Individuums zur Beschleunigung aller möglichen Handlungen ist der entscheidende Punkt: Dies geschieht nicht um voran zu kommen, sondern lediglich um den bestehenden, selbst geschaf-fenen Platz in der Gesellschaft zu halten. Also quasi ein Stillstehen. Durch das »Rasen der Ereignisge-schichte« bedingt sich dieses »Stillstehen der ideen-dynamischen Entwicklung«,18 d. h. der gesellschaftliche Akteur ist so sehr damit beschäftigt, sich sozial zu synchronisieren und mit der Zeit »Schritt zu halten«, dass er kaum eine Möglichkeit wahrnehmen kann, sich selbst tiefenstrukturell zu entwickeln. Für einen Moment der Selbstreflexion ist kaum noch Platz. »Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur nie dazu«. Diese Aussage des Schriftstellers Ödon von Horvath beschreibt genau den genannten Zustand.19
Das Paradoxe daran ist, dass der heutige Mensch der westlichen Gesellschaft die maximale Freiheit ge-nießt, eben das zu tun, was er möchte. Trotzdem be-steht ein permanentes Gefühl der Heteronomie. Die Menschen sind ständig von dem Gedanken getrieben, noch etwas erledigen zu müssen. So kann man von einer »Rhetorik des Müssens«20 sprechen. Die Zeit an sich ist nicht gottgegeben, sondern sozial konstruiert. Die Zeitnormen, in diesem Falle also die Zwänge, die den Menschen antreiben, sind keine ethischen Nor-men, sondern fungieren eher als stumme Gewalt. Sie sind nirgendwo niedergeschrieben oder offiziell als Grundlage oder Gesetz verabschiedet worden. Diese Rhetorik erzeugt bei den Akteuren eine Zunahme von Handlungen und Tätigkeiten. Diese wiederum führt zu einer expotentialen Steigerung der Abhängigkeiten aller Handlungen und Akteure untereinander. Somit steigt der Synchronisierungsbedarf auch beim Indivi-duum. Demzufolge gilt: Je pluralistischer, also auch demokratischer, eine Gesellschaft ist, desto zeitauf-wändiger wird sie. Es entsteht eine zunehmende »Ver-gesellschaftung«.21
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THEORETISCHER HINTERGRUND21
Die Abhängigkeitsketten haben sich, ähnlich wie die Handlungsketten, enorm verlängert. Unsere heu-tige »Multioptionsgesellschaft«,21 beschreibt und för-dert eben diesen Zustand. Das dauerhafte Bedürfnis nach Mehr: mehr Konsum, mehr Erlebnis, mehr Leben. Und all das in möglichst kurzer Zeit. In der multiop-tionalen Gesellschaft sucht jeder nach der persönlich besten Zusammenstellung von Optionen. Der Sozio-loge Èmile Durkheim sprach von einer »Anomie«, einer regellosen Existenz der Multioptionalität.23 Das Leben zerfalle in unzählige kleine Episoden, was eine Entfremdung des Menschen von sich selbst, seinen Mitmenschen und den Dingen zur Folge habe. Es fin-det kaum noch eine »Anverwandlung«24 statt, d. h. ein sich »zu eigen machen von Dingen« im Sinne dessen, dass man diesen Dingen nahe steht bzw. eine Bezie-hung zu ihnen hat. Die Dinge kommen einem dadurch äußerlich und fremd vor, dass man versucht, sie sich in einem erhöhten Tempo anzueignen. Als Beispiel im Alltag kann man beobachten, dass im Urlaub kaum länger an einem Ort verweilt, sondern stattdessen versucht wird, möglichst viel zu sehen und aufzuneh-men. Ähnlich liegt der Fall bei vielen Menschen mit Büchern, die man unbedingt besitzen muss. Wenn sie erst zuhause im Regal stehen, verlieren sie an Wert und es wird wieder einem anderen »Objekt der Be-gierde« nachgejagt. Die »Anverwandlung« misslingt somit. Dieses Phänomen ist eines der »Wunder« des Kapitalismus und damit der Wegwerfgesellschaft, die uns dazu bringt, fast ausschließlich zu produzieren, zu kaufen und zu besitzen – und immer weniger zu konsu-mieren, obgleich der Konsum an sich ehedem einen sehr hohen Wert genoss.
Man kann sowohl auf dieses Phänomen als auch auf das der »Sozialen Beschleunigung« bezogen von »Dynaxität« sprechen. Dies ist ein Kunstwort des Psy-chologen Michael Kastner, das aus den Begriffen Dy-namik und Komplexität zusammengesetzt wird.25 Die Vielfalt an Möglichkeiten, Aufgaben und Aktivitäten nimmt permanent zu. Wir haben immer mehr Wahl-möglichkeiten in Bezug darauf, was wir tun können,
sollen oder wollen. Dadurch erhöhen sich die Zahl der Schnittstellen und Kreuzungen von Optionen um ein Vielfaches, damit auch der Entscheidungsdruck. Beim gesellschaftlichen Akteur führt dies - in Kombi-nation mit Beschleunigung auf allen Ebenen - bisweilen zu Irritationen und Rast- und Ruhelosigkeit. Zeit wird immer mehr zum knappen, wertvollen Gut, das das Individuum möglichst effizient zu nutzen und aufzu-teilen hat. Das berühmte Zitat Benjamin Franklins: »Remember that time is money« beschreibt diesen Zustand ziemlich treffend. Mit der »Steigerung des Nervenlebens« beschrieb Georg Simmel in seinem Standardwerk »Die Großstädter und das Geistesle-ben« schon 1900 den Zustand der »wirren Halt- und Rastlosigkeit« hervorgerufen durch das ewige Suchen nach momentaner Befriedigung und durch immer neue »Anregungen, Sensationen und äußere Aktivitä-ten«.26 Dies führt seiner Meinung nach »zur wilden Jagd nach Konkurrenz«27 und zur »spezifisch modernen Treulosigkeit auf den Gebieten des Geschmacks, der Stile, der Gesinnungen«.28 Heute, über 100 Jahre später, hat diese Aussage nichts an Aktualität verloren. Schon lange vor der Industriellen Revolution entwickelte sich laut Rosa ein markantes Gegensymptom zur Beschleunigung in Form der »Schwarzen Melancholie«, welche sich in einem »Zustand der Lähmung und des Stillstandes«, also der »vergangenheits- und zukunftslosen zeitlichen Leere«29 äußerte. Dieser Zustand trat in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in veränderter Form als »l’ennui«, Langeweile oder »boredom« auf. Rosa zu- folge war dies eine Folge der bürgerlichen Kultur, die sich dem flüchtigen Augenblick verschrieben hatte. Er vermutete hinter »dem rasanten Wandel der moder- nen Gesellschaft die ewige Wiederkehr des Gleichen« eher eine Flucht vor der Langeweile, die paradoxer- weise zu einer neuen Form der Langeweile führte. Mit ähnlichen Begriffen wurden Anfang des 20. Jahr- hunderts Symptome bezeichnet, die zu den so genann- ten Beschleunigungskrankheiten gezählt werden. Darunter fallen z.B. Neurasthenie, eine psychische Störung, die als Nervenschwäche bezeichnet wurde. Als zeitgenössische Ausprägung der Phänomene um Beschleunigung und Entfremdung zählen Krankheits- bilder wie die klinische Depression oder das Burn- out-Syndrom, das laut Medienberichten bei Akteuren der »Digitalen Bohème« vermehrt in Erscheinung tritt. Der Beschleunigungswille, der laut Hartmut Rosa dem Menschen innezuwohnen scheint, impliziert zu-weilen die Sehnsucht nach dem genauen Gegenteil. Das Grundprinzip der Ambivalenz, die er als »Weg zum wahren Leben«30 und gleichzeitig »allesverschlin-genden Strudel«31 nennt, ist bestimmend für die ge-samte Neuzeit. Während der Mensch sein Handeln beständig dynamisieren und beschleunigen möchte, sehnt er sich gleichzeitig nach Stillstand und dem Ver-weilen im Augenblick.
eigentlichbin ich
ganz anders.
ich komme nur nie
dazu.Ö d Ö n vo n h o rvát h
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THEORETISCHER HINTERGRUND23
Diese Ambivalenz war der Hauptgrund, das Projekt »Büro für Entschleunigung« durchzuführen. Während wir die vielfältigen technischen Möglich-keiten und modernen Kommunikationsmittel, sowohl privat als auch beruflich extensiv und gern nutzten, schwang immer die Sehnsucht nach einem Innehalten mit. Besonders in Zeiten, in denen wir beruflich sehr stark involviert waren, potenzierte sich dieses Bedürfnis
nach Ruhe und Müßiggang, der Wunsch nach einer ei-genen »Sakralzeit« war geboren. Unter Zuhilfenahme der in diesem Abschnitt er-läuterten theoretischen Grundlagen und mit unseren eigenen Arbeitserfahrungen haben wir Thesen auf-gestellt, die wir in unserem Projekt und Selbstversuch untersucht haben. Diese werden im folgenden Kapitel vorgestellt.
In diesem Abschnitt stellen wir unsere Annahmen bezüglich Verlauf und Ergebnissen des Selbstversuchs im »Büro für Entschleunigung« vor. Der Übersicht halber haben wir sie in drei Einheiten unterteilt: a) Massenmedien und Kommunikationsmittel, b) analoge Produktionsweisen und c) Zeitstrukturen. Der theoretische Kontext und zentrale Begriffe daraus wurden im vorangegangenen Kapitel ausführlich erläutert. Diese Thesen dienen dazu, die Erfahrungen und Wahrnehmungen der Projektzeit besser zu strukturieren und die später gewonnen Erkenntnisse für die Leser transparent zu machen.
Massenmedien & moderne kommunikationsmittel
1 Durch den Verzicht auf Massenmedien und moderne Kommunikationsmittel entsteht ein Phantomschmerz, der das Gefühl der Anbindung an die Gesellschaft vermissen lässt.
2 Durch den Verzicht auf Massenmedien und moderne Kommunikationsmittel verringert sich die beschriebene »Steigerung des Nervenlebens«.
3 Durch den Verzicht auf Massenmedien und moderne Kommunikationsmittel entflechten und verkürzen sich private und berufliche Handlungsketten. Der Druck durch Entscheidungszwänge sinkt.
4 Durch den Verzicht auf Massenmedien und moderne Kommunikationsmittel erfährt die Privatsphäre wieder einen höheren Stellenwert.
analoge Produktionsweisen
5 Durch das Arbeiten mit »entschleunigten«, d. h. analogen Produktionsmitteln verliert man Zeit.
6 Das analoge Arbeiten ermöglicht eine stärkere Bindung zum Endprodukt.
7 Durch die künstlich minimierte Auftragslage und die »entschleunigte« Arbeitsweise stellt sich weniger Stress ein und der Leistungsdruck sinkt.
8 Das Konzept eines Grafikbüros, das eine ausschließlich analoge Produktionsweise verfolgt, ist nicht wettbewerbsfähig.
Zeitstrukturen
9 Der bereits beschriebene »Rasende Stillstand« wird durch die veränderten Zeitstrukturen, Einflüsse und Handlungen unterbunden bzw. reduziert.
10 Eine »Gegenwartsschrumpfung« nach Lübbe findet nicht statt – stattdessen wird die Gegenwart zum größten wahrzunehmenden Teil des Zeitbewusstseins.
11 Die Synchronisation mit Kooperationspartnern wird durch den Selbstversuch erschwert, nimmt jedoch gleichzeitig an Bedeutung ab.
t h E S E n4
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THESEN25
h a n d
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a r b e i t
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In diesem Absatz möchte ich einen kurzen, persönlichen Einblick in meine »normalen«, d. h. digitalisierten, Tagesabläufe bis zu Beginn des Projekts wiedergeben, um die Veränderungen auch für Leser dieser Dokumen-tation nachvollziehbar zu gestalten. Diese erklären ebenfalls, wie die Annahmen der vorangegangenen Thesen zustande kommen. Im Anschluss lege ich anhand meiner Tagesprotokolle aus der Projektzeit die Erfahrungen chronologisch dar und beschließe sie jeweils mit meiner persönlichen »Entschleunigungserfahrung«.
E n tS c h l E u n i g u n g SE r F a h r u n g
Der von Virilio stammende Begriff des »Rasenden Stillstands« (Vgl. Kapitel 3) traf sehr gut auf mich zu. So hatte ich meistens das Gefühl, in einem unauf-hörlichen Strudel von sich gegenseitig bedingenden Handlungen, Aktivitäten und Entscheidungen festzu-stecken. Die Handlungsketten, also die Aneinander-reihung von Handlungen während eines Tages, waren unaufhörlich lang. Mein Arbeitsalltag und meine Frei-zeit kamen mir mehr wie in viele, kleine Episoden zerstückelt denn als Ganzes vor. So begann mein Tag meist schon mit dem starken Bedürfnis, während des Kaffeekochens das aktuelle Weltgeschehen aufzunehmen, mögliche Kontaktauf-nahmen per Handy, Mail oder aus sozialen Netzwer-ken (Facebook / Flickr / Xing) in die Wege zu leiten und auf diese zu reagieren. Diese konnten beruflicher oder privater Natur sein. Meistens war beides der Fall. Ich ging morgens entweder in ein großes deutsches Verlagshaus zum Arbeiten oder erledigte freie Auf-träge von zuhause aus. Das Surfen und das bei mir da-zugehörige Prokrastinieren über Youtube und Blogs zogen sich, sowohl zuhause als auch im Verlag, strin-gent durch den Tag. So bedingte eine Handlung die andere. Es bestand ein durchgehendes Bedürfnis, in einem Moment der Ruhe oder der fehlenden Kon-zentration sofort noch mal kurz den Maileingang zu prüfen oder die Social-Media-Funktionen zu aktivie-ren. Es reichte auch eine Wartezeit am S-Bahnsteig von einigen Minuten, um ungeduldig zu werden und dann die Zeit doch noch möglichst produktiv mit dem Schreiben einer SMS oder einer Mail zu überbrücken. Abgesehen davon, hatte ich immer eine Zeitung, ein Buch oder ein Magazin dabei. Meistens von allen drei etwas.
In meinen »Höchstzeiten« der Input-Aufnahme las ich drei Bücher gleichzeitig. Ein triviales auf der Toilette, ein anspruchsvolleres Sachbuch zuhause und einen guten Roman unterwegs. Dazu kamen zwischen 10-15 Magazine pro Monat, eine Wochenzeitung und ab und zu eine Tageszeitung für unterwegs.
Portable Musik auf dem iPod gesellte sich dazu, die wie geschaffen dafür ist, sich guten Gewissens von der Kontaktaufnahme durch andere Menschen abzukapseln. Das stundenlange Surfen und Suchen nach neuer Musik bedingte naturgemäß auch das ständige Hören. Die ständige Suche nach virtuellem und materiellem Besitz von Medien und Musik ko-stete sehr viel Zeit. Ob es ein neues Album in digitaler oder eine neue Zeitschrift in analoger Form war. So-bald etwas von mir »erbeutet« wurde, schaute ich nach neuen »Objekten der Begierde«. All das glich mehr einem Anhäufen denn einem Konsumieren.
der Zwang, sich
abzulenken und unterhalten
zu lassen, bestand
eigentlich durchweg.
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ENTSCHLEUNIGUNGSERFAHRUNG29
So kam es selten zur »Anverwandlung« (Vgl. Kapi-tel 3) von materiellen Dingen. Mit der Anschaffung ei-nes Smartphones potenzierte sich der Informations-schub und der entsprechende Handlungsbedarf noch um ein Vielfaches. Nun konnte ich auch unterwegs immer Mails oder den eigenen Blog schreiben, surfen und Clips angucken. Der Zwang, sich abzulenken und unterhalten zu lassen, bestand eigentlich durchweg. Man könnte von einer durchgehenden Informations-aufnahme auf mehreren Ebenen sprechen, die ver-bunden war mit den vielen visuellen Eindrücken, die in einer Großstadt ohnehin auf einen einwirken. Be-sonders als als visuell veranlagter Mensch, erlag ich obendrauf ständig allen möglichen visuellen »Kleinig-keiten«: Menschen, Plakatwände, Monitore usw. Dieser von Simmel als »Steigerung des Nerven-lebens« bezeichnete Zustand war allgegenwärtig. So bestand auch eine der ersten Tätigkeiten, wenn ich abends nach Hause kam, im Einschalten des Rechners. Dann beantwortete ich weitere Mails, las oder schrieb Blogs und schaute online eine Serie oder einen Film – bis ich schlafen gegangen bin. Auffällig daran war das zwingende »Multitasking«, also mindestens zwei Sachen gleichzeitig zu machen. Wenn ich also telefo-nierte, surfte ich nebenbei oder beschäftigte mich mit einer grafischen Arbeit. Es bestand immer ein Drang, möglichst viel zu machen, ohne dass mich jemand dazu gezwungen oder angehalten hätte. Zwischendurch wusste ich natürlich, dass ich auch weniger Zeit vor dem Monitor verbringen könnte, aber ein gutes Buch oder Magazin kann man, wie schon erwähnt, auch un-terwegs oder auf der Toilette lesen. Bei mir bestand oft der Drang, viel zu schaffen und immer »bescheid zu wissen«. Dieses »In-der-Zeit-Sein« ist als selbststän-diger Kreativer sehr wichtig. Man soll immer »am Ball bleiben«, auch sozial. Die Schaffung und Erweiterung von sozialen Netzwerken, im Beruflichen wie Priva-ten, gehörte ebenfalls dazu. Wenn man abends auf einer Vernissage oder Party ist, ergeben sich ja auch immer Möglichkeiten zur Erweiterung eben dieses Netzwerkes oder die Aussicht auf neue Projekte. Die-se »Beschleunigungslogik« war für mich immer allge-genwärtig.
Wenn mich das Angebot für einen neuen Auftrag erreichte, der interessant erschien, sagte ich beden-kenlos zu, auch wenn ich schon ausgelastet war: »Irgendwie schafft man das schon!« war immer meine Devise. Dieses Verschmelzen von Privat- und Arbeits-leben vermittelte mir das ständige Gefühl, nie mit der Arbeit fertig zu sein. Genauso wie das, von vielen Bekannten ebenfalls beklagte Home-Office-Syndrom, ein Synonym für Verwaltungstätigkeiten des eigenen Lebens (z.B. Korrespondenz mit Ämtern, Vermietern, Stromanbietern etc.). So war man tatsächlich durch-gehend mit der Synchronisation mit seinen Koopera-tionspartnern, also der Partnerin, Freunden, Bekann-ten, Vorgesetzten, Kunden, Verwandschaft und der Familie und der Abwägung aller zu treffenden Ent-scheidungen beschäftigt. Die schon erwähnte »Multioptionsgesellschaft« ging auch an mir nicht spurlos vorbei. Im Gegenteil. Ich versuchte immer, die für mich beste Option zu wählen. Beispielsweise in der Videothek überlegte ich, welcher Film mir kulturell am meisten vermitteln würde. Genauso war es bei Ausstellungseröffnungen und Feierlichkeiten am Wochenende. Woraus ziehe ich den größten Nutzen? Der ständige, nach Effizienz strebende Umgang mit Zeit und die möglichst pro-duktive Ausgestaltung meiner Handlungen, bestimm- ten meinen Alltag. Immer wenn sich jemand nach meinem Befinden erkundigte, gab ich zurück, dass ich momentan ziemlich im Stress sei. Gute Freunde stöhnten bei dieser häufigen Antwort. Wenn mich meine Eltern anriefen, erwähnte ich meist eingangs, dass ich wirklich wenig Zeit zum Telefonieren hätte, während ich nebenher die Spülmaschine ausräumte oder nach einem Albumdownload im Internet suchte. Mich begleitete das durchgehende Gefühl von Zeitnot. Dies machte sich nicht nur psychisch in Form von Wirrsein, einer ständigen Rast- und Ruhe- losigkeit, sowie in oft wechselnden Gemütszustän-den, sondern auch physisch bemerkbar. Genauer gesagt in Form von starken temporär auf- tretenden, heftigen Kopfschmerzattacken, einem oft- mals unruhigem Schlaf und ständigen Schweißaus- brüchen.
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ENTSCHLEUNIGUNGSERFAHRUNG31
Im folgenden Abschnitt werde ich den Zeitraum des Selbstversuchs aus meiner Sicht heraus chronologisch darlegen. Dabei spielen zum einen die Abläufe des Tages eine Rolle sowie die persönliche Bewertung der einzelnen Vorgänge.
Florin und ich treffen uns als erstes morgens gemein-
sam im »Büro für Entschleunigung« zur Besprechung.
Schon entsteht das erste Problem durch mein »feh-
lendes« Smartphone: Ich soll unseren Firmenstempel
abholen, kann den Laden aber ohne Karte nicht finden.
Nachdem mir eine alte Dame in einem Teeladen bezüg-
lich des Weges hilft, habe ich das Vergnügen, mit einer
ebenfalls älteren Dame (Buchhändlerin) zu sprechen,
die nicht sonderlich hilfsbereit ist. Bei der Ankunft
hat der Laden zu. Der Kioskfernseher verrät mir, dass
Osama bin Laden tot ist. Erste Gespräche mit Herrn
Scheffler in der Bleisatzwerkstatt und Frau Sturm in der
Holzdruckwerkstatt. Problem: Bei Frau Sturm ist die
Anmeldung zum Kurs nur per E-Mail möglich. O-Ton
Ellen Sturm: »Na, da haben ja alle anderen mit drunter
zu leiden.« Meine Freundin erwähnt erstmals entstehen-
de Probleme durch die fehlende moderne Kommuni-
kation. Wir machen das Büro sauber und befreien
den Raum von den letzten Störelementen. Florin erlitt
abends fast einen Stromschlag beim Reparieren der
alten Bürolampen. Für kreative Arbeit war noch keine
Zeit. Am Abend beim Trinken eines Fingerbreit Whis-
key entstand bei uns ein erstes Gefühl des Ankommens
im gemeinsamen Büro.
Der erste Tag ist noch hektischer als normale Arbeits-
tage im meinem ursprünglich »digitalisierten« Alltags-
leben. Das Gefühl, ohne Smartphone unterwegs zu
sein, entspannt mich zum einen, macht mich auf der
anderen Seite auch unsicherer bzw. unflexibler. So
ist das Bewegen im öffentlichen und urbanen Raum
ruhiger, aber mitunter auch planloser. Der dadurch
entstehende Kontakt mit Mitmenschen, um sich z. B.
nach dem Weg zu erkundigen, kann interessant sein
oder auch entnervend. Ich fühle mich weniger autark.
Ein Gefühl der Unsicherheit entsteht. Komischerweise
empfinde ich nicht das geringste Bedürfnis nach moder-
nen Medien. Aber ein Gefühl von Entschleunigung will
sich auch nicht einstellen.
Wir fahren als erstes zum Großmarkt Boesner, um
Arbeitsmaterialien zu besorgen. Dort finden wir nicht
alles, was wir benötigen und vergessen leider auch
einiges. Nach einem gemeinsamen Mittagessen beim
Asiaten erledigen wir von einer Telefonzelle aus einige
wichtige Telefonate und transportieren noch fehlende
Einrichtungsgegenstände aus Florins Wohnung in unser
Büro. Daraufhin holt Florin den am Vortag erwähnten
Stempel ab, ich kaufe Nahrungsmittel ein. Nach einem
gemeinsamen Glas Whiskey am Abend gehen wir ins
Metropolis-Kino und schauen uns »Who’s Afraid of
Virginia Woolf« aus dem Jahre 1966 an.
Der zweite Tag verläuft ähnlich hektisch wie der erste.
Dies wird durch unsere fehlende Planung verstärkt.
Das Gefühl, den Alltag noch mehr strukturieren und
planen zu müssen, nimmt zu. Und der Tag »verfliegt«
geradezu, obwohl ich das Gefühl habe, kaum etwas
zu schaffen. Vorher erschien das alles etwas einfacher.
Das Wort »Entschleunigung« mutet noch immer wie ein
Fremdwort an.
Als erstes belade ich morgens meinen »Hackenporsche«
mit allen Magazinen aus meiner Sammlung, die aus den
Sechziger Jahren stammen sowie weiteren Büroacces-
soires und begebe mich ins Büro. Nach einem Mittag-
essen in der Kantine der HfBK besorgen wir einige
weitere Arbeitsmaterialien bei »Persiehl und Schreier«
und beginnen im Büro mit der Ideenentwicklung für un-
sere Compliment Cards / Grußkarten. Wir fertigen mit
unseren neu erlangten Kenntnissen eine Holzdruckform
an, skribbeln mögliche Texte für das Anschreiben und
entwickeln ein Layout für die Karten, das Anschreiben
und unsere Visitenkarten. Der Arbeitstag endete erst
um 20:00 Uhr. Erschöpft fahre ich nach Hause und
verbringe den Rest des Abends sinnierend auf dem
Balkon.
Der dritte Tag verläuft, den ersten beiden Tagen
ähnlich, hektisch und ist sehr anstrengend. Das erste
kreative Arbeiten dagegen gibt mir ein gutes Gefühl. Es
gestaltet sich allerdings sehr schwierig, alle auch sonst
nötigen Arbeitsschritte wie das Setzen von Schrift und
das Drucken einer Grafik, analog umzusetzen. Wir
müssen stark umdenken und erfinderisch sein. Hinzu
kommen die fehlenden Korrekturmöglichkeiten, bei-
spielsweise beim Schreiben auf unserer alten Triumph-
Schreibmaschine. Dieser Umstand kostet mich viele
Nerven.
P r ot o k o l l E
6
tag 1 Montag, 02.05.2011
tag 3 MittWoch, 04.05.2011
tag 2 diEnStag, 03.05.2011
32
PROTOKOLLE
Als erstes besorge ich morgens aus dem Holzcontainer
eines Baumarktes ein wenig Feuerholz. Dabei will mich
ein Mitarbeiter des Diebstahls bezichtigen und verhaften
lassen. Nachdem alles doch glücklich geklärt werden
kann und ich mit dem Fahrrad, aufgrund der verlorenen
Zeit, relativ hektisch ins Büro fahre, entgehe ich nur
knapp einem Verkehrsunfall. Triefnass im Büro ange-
kommen, führen wir kurz darauf unser erstes Kunden-
gespräch mit einem Gastronomen, das sehr positiv
verläuft. Wir können ihm unsere gestalterischen Vor-
stellungen sehr gut näher bringen. Daraufhin gehen wir
essen und verbringen den Rest des Arbeitstages mit der
weiteren Ausarbeitung und Umsetzung unserer Compli-
ment Cards. Mein Arbeitstag endet um 22:00 Uhr.
Das Gefühl der »Entschleunigung« setzt langsam ein.
Und das analoge, kreative Arbeiten macht zunehmend
Spaß. Ich habe das Gefühl, sehr konzentriert arbeiten zu
können. Nichts, abgesehen von der Türklingel und dem
damit verbundenen Besuch von Menschen, lenkt mich ab.
Das Mobiltelefon fehlt mir ebenso wenig wie mein Rech-
ner. Die gemeinsamen Arbeitsabläufe von Florin und mir
harmonieren sehr gut. Ich habe geradezu Glücksgefühle
beim Arbeiten. Nicht nur die kreative Arbeit, sondern
auch die vielen, vorausgehenden Überlegungen zur Um-
setzung mit begrenzten Mitteln fordern mich und machen
mich somit auch sehr zufrieden. Ein Parkbesuch mit der
Lektüre des Buches »Die Pest« von Albert Camus rundet
den Abend ab.
Bis ungefähr 13:00 Uhr sind wir beide mit der Pro-
duktion der Compliment Cards beschäftigt. Zu den
Arbeitstechniken gehören Holzdruck, Kalligrafie, das
Schreiben an der Schreibmaschine, das Stempeln von
Logos und das Auswählen und Schneiden von Papier.
Nach einem gemeinsamen Mittagessen machen wir
einen ausgiebigen Spaziergang um die Alster, um das
weitere Vorgehen zu besprechen und zu planen. Als
nächstes betreiben wir etwas kreativen Müßiggang im
Büro und blättern in Magazinen, um Ideen für unsere
Holzschnittplatten zu entwickeln, die wir bis zum kom-
menden Montag für den Holzdruckkurs von Frau Sturm
fertig zu stellen haben. Später bekommen wir Besuch
von einem Nachbarn aus dem Haus und einer Freun-
din, die uns ihre Super-8-Kamera samt Filmen und
Accessoires sowie einige alte Schallplatten als Leih-
gabe mitbringt. Danach entwickeln wir weitere Ideen.
Schließlich kommen meine Freundin und einige Freun-
de zu Besuch. Nach einigen Gläsern Whiskey fährt
jeder nach Hause und damit eigentlich ins Wochenende.
Doch am Wochenende sind noch einige Arbeitsschritte
nötig, um in der kommenden Woche »alles geregelt zu
kriegen«.
Der letzte Tag der Woche lässt mich aufatmen. Ich
habe das Gefühl, langsam eingearbeitet zu sein und
fühle mich in den neuen Strukturen wohl. Ich bin
mein eigener Herr und fast niemandem Rechenschaft
schuldig. Es bestehen keine Verpflichtungen, Mails zu
beantworten oder noch unbedingt eine kulturelle Ver-
anstaltung am bevorstehenden Wochenende besuchen
zu müssen. Besonders schön zu sehen ist, wie wohl sich
unsere Gäste bei uns fühlen. Einige äußern selbst ein
Gefühl des »Loslassens« in unseren Räumlichkeiten. Das
ausgiebige Hören unserer Plattensammlung, ohne die
Möglichkeit des ständigen Wechselns, und das bewus-
ste Hören durch die überschaubare Auswahl an Musik
eröffnet mir ebenfalls neue Horizonte.
Den ersten Teil des Tages verbringen Florin und ich im
Park »Planten un Blomen«. Danach beschäftigt sich
jeder von uns beiden mit seinen Ideen für den Holz-
schnitt. Am Abend kommen einige Freunde zu Besuch
ins Büro.
Das Aufhalten und Arbeiten im Büro übt eine wahre
Entspannung und damit auch Entschleunigung auf mich
aus. Ich habe das Gefühl, am richtigen Ort zu sein.
Außerdem erwartet mich zuhause auch kein Rechner,
der mir zur Berieselung und zum Vorantreiben meiner
beruflichen Selbständigkeit das Gefühl vermittelt, ich
müsste mich mit »ihm« beschäftigen. Durch die feh-
lende Musik auf dem Fahrrad und den ausbleibenden
privaten und beruflichen Termindruck freue ich mich
geradezu auf die täglichen »Wegbeschreitungen« quer
durch die Stadt. Außerdem beginne ich, viel über mein
bisheriges Dasein und mich selbst zu reflektieren. Ein
Zustand, der bisher meist ausbleibt oder von mir kaum
verfolgt wird.
tag 4 donnErStag, 05.05.2011
tag 5 FrEitag, 06.05.2011
tag 6SaMStag, 07.05.2011
33
Am späten Vormittag sitzen wir beide wieder im Büro.
Wir arbeiten an unseren Holzschnitten und stellten
diese beide gegen Nachmittag fertig. Im Gegensatz
zu sonst sprechen wir kaum miteinander und sind in
unsere Arbeit vertieft. Gegen Abend verlassen wir
gemeinsam das Büro.
Nun bin ich fast an einem meditativen Punkt des Arbei-
tens und Daseins angekommen. Ich habe die gesamte
Arbeitswoche und das Wochenende zu großen Teilen
im Büro verbracht. Aber es fühlt sich nicht falsch an.
Ich habe das Gefühl, »das Richtige« zu tun. Da, wo ich
gerade bin, gehöre ich hin.
Wir treffen uns pünktlich um 09:45 Uhr im Büro und
erledigen den letzten Feinschliff an unseren Holzplatten.
Daraufhin fahren wir zum Kurs von Frau Sturm,
um unsere Holzdrucke anzufertigen. Nach einigen
Tests halten wir unser Endprodukt in der Hand und
begeben uns zu Herrn Scheffler in die Bleisatzwerk-
statt. Dort werkeln wir unter seiner Anleitung an
unseren Bleisätzen und fahren dann wieder ins Büro,
um unsere Anschreiben für die Compliment Cards voran-
zutreiben. Dort besucht uns Florins Mutter, um uns noch
einige Gegenstände für das Büro vorbei zu bringen. Wir
machen ausnahmsweise um 19:00 Uhr Feierabend.
Der Tag ist arbeitsreich, doch ist fast jegliches Gefühl
von Hektik vergangen. Langsam finde ich mich damit
ab, meinen ursprünglichen Erwartungen an das eigene
Schaffen nicht gerecht zu werden. Abends reflektiere
ich die erste Woche am Altonaer Balkon und komme
wieder zu dem Schluss, auf dem richtigen Weg zu sein.
Einige meiner ursprünglichen Verhaltensweisen, in
Bezug auf meine Arbeits- und Planungsweise, kamen
mir albern vor. Ich merke langsam, was ich alles nicht
brauche. Nach der intensiven Beschäftigung mit dem
Buch von Camus fahre ich nach Hause.
Nachdem ich weitere Anschreiben und Visitenkarten
produziere, gehen Florin und ich zu Fuß ins Stadtzen-
trum, um Besorgungen zu erledigen, zu Mittag zu es-
sen. Im Anschluss kaufen wir für unser bevorstehendes
Haustreffen ein, zu dem wir alle Nachbarn eingeladen
haben. Danach helfen wir einer Freundin bei ihrem Um-
zug und bis zum Haustreffen am Abend. Spätabends
kehre ich zuhause ein.
Am heutigen Tag ist für kreative Arbeit kaum Platz.
Und doch habe ich etwas geschafft und bin meinen Ver-
pflichtungen nachgekommen. Der Tag rast geradezu.
Nur kann ich jetzt besser damit umgehen. Ich akzep-
tiere die neuen Zeitstrukturen, die gänzlich andere sind
als die in meinem bisherigen »digitalisierten« Leben.
Nachdem wir gemeinsam abgwaschen und das Tages-
protokoll schreiben, überdenken wir eine Weile den bis-
herigen Ablauf unseres Selbstversuches. Wir notieren
uns Fragen und beantworteten uns diese gegenseitig,
um einen Einblick in unsere aktuelle Lebensphase zu
bekommen. Gegen Mittag kommt eine Freundin mit
Kuchen zu Besuch. Später gehen wir essen und geben
unseren ersten fotografierten Schwarz-Weiß-Film im
Hauptbahnhof bei photo dose ab. Ich bringe noch ein
Anschreiben zu einem Kunden. Danach geht es weiter
mit unserem Fragenkatalog. Später fertige ich ein paar
weitere Visitenkarten an und bekomme einen Wutaus-
bruch beim Produzieren, weil sie nicht richtig gelingen
wollen. Dadurch muss ich alles noch einmal machen.
Gegen 18:00 Uhr räumen wir das Büro auf und gehen,
pünktlich wie noch nie, nach Hause.
Ein Arbeitstag, wie er im Buche steht: pünktlich um
18:00 Uhr »den Stift fallen lassen« und zwischendrin
ausgiebige Pausen machen. Ein Gefühl des »Nicht(s)-
Müssens« überkommt mich – besonders auf dem Heim-
weg. Mit dem Fahrrad fahre ich gelöst und entspannt
wie noch nie nach Hause. Dem folgt ein weiterer Abend
auf dem Balkon.
Wir beginnen den Arbeitstag mit der Gestaltung unse-
res aktuellen Zeitplanes. Dem folgt eine kurze, aber sehr
kreative gemeinsame Ideensammlung und Ausarbeitung
für unsere beiden Kunden. Wenig später steht die Idee
eines Plakats im Siebdruck für einen gemeinsamen
Kunden, dem Betreiber eines Plattenlabels. Nach dem
Kauf von Konzertkarten und dem Mittagessen, kaufen
wir noch einige Arbeitsmaterialien bei Jerwitz ein und
machen Fotos in einem Pfeifenladen für die Umsetzung
unseres Plakatmotivs im Siebdruck. Der sehr »hansea-
tische« Geschäftsführer ist, nachdem wir mit ihm über
dieses Projekt sprechen, außergewöhnlich hilfsbereit.
Später kehren wir ins Büro zurück und arbeiten die Ide-
en weiter aus. Später schnitze ich noch an einem zweiten
Holzdruck. Auch heute verlassen wir gegen 18:00 Uhr
das Büro.
Kreativ gesehen: der beste Tag bisher. Alles greift in-
einander und wir werden kaum abgelenkt. Das »reale«,
tag 10MittWoch, 11.05.2011
tag 11donnErStag, 12.05.2011
tag 8Montag, 09.05.2011
tag 7Sonntag, 08.05.2011
tag 9diEnStag, 10.05.2011
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digitalisierte Leben habe ich langsam, aber sicher ausge-
klammert und hinter mir gelassen. Die Hektik um mich
herum wirkt mitunter bizarr und unverständlich. Eine
neue Erkenntnis macht sich breit: Wie kurz der Zeitraum
doch ist, den ich benötige, um mich mental auf den ana-
logen Alltag umzustellen.
Der Freitag beginnt weitaus später als üblich. Nach-
dem wir abwaschen und aufräumen, kommt Dr.
Fehrmann zu Besuch. Wir trinken Kaffee und sprechen
ausgiebig über unser Projekt. Später beschäftigen wir
uns weiter mit dem theoretischen Grundgerüst unseres
Selbstversuchs und gehen Mittag essen. Danach been-
de ich meinen zweiten Holzschnitt. Später kommen
einige Freundinnen zu Besuch. Im Nachhinein haben
wir diesen Tag offiziell zum »Tag der Entschleunigung«
ernannt.
Die Entschleunigungskurve steigt kontinuierlich. Das
Projekt fühlt sich somit auch immer besser an. Ich
habe immer öfter das Gefühl, mental weiter zu mir
vorzudringen. Auch mein ursprünglich meist sehr
unruhiger Schlaf ist wesentlich besser und ruhiger
geworden. Ich transpiriere weniger und nervtötende
Dinge, die um mich herum passieren, tangieren mich
immer weniger.
Freizeit.
Freizeit.
Nachdem wir aufräumen und abwaschen, nehmen wir
ein einstündiges Resumèe vor. Gegen Mittag fahren wir
in die Bleisatzwerkstatt und beginnen allein mit dem
Feinsatz unserer Visitenkarten. Das Hantieren mit den
kleinen Bleibuchstaben dauert ziemlich lang und am
Ende haben wir die falsche Schriftgröße genommen.
Übereifrigkeit wird bestraft. So entwickeln wir zu zweit
ein System für die Herangehensweise und Arbeitstei-
lung und beginnen von neuem. Wir setzen die Head-
lines für unseren Kunden Pingipung (Plattenlabel) und
drucken diese für den Siebdruck in mehreren Varianten
und Schriftausgleichungen auf Transparenzpapier. Da-
nach kehren wir ins Büro zurück und verfassen einige
Anschreiben für Kunden und Freunde.
Nachdem im Bleisatz durch Voreile und Hektik wie-
der Fehler entstehen, wird mir wieder aufgezeigt, wie
wichtig eine ruhige und durchdachte Herangehensweise
ist. Das Zeitpensum für unsere Kundenaufträge jedoch
scheint aufzugehen. Alles in allem ist nun erst – oder
schon – die Hälfte der Projektzeit vorüber.
Zu Beginn des Tages führe ich einige Festnetz-Telefo-
nate von zuhause aus, um diverse Bürotermine zu koor-
dinieren. Danach fahren wir zu Frost Siebdruckbedarf,
um Siebe und Farbe zu kaufen. Von dort aus holen wir
unsere, mittlerweile getrockneten Drucke aus der Blei-
satzwerkstatt und gehen in die HfBK zum Mittag essen.
Zurück im Büro vertiefen wir uns in den theoretischen
Aspekt des Projekts. Zwischendrin bekommen wir Be-
such von zwei Nachbarn. Im Anschluss besorgen wir
bei Schacht & Westerich Papier, holen unsere entwik-
kelten Fotos aus dem Labor ab und versuchen, gegen
Abend einen Copyshop zu finden, der noch geöffnet
hat. Schließlich werden wir in der Grindelallee fündig,
machen dort Kopien für den morgigen Siebdruck und
fahren zurück ins Büro.
Dies ist ein weiterer, halbwegs produktiver Tag, der
leider von ein paar Fehlplanungen überschattet wurde.
Immer wieder erleiden wir Rückschläge hinsichtlich Pla-
nung und Produktivität.
Mein Tag beginnt mit einem Unfall. Beim Ankleiden
schießt mir die Metallöse meiner Hosenträger in das
linke Auge. Ich fahre, auf einem Auge fast blind, sofort
mit dem Fahrrad zum Arzt. Dadurch verpasse ich den
Anfang der Siebdruckeinführung in der Werkstatt des
Gängeviertels. Nachdem ich mich kurz sammle, fällt mir
der Einstieg aber nicht schwer, obwohl ich nur auf dem
einen Auge sehen richtig sehen kann. Als wir am Abend
die Siebe belichten, reißt mir ein belichtetes Sieb aus
Versehen beim Trocknen mit dem Heißluftfön. Hoch-
gradig genervt brechen wir die Arbeit ab.
Der Unfall mit den Hosenträgern wirft mich etwas aus
der Bahn. Doch nachdem ich beim Arzt gewesen bin
und mich in den 90 Minuten im Wartezimmer entspan-
ne, bin ich bereit, mich den Herausforderungen des
Siebdrucks zu stellen. Bis auf das Maleur am Abend,
verläuft der Arbeitsteil des Tages sehr erfreulich. Ich
habe es mit dem Trocknen des Siebes zu eilig und
werde prompt dafür bestraft. Eine weitere Lektion in
Sachen »Entschleunigung«.
Im Büro angekommen, fällt mir unsere kostbare Kaf-
feekanne aus der Hand und zerspringt in tausend Teile.
Danach fahre ich mit dem kaputten Sieb vom Vortag zu
Frost und kaufe ein neues. In der Siebdruckwerkstatt
angekommen, verstopft unser zweites Sieb aufgrund
falscher Farbe. Beim Versuch, es zu reinigen, reißt es.
Ich fahre also zum zweiten Mal zu Frost, um noch mal
ein neues Sieb zu bestellen. Später kommen ein paar
Freunde zu Besuch und wir verbringen bei einigen Glä-
sern Whiskey einen verlängerten Abend im Büro.
Wir hätten uns nach diesen Tagen in »Büro Destruct«
umbenennen sollen. Erst mein Auge, dann die Kaffee-
kanne und schließlich zwei Siebdrucksiebe. Das war
eine wahre Woge der Zerstörung. Doch mein sehr
entspannter Umgang mit solchen Situationen in diesen
Tagen erstaunt mich selbst. Allein das scheint mir ein
klares Zeichen für eine Veränderung meiner Lebens-
gewohnheiten. Und somit weicht der Ärger über den
materiellen Verlust dem Zugewinn von Erkenntnissen.
Nach einem morgendlichen Besuch beim Augenarzt hole
ich die bestellten Siebe bei Frost ab und wir treffen uns
in der Werkstatt, um die neuen Siebe zu beschichten.
tag 12FrEitag, 13.05.2011
tag 14Sonntag, 15.05.2011
tag 15Montag, 16.05.2011
tag 16diEnStag, 17.05.2011
tag 17MittWoch, 18.05.2011
tag 18donnErStag, 19.05.2011
tag 13SaMStag, 14.05.2011
35 PROTOKOLLE
tag 19FrEitag, 20.05.2011
Dann unternehmen wir einen Spaziergang in den Park
und vertiefen den theoretischen Aspekt des Projekts
durch Lektüre ein wenig. Nachdem die Siebe trocken
sind, belichten wir sie und beginnen mit dem Druck der
ersten Farbe. Im Gegensatz zum Vortag funktioniert nun
alles einwandfrei. Wir drucken bis zum frühen Abend
und beenden gegen 18:00 Uhr die Arbeit.
Dies ist ein wahrlich erfreulicher Tag. Nach allen mögli-
chen technischen Rückschlägen beim Siebdruck werden
wir schließlich mit einem einwandfreien Arbeitsablauf
entschädigt. Der Siebdruck mutet wie eine Art Zen-
Tätigkeit an. Ich muss mich dabei sehr stark konzentrie-
ren und darf mich nicht ablenken lassen, da ein falscher
Schritt fatal ist und wir dann von neuem anfangen
müssten.
Freizeit.
Freizeit.
Als erstes richten wir das Büro etwas her, wischen
Staub und waschen ab. Wir bringen eine Garderobe
an, streichen eine Wand und bestücken das Büro mit
neuen Gegenständen wie einer Stenorette, weiteren
Magazinen und einem alten Siemens-Telefon. Darauf
gehen wir kurz Mittag essen. Gegen 14:00 Uhr kommt
ein befreundeter Fotograf, um eine Strecke mit uns als
Protagonisten des Projekts zu fotografieren. Das Wet-
ter, bzw. das Licht lässt uns meist im Stich doch am
Ende funktioniert alles ziemlich gut. Nach vier langen
Stunden des Fotoshootings, befassen wir uns noch et-
was mit dem soziologischen Aspekt des Projekts und
erstellen handschriftlich eine Gliederung für unsere
Dokumentation. Pünktlich um 18:00 Uhr schließen wir
das Büro ab und fahren nach Hause.
Es ist ein angenehmer Ausnahmetag, an dem es nur
gilt, das Projekt visuell wiederzugeben. Die erweiterte
Raumgestaltung durch neue Elemente und das »Per-
formen« vor der Kamera sind etwas Neues in der
Projektzeit. Die Zusammenarbeit mit dem Fotografen
läuft spielend.
Wir treffen uns morgens in der Bleisatzwerkstatt, um die
Schrift für den Siebdruck unseres Kunden Pingipung zu
setzen. Außerdem entwerfen wir noch ein kleines Motiv
mit Schrift für eine Freundin zum Geburtstag. In der
Mittagszeit suchen und kaufen wir Papier für unseren
Kunden. Im Anschluss fährt Florin zurück ins Büro, um
Besucher rein zu lassen, während ich bis 18:00 Uhr
weiter mit Bleisatz arbeite. Später bekommen wir Be-
such von Florins Mutter und seiner Schwester.
Die Arbeit mit Bleisatz klappt hervorragend. Herr
Scheffler zeigt mir noch einige Kniffe. Durch eine nun
optimierte Zeitplanung verläuft der Tag produktiv und
stressfrei.
Zu Beginn des Tages besucht mich meine Schwester
mit ihrem Kind. Außerdem kommen Florins Großel-
tern und sein Onkel zu Besuch. Ich beeile mich dar-
aufhin, bis 13:30 alle Drucke in der Bleisatzwerkstatt
fertig zu bekommen. Später treffe ich mich mit Florin
und wir essen in der HfBK-Mensa zu Mittag. Im Büro
tippe ich noch ein Anschreiben sowie unser Konzept
für einen befreundeten Journalisten, der uns zum
Projekt interviewen will. Das Anschreiben werfe ich
in seinen Briefkasten selbst ein. Später erstellen wir
einen Papier-Dummy für die Präsentation mit unse-
rem Kunden Pingipung und ein Freund kommt mit sei-
nem Kind zu Besuch. Währenddessen gehe ich in die
Werkstatt, um die zwei Siebe für den entsprechenden
Druck zu beschichten. Zum Feierabend kniffeln Florin
und ich ein wenig und fahren dann zu einem Konzert
der Musikerin »Anika« auf Kampnagel.
Ein mehr als produktiver Tag. Die Arbeitsteilung von Flo-
rin und mir entpuppt sich als erfolgreich. Die einzelnen
Tätigkeiten füllen den Tag voll und ganz aus. Die moder-
nen Kommunikationsmittel fehlen mir nach wie vor nicht.
Durch einen leichten Kater komme ich verspätet und
verstimmt im Büro an. Den Tag über probiere ich die
Super-8-Kamera aus, lese alte Magazine und entspan-
ne mich. Gegen Abend empfangen wir unsere Kunden
und präsentieren ihnen unsere Ideen. Nachdem unser
Gesamtkonzept positiv angenommen wird, entschließen
wir uns gemeinsam für einen Motivwechsel. Darauf ver-
abschieden wir unsere Kunden und gehen abschließend
gemeinsam zum Friseur.
Abgesehen von meiner ungünstigen körperlichen
Verfassung, ist dies einer der entspanntesten und »ent-
schleunigsten« Tage. Langsam spüre ich aber auch, dass
die Projektzeit auf das Ende zugeht.
Wir treffen uns morgens bei der Fotolabor-Verantwort-
lichen Frau Trams im Fotostudio, um kurzfristig die
beiden neuen Motive für unseren Kunden Pingipung
analog zu fotografieren, selbst zu entwickeln und für
den Siebdruck aufzuarbeiten. Da wir schon ein paar
Jahre keine Entwicklung von Bildern im Fotolabor
gemacht haben, dauert es ungefähr bis 18:00 Uhr, bis
wir wieder im Büro sind. Kurz darauf treffen wir uns
noch einmal mit unserem Kunden und verabschieden
gemeinsam das neue Bildmotiv.
Wir schafften, trotz des großen Arbeitspensums, was
wir schaffen wollen. Auch wenn alles, wie immer, länger
dauert als geplant. Das rechtzeitige Einplanen von Zeit-
puffern erweist sich immer wieder als immens wichtig
für eine gute Umsetzung.
Freizeit.
Freizeit.
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tag 20SaMStag, 21.05.2011
tag 21Sonntag, 22.05.2011
tag 22Montag, 23.05.2011
tag 23diEnStag, 24.05.2011
tag 24MittWoch, 25.05.2011
tag 25donnErStag, 26.05.2011
tag 26FrEitag, 27.05.2011
tag 27SaMStag, 28.05.2011
tag 28Sonntag, 29.05.2011
Wir räumen gemeinsam das Büro auf und waschen ab.
Gegen 11:00 Uhr kommt Christoph Twickel, um uns zu
interviewen. Nach zwei Stunden verabschieden wir uns
von ihm und gehen Mittag essen. Danach fahren wir zu
Scharlau und lassen Kopien unseres fotografierten Mo-
tivs für den Siebdruck auf Transparenzpapier drucken.
Nach einem Spaziergang zurück ins Büro bekommen
wir Besuch von mehreren Freunden. Es kommt außer-
dem einer der Kunden (Café Latté) vorbei, um Änder-
ungen an der Speisekarte zu besprechen.
Unser vorletzter Tag verläuft auch sehr entspannt. Das
Interview offenbart uns noch einmal neue Aspekte des
Projektes , so haben wir danach viel zu besprechen. Ich bin
etwas traurig, dass das Projekt nun aufs Ende zugeht.
Langsam stellt sich trotz allem aber auch eine kleine
Vorfreude auf die bevorstehende Wiederkehr der Kom-
munikations- und Massenmedien ein.
Den gesamten Tag verbringen wir damit, die Gastronomie-
Karte für unseren Kunden zu bearbeiten und möglichst zu
beenden. Daneben besorgen wir Papier und gehen zum
Mittagessen. Um 19:00 Uhr ist dann Feierabend. Nicht
nur vom Tag, sondern von dem gesamten Monat und da-
mit vom entschleunigenden Selbstversuch.
Der letzte Tag gestaltet sich etwas hektischer als ge-
dacht. Die Gastronomie-Karte für unseren Kunden
und alle damit zusammenhängenden Arbeitsschritte
ziehen sich sehr in die Länge. Auch das obliegt einer
schlechten Planung. Und leider spüre ich am letzten
Tag schon wieder die langsam aufsteigende Ungeduld
beim Arbeiten. Aber auch eine gewisse Vorfreude auf
das Surfen und besonders auf meine MP3-Sammlung.
Unterbewusst bin ich schon wieder fast angekommen
im »digitalen« Alltag.
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tag 29Montag, 30.05.2011
tag 30diEnStag, 31.05.2011
PROTOKOLLE
E rk E n n t n i Sg E W i n n
Im folgenden Abschnitt gleiche ich die in Kapitel 4 aufgestellten Thesen mit den dargelegten Entschleunigungs- erfahrungen ab und dokumentiere die daraus gewonnenen Erkenntnisse.
Massenmedien & moderne kommunikationsmittel
Durch den Verzicht auf Massenmedien und moder- ne Kommunikationsmittel entstand in der Zeit des Selbstversuches keinerlei Phantomschmerz, wie ich ursprünglich angenommen hatte. Ganz im Gegenteil: Das Wissen, dass ich auf ein so relevantes Medium wie beispielsweise dem Mobiltelefon (zumindest temporär) verzichten kann, vermittelte mir ein Ge- fühl von persönlicher Stärke. Gerade das Smartphone spielte vorher eine zentrale Rolle in meinem Alltag. Von Nachteil war allerdings die fehlende Flexibilität bei der schnellen Beschaffung von Informationen. Die führte zu einem starken Gefühl von Verlust der persönlichen Unabhängigkeit und Eigenständigkeit. Wenn ich eine Information benötigte oder jemanden kurzfristig kontaktieren wollte, war dies nur unter vielen Umständen möglich. Anstatt eines Phantom-schmerzes erlebte ich einen persönlichen Wettbe-werbsnachteil. Durch die Eindämmung von Eindrücken und Infor-mationen reduzierte sich auch die »Steigerung des Nervenlebens« nach Simmel. Die von ihm beschrie- bene »wirre Halt- und Rastlosigkeit«, die vor dem Ver-such durchaus auf mich zutraf, nahm beständig ab. Die permanente Suche nach einer momentanen Befriedi-gung in Form von Input jeglicher Art war vorher eine Gewohnheit, die mich von wichtigeren Dingen abhielt. Die »wilde Jagd nach Konkurrenz«, diese Art von Ge-triebensein, die ich sehr gut kannte, ließ spürbar nach – und damit auch die Ablenkung vom eigenen Ich. Durch den Verzicht auf Kommunikations- und Mas-senmedien habe ich ebenfalls festgestellt, dass sich
die erläuterten Handlungsketten stark verkürzten und automatisch entflochten. Die Anzahl von Tätig- keiten fiel geringer aus. Allein durch den Wegfall der mobilen Kommunikation über Handy und E-Mail er-ledigte sich ein großer Teil der alltäglichen, repetiti-ven Tätigkeiten. Eine mediale Aufnahme im Sinne einer Handlungs-kette bestand während des Selbstversuches nur aus alten Magazinen und Büchern und Schallplatten. Die Anzahl der vorhandenen Schallplatten war im Verhält- nis zu meiner heimischen MP3-Sammlung wesentlich geringer. Durch die geringere Auswahl sank auch der Druck von Entscheidungszwängen. Eben dieser Druck fiel auf allen Ebenen ganz enorm ab. Beispielsweise der fehlende MP3-Player redu-zierte die Entscheidungszwänge ebenfalls in hohem Maße, wenn ich unterwegs war. So nahm ich meine Umgebung und was zufällig um mich herum passier-te wieder bewusst wahr. Meine Privatsphäre erfuhr ebenfalls mehr Aufmerksamkeit und dadurch einen höheren Stellenwert. Durch die fehlende Interak-tion im Bereich der sozialen Medien (z.B. Facebook) und die allgemein eingeschränkten Möglichkeiten sich mitzuteilen, erfuhr mein unmittelbares soziales Umfeld ebenfalls eine viel größere Beachtung. Gleichzeitig bestand von meiner Seite aus in dieser Zeit wenig Bedürfnis mich - wie in sozialen Medien üblich - der Allgemeinheit mitzuteilen. Dies führe ich auf die gestiegene Qualität der Interaktion mit den Menschen in meinem engsten sozialen Um-feld zurück.
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analoge Produktionsweisen
Die Arbeit mit analogen Produktionsmitteln wie Siebdruck, Holzdruck, Bleisatz oder der Schreib-maschine verlangsamte den Produktionsprozess er-heblich. In meinem Fall kam erschwerend hinzu, dass ich nur geringe Vorkenntnisse von den Arbeits- weisen besaß. So waren die sichtbaren Erfolge in der Aufbau- und Lernphase sehr spärlich. Da ich regulär hauptsächlich digital arbeite, musste ich mich besonders auf die Langwierigkeit der Prozesse einstellen, genauso wie auf die fehlenden Korrek-turfunktionen oder Möglichkeiten, Prozesse rück-gängig zu machen. Dadurch entstand bei mir ein Ge-fühl des hohen Zeitverlustes. Erst nach und nach gewöhnte ich mich an die neuen Zeitstrukturen. Durch den Produktivitäts-gedanken, der mir antreibt, fiel es mir gerade zu Beginn beson-ders schwer, mich an diese langsamen Abläufe und das Warten auf konkrete Ergebnisse zu gewöhnen. Der ganz normale menschliche Beschleunigungswille veranlasste mich zudem anfangs noch häufig zu unbe-dachten und übereilten Handlungen, die den Arbeits-
prozess erschwerten und dadurch verlängerten. Zum den Endprodukten hatte ich – entgegen der aufgestellten These – keine größere Bindung als zu di-gital hergestellten Produkten. Durch die künstlich minimierte Auftragslage und die veränderte Arbeitsweise aufgrund »entschleu-nigter« Produktionsmittel nahm der Stress entgegen meiner Annahme eher zu. Die zeitaufwändigeren Ar-beitsschritte erforderten noch mehr Zeit als ohnehin ursprünglich angedacht war. Ein wichtiger Lernfaktor war für mich die Einbeziehung von größeren Zeitpuffern in der Planungsphase der Projekte. Der Leistungsdruck blieb dagegen konstant. Das Konzept eines Grafikbüros, das Dienstleistun-gen mit »entschleunigten«, analogen Produktionsmit-teln anbietet – auch hier eine Überraschung - ist entgegen meiner ursprünglichen These, doch wett-bewerbsfähig. Es wäre prinzipiell möglich, analog ent-standene Produkte mit den Attributen »handgemacht« und »hochwertig« als Unikat erfolgreich am Markt zu positionieren.
ERKENNTNISGEWINN39
Zeitstrukturen
Der vorab beschriebene Zustand des »Rasenden Stillstands« nach Virilio (Vgl. Kapitel 3) wurde durch den Selbstversuch tatsächlich weitestgehend unter-bunden. Durch die fehlenden modernen Kommunikati-onsmittel und Massenmedien war ich plötzlich medial gesehen »mittellos«. Somit war mir der Zugang zur vir- tuellen Realität verwehrt. Gleichzeitig verspürte ich durch die mediale Verknappung ein gestiegenes Frei-heitsgefühl, obwohl ich mich künstlich in diese Lage gebracht hatte. Unter diesen Umständen war ich wieder viel mehr mit meiner realen Umwelt verbunden, was zu einer Erhöhung der Lebensqualität führte. Durch die fehlenden aktuellen Medien sank der Druck, möglichst alle Vorgänge zu beschleunigen. Stück für Stück gewöhnte ich mich an die Langwierigkeit der Prozesse. Dieser Druck nahm auch dadurch ab, dass ohne Internet, Fernsehen und Magazine der Input fehlte, der mich normalerweise antrieb und beschleu-nigte. Da ich im Gegensatz zu vorher keine Aufträge zu akquirieren hatte und nicht ständig mit Kunden kommunizieren musste, wurde auch der kommunika-tive Teil des Arbeitens und der damit einhergehende »soziale Input« sehr viel geringer. Die von Lübbe beschriebene »Gegenwartsschrump- fung« (Vgl. Kapitel 3) fand, wie angenommen, nicht statt. Die Beschäftigung mit den konkreten Ereignissen der Gegenwart nahm die größten Teile meiner Wahr-nehmung ein. Durch die fehlende »Innovationsdichte« brauchte ich keine ständige »Neubeschreibung« von Gegenwart und Zukunft. Gesellschaftlich hatte ich mich ebenfalls bewusst aus dem meisten Zusammen-hängen herausgenommen. Somit beschäftigten mich auch viele Umstände nicht, die mich normalerweise tangiert hätten, seien es aktuelle Nachrichten oder
öffentliche Debatten. Dieses »Aus-der-Zeit-sein« vermittelte mir im posi-tiven Sinne das Gefühl, ein »Außenseiter« zu sein. Nur die Gegenwart zählte in dieser Zeit und die Zukunft war für diesen eher kurzen Zeitraum in weite Ferne gerückt. In dieser Art von »Blase« konnte ich relativ sorglos schweben und mich nur mit dem Projekt und meiner selbst beschäftigen. Die Synchronisation mit den Kooperationspartnern (Partnerin / Familie / Freunde/Kunden) wurde, wie angenommen, durch den Selbstversuch erschwert. Durch die fehlenden modernen Kommunikationsmit-tel wie Mobiltelefon (SMS) und Internet (E-Mail) und die damit verbundene schlechte Verfügbarkeit fiel das Verabreden und Treffen mit Freunden zum großen Teil weg. Das Synchronisieren mit meiner Partnerin dage-gen erforderte viel Planung und Rücksichtnahme auf beiden Seiten. Wir mussten uns beispielsweise mor-gens gemeinsam und verbindlich einigen, wie wir den Tag oder Abend gestalten wollten. Vor dem Projekt entstanden diese Vereinbarungen eher spontan bzw. mit genügend Spielraum für Änderungen. Zur Projekt-zeit war ich jedoch nicht sonderlich flexibel in meiner Zeiteinteilung. Die fehlende oder geringere Synchronisation ver-mittelten mir dennoch Ruhe und Kraft, um mich mit mir selbst auseinanderzusetzen. Es bestand selten die Dringlichkeit, mich zu vernetzen und die Bedeu-tung der Vernetzung nahm im Zeitraum des Selbst-versuches rapide ab. Auf diese Weise genoss ich den Status des künstlich herbeigeführten »Ausgestoßen-seins« aus sozialen Kontexten. Nicht zuletzt wusste ich ja auch um die zeitliche Begrenzung dieses Zu-stands.
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ERKENNTNISGEWINN41
analoge produktionsweisen
Das analoge Arbeiten erfordert viel mehr Zeit, Konzentration und Muße. Die Korrekturmöglichkeiten sind sehr begrenzt und man kann kaum in größerer Stückzahl produzieren. Außerdem ist es nicht mög-lich, annähernd so sauber und genau zu arbeiten, wie mit einem Computer. Das digitale Arbeiten gibt dem Kreativen die Möglichkeit, nahezu alles umsetzen zu können, was er möchte. Doch diese Freiheit kann gleichzeitig auch erschöpfend sein. Das Projekt und die vorangegangenen Interviews mit Grafikern, die in der ausgewählten Zeit (1966) be-ruflich tätig waren, haben mir sehr klar aufgezeigt, wie viel Wissen und umfangreiches technisches Können in der Vergangenheit nötig waren, um das umzusetzen, was ich jeden Tag am Computer realisiere.
Seither zolle ich der analogen Arbeit und dem da-zugehörigen Handwerk sehr viel mehr Respekt als vorher. Ich habe überdies viel über meine Arbeitsweise gelernt. Mein eigener Beschleunigungswille behin-dert oftmals meine Kreativität. Der selbst auferlegte Druck, möglichst produktiv zu sein, begünstigt diesen Zustand. Dazu kommt der Umstand, dass mit dem un-endlichen visuellen Gedächtnis des Internets so gut wie alle existierenden Stilistiken jederzeit abrufbar sind, was mich in der Vielzahl manchmal eher hemmt als inspiriert. In der analogen Zeit stellten Grafikmaga-zine eine der Hauptquellen der Inspiration dar. Daher war die Inspiration eine andere und gestaltete sich mehr von innen heraus.
Das Projekt »Büro für Entschleunigung« mit der Unterzeile »Schmidt & Bruns Gebrauchsgraphik« war für mich eine wichtige Erfahrung und unter den Gesichtspunkten eines Selbstversuches erfolgreich. Das Untersuchen der kreativen Arbeit mit »entschleunigten« Produktionsmitteln in einer digitalisierten Gesellschaft ermöglichte mir die Aneignung neuer handwerklicher Fertigkeiten. Außerdem habe ich viel über mich und meine Handlungs- und Funktionsweisen gelernt und für mich selbst den weitläufigen Begriff von Zeit und die dazugehörigen Strukturen erforscht. Die gewonnen Erkenntnisse kann ich nach diesem Projekt in drei Bereiche unterteilen.
F a Z i t
Das Innehalten und der Verzicht auf moderne Me-dien bewirkten bei mir so etwas wie eine Defragmen- tierung meines Sammelsuriums an Wahrnehmungen und Wissen. Es war, als würde mein Kopf durchge- spült und von unnützem Wissen gereinigt werden. Ich habe in dieser Zeit festgestellt, was ich persön-lich nicht benötige und wie »skurril« und leichtfertig mein Umgang mit modernen Medien vorher war. Das Smartphone war vor dem Projekt mein ständi-ger Wegbegleiter, der einem selbst einiges abverlangte. Ich musste ständig auf das Gerät Acht geben und es mit möglichst mit viel Aufmerksamkeit bedenken. Dadurch, dass ich alles Weltwissen inklusive vieler persönlicher Daten auf einem Gerät mit mir herum-trug, war ich sehr flexibel und unabhängig. Aber die-ser Zustand birgt Verpflichtungen und mitunter auch Zwänge. Seit Beendigung des Projektes benutze ich das Gerät sehr viel zielorientierter. Ich habe die Funk-
tionen für Push-Mitteilungen (automatischer Hinweis , wenn neue Nachrichten eintreffen) von Facebook und meines E-Mail-Programms abgestellt. Ich überprüfe unterwegs nur noch in sehr großen Abständen meine Mails. Ähnlich ist es mit meinen Computer zuhause. Ich bemühe mich, abgesehen von bewusst herbei ge-führten Momenten zur Berieselung, mir das Internet möglichst gezielt zunutze zu machen. So lässt sich durch einen bewussten Konsum der heteronome Einfluss der Kommunikations- und Massenmedien ein-dämmen. Dafür reflektiere ich, welche Information ich wirklich benötige, um glücklich bzw. «In-der-Zeit« zu sein, ob beruflich oder privat. Um der schon beschrie-benen »Anomie« (Vgl. Kapitel 3) zu entkommen, muss ich der »regellosen Existenz der Multioptionalität« wieder eine soziale Ordnung zu Grunde legen, um den Konsum wirkungsvoller zu gestalten. Auf diese Weise richte ich mir einen individuellen, medialen Filter ein.
Massenmedien & moderne kommunikationsmittel
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zeitstrukturen
Der Lebensrhythmus ist stark geprägt von Zeitstruk-turen. Meine bisher gängigen Strukturen haben sich in der Projektzeit dadurch stark verschoben, dass viele alltägliche Handlungen, Rituale und Prozesse durch den Verzicht auf moderne Kommunikations- und Mas-senmedien schlicht weggefallen sind. So war im Vergleich zum ursprünglich »digitalisier-ten Leben« besonders auffällig, wie zusammenhängend und geordnet der Arbeitstag in der Projektzeit oftmals aussah. Durch die zeitaufwändigeren Arbeitsschritte war das Pensum an konkreten Arbeitsergebnissen pro Tag wesentlich kleiner. Dadurch wurden die Hand-lungsketten kürzer und übersichtlicher. Der Tag wirkte mehr wie ein Ganzes denn als Abfolge zerstückelter Episoden. Außerdem war das so genannte Multitas-king kaum von Nöten, da ich in der Regel eine einzige Tätigkeit über einen längeren Zeitraum ausgeführt habe. Dabei verging die Zeit für mich schneller vor als bei der Arbeit am Computer. Das war anfangs sehr gewöhnungsbedürftig. Gerade, weil ich ein Mensch bin, der regulär versucht, den Tag möglichst »produktiv« zu nutzen, d. h. möglichst viele Ergebnisse in kurzer Zeit zu erzielen. Dennoch vollzog sich die Umstellung
auf die neuen Zeitstrukturen sehr schnell. Die bereits erwähnte Synchronisation von Ge-schwindigkeit und Dauer der täglichen Handlungen zum Zwecke der Produktivität gestaltete sich durch die verkürzten Handlungsketten sehr viel leichter. Auch die Synchronisation der verschiedenen Zeit-ebenen untereinander verlief spielend. Alles erschien trotz der »Neuartigkeit« weniger komplex und über-sichtlicher. Es war allerdings sehr viel wichtiger, sowohl privat als auch beruflich, den Tag stringent zu planen. Eine rigide Zeitplanung, die mir am Anfang fehlte, war die Voraussetzung für einen produktiven und trotzdem stressfreien Alltag. Diesen Umstand erkannte ich erst durch einige, anfängliche Rückschläge und Fehlpla-nungen. Das »Innehalten« in verschiedenen Situationen, also der Verzicht auf künstlichen, selbst herbei geführten Input, wie beispielsweise Musik hören auf dem Fahr-rad oder lesen in der Bahn, verhalf mir zur intensiven Reflexion – über mich selbst, mein soziales Umfeld und die Gesellschaft, in der ich lebe. Und damit zu einem kritischeren Bewusstsein als vorher.
FAZIT43
Den hinlänglich beschriebenen Produktivitätsgedanken werde ich trotz des Projekts »Büro für Entschleuni-gung« nicht abschütteln können. Auch dies eine Erkenntnis nach der Versuchszeit: Er wohnt mir inne. Deshalb habe ich mir häufiger die Frage gestellt, ob ich die erfahrene Entschleunigung in den Alltag übersetzen könnte bzw. welchen längerfristigen Nutzen das Projekt für mich haben könnte. Wobei es problematisch ist, von Zweck und Nutzen zu sprechen, da es sich teilweise um eine emotionale Erfahrung handelt. Ich werde daher versuchen, die gewonnenen Erkenntnisse aus dem Projekt »Büro für Entschleunigung« län-gerfristig in eine Entschleunigungsstrategie umzuwandeln. Diese setzt sich aus folgenden Handlungsweisen zu-sammen:
a u Sb l i c k
»Entschleunigte Stunde« Ich übe mich abends für eine kurze Zeit in der schöpferischen Nichtarbeit oder dem produktiven Träumen, sprich dem Müßiggang. Ich denke z.B. darüber nach, was mir die Menschen, denen ich tagsüber begegnet bin, erzählt haben und was das für mich bedeutet. Ich lasse meinem Kopf ein wenig Freiraum, um das Erlebte im Wachzustand zu verarbeiten und vernünftig zu verorten.
Erlernen des Müßiggangs Ich bin noch immer mit der Aneignung des Müßiggangs beschäftigt. Es ist ein langwieriger Prozess, der allerdings nichts mit Faul- oder Trägheit zu tun hat, sondern damit, sich aktiv zum Nichtstun zu entscheiden und damit auf absichtslose Weise aktiv zu sein. So lernt man, wieder zu staunen. Und das kann ich am besten im urbanen, öffentlichen Raum. Es ist ein sublimes Gefühl, zwischen all der Geschäftigkeit der Großstadt und der Hast der Menschen wie ein Fremdkörper durch die Menge zu flanieren und sich einfach auf eigene Art und Weise ein Abbild der Realität zu schaffen und immer wieder zu staunen. Auf diese Weise kommt man auch auf neue Ideen.
drosselung des beschleunigungswillens Ich drossele den eigenen Beschleunigungswillen bei kreativen Prozessen. Ich vermeide es mittlerweile, zur Inspiration Unmengen von Bildern im Netz zu betrachten. Diese Masse an Input verwirrt mich eher, als dass sie mich inspirieren würde. Eine gute Idee braucht manchmal ihre Zeit. Und sie lässt sich nicht produktiv einsparen oder beschleunigen. In diesen Fällen verordne ich mir ohne Gewissensbisse eine Portion kreativen Nichtstuns wie z. B. einen langen Spaziergang – oder ich gehe einer völlig gegensätzlichen Tätigkeit nach.
Medialer Filter Während des Selbstversuches ist mir klar geworden, was ich nicht brauche und was nicht fehlen darf. Seither versuche ich nach einem eigenen Raster klar zu unterscheiden, welchen medialen Input, besonders im Internet, ich benötige und welchen nicht. Ähnlich verhält es sich auch beim Konsum von anderen Medien wie Zeitungen, Magazinen oder Musik.
reduktion von information Durch die Reduktion von Information entlaste ich Körper und Geist. Das heißt, ich konsumiere gezielter. Der unbewussten Informationsflut im öffentlichen Raum kann man sich leicht entziehen, wenn man wirklich will. Die bewusst gesteuerte, individuelle Informationsflut kann man abmildern, indem man ab und an auf gewisse Inhalte verzichtet und klare Prioritäten setzt, was wünschenswert ist und was nicht. Nach dem Prinzip: weniger Input – mehr Output. Dadurch, dass man weniger mit der Aufnahme von Informationen beschäftigt ist, hat man mehr Kapazitäten für den eigenen Output.
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ich muss gar nichts! Obwohl es gerade für einen Selbstständigen immer etwas zu tun gibt, versuche ich, mich der »Rhetorik des Müssens« zu entziehen und mich entgegen großer Teile der Gesellschaft nicht über mein Übermaß an Beschäf-tigung zu positionieren. Es gilt, der gesellschaftsgültigen Arbeitswut mit einem Mindestmaß an Müßiggang und schöpferischer Faulheit entgegenzutreten.
anverwandlung von dingen Als konsumfreudiger Mensch versuche ich trotz vieler »Objekte der Begierde« mir mittlerweile Dinge wie Musik, Bücher und Kleidung anzuverwandeln, anstatt sie bloß anzuhäufen. In gewissem Maße möchte ich eine persönliche Beziehung zu den Dingen aufbauen und ihnen damit eine Geschichte und einen persönlichen Wert geben. Durch diese gesteigerte Wertschätzung tritt auch die ständige Jagd nach der nächsten Trophäe in den Hintergrund.
one thing at a time Die alte Management-Regel für Führungskräfte entfaltet auch in punkto Entschleunigung ihre Wirkung. Durch das persönliche Wirken an einem Sachverhalt ohne Ablenkung von außen ist man schneller, intuitiver und kon-zentrierter in seinem Schaffen. Die Handlungsketten verkürzen sich mit dieser Methode ebenfalls.
Dieser Ausblick soll nicht als ratgeberischer Ansatz verstanden werden. Die Wirkungsweisen solcher Versuche fallen individuell sehr unterschiedlich aus und die Leserschaft stellt ohnehin eine Minderheit in der Gesellschaft dar. Aus diesem Grund kann ich nur von mir selbst ausgehen, auch wenn ich davon überzeugt bin, dass allge-meingültige Tendenzen vorhanden sind. Dennoch kann ich abschließend mit voller Überzeugung zur partiellen »Entschleunigung« aufrufen. Ich selbst werde zumindest versuchen, diese Art von Innehalten alle paar Jahre erneut durchzuführen und mich auf den Prüfstand zu stellen.
AUSBLICK45
46
P r o d u k t E
10
KUNDE Büro für Entschleunigung
PRODUKT Plakat
TECHNIK Bleisatz • Fotografie • Siebdruck • Kalligrafie
STÜCKZAHL 10
47
KUNDE Büro für Entschleunigung
PRODUKT Plakat
TECHNIK Bleisatz • Fotografie • Siebdruck • Kalligrafie
STÜCKZAHL 10
KUNDE Büro für Entschleunigung
PRODUKT Compliment Cards • Visitenkarten • Anschreiben • Umschlag
TECHNIK Holzdruck • Kalligrafie • Stempel • Schreibmaschine
STÜCKZAHL 40
PRODUKTE
48
KUNDE Pingipung Records
PRODUKT 7-Inch Vinyl-Box
TECHNIK Bleisatz • Fotografie • Siebdruck • Kalligrafie
STÜCKZAHL 30
49
KUNDE Pingipung Records
PRODUKT 7-Inch Vinyl-Box
TECHNIK Bleisatz • Fotografie • Siebdruck • Kalligrafie
STÜCKZAHL 30
KUNDE Caffe Latte
PRODUKT Speise- & Getränkekarte
TECHNIK Holzdruck • Kalligrafie • Schreibmaschine
STÜCKZAHL Eine analoge Vorlage
PRODUKTE
F i n g E rü b u n g E n
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HOLZDRUCK Florin Schmidt HOLZDRUCK Florin Schmidt
HOLZDRUCK Christoph Bruns
51 FINGERÜBUNGEN
1 Vgl. Herrmann Lübbe, Im Zug der Zeit, 2003, S. 782 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 563 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 924 Vgl. Hartmut Rosa, Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 55 5 Vgl. Norbert Elias in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 29 6 Vgl. Marshall Bermann, All that is solid melts into Air,1983, S. 1987 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 558 Vgl. Mike Sandboothe in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 349 Vgl. Alyson Brown in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 3010 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 3111 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 31 12 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 3513 Vgl. Otthein Rammstedt, Alltagsbewußtsein von Zeit, 1975, S. 47-6314 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 2715 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 2716 Vgl. Paul Virilio in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 4117 Vgl. Paul Virilio in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 4118 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 4119 Vgl. Ödön von Horváth, Kasimir und Karoline, 1994, S. 9720 Vgl. Hartmut Rosa, Vortrag 16. Juni 2010, Einstein-Forum Potsdam21 Vgl. Georg Simmel in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, S. 3022 Vgl. Peter Gross, Die Multioptionsgesellschaft, 2005, S. 6723 Vgl. Émile Durkheim, Über soziale Arbeitsteilung.
Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, 1988, S. 3024 Vgl. Hartmut Rosa, Vortrag 16. Juni 2010, Einstein-Forum Potsdam25 Vgl. Michael Kastner, Die Zukunft von Work Life Balance, 2009, S. 3126 Vgl. Georg Simmel in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 10027 Vgl. Georg Simmel in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 10028 Vgl. Georg Simmel in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 10029 Vgl. Hans-Jürgen Schings in: Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 8730 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 7331 Vgl. Hartmut Rosa, Beschleunigung, 2005, S. 73
F u S S n o t E nv E r Z E i c h n i S
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52
Bermann, Marshall (1988), All that Is Solid Melts Into Air. The Experience of Modernity, New York: Penguin Books.
Brown, Alyson (1998), »Doing Time«: The extended present of the long-term prisoner, in: Time and Society, Jg. 7 S. 93 – 103.
Durkheim, Émile (1988), Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Elias, Norbert (1988), Über die Zeit. Arbeiten zur Wissenssoziologie II, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Gross, Peter (1994), Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Horváth, Ödön von (2009) Kasimir und Karoline, in: Klaus Kastberger/Kerstin Reimann (Hg.) Wiener Werkausgabe, Band 4. De Gruyter, Berlin 2009
Kastner, Michael (2009), Die Zukunft von Work Life Balance, Kröning: Asanger.
Lübbe, Hermann ( 1998), »Gegenwartsschrumpfung«, in Klaus Backhaus/Klaus Bonus (Hg.), Die Beschleunigungsfalle oder der Triumph der Schildkröte, 3. erweiterte Auflage, Stuttgart: Schäffler/Pöschel.
Rammstedt, Otthein (1975), »Alltagsbewußtsein von Zeit«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 27.
Rosa, Hartmut (2005), Beschleunigung. Die Veränderungen von Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Sandbothe, Mike (1997), »Die Verzeitlichung der Zeit in der modernen Philosophie«, in: Antje Gimmler/Mike Sandbothe/Walter Ch. Zimmerli (Hg.), Die Wiederentdeckung der Zeit. Reflexionen, Analysen, Konzepte, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Schings, Hans-Jürgen (1977), Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in der Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart: Metzler.
Simmel, Georg (1903/1995) »Die Großstädte und das Geistesleben«, in: ders., Aufsätze und Abhandlungen 1901 – 1908, Bd. 1, hg. von Rüdiger Kramme u.a., Gesamtausgabe, Bd. 7, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
l i t E r a t u rv E r Z E i c h n i S
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53 VERZEICHNISSE
HERAUSGEBER Florin Schmidt & Christoph Bruns
LAYOUT & SATZ Florin Schmidt & Christoph Bruns
REINZEICHNUNG Christoph Bruns
LEKTORAT Katharina Dechert • www.formschoen-lektorat.de
FOTOGRAFEN Gianni Occhipinti (Farbe) • www.gianni-occhipinti.de Christoph Bruns (s/w)
TEXTE Christoph Bruns
INTERVIEW Christoph Twickel
DRUCK dynamik druck Hamburg • Tarpen 40 • 20295 Hamburg • www.dynamik-druck.de
PAPIER Adhoc Freelive Vellum (by Fedrigoni) • www.fedrigoni.de
TYPOGRAFIE Neutraface Family (by House Industries) • www.houseind.com
AUFLAGE 50 Stück
© 2011 ON&ON • WWW .on-n-on.dE
Ohne diese Menschen und Institutionen wäre das Projekt »Büro für Entschleunigung« nicht dasselbe gewesen.
Ihnen gilt unsere Dankbarkeit.
Diana Bach • Florian Bartsch • Laura Benz • Wilhelm & Gisela Bruns • Elisabeth & Friedrich Damm • Jürgen Damm
Damm Elektrotechnik GmbH • Katharina Dechert / Formschön Lektorat • Elke Drengwitz • dynamik druck
Marc Einsiedel • Dr. Andreas Fehrmann • Gängeviertel e. V. • Adolf & Anita Götze • Heiko Gogolin • Prof. Heike
Grebin • Jakob / Caffè Latte • Andreas Kleve • Marco Köster • Kreativgesellschaft • Kupferdiebe • Jochen Lenze
Mateusz • Jivan Frenster • Jessica Mintelowsky • Gianni Occhipinti • Andi Otto • Pingipung Records • Egbert
Ruehl • Richard Scheffler • Lothar Schmidt • Monika Schmidt • Prof. Dr. Eva Schürmann • Jan Stölting • Ellen
Sturm • Pfeifen Tesch • Asmus Tietchens • Ursula Trams • Christoph Twickel • Walter Wannack
i m p r e s su m d a n k
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© 2011
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