2. Das Medium Hypertext
62
2. Das Medium Hypertext
In diesem Kapitel wird zunächst der Begriff Hypertext erläutert und von ver-
wandten Begriffen abgegrenzt. Einer Gegenüberstellung von Hypertext und
traditionellem Lineartext folgt ein kurzer Abriss der Geschichte dieses „neuen“
Mediums. Unter Zugrundelegung des Rahmenmodells zur Beschreibung von
Hypertext von Gall & Hannafin (1994) werden danach ausgewählte, für die
vorliegende Untersuchung relevante Makro- und Mikrostrukuren von Hypertext
beschrieben. Ein weiteres Unterkapitel ist der Navigation durch Hypertext ge-
widmet. Anschließend werden Argumente für und gegen den Einsatz von Hy-
pertext als Lernmedium referiert und Personenmerkmale, die beim Wissens-
erwerb mit Hypertext, empirischen Ergebnissen zufolge, insofern eine Rolle
spielen, als sie Navigation und/oder Lernprozesse beeinflussen können, be-
handelt. Das Kapitel schließt mit zusammenfassenden Überlegungen über die
Bedeutung der Kontrollüberzeugung im Rahmen des Wissenserwerbs mit Hy-
pertext.
2.1 Begriffsbestimmungen
Fragt man den Begriff „Hypertext“ in einem der Online-Lexika ab, so erhält
man in etwa genauso viele Erklärungen, wie man Lexika konsultiert hat. Die
Definitionen reichen z. B. von nicht-linearer Organisationsform von heteroge-
nen Objekten (Wikipedia21), über Methode, Informationen zu präsentieren (En-
carta32) bis zu speziellem Textformat (Online-Lexikon der Datenkommunika-
2 Wikipedia ist eine mehrsprachige, frei zugängliche Online-Enzyklopädie, die von der
amerikanischen Wikimedia Foundation 2001 ins Leben gerufen wurde und deren deutsche
Version derzeit etwa 126.000 Stichwörter umfasst. Da jeder Internetznutzer Einträge ma-
chen bzw. bestehende verändern kann, ist die Qualität der Beiträge nicht immer zweifels-
frei. Abrufbar unter: http://de.wikipedia.org/wiki/Hauptseite (2004-08-03) 3 Microsoft Encarta ist ein Multimedia-Lexikon mit über 50.000 Einträgen. Die
kostenpflichtige Online-Version ist abrufbar unter: dhttp://de.encarta.msn.com/ (2004-08-
03)
2. Das Medium Hypertext
63
tion43). Die Meinungen darüber, was Hypertext ist, gehen offensichtlich ausein-
ander.
Auch in der einschlägigen Fachliteratur gibt es bis dato keine einheitliche, all-
gemein gültige Definition für Hypertext. Während die einen Definitionsansätze
systemzentriert die charakteristische Hypertext-Struktur hervorheben und Hy-
pertext als „Verknüpfung von Textdokumenten durch hierarchische Relationen
und/oder Verweisstrukturen“ (Schnupp, 1992, S. 15; zitiert nach Blumstengel,
1998, S. 72) bezeichnen, orientieren sich andere eher an der Nutzung von
Hypertext und nehmen damit eine userzentrierte Position ein, wie z. B.
Nielsen, der Hypertext folgendermaßen definiert: „Hypertext is nonsequential;
There is no single order that determines the sequence in which the text is to
be read.“ (Nielsen, 1990, S. 1)
Eine didaktisch gelungen erscheinende Darstellung dessen, was Hypertext ist,
bietet Gerdes (1997) in grafischer Form (S. 7):
Abbildung 4. Veranschaulichung des Hypertext-Konzepts
(Gerdes, 1997, S. 7)
4 Dieses Online-Lexikon wurde von Patrick Seidler, einem Studenten an der Universität
Kassel, zusammengestellt und ist abrufbar unter:
http://www.uni-kassel.de/~seidler/lexikon.html (2004-08-03).
2. Das Medium Hypertext
64
Aus der Abbildung wird ein Merkmal von Hypertext, über das in den unter-
schiedlichen Definitionsvorschlägen Konsens herrscht, deutlich: Hypertext be-
steht aus Knoten (= atomare Informationseinheiten) und Links (= Verknüpfun-
gen).
Enthalten die Knoten nicht nur Texte oder einfache Schwarz-Weiß-Grafiken,
sondern auch farbige Bilder, Videos, Animationen, gesprochene Sprache,
Töne, Geräusche, Musik, etc. dann spricht man häufig von Hypermedia. Man-
che Autoren, wie z. B. Unz (2000) bezeichnen Hypermedia als multimedialen
Hypertext (S. 24). Die beiden Begriffe Hypertext und Hypermedia werden
vielfach aber auch synonym verwendet (Altun, 2000).
Hypertexte bzw. Hypermedia sind nur computerbasiert sinnvoll. Der Zugriff auf
die einzelnen Informationseinheiten erfolgt über eine direkt manipulierbare
grafische Benutzeroberfläche. Der User bewegt sich dabei entlang der Ver-
bindungen, z. B. durch Anklicken entsprechender Links mit der Maus, in der
Regel nicht-linear durch das Informationswerk, die sogenannte Hypertextba-
sis, die auch als Hyperdokument bezeichnet wird. Ein wesentliches Merkmal
von Hypertext ist damit die Aktivität, die vom User bei der Er- bzw. Bearbei-
tung gefordert wird: „Only when users interactively take control of a set of dy-
namic links among units of information does a system get to be a hypertext“
(Nielsen, 1990, S. 10).
Der Begriff Hypertext-System bezeichnet „alle Software-Hilfsmittel, mit denen
Hypertexte erstellt, verwaltet und genutzt“ werden können (Gerdes, 1997, S.
138). Ein solches Software-Hilfsmittel zur Nutzung von Hypertext ist z. B. der
Internet Explorer, eines zu Erstellung und Verwaltung von Hypertext ist z. B.
Frontpage. Vielfach stellen Hypertext-Autoren ihre Texte aber ohne derartige
Hilfsmittel her und schreiben ihre Quelltexte direkt in HTML (= Hypertext
Markup Language).
Als Abschluss dieser ersten Charakterisierung von Hypertext sei die von Unz
in Anlehnung an Schulmeister (1996) und Nielsen (1990) formulierte Definition
des Begriffs Hypertext wiedergegeben:
2. Das Medium Hypertext
65
„Hypertext bezeichnet die computergestützte Integration von Daten in einem
Netz aus Informationsknoten und Links. Hypertext wird als generischer Name
für nicht-lineare Informationssysteme benutzt, auch wenn das System nicht-
textgebundene Informationen enthält. Damit akzentuiert der Begriff Hypertext
die strukturellen Aspekte, das Konstruktionsprinzip“ (Unz, 2000, S. 24).
2.2 Text und Hypertext
Was Hypertext ausmacht, kann vermutlich am besten dadurch beschrieben
werden, dass man ihn mit herkömmlichem Lineartext vergleicht.
Als Hauptunterschied der beiden Textsorten wird in der Literatur sehr häufig
die Linearität bzw. Nicht-Linearität herausgestrichen. Traditionelle Texte, wie
z. B. Bücher verfügen demnach über einen linearen Aufbau, d. h. es gibt eine
bestimmte, festgelegte Reihenfolge, in der die einzelnen Textteile zu lesen
sind. Das lineare Abfolgemuster linguistischer Einheiten, die in einem Kon-
junktionsverhältnis zueinander stehen, wird als Syntagma bezeichnet. Hyper-
text dagegen ist nicht-sequentiell aufgebaut. Aufgrund seiner netzwerkartigen
Globalstruktur aus Informationsblöcken und Verknüpfungen gibt er keine feste
Leseabfolge der einzelnen Teile vor, sondern erlaubt es dem Leser, seinen
individuellen Weg durch den Textraum zu wählen. Dieses Abfolgemuster be-
zeichnet Freisler (1994) als das „Hypertagma“ (S. 38). Da dieses Abfolge-
muster aber letztlich immer linear sein wird, verweist Freisler die oft beschwo-
rene „nichtlineare Leseerfahrung“, die Hypertext ermöglichen soll, in das Reich
des Mythos (Freisler, 1994, S. 38).
Und auch die Struktur eines Hypertextes muss nicht notwendigerweise immer
nicht-linear sein: In einem sogenannten linearen Hypertext sind die einzelnen
Knoten so miteinander verknüpft, dass der Leser von einem zum nächsten
weiter schreitet. Andererseits können auch traditionelle Lineartexte nicht-line-
are Strukturen wie z. B. Fußnoten und/oder Querverweise enthalten. Auch
Lexika, Wörterbücher und andere Referenzwerke, Conklin bezeichnet diese
Textsorten als „manuelle Hypertexte“ (= „manual hypertexts“) (Conklin, 1987,
S. 20), geben dem Leser keine festgelegte Reihenfolge vor. Bei entsprechen-
2. Das Medium Hypertext
66
dem Vorwissen werden selbst Lehrbücher nicht Seite für Seite von Anfang bis
Ende durchgelesen, sondern der Lerner trifft eine seinen Bedürfnissen und
seinem aktuellen Kenntnisstand entsprechende Auswahl einzelner Textteile
und überspringt andere. Gerade bei papierbasierten Fachtexten ist nicht-linea-
res Lesen häufig eine sehr geeignete Methode, um aus einer Fülle von Infor-
mationen das Benötigte herauszufiltern. In vielen Zeitschriften ist ein gewisser
Trend zur Entlinearisierung zu beobachten: Anstelle eines längeren Fließtex-
tes findet sich hier oft ein kürzerer „Kerntext“, der zur Vertiefung durch sepa-
rate Tabellen, weiterführende Kommentare, Beispiele, etc. ergänzt wird
(Blumstengel, 1998, S. 72).
Die Grenzen zwischen Text und Hypertext sind also insofern fließend, als Text
in bestimmtem Ausmaß nicht-lineare und Hypertext lineare Strukturen enthal-
ten kann (Kuhlen, 1991, S. 27). Gemeinhin wird aber doch traditionellem Line-
artext eine eher monohierarchische Globalstruktur zugeschrieben, bei der zwi-
schen den einzelnen Textteilen eher unidirektionale 1:1 Beziehungen beste-
hen, während Hypertext eine eher netzwerkartige Globalstruktur aufweist, in
der eher bidirektionale m:n Beziehungen zwischen den Knoten bestehen, was
bedeutet, dass im Prinzip in Hypertext beliebig viele Pfade von einem Knoten
ausgehen und beliebig viele Pfade zu einem Knoten hinführen können (Kuh-
len, 1991; Freisler, 1994).
In traditionellem Text wird das Thema meist dahingehend entfaltet, dass von
einer zentralen Struktur hierarchisch untergeordnete Textteile abhängen. Ab-
schweifungen werden vermieden, viele Fußnoten sind die Ausnahme, weil sie
den Lesefluss bzw. das Verständnis stören. In Hypertext erfolgt die Themen-
entfaltung meist in verschiedenen, voneinander unabhängigen Strukturen. Die
einzelnen Textteile hängen prinzipiell nicht voneinander ab, Abschweifungen
und Fußnoten sind die Regel. Nicht von ungefähr bezeichnet Nielson Hyper-
text daher als „generalized footnote“ (Nielsen, 1995, S. 2).
Während in traditionellem Text die Gesamtkohärenz ein sehr wesentliches
Merkmal darstellt, existieren in Hypertext zwar verschiedene kohärente Hy-
2. Das Medium Hypertext
67
pertagmen, die Gesamtkohärenz jedoch nur in eingeschränktem Ausmaß als
eine Art „roter Faden“, der die einzelnen Textelemente zusammenhält.
Traditionelle Papiertexte weisen durch die Verwendung von Schrift und Bild
zur Wissensrepräsentation in der Regel einen geringeren Synästhetisierungs-
grad auf als Hypertexte, in denen zusätzlich zu diesen gängigen Symbolsys-
temen auch Animationen, Filme, Töne, Geräusche, gesprochene Sprache und
dergleichen Verwendung finden.
Aus medienhistorischer Sicht charakterisiert Freisler (1994) traditionellen Text
als technisch und pädagogisch voll ausgereiftes Kommunikationsmedium,
dessen soziale Akzeptanz in allen gesellschaftlichen Bereichen sehr groß ist.
Hypertext beschreibt er als ein „Medium im Inkunabelstatus“54, das noch auf
einen speziellen Bereich der Informationsübermittlung beschränkt ist, dem
aber steigende Akzeptanz in breiten Bevölkerungskreisen entgegengebracht
wird. (Freisler, 1994, S. 39).
2.3 Geschichte von Hypertext
Betrachtet man die Nichtlinearität als wichtigstes Merkmal von Hypertext, dann
ist Hypertext fast so alt wie die abendländische Schriftentwicklung, denn die
Entlinearisierung der „scriptura continua“ beginnt im 8. Jahrhundert in den
Skriptorien Englands und Irlands mit der Einführung der Wortabstände (Freis-
ler, 1994).
Erste Versuche, nichtlineare Textzusammenhänge zu realisieren, stellen die
sogenannten „Leseräder“ des 17. Jahrhunderts dar. Das erste Exemplar
wurde 1588 von Agostino Ramelli (1531 – 1608) entworfen: Es sah aus wie
ein Wasserrad, dessen Schaufeln aber an Stelle von Wasser Bücher trans-
5 Inkunabel von latein. „incunabula“ = Windeln, Wiege. Als Inkunabeln oder Wiegen- und
Frühdrucke bezeichnet man in der Buchwissenschaft Druckwerke aus der Frühzeit des
Buchdrucks bis 1500, die oft noch einen experimentellen drucktechnischen und
typographischen Zustand aufweisen.
2. Das Medium Hypertext
68
portierten, zwischen denen man beim Lesen durch Drehen des Rades hin-
und her springen konnte. Diese Technologie soll, Freisler (1994) zufolge, Bush
als Vorbild für sein MEMEX gedient haben.
Vannevar Bush (1890 – 1974), wissenschaftlicher Berater von Präsident
Roosevelt im Zweiten Weltkrieg, gilt allgemein als Vater der Hypertextidee. Er
beschreibt 1945 das von ihm erdachte, jedoch nie realisierte Informationssys-
tem MEMEX (= Memory Extender) als „a device in which an individual stores
all his books, records, and communications, and which is mechanized so that
it may be consulted with exceeding speed and flexibility” (Bush665, 1945, S.
102). Jeder Wissenschaftler sollte seine Materialien auf MEMEX speichern,
um der Allgemeinheit Zugriff darauf zu ermöglichen. Bush schlug aber nicht
nur eine neue Methode zur Speicherung und zum Abruf von Informationen
vor, sondern nannte auch drei vollkommen neue Hilfsmittel zur Interaktion mit
Texten: assoziative Indizes (oder Links), Pfade, die diese Links miteinander
verbinden, und Netzwerke, die aus solchen Pfaden bestehen. Damit hat Bush
die drei Hauptelemente eines flexiblen Textes, der für die individuellen Be-
dürfnisse jedes individuellen Lesers offen ist, beschrieben (Barnes, 1994).
In abgewandelter Form wurden die Überlegungen von Bush 1962 von Douglas
C. Engelbart, dem Erfinder der Computer-Maus, wieder aufgegriffen. Im Rah-
men des Projekts „Augment“, in dem er und seine Mitarbeiter am Stanford-
Research-Institute (SRI) sich das Ziel gesetzt hatten, Computertools zur Er-
weiterung der menschlichen Kapazität und Erhöhung der Produktivität zu ent-
wickeln, wurde das oN-Line System NLS geschaffen, eine Art „Journal“, in das
die Augment Mitarbeiter alle Arbeitspapiere, Berichte und Memos speichern
und durch Querverweise mit anderen Arbeiten verbinden konnten (Beißwen-
ger & Storrer, 2002).
Der Terminus Hypertext für nicht-lineare Texte, die auf Computerbildschirm
gelesen und geschrieben werden, wurde von Ted Nelson an der Brown Uni-
6 Ein Nachdruck dieses Artikels ist als PDF-File abrufbar unter: http://www.linse.uni-
essen.de/pdf_extern/publikationen/bush.pdf (2004-08-10).
2. Das Medium Hypertext
69
versity in Providence geprägt (Blumstengel, 1998). Nelsons „Xanadu“ gilt
heute als erster „richtiger“ Hypertext (Unz, 2000). Xanadu war konzipiert als
universelle Hypertextbasis, in die die gesamte Weltliteratur gespeichert und
durch Links miteinander verbunden werden sollte. Ein einmal in dieses Hyper-
archiv eingespeicherte Dokument sollte niemals wieder gelöscht werden, wo-
durch sämtliche Informationsquellen in multiplen Versionen allen Menschen
zugänglich sein sollten. In dieser von Nelson geplanten Form wurde das Xa-
nadu-Docuverse zwar nicht realisiert, ein Teil davon besteht aber seit der Ein-
stellung des Projekts 1992 bis heute. Genauere Informationen zu Xanadu ste-
hen online unter http://xanadu.com/ (2004-08-10) zur Verfügung.
Das erste funktionierende Hypertext-System der Geschichte war das 1967 von
Andries van Dam, Ted Nelson und anderen ebenfalls an der Brown University
entwickelte Hypertext Editing System. Ursprünglich für die Erstellung von
Lehrmaterialien für den Literaturkundeunterricht gedacht, wurde es später an
das Houston Manned Spacecraft Center verkauft, wo es zur Dokumentation
der Apollo Missionen eingesetzt wurde (Blumstengel, 1998).
Den Durchbruch für die Hypertext-Technologie bedeutete 1987 das System
HyperCard von Bill Atkinson, das beim Kauf eines Apple-Computers von Mac-
intosh gratis mitgeliefert wurde und mit dem jedermann dank der sehr einfa-
chen Programmiersprache HyperTalk eigene Hypertexte erstellen konnte.
Schulmeister ist der Meinung, dass keine andere Software zuvor „derart be-
deutsamen Einfluss auf den Einsatz von Computern“ hatte. (Schulmeister,
1996, S. 211).
Das heute weltweit bekannteste und größte Hypertext-/Hypermedia System ist
das WWW (= World Wide Web).
In dieser kleinen Auswahl soll das von Hermann Maurer und seinen Kollegen
in den frühen 90er Jahren an der Universität Graz entwickelte Hypertext-
/Hypermedia System Hyper-G, das mittlerweile unter dem Namen Hyperwave
kommerziell vertrieben wird, nicht unerwähnt bleiben. Es wird in mancher Hin-
sicht als dem WWW überlegen angesehen, weil die Informationen über Start
und Ziel aller Links nicht in die Knoten integriert sind, sondern in spezialisier-
2. Das Medium Hypertext
70
ten Strukturen verwaltet werden, was die auf Webseiten allgegenwärtigen
„broken links“ (= Verknüpfungen, deren Zielknoten nicht mehr existiert) verhin-
dert, und weil es außerdem, im Unterschied zum WWW, die einfache Ent-
wicklung und Verwaltung mehrsprachiger Dokumente erlaubt (Blumstengel,
1998). Über die zahlreichen Einsatzmöglichkeiten von Hyperwave informiert
die Webseite http://www.hyperwave.at/d/ (2004-08-10).
Die aktuelle Situation von Hypertext-/Hypermedia Systemen charakterisiert
Schulmeister (1996) folgendermaßen: „Immer noch werden neue Hypertext-
Systeme entwickelt, teils für experimentelle Zwecke, teils mit speziellen Funk-
tionserweiterungen für kooperatives Arbeiten und Schreiben, teils aber auch
mit exotischen Abwandlungen der Standard-Funktionen“ (Schulmeister, 1996,
S. 212).
2.4 Anwendungsbereiche von Hypertext
Hypertext war ursprünglich konzipiert, um die Informationssuche in umfangrei-
chen Datenbanken zu erleichtern (vgl. Bush, 1945). Aufgrund technischer
Weiterentwicklung und des massiven Preisverfalls für Computer wurden die
Anwendungsbereiche aber immer vielfältiger, sodass Hypertext heute in na-
hezu allen Bereichen des Lebens zu finden ist (vgl. Inhalte des WWW).
Um zu entscheiden, ob sich eine Anwendung für den Einsatz von Hypertext
eignet, empfiehlt Shneiderman (1989) die Beachtung der „three golden rules
of hypertext“ (Nielson, 1995, S. 43):
• Die in Frage kommende Information hat einen großen Umfang und besteht
aus einzelnen Teilen.
• Diese einzelnen Teile stehen in Beziehung zueinander.
• Der Nutzer braucht zu einem bestimmten Zeitpunkt nur ein kleines Segment
der Gesamtinformation.
WISSENSCHAFT
Hypertexte eignen sich nicht nur als reine Informationssysteme, um allge-
meine Informationen z. B. über eine Universität und ihr Studienangebot zur
2. Das Medium Hypertext
71
Verfügung zu stellen, sondern auch zur wissenschaftlichen Dokumentation
von Forschungsergebnissen und deren Präsentation im Internet. Ein Beispiel
dafür stellt die Dissertation von Blumstengel (1998)76dar, die in ihrer
ursprünglichen Form als Hypertext geschrieben und auch online veröffentlicht
wurde.
AUS- UND WEITERBILDUNG
Vor allem die Aus- und Weiterbildung ist ein wichtiges Einsatzgebiet für Hy-
pertext. Obwohl empirische Ergebnisse keine eindeutigen Aussagen zulassen,
wird gemeinhin angenommen, dass ein Einsatz von Hypertext im Unterricht
die Motivation der Lerner fördert, weil er entdeckendes und selbst gesteuertes
Lernen erlaubt. Im Schulunterricht werden meist Hypertexte, die um eine
instruktionale Komponente (z. B. einen vorgegebenen Pfad, integrierte Tests
und Verständnisfragen mit entsprechendem Feedback) erweitert sind, in Form
von Lern-CDs, die es mittlerweile für fast alle Unterrichtsfächer gibt,
eingesetzt. Hypertexte können natürlich auch zum Selbststudium genutzt
werden (vgl. Kuhlen, 1991). Die Grenzen zwischen Bildung und Unterhaltung
sind bei den entsprechenden Anwendungen oft fließend, was das Schlagwort
„Edutainment“ verdeutlicht (vgl. Blumstengel, 1998, S. 92).
WIRTSCHAFT
Viele Unternehmen bedienen sich der Hypertext-Technologie, um sich selbst
und ihre Produkte weltweit im Internet zu präsentieren. Hypertext wird häufig
eingesetzt, um hohe Druckkosten für optisch ansprechende Kataloge zu spa-
ren und um Interessenten durch entsprechende Querverweise auf andere
Produktdarstellungen, die sie interessieren könnten, zum Kauf zu animieren.
Hypertext kann auch als Werkzeug für Büroorganisation eingesetzt werden,
um täglich im Betrieb anfallende Dokumente zu vernetzen. Mit Hilfe bestimm-
ten Anwendungen, die unter anderem auch Hypertext-Strukturen verwenden,
können Teams über räumliche und zeitliche Distanzen hinweg kollaborativ und
7
7 http://dsor.upb.de/de/forschung/publikationen/blumstengel-diss/main_index_titel.html
(2004-08-10)
2. Das Medium Hypertext
72
kooperativ arbeiten, und auch in der Mitarbeiterschulung wird Hypertext
vermehrt eingesetzt (vgl. Blumstengel, 1998).
KULTUR
Für klassische lineare Literaturformen erscheint Hypertext wenig geeignet: „As
long as you are just reading a novel with a single stream of action, you are
much better of reading a printed book.” (Nielson, 1995, S. 120). Für Lyrik ist
die Hypertextform dagegen sehr wohl vorstellbar.
Als Ergänzung zu traditionellen Literaturformen hat sich in den letzten Jahren
eine weltweite Cyberliteratur entwickelt, die Autoren unabhängig von Verle-
gern macht und vielfach auch den Leser zum aktiven Mitgestalter werden
lässt, die aber auch etwas sehr Flüchtiges und Ungreifbares sein kann, da
man nie weiß, ob die Texte am nächsten Tag auch noch online sein werden.
Ein Beispiel für Cyberliteratur, die Hypertext-Technologie verwendet, ist „Blue
Suburban Skies“, das derzeit am Institut für Medienwissenschaft der Univer-
sität Trier entsteht. Unter http://www.uni-
trier.de/uni/fb2/medien/leben/cyberfiction/index.html (2004-08-10) kann
jedermann, nach Voranmeldung per Email an die Verantwortlichen, an der
Gestaltung dieses Werks mitwirken.
In Museen und Ausstellungen findet man immer häufiger sogenannte POIs (=
point of information), Computerterminals, an denen die Besucher mit Hilfe von
Hypertext-Technologie zusätzliche Hintergrundinformationen zu einzelnen
Ausstellungsstücken abrufen können.
2. Das Medium Hypertext
73
UNTERHALTUNG
In diesem Bereich wird die Vermischung von Information und Unterhaltung
(= Infotainment) besonders deutlich, wenn man die zahlreichen Hypertext-
Angebote im Internet zu Themen wie Reisen, Natur, Autos, Kochen, etc.
betrachtet. Die hypertextuelle Aufbereitung ermöglicht dem User einerseits
den gezielten Zugriff auf konkrete, ihn interessierende Informationen,
andererseits ein unterhaltsames Durchforsten des Informationsangebots zu
einem bestimmten „Modethema“. Auch viele Spiele auf CD machen sich
Hypertext-Technologie zu Nutze (vgl. Blumstengel, 1998).
2.5 Aufbau von Hypertext
In Anlehnung an das Architekturmodell von Cambell und Goodman beschreibt
Nielson (1995, S. 131ff.) folgende drei Schichten, aus denen Hypertext be-
steht:
• Datenbankschicht („database level“): Auf dieser Ebene, die die Basis eines
Hypertextes darstellt, sind die verschiedenen Datentypen gespeichert.
• abstrakte Hypertext-Maschine („hypertext abstract machine“): Hier erfolgt
die Definition von Knoten und Links bzw. die Festlegung ihrer Formate.
• Benutzerschnittstelle („presentation level“): Sie stellt den „Ort der Kommuni-
kation zwischen User und System“ (Marchionini & Shneiderman, 1988, S.
73) dar, d. h. hier interagiert der Hypertext-Leser mit dem System: Auf die-
ser Ebene wird festgelegt, welche Kommandos und Manipulationsmöglich-
keiten dem User zur Verfügung stehen.
2.5.1 Hypertext-Basis
Die Wissensbasis eines Hypertexts ist mehr als eine bloße Sammlung von
Fakten, denn sie bietet meist nicht nur eine Fülle von Informationen in unter-
schiedlichen Formen (z. B. Texte, Grafiken, Bilder, etc.), sondern auch ent-
sprechende Strukturen, d. h. die einzelnen Informationen werden in einen
größeren Kontext eingebettet.
2. Das Medium Hypertext
74
Nach Gall und Hannafin (1994) kann diese Datenbasis hinsichtlich ihrer Breite,
ihrer Tiefe, ihrer Homogenität und des Grades der Verbundenheit der in ihr
enthaltenen Informationen beschrieben werden:
• Breite: Ähnlich wie eine Enzyklopädie enthält eine Datenbasis mit hoher
Breite mannigfaltige Informationen. Eine Datenbasis mit niedriger Breite
dagegen fokussiert auf eine beschränkte Anzahl von Themen.
• Tiefe: Hohe Tiefe liegt vor, wenn sich die Datenbasis auf wenige Themen
beschränkt, diese aber sehr ins Detail gehend behandelt. Bei geringer Tiefe
werden die einzelnen Themenbereiche nur wenig elaboriert.
Gewählte Breite und Tiefe einer Datenbasis sollten sich immer an der Ziel-
gruppe des Hypertextes und deren Bedürfnissen orientieren.
• Homogenität: Die in einer homogenen Datenbasis gespeicherten Materia-
lien weisen einen hohen Grad an Ähnlichkeit auf, eine inhomogene Daten-
basis hingegen hat eher den Charakter eines Notizblocks, d. h. sie enthält
sehr unterschiedliche Datenquellen (z. B. Texte, Abbildungen, Karten, etc.)
• Verbundenheit: In einem lose verbundenen System muss der User die
einzelnen Informationen selbst verbinden. Ein stark verbundenes System
hält viele Assoziationen zwischen den unterschiedlichen Informationsteilen
bereit, denen der User auf seinem Weg durch den Hypertext folgen kann.
2.5.2 Knoten
Was in einem traditionellen Text Kapitel, Subkapitel und/oder einzelne Text-
abschnitte, das sind in Hypertext die sogenannten Knoten („nodes“). Sie wer-
den definiert als „die grundlegenden, atomaren Einheiten der Informations-
speicherung“ (Tergan, 2002, S. 110) bzw. „informationelle Einheiten“ (Kuhlen,
1991, S. 80). Ihre Funktion ist es, den User mit „phenomena“ zu beliefern
(Perkins, 1991, zitiert nach Gall & Hannafin, 1994, S. 216).
Gall und Hannafin (1994) unterscheiden zwischen Präsentationsknoten und
Interaktionsknoten. Erstere enthalten, wie die Bezeichnung bereits vermuten
lässt, eine Präsentation der Information. Diese kann statisch (z. B. Text, Bild,
Grafik) oder dynamisch (z. B. Animation, Musik, Tonsequenz) sein. Interakti-
2. Das Medium Hypertext
75
onsknoten enthalten darüber hinaus auch eine Anweisung, wie die Information
verwendet wird. Der User hat hier die Möglichkeit, den Inhalt zu manipulieren
(z. B. Objekte verschieben, Fragen beantworten, Grafiken zeichnen).
Die Größe eines Knotens wird als Granularität (= Korngröße) bezeichnet und
kann von einigen, wenigen Worten bis zu komplexen Dokumenten reichen.
Die Wahl einer geeigneten Knotengröße ist abhängig von Art, Zweck und Ge-
samtumfang der präsentierten Informationen. Im Allgemeinen wird empfohlen,
eine gewisse Größe (z. B. 100 Zeilen bei Shneiderman, Kreitzberg & Berk,
1991, zitiert nach Gerdes, 1999, S. 198) nicht zu überschreiten, da bei sehr
großen Knoten spezifische Eigenschaften und Vorteile von Hypertext verloren
gehen: Der User hat nicht mehr das Gefühl, die Reihenfolge der Informations-
einheiten selbst steuern zu können (Unz, 2000). Sehr kleine Knoten wiederum
bewirken eine starke Atomisierung und Dekontextualisierung, wodurch das
Verstehen des Textzusammenhangs behindert bzw. eventuell sogar unmög-
lich gemacht werden kann. Entsprechend den Beschränkungen des menschli-
chen Kurzzeitgedächtnisses wird eine Anzahl von ca. sieben Elementen
(= Chunks) pro Knoten als wünschenswert erachtet (Kuhlen, 1991), wobei es
allerdings von Zielgruppe und Anwendungsbereich abhängt, was ein Chunk
ist: Ein- und derselbe Inhalt kann bei niedrigem Vorwissen aus vielen Chunks
bestehen, bei hohem Vorwissen dagegen nur aus einem (Gerdes, 1999, S.
198).
Aus dem Umstand, dass in einem Hypertext nicht auf die in traditionellen
Texten üblichen kohäsiven Gestaltungsmittel über die Grenzen von Einheiten
hinweg (z. B. Formulierungen wie „wie oben gezeigt…“, „wie aus dem bereits
Besprochenen hervorgeht…“ und dergleichen) zurückgegriffen werden kann,
ergibt sich die Forderung nach kohäsiver Geschlossenheit der einzelnen
Knoten. Das bedeutet, dass ein Knoten so gestaltet werden muss, dass er in
kohäsiver Hinsicht autonom ist und auch entsprechend autonom rezipiert wer-
den kann. Kohäsive Geschlossenheit eines Knotens gewährleistet, dass von
anderen Knoten auf ihn referenziert werden kann, ohne dass das Verständnis
des Gesamt-Hypertextes darunter leidet (Kuhlen, 1991). Im Sinne der kohäsi-
ven Geschlossenheit erscheint es daher sinnvoll, bei der Erstellung eines Hy-
2. Das Medium Hypertext
76
pertextes keinen traditionellen (linearen) Text als Grundlage zu verwenden.
Die notwendige Entlinearisierung eines sequentiellen Basistextes führt häufig
dazu, dass die einzelnen Knoten nicht über ausreichende kohäsive Geschlos-
senheit verfügen. Aus diesem Grund wurde der in dieser Untersuchung ver-
wendete Hypertext als Hypertext geschrieben und nicht einfach durch Adaptie-
rung eines bereits vorhandenen Lineartextes erstellt.
Auf der Benutzeroberfläche erfolgt die Darstellung des Inhalts eines Knotens
in der Regel in einem Fenster auf dem Bildschirm. Da dieses Fenster maximal
so groß sein kann wie der Bildschirm, lässt sich ein umfangreicherer Text nicht
simultan anzeigen. Diesem „Problem“ kann grundsätzlich auf zwei Arten be-
gegnet werden. Die eine Möglichkeit ist es, den Text auf mehrere Knoten zu
verteilen, die linear miteinander verknüpft werden und auf die der User durch
bildschirmweises Blättern (= paging) zugreifen kann. Da bei dieser Methode
eine weitere Fragmentierung des Textes notwendig ist, kann das Verständnis
des Zusammenhangs darunter leiden. Eine zweite Möglichkeit ist es, den Text
in einen einzigen Knoten zu stellen. Der User muss nun scrollen (= zeilenwei-
ses Auf- und Abschieben des Textes mittels des Rollbalkens am Bildschirm-
rand), wodurch das Auffinden einer bestimmten Information im Text erschwert
sein kann. Manche Systeme (z. B. Intermedia) erlauben die simultane Anzeige
beliebig vieler Knoten in überlappenden Fenstern auf dem Bildschirm (Gerdes,
1999, S.198). Diese Möglichkeit erscheint jedoch bedenklich, weil sie zu be-
trächtlicher Verwirrung des Lesers führen kann.
2.5.3 Links
Links stellen vermutlich das wichtigste Element von Hypertext dar, denn „Ver-
knüpfungen erwecken Hypertext erst zum Leben“ (Kuhlen, 1991, S. 102). Sie
setzen die einzelnen Knoten zueinander in Beziehung und erlauben dem User
die Navigation durch das Informationsnetz.
Jeder Link verfügt über einen Ausgangspunkt, den Quellanker, der immer ge-
nau bestimmt ist, und einen Zielpunkt, den Zielanker, der entweder ein ande-
rer Knoten, eine bestimmte Stelle im selben Knoten oder ein Objekt außerhalb
des Hypertexts (z. B. eine Webseite im Internet) sein kann.
2. Das Medium Hypertext
77
In der Literatur gibt es eine Vielzahl von Taxonomien zur Typisierung von
Links, Triggs (1983) allein unterscheidet z. B. 75 verschiedene Arten (Schul-
meister, 1996, S. 234; dort auch eine Übersicht über andere Taxonomien).
Grundsätzlich gibt es nach Kuhlen (1991) zwei Möglichkeiten, Knoten zu ver-
binden: mit referentiellen Links, die auf assoziativen Beziehungen beruhen,
ohne dass diese Beziehung spezifiziert wird, und mit typisierten Links, die ex-
plizit semantische oder pragmatische Beziehungen zwischen den Knoten wie-
dergeben. Die meisten in Hypertext vorkommenden Links sind referentielle
Verknüpfungen, die die einzelnen Knoten miteinander verketten und damit
assoziatives Navigieren durch die Hypertext-Basis erlauben. Da ihre Bedeu-
tung durch den Hypertext-Autor nicht genau beschrieben wird, bezeichnet
man sie auch als „implizite Links“ (Blumstengel, 1998, S. 80).
Nach Platzierung und Darstellung können nach Kuhlen (1991), wie bereits an-
gedeutet, drei Arten der Verknüpfung unterschieden werden:
• Bei interhypertextuellen Verknüpfungen liegen Ausgangs- und Zielpunkt auf
verschiedenen Knoten.
• Intrahypertextuelle Links haben Quell- und Zielanker in ein- und demselben
Knoten. Diese Art der Verlinkung wird meistens dann gewählt, wenn der In-
halt eines Knotens größer ist als eine Bildschirmseite.
• Liegt der Ausgangpunkt des Links innerhalb der Hypertext-Basis, der Ziel-
punkt jedoch in einem externen Objekt, wie z. B. einer anderen Hypertext-
Basis, so spricht man von extrahypertextueller Verknüpfung.
Nach ihrer Gerichtetheit unterscheidet man zwischen unidirektionalen und bi-
direktionalen Verknüpfungen. Ein unidirektionaler Link kann nur in einer Rich-
tung, nämlich vom Quell- zum Zielanker, verfolgt werden, ein birektionaler Link
dagegen in beide Richtungen.
Gerdes (1997) unterscheidet Links außerdem hinsichtlich ihrer Globalität und
Lokalität. Bei globalen Ankern sind Ausgangs- und/oder Zielpunkt ein ganzer
Knoten, bei lokalen Ankern eine bestimmte Stelle innerhalb eines Knotens,
2. Das Medium Hypertext
78
meist ein speziell markiertes Wort. Daraus ergeben sich verschiedene Kombi-
nationsmöglichkeiten.
Bei Blumstengel (1998) findet sich darüber hinaus die Unterscheidung von
statischen und dynamischen Links. Statische Links werden vom Hypertext-
Autor vorgegeben, sind fest im System gespeichert und stellen derzeit die ty-
pische Linkform in Hypertext dar. Neuere Systeme können z. B. aufgrund von
bestimmten Benutzeraktivitäten zur Laufzeit Links generieren. Solche dynami-
schen Links entstehen, indem das System Informationen über Knoten, die be-
reits aufgerufen worden sind, verarbeitet und auswertet und dem Benutzer
Vorschläge unterbreitet, welche Knoten für ihn noch relevant sein könnten.
Wegen des erhöhten Rechenaufwands, der (noch) aufwändigen Implementie-
rung und des fehlenden semantischen Verständnisses des Systems finden
dynamische Links, wenn überhaupt dann meist nur als Ergänzung zu stati-
schen Links Verwendung.
Die Anzeige von Links auf der Benutzeroberfläche kann entweder in Form von
speziell gekennzeichneten Wörtern im Text selbst erfolgen (= embedded links)
oder in Form von ikonischen Schaltflächen (= Buttons oder Knöpfen) vom Text
getrennt. Eingebettete Links heben sich in der Regel durch Farbe und/oder
Unterstreichung vom Text ab bzw. lenken die Aufmerksamkeit des Users auf
sich, indem sie beim Überfahren mit der Maus ihre Farbe verändern (= Hover-
Effekt). Meist ändert auch ein einmal angeklickter Link seine Farbe, um dem
User bei einem neuerlichen Aufruf des betreffenden Knotens zu signalisieren,
dass er die entsprechende Seite schon betrachtet hat. Dadurch soll einer
möglichen Desorientierung des Users vorgebeugt werden. In manchen Hy-
pertext-Systemen gibt es „unsichtbare“ Linkanzeigen. d. h. das sogenannte
„hotword“ zeigt dem User erst beim Überfahren mit der Maus durch Verände-
rung des Cursors den Link an. Irler und Barbieri beschreiben diese Art der
Linkdarstellung als vorteilhaft, weil dabei der Lesefluss nicht durch Hervorhe-
bungen unnötig beeinflusst werde (Irler & Barbieri, 1990, zitiiert nach Gerdes,
1999, S. 202). Dem muss man jedoch entgegenhalten, dass eine derartige
Linkanzeige zu einem Übersehen von möglicherweise relevanten Informatio-
nen führen kann. Die Darstellung von Links in Form von Buttons, z. B. in einer
2. Das Medium Hypertext
79
Leiste am unteren Bildschirmrand, oder in einem eigenen Menu hat den Vor-
teil, dass dadurch unkontrolliertes, chaotisches Navigieren vermieden werden
kann, andererseits aber auch den Nachteil, dass dadurch die Bereitschaft des
Users, Links im Text selber zu folgen, reduziert werden könnte (Gerdes,
1999).
2.5.4 Hypertext – Strukturen
Die Struktur eines Hypertextes wird bestimmt durch die zwischen den Knoten
bestehenden Verknüpfungen. Welche Knoten dabei über welche Links nach
welchen Mustern miteinander verbunden werden, hängt von verschiedenen
Faktoren ab, wie z. B. dem darzustellenden Sachverhalt, der angestrebten
Komplexität des Hypertextes, der Form der Nutzung, der Zielgruppe und ihren
Bedürfnissen (Gerdes, 1999). Je nach Wahl der Struktur wird dem User mehr
oder weniger Kontrolle über die Auswahl seines Weges durch den Hypertext-
korpus gewährt.
In Abhängigkeit davon, ob die Verbindungen zwischen den Knoten nach
einem bestimmten Schema angeordnet sind oder nicht, unterscheidet man
strukturierte und unstrukturierte Hypertexte. Letztere basieren ausschließlich
auf referentiellen Verknüpfungen und stellen somit eine lose Sammlung von
Einzeltexten dar, die durch Querverweise miteinander verbunden sind (Gloor,
1990). Strukturierte Hypertexte hingegen gründen auf semantischen oder
pragmatischen Organisationsprinzipien.
Gerdes (1997) nimmt drei strukturelle Grundmuster an und unterscheidet da-
nach zwischen linearen, hierarchischen und vernetzten Hypertexten.
2. Das Medium Hypertext
80
• Linear strukturierte Hypertexte sind herkömmlichen Papiertexten am ähn-
lichsten, weil sich der Leser in ihnen wie in einem Buch von einer Seite zur
nächsten bewegt, wozu er Vorwärts- bzw. Rückwärts-Buttons benutzt. In
dieser einfachsten aller Hypertext-Topologien hat jeder Knoten genau einen
„Eltern-Knoten“ (= „parent“) und einen „Kind-Knoten“ (= „child“) (Parunak,
1989, S. 45). Ein linear aufgebauter Hypertext gestattet dem User nur we-
nig Freiheit: Die einzige Wahlmöglichkeit, die er hat, ist es, entweder auf die
nächste Seite weiter- oder auf die vorherige Seite zurück zu navigieren. Li-
neare Strukturen sind jedoch geeignet, wenn es darum geht, im Sinne einer
sogenannten geführten Unterweisung (= Guided Tour) in neue Sachver-
halte einzuführen oder vorstrukturierte Informationen zu vermitteln (Tergan,
2002).
• In hierarchisch strukturiertem Hypertext sind die Knoten in Form eines
Baums angeordnet. Am Startknoten, auch „Wurzelknoten“ (= „root“) oder
„Waise“ (= „orphan“) (Parunak, 1989, S. 46), dem einzigen Knoten im ge-
samten Hypertext, der keinem „Eltern-Knoten“ zugeordnet ist, steigt der
User in den Text ein. Eine hierarchische Struktur überlässt dem User mehr
Kontrolle: An diversen Entscheidungspunkten kann er durch entsprechende
Linkauswahl seine Lesereihenfolge selbst bestimmten. Da es in einem
streng hierarchisch aufgebauten Hypertext jedoch keine Querverbindungen
zwischen den Knoten auf einer Ebene gibt, wird die Freiheit in der Auswahl
der interessierenden Knoten wiederum beschränkt. In der Praxis wird der
streng hierarchische Aufbau eines Hypertexts dieses Typs jedoch oft da-
durch aufgelockert, dass gelegentlich an geeigneten Textstellen Querver-
bindungen zwischen zwei Knoten auf einer Ebene gesetzt werden. Mehr
Navigationsfreiheit bedeutet in einer hierarchischen Struktur auch die Ver-
wendung von „repeated nodes“ (Panero, 1995, zitiert nach Sturm, 2002, S.
30): Hierbei kann von mehreren übergeordneten Knoten auf einen be-
stimmten Knoten in einer tieferen Ebene direkt zugegriffen werden.
2. Das Medium Hypertext
81
• In einer vernetzten Hypertext-Struktur können von jedem Knoten aus Quer-
verweise auf beliebig viele andere Knoten gegeben werden. Damit über-
lässt diese Strukturform dem User ein hohes Maß an Kontrolle und das
höchste Ausmaß an Entscheidungsfreiheit bei der Knotenauswahl. Daraus
können aber auch zum Teil beträchtliche Orientierungsprobleme entstehen
(Gloor, 1990). Das kann vor allem dann passieren, wenn dem User nicht
ausreichend hypertextspezifische Navigationsmittel, wie z. B. grafische
Übersichten, zur Verfügung stehen. Netz-Strukturen sind geeignet, vielfäl-
tige semantischer Beziehungen zwischen Knoteninhalten zu präsentieren
(Tergan, 2002).
Eine weitere in der Literatur erwähnte Hypertext-Struktur stellt das sogenannte
Grid (= Gitter) dar, das auch als Matrixstruktur bezeichnet wird. Diese Struk-
turform bietet mindestens zwei orthogonale Sichtweisen an (Blumstengel,
1998, S. 78). Grids sind prinzipiell linear strukturiert, bestehen jedoch aus
mehreren Ebenen und erlauben somit eine Vorwärts- und Rückwärtsbewe-
gung durch den Text, zusätzlich aber auch den Zugriff auf unmittelbar darüber
oder darunter liegende Ebenen. Matrixstrukturen eignen sich für Bereiche, in
denen bestimmte Aspekte in verschiedenen Dimensionen verglichen werden
sollen (Parunak, 1989).
Als Spezialform der hierarchischen Struktur kann die sternförmige Hypertext-
Struktur bezeichnet werden. Hier wird ein zentraler Knoten, der das zentrale
Konzept des Hypertexts enthält, mit untergeordneten Knoten, die dieses Kon-
zept näher definieren oder erklären, verbunden (Jonassen, 1986; zitiert nach
Gall & Hannafin, 1994, S. 218). Kiosk-Systeme, die z. B.
Produktbeschreibungen enthalten, verwenden diese Struktur häufig
(Schulmeister, 1996).
Die ringförmige Struktur stellt eine Spezialform der linearen Hypertext-Struktur
dar. Ähnlich wie bei der linearen Struktur kann man auch hier nur von einem
Knoten zum nächsten weitergehen, jedoch ist dabei häufig keine Richtung
vorgegeben, wodurch ein Einstieg in den Hypertext an verschiedenen Stellen
möglich ist. Start- und Endknoten sind identisch (Parunak, 1989).
2. Das Medium Hypertext
82
In „reiner“ Form kommen die beschriebenen Strukturen in der Praxis eher
selten vor, die meisten Hypertexte, vor allem solche mit größerem Umfang,
kombinieren unterschiedliche Strukturformen miteinander, sodass z. B. ein
überwiegend netzartig gestalteter Hypertext auch hierarchische und lineare
Bestandteile aufweist. Solche Mischformen werden als „gemischt-strukturierte
Hypertexte“ (McDonald und Stevenson, 1995, zitiert nach Sturm, 2002, S 50)
bezeichnet. Es wird vermutet, dass diese Strukturform möglicherweise einen
optimalen Mix aus Direktion und Freiheit für den User darstellt. Abbildung 5
zeigt das Schema eines solchen Hypertextes „mit hybrider Organisationsform“
(Tergan, 2002, S. 103), in dem eine Netz-Struktur (1) mit einer Matrixstruktur
(2) und einer hierarchischen Struktur (3) verknüpft wurde.
Abbildung 5. Hypertextbasis mit hybrider Organisationsstruktur (nach Tergan, 2002, S. 103)
2. Das Medium Hypertext
83
2.6 Navigation in Hypertext
Wie auf die einzelnen Informationen in einem Hypertext zugegriffen wird,
hängt unter anderem ab von der Struktur des Hypertexts und den zur Verfü-
gung stehenden Navigations- und Orientierungshilfen, wie z. B. grafischen
Übersichten, Fisheye-Views (= spezielle Inhaltsverzeichnisse, in denen die
zum aktuellen Betrachtungspunkt nahe Umgebung detailliert, weiter entfernt
liegende Objekte dagegen überblicksmäßiger dargestellt werden), Backtra-
cking (= spezielle Funktion, die den User zum zuletzt besuchten Knoten zu-
rückführt), Breadcrumbs (= Markierung bereits aufgesuchter Knoten), Lesezei-
chenfunktionen, usw. (vgl. Kuhlen, 1991; Gerdes, 1999), von der Art der Auf-
gabenstellung (vgl. Marchionini & Shneiderman, 1988; Marchionini, 1995) und
den Intentionen, die der User verfolgt. Der Informationszugriff kann gezielt,
ungezielt oder zufällig erfolgen (Unz, 2000).
Tergan (2002) unterscheidet dabei drei grundlegende Formen:
• gezielte Suche mittels Schlüsselbegriffen und Suchalgorithmen: Dabei kön-
nen ähnlich, wie in einer traditionellen Datenbank, bestimmte Begriffe in
eine Suchmaschine eingegeben und mit Hilfe von Booleschen Operatoren
miteinander verknüpft oder von einem Index aus abgerufen werden. Vor-
aussetzung für diese Form des Informationszugriffs ist natürlich, dass der
entsprechende Hypertext auch die dafür notwendigen Tools bereitstellt bzw.
dass der User auch weiß, wonach er suchen soll und/oder kann.
• Verfolgen von Pfaden: Hierbei folgt der User einem vorab definierten Pfad,
den der Autor des Hypertextes durch sequentielle Verknüpfung bestimmter
Knoten festgelegt hat. Diese Form des Informationszugriffs eignet sich be-
sonders für User mit geringem Vorwissen zu einem bestimmten Thema und
wird daher besonders gern in Lernprogrammen in Form von Guided Tours
(= geführte Unterweisung) eingesetzt (Gerdes, 1999).
2. Das Medium Hypertext
84
• Browsing: Diese für Hypertext typischste Form des Informationszugriffs ist
dadurch gekennzeichnet, dass sich der User durch Verfolgen der Links von
Knoten zu Knoten bewegt. Im Unterschied zu den beiden anderen Formen
des Informationszugriffs wird dem User ein hohes Maß an eigener Kontrolle
zugestanden.
Da Browsing vom User ständig Entscheidungen darüber verlangt, welcher
Knoten als nächster aufgerufen werden soll, kommen hier vermutlich be-
stimmte Personenmerkmale wie z. B. Kontrollüberzeugungen und Kompe-
tenzerwartungen besonders zum Tragen.
Für die Beschreibung des Navigationsverhaltens können das „Ausmaß an
unternommener Exploration“ und das „Ausmaß an Redundanz“ als Kennwerte
der Besuchshäufigkeit von Knoten herangezogen werden. Diese beiden Indi-
zes wurden von Canter, Rivers und Storrs zwar bereits 1985 entwickelt, er-
weisen sich aber auch heute noch als hilfreich zur Untersuchung des Wahl-
verhaltens in Informationsnetzen (Astleitner, 1997, S. 70).
• Das „Ausmaß an unternommener Exploration“ (NV : NT = „nodes visited“ :
„nodes total“, Canter et al., 1985, S. 95) bezieht die Anzahl der aufgerufe-
nen Knoten auf die Gesamtzahl der verhandenen Knoten. Ein Wert nahe 1
zeigt eine umfassende Exploration des Hypertextes an. Da in die Berech-
nung dieser Kennzahl die Bearbeitungszeit nicht einfließt, sind keinerlei
Rückschlüsse darauf möglich, ob der Inhalt des Hypertextes auch tatsäch-
lich gelesen und nicht bloß durchgeklickt wurde.
• Das „Ausmaß an Redundanz“ (NV : NS = „nodes visited“ : „total number of
visits to nodes“, Canter et al., 1985, S. 96) setzt die Anzahl der besuchten
Knoten zur Gesamtzahl der Knotenaufrufe in Beziehung. Je höher dieser
Quotient, der ebenfalls nur Werte zwischen 0 und 1 annehmen kann, desto
weniger häufig wurden ein- und dieselben Knoten mehrmals aufgerufen.
2. Das Medium Hypertext
85
2.6.1 Browsing als hypertexttypisches Navigationsverhalten
Der Begriff Browsing leitet sich ab vom Englischen „to browse“ mit der Grund-
bedeutung „äsen, weiden“ und der übertragenen Bedeutung bzw. in Verbin-
dung mit den Präpositionen „in“ oder „through“ „durchblättern“ (vgl. Cassells
Wörterbuch). Im Sinne von „sich informieren“ und „schmökern“ (Kuhlen, 1991,
S. 126) hat sich „Browsing“ oder eingedeutschtes „Browsen“ als Fachbegriff
im deutschsprachigen Raum durchgesetzt und wird meist synonym zu Navi-
gieren verwendet (Gerdes, 1997). Gelegentlich findet man Browsen als Ober-
begriff von Navigieren (z. B. bei Marchionini, 1995) oder Navigation als Ober-
begriff, je nach dem Hilfsmittel, mit dem auf die Information zugegriffen wird
(z. B. bei Kuhlen, 1991)
Nach Marchionini (1988) ist Browsen etwas sehr Aktives und wird vor allem
dann eingesetzt, wenn ein Informationssystem wie z. B. ein Hypertext durch
seine Links dazu ermuntert. Marchionini und Shneiderman (1988) definieren
Browsing als eine explorative Informationssuchstrategie, die auf zufälligem
Entdecken (= „serendipity“887) beruht und besonders geeignet ist zur Erfor-
schung neuer Bereiche bzw. für nicht genau definierte Problemstellungen.
Carmel, Crawford & Chen (1992) beschreiben Browsing als „the art of not
knowing what one wants until one finds it“ (S. 866), d. h. die Person hat kein
bestimmtes Suchziel definiert, sondern geht mit eher vagen Vorstellungen an
den Hypertext heran, wodurch ihr Wissenserwerbsprozess den Charakter
eines Herauspickens (= „cherrypicking“) und Auswählens von als nützlich er-
achteten Informationen erhält.
8 „Serendipity“ stellt ein Kompositum aus dem englischen „serene“ (= heiter) und „pity“ (= ein
Grund zum Bedauern) dar und bezeichnet die zufällige Beobachtung von etwas, das
ursprünglich nicht Ziel der Exploration war, das sich aber bei genauerer Analyse als neue
und überraschende Entdeckung erweist.
2. Das Medium Hypertext
86
Demgegenüber unterscheidet Kuhlen (1991, S. 129ff.) zwischen gerichtetem
Browsen, dem sehr wohl ein bestimmtes Ziel zugrunde liegt, und ungerichte-
tem Browsen, vier Arten von Browsing:
• gerichtetes Browsing mit Mitnahmeeffekt: Der User verfolgt beim Durchblät-
tern eines Hypertextes, als „vorselektierter Menge“ an Informationen zu
einem bestimmten Bereich, ein vorher definiertes Ziel und nimmt dabei zu-
sätzliche, thematisch verwandte Informationen auf.
• gerichtetes Browsing mit Serendipity-Effekt: Auch hierbei verfolgt der User
bei seiner Durchsicht des Hypertextes ein bestimmtes Ziel, wird von diesem
aber durch verschiedene interessante Informationen abgelenkt, sodass er
darüber sein ursprüngliches Ziel aus den Augen verliert. Diese Art des
Browsens ist am Anfang gerichtet, wird aber in der Folge eher frei assoziie-
rend.
• ungerichtetes Browsing: Hierbei verfolgt der User kein bestimmtes Ziel. Er
ist sich zwar bewusst, dass er Informationen benötigt, weiß aber nicht ge-
nau, welche.
• assoziatives Browsing: Auch hier verfolgt der User kein bestimmtes Ziel,
sondern lässt sich vom Informationsangebot treiben und baut so lange As-
soziationsketten auf, bis kein weiterer Anreiz mehr zur Verfolgung angebo-
tener Links besteht. Da beim assoziativen Browsen häufig nicht mehr an
den Ausgangspunkt einer Assoziationskette zurückgefunden wird, kann es
in einen Zustand der Desorientierung münden.
Eine ähnliche Unterscheidung treffen Cove und Walsh (1988) in ihrem dreistu-
figen Browsing - Modell. Sie differenzieren zwischen suchendem Browsen
(= „search browsing“), einem gerichteten Browsen mit bekanntem Ziel,
allgemeinem Browsen (= „general purpose browsing“), bei dem ein
Informationsraum erforscht wird, der mit angenommener hoher
Wahrscheinlichkeit interessierende Aspekte enthält, und zufälligem Browsen
(= „serendipity browsing“), als ungerichteter Form, bei dem die Auffindung
allfälliger nützlicher Informationen einem glücklichen Zufall überlassen ist
(Cove & Walsh, 1988, zitiert nach Unz, 2000, S. 35).
2. Das Medium Hypertext
87
Carmel et al. (1992) sehen den Unterschied zwischen Browsing- und
Suchstrategien darin, dass Erstere jederzeit unterbrochen oder abgebrochen
werden können, Letztere im Idealfall erst mit der Auffindung des Suchziels
beendet sind. Als weitere Formen des Browsens konnten sie in einer
Untersuchung mit einem Hypertext über den Vietnamkrieg review-browse
(Überprüfen, Wiederaufsuchen von Informationen) identifizieren, das dadurch
gekennzeichnet ist, dass eine Integration der gefundenen Informationen ins
mentale Modell des Users angestrebt wird. Zu diesem Zweck werden bereits
besuchte Seiten zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgerufen, um die
betreffenden Informationen nochmals zu lesen. Scan-browse (Abtasten des
Informationsraums) kommt einem Abklopfen der einzelnen Hypertext-Knoten
nach interessanten Inhalten gleich. Die dabei angesteuerten bzw. gelesenen
Informationen werden jedoch einer Integration ins mentale Modell für nicht
wert befunden und daher auch nicht wieder aufgerufen, sondern es wird weiter
gebrowst, um andere interessante Inhalte zu finden (Carmel et al., 1994, S.
876f.).
Welche Browsing-Strategie eingesetzt wird, hängt nach Marchionini (1989,
1995) stark von der Art der Aufgabenstellung ab: Für geschlossene Aufgaben
mit einem spezifischen Ziel, z. B. einer Frage, auf die eine konkrete Antwort
gesucht und gefunden werden kann, eignet sich suchendes oder zielgerichte-
tes Browsen, für offene Aufgabenstellungen mit eher allgemeinen Zielen, wie
z. B. dem Sammeln von Informationen zu einem bestimmten Thema, dagegen
erweisen sich zielgerichtetes und zufälliges Browsing als effektiver (Unz,
2000, S. 36).
Die beim Browsen erfolgende Bewegung von Knoten zu Knoten kann in zwei-
erlei Hinsicht beschrieben werden:
• hinsichtlich ihrer Richtung als Vorwärtsbewegung beim Suchen nach neuen
Informationen bzw. beim Öffnen von noch nicht besuchten Knoten oder als
Rückwärtsbewegung zum Wiederfinden von bereits bekannten Informatio-
nen in bereits besuchten Knoten und
2. Das Medium Hypertext
88
• hinsichtlich ihrer Distanz als Bewegung in Schritten von einem Knoten auf
einen direkt mit diesem verbundenen oder als Bewegung in Sprüngen von
einem Knoten zu einem nicht direkt mit diesem verbundenen (Thüring,
Hannemann & Haake, 1995).
Die Strategie, von einem Knoten auf den nächstgelegenen zu springen, ver-
gleichen Gall und Hannafin (1994) mit einem Spaziergang. Diese Vorgangs-
weise erscheint insofern als vorteilhaft, als hierbei auf jede mit einem be-
stimmten Knoteninhalt assoziierte Information zugegriffen wird. Sie kann sich
jedoch auch als mühsam und ineffizient erweisen kann und vor allem dann
mit großem Aufwand verbunden sein, wenn nach einer bestimmten Informa-
tion gesucht wird, die auf einem weiter entfernten Knoten liegt. Beim Sprung
über größere Distanzen, von Gall und Hannafin mit einer Bus- bzw. Taxifahrt
verglichen, sollte der User abschätzen können, ob so ein Sprung für ihn in ir-
gendeiner Weise zielführend ist, denn es kann dabei zur Desorientierung
kommen, wenn nicht mehr an den Ausgangspunkt zurückgefunden wird (Gall
& Hannafin, 1994, S. 213ff.).
Gerdes (1997) weist darauf hin, dass diverse Klassifikationsschemata für
Browsing nicht ganz problemlos auf Lernkontexte übertragbar sind, da es
beim Lernen weniger um die Auffindung bestimmter Informationen geht, son-
dern mehr um die Aneignung und das Verstehen der Gesamtheit der in einer
Hypertext-Basis enthaltenen Informationen. Außerdem merkt sie an, dass
Lernen bei vielen der beschriebenen Browsingformen nur in inzidentieller
Form, „sozusagen als Nebenprodukt der gezielten Informationssuche“ auftrete
(Gerdes, 1997, S. 31). Gall und Hannafin sind der Ansicht, Browsing ermögli-
che ein hohes Maß an selbstgesteuertem Lernen, weisen aber auch darauf
hin, dass gerade Browsing zum Übersehen bzw. zum Nichterkennen der Re-
levanz wichtiger Inhalte führen kann (Gall & Hannafin, 1994). Da beim Brow-
sen die Informationen eher oberflächlich aufgenommen werden, ist die Be-
haltensleistung oft relativ gering (Park & Hannafin, 1993, zitiert nach Gall &
Hannafin, 1994, S. 219). Das zeigte auch eine Untersuchung von Shute
(1993), in der Personen mit hoch explorativem Navigationsverhalten die
schlechtesten Lernergebnisse erzielten (Shute, 1993, zitiert nach Dillon &
2. Das Medium Hypertext
89
Gabbard, 1998, S 343). Zu einem ähnlichen Ergebnis kamen Jonassen &
Wang (1993): Reines Browsen durch einen Hypertext bewirkt keine Verarbei-
tung der Informationen, die tief genug wäre, um zu bedeutsamem Lernen zu
führen (S. 6).
2.6.2 Navigationsmuster
Eine sehr brauchbare Erfassungsmethode für die Navigationsentscheidungen,
die ein User während seiner Hypertext-Bearbeitung trifft, ist die Analyse der
Logfiles (= vom System erstellte Protokolle über Zeitpunkte und Art der vom
User geöffneten Hypertextknoten). Logfiles geben nicht nur Aufschluss dar-
über, welche Inhalte wann und wie lange bearbeitet wurden, sondern erlauben
auch die nachträgliche Rekonstruktion seines Weges durch den Hypertext und
eröffnen damit eine Möglichkeit, unterschiedliche Navigationsleistungen von
Usern zu erklären. Da Logfiles kontinuierlich und vom User unbemerkt mitge-
schrieben werden, bleibt im Unterschied zu anderen Methoden, wie z. B.
Lautem Denken oder Videoaufzeichnung, die Hypertextbearbeitung davon
unbeeinflusst, weil vom User keine Aufmerksamkeit gefordert wird (vgl. Barab,
Bowdish & Lawless, 1997). Eine weitere Methode zur Erfassung der Naviga-
tion stellt die nachträgliche Befragung des Users dar. Da es sich hierbei aber
um Erinnerungsdaten handelt und Personen vermutlich nicht über komplexe
oder automatisierte kognitive Aktivtäten berichten können, sollte diese Me-
thode eher vermieden werden (Unz, 2000, S. 84).
Canter et al. (1985) vergleichen die Navigation eines Users durch Hypertext
mit den verschiedenen Wegen, die eine Person im Laufe eines Tages
zurücklegt. Ausgangs- und Endpunkt dieses Weges ist das Zuhause, da-
zwischen werden verschiedene Orte (z. B. Büro, Gasthaus, Einkaufszentrum)
besucht, wobei sich der Weg oft auch überkreuzt oder wiederholt. Jeder Ort
auf diesem Weg ist einem Hypertextknoten vergleichbar, die Strecken dazwi-
schen den Links. In Anlehnung an diese Metapher unterscheiden die Autoren
nun vier verschiedene Wegformen:
• Ein Ring beginnt und endet auf ein- und demselben Knoten, kein anderer
Knoten wird zweimal besucht.
2. Das Medium Hypertext
90
• Eine Spezialform des Rings stellt ein Loop (= Überschlag, Schleife) dar, der
über nur wenige Knoten führt.
• Sind Anfang- und Endknoten nicht identisch und wird auch kein Knoten
zweimal besucht, so spricht man von einem Pfad.
• Als weitere Spezialform des Rings kann der sogenannte Spike (= Dorn, Sta-
chel) bezeichnet werden, bei dem jeder Knoten zweimal besucht wird: ein-
mal auf dem Hin- und einmal auf dem Rückweg. Diese Form ist vor allem in
hierarchisch strukturierten Hypertexten zu finden.
Welche dieser einzelnen Formen bei der Bearbeitung eines Hypertexts in wel-
cher Art kombiniert werden, hängt ab von der Struktur des Hypertexts bzw.
von der Navigationsstrategie des Users: Beim Browsen weist das Navigati-
onsmuster eher wenige große Ringe und viele Loops auf, beim Suchen dage-
gen eher lange Spikes mit wenigen Loops. Abbildung 6 zeigt Beispiele dieser
beiden Navigationsmuster mit Ring (1), Loop (2) und Spike (3), demonstriert
aber gleichzeitig auch ein Problem solcher Einteilungen: Die Kategorien sind
oft nicht eindeutig genug, es kann zu Überschneidungen kommen, manches
wird eher willkürlich zugeordnet und vieles kann sich als Artefakt erweisen,
das sich aus der Art des Hypertextes ergibt (Unz, 2000, S. 84f.)
Abbildung 6. Wegformen beim Browsing (links) und beim Suchen (rechts)
(nach Canter et al., 1985, S. 100)
Anderson-Inman, Horney, Chen und Lewin (1994) unterscheiden zwischen
Lesemustern und Lernmustern. Erstere treten eher zu Beginn der Hypertext-
bearbeitung auf, wenn der User versucht, sich einen Überblick über den Ge-
samttext zu verschaffen. Seine Interaktion mit dem Hypertext beschränkt sich
in dieser Phase eher auf Durchklicken der einzelnen Knoten. Lernmuster sind
2. Das Medium Hypertext
91
dadurch gekennzeichnet, dass ausgewählte Knoten ausreichend lang be-
trachtet werden, um den Inhalt lernen zu können, dass auf einzelne Knoten
wiederholt zugegriffen wird, um den Text nochmals zu studieren, und dass
diverse unterstützende Angebote, wie z. B. Worterklärungen, genutzt werden
(Anderson-Inman et al., 1994, S. 283). Dabei werden allerdings individuell
unterschiedliche Lerngeschwindigkeiten und/oder –strategien nicht berück-
sichtigt.
Nach Beishuizen, Stoutjesdijk und van Putten (1994) kennzeichnen kurze
Pfade eher oberflächlicheres, lange Pfade dagegen eher tieferes Verarbeiten
der Informationen (Beishuizen et al., 1994, S. 76). Hierzu muss angemerkt
werden, dass Pfadlängen natürlich auch stark von den strukturellen Gegeben-
heiten im betreffenden Hypertext beeinflusst werden.
Stanton und Baber (1992) teilen die Navigationsmuster nach hierarchischen
Kriterien ein in top-down (hierarchisch höhere Knoten werden zuerst besucht),
sequentiell (Aufruf der Knoten nach dem Layout auf dem Überblicksbild-
schirm) und elaborativ (Zick-Zack Bewegungen von höheren Knoten zu niedri-
geren und retour) (Stanton & Baber, 1992, S. 163). Auch diese Kategorisie-
rung erscheint nicht für alle Arten von Hypertext gleichermaßen geeignet.
Neuere Untersuchungen (vgl. z. B. Gerdes, 1997; Unz, 2000) verwenden zur
Erfassung von Pfadmustern graphentheoretische Maße, wodurch die Naviga-
tionsmuster in verschiedenen Hypertexten mit unterschiedlichen Aufgaben-
stellungen vergleichbar werden. Richtung und Distanz, die nach Thüring et al.
(1995) wesentlichen Aspekte der Navigation, können mit graphentheoreti-
schen Maßen wiedergegeben werden. Allerdings aggregieren solche Maße
Daten, wodurch der ursprüngliche Datenraum komprimiert wird. So sind keine
Aussagen über Phasen oder längere Sequenzen als Zweierschritte möglich
(Unz, 2000, S. 94).
2. Das Medium Hypertext
92
2.6.3 Navigationstypen
Neben der Beschreibung von Navigationsmustern finden sich in der Literatur
Versuche, mit Hilfe von bestimmten Variablen wie Anzahl besuchter Knoten,
Bearbeitungszeit, Bearbeitungstiefe (vgl. z. B. Lawless & Kulikowich, 1996;
Barab et al., 1997), Häufigkeit der Nutzung von Zusatzangeboten wie z. B.
Videos, Wortlisten, etc. (vgl. z. B. Anderson-Inman et al., 1996, Lawless &
Kulikowich, 1996, Barab et al., 1997, McGregor, 1999) Leser und/oder Lerner
eines Hypertextes mit möglichst ähnlichen Werten in den entsprechenden
Variablen Clustern zuzuordnen und damit Navigationstypen zu identifizieren.
Zur näheren Beschreibung der gefundenen Cluster können die Häufigkeiten
der ausgewählten Navigationsvariablen und Scores für die Lösung einer
Informationssuchaufgabe oder eines der Hypertextbearbeitung folgenden
Wissenstests mit verschiedenen externen Variablen, wie z. B. Vorwissen und
Interesse (Lawless & Kulikowich, 1996), Selbstwirksamkeit (Barab, et al.,
1997), Kontrollüberzeugungen (McGregor, 1999), in Beziehung gesetzt
werden, um so Aufschluss über den Zusammenhang zwischen Navigations-
leistung und unterschiedlichen Personen- und Aufgabenmerkmalen zu erhal-
ten.
Anderson-Inman, et al. (1996) untersuchten an einer Reihe von als Hypertext
aufbereiteten Kurzgeschichten mit Hilfe von Vokabel- und Verständnistests,
Nacherzählungen und eigenen Textproduktionen Lesestrategien und Textver-
ständnis von über 600 amerikanischen SchülerInnen der Schulstufen sechs
bis acht. Aus Zeit und Abfolge der durchgeführten Interaktionen mit dem Hy-
pertext wurden Leseprofile erstellt. Dabei ließen sich drei Typen von Hyper-
text-Lesern erkennen (S. 284):
2. Das Medium Hypertext
93
• „Book - lovers“ (= Bücherfreunde98) gaben an, Bücher Texten am Computer
vorzuziehen, und tendierten zu einer linearen Bearbeitung, bei der sie eher
an der Oberfläche des Hypertextes blieben. Unterstützende Zusatzange-
bote, wie z. B. Worterklärungen, wurden eher am Anfang der Bearbeitungs-
zeit aufgerufen, in späteren Phasen dagegen immer seltener. Schwierigere
Details der Kurzgeschichten, wie z. B. ein überraschendes Ende, wurden
nicht verstanden.
• „Studiers” (= Lerner) waren dem Lesen von Texten am PC gegenüber sehr
positiv eingestellt, nutzten verschiedene Arten von Zusatzangeboten und
beschäftigten sich ernsthaft mit dem Inhalt der Kurzgeschichten, den sie
sehr detailliert nacherzählen konnten, was auf eine tiefer gehende Bear-
beitung des Hypertextes schließen lässt.
• „Resource - junkies“ (= Hilfsmittel - Süchtige) standen dem Lesen von Tex-
ten am PC ebenfalls sehr positiv gegenüber, gaben als Begründung dafür
aber das Vorhandensein von diversen Hilfsmitteln an, nach denen sie ge-
zielt suchten, um sie in kurzen Intervallen wiederholt aufzurufen, ohne dabei
den Text auf dem entsprechenden Knoten zu lesen. Die im Unterschied zu
den anderen Gruppen niedrigsten Leistungsscores zeigten, dass sich diese
User nicht ernsthaft mit den Kurzgeschichten auseinandergesetzt hatten.
Lawless und Kulikowich (1996) gaben 42 Studenten einer Einführungsvorle-
sung zur Bildungspsychologie einen Hypertext über verschiedene Themen der
Allgemeinen Psychologie (z. B. Behaviorismus, Kognition, Wahrnehmung) vor
und erfassten neben verschiedenen Navigationsvariablen wie Gesamtbear-
beitungszeit, Anzahl der aufgerufenen Knoten und Aufruf von erklärenden Vi-
deosequenzen auch Vorwissen und Interesse ihrer ProbandInnen. Die
Clusteranalyse der Navigationsvariablen ergab drei verschiedene Profile (S.
394)
9 Diese und die folgenden deutschen Bezeichnungen für verschiedene Navigationstypen sind
Übersetzungen der Verfasserin. Selbst erklärende englische Termini bleiben unübersetzt.
2. Das Medium Hypertext
94
• „Knowledge - seekers“ (= Wissen-Suchende) hielten sich vor allem auf
Knoten mit wichtigen Basisinformationen auf, nutzten Querverbindungen
zwischen den verschiedenen im Hypertext dargestellten Konzepten und do-
kumentierten durch das beste Wissenstestergebnis der drei Gruppen eine
optimale Hypertextbearbeitung. Das gute Abschneiden im Behaltenstest
könnte allerdings mit einem entsprechenden Vorwissen zusammenhängen,
denn diese Personen hatten auch die besten Ergebnisse im Pre-Test
(Lawless & Kulikowich, 1996, Tabelle 4, S. 396).
• „Feature - explorers“ (= System-Erforscher) verbrachten die meiste Zeit da-
mit, unterschiedliche Navigationstools auszuprobieren. Am Inhalt der Texte
erschienen sie dagegen weniger interessiert, worauf ihre schlechten Ergeb-
nisse im Behaltenstest schließen lassen.
• „Apathetic hypertext - users“ (= apathische Hypertext-User) verbrachten die
kürzeste Zeit im Hypertext, betrachteten nur wenige Knoten und nutzen nur
wenige Hilfsmittel bzw. Zusatzangebote. Sie schienen weder am Inhalt der
Knoten noch am Hypertext selbst interessiert und erzielten die schlechtes-
ten Wissenstestscores.
Barab et al. (1997) verwendeten in ihrer Untersuchung an 66 angehenden
Studenten ein Hypertext-System, das auf bis zu sieben Ebenen Informationen
in Form von Texten, Tonsequenzen, Grafiken und Videos über die vielfältigen
Serviceleistungen einer Universität im Nordosten der USA enthielt und eine
Netzstruktur aufwies. Die ProbandInnen mussten darin nach Antworten auf
Fragen des studentischen Alltags (z. B. Procedere der Prüfungsanmeldung)
suchen. Es wurden vier unterschiedliche Navigationstypen identifiziert (S.
33ff.):
• „Model - users“ entsprachen mit den wenigsten Seitenaufrufen und kürzes-
ten Bearbeitungszeiten am besten dem von den Autoren erstellten Modell
für eine effiziente Bewältigung der gestellten Aufgaben. Sie arbeiteten ziel-
gerichtet, d. h. sie waren bemüht, die Aufgaben zu erledigen, ohne sich da-
bei von den verschiedenen Angeboten des Systems und seinem Inhalt
ablenken zu lassen.
2. Das Medium Hypertext
95
• „Disenchanted volunteers“ (= enttäuschte Freiwillige) scheinen nicht nach
aufgabenbezogenen Inhalten gesucht zu haben. Die geringe Zahl besuch-
ter Seiten, die sehr kurze Gesamtbearbeitungszeit und das sehr schlechte
Informationssuchergebnis deuten an, dass weder Hypertextinhalt noch Auf-
gabenstellung das Interesse dieser Personen geweckt haben.
• „Feature - explorers“ öffneten die meisten Knoten, riefen im Unterschied zu
allen anderen Typen sämtliche Hilfsbildschirme auf, betrachteten die meis-
ten Filme, hatten aber ebenfalls sehr schlechte Ergebnisse. Damit bearbei-
teten diese Personen den Hypertext offensichtlich nicht im Sinne der Auf-
gabenstellung, sondern mit dem Ziel, möglichst viele „Sensationen“ in ihm
zu finden.
• „Cyber - cartographers“ drangen von allen vier Typen am tiefsten in das
System vor, d. h. sie wählten einen Themenbereich aus und erforschten
diesen bis in die untersten Ebenen. Sie betrachteten dabei zwar nur wenige
Seiten, nahmen sich für deren Bearbeitung jedoch viel Zeit. Ihre im Ver-
gleich zu den Modell-Usern schlechten Informationssuchergebnisse erklä-
ren die Autoren damit, dass diese Personen vermutlich nicht in erster Linie
nach der Lösung der Aufgabe suchten, sondern einen bestimmten Hyper-
textbereich ganz genau erforschen wollten.
Ein Vergleich der vier Cluster mit den individuellen Ausprägungen der hyper-
textspezifischen Selbstwirksamkeit, die mit vier von Barab et al. (1997) entwi-
ckelten, fünf - kategoriellen Items (Cronbach - Alpha = .84) (S. 28) erhoben
worden war, ergab signifikante Unterschiede zwischen den Personengruppen
hinsichtlich der Selbstwirksamkeit (Kruskal - Wallis Test: χ2 = 9.23, df = 3,
p < ,05), wobei Feature-Explorer (n = 7) die niedrigsten (M = 3.43) und Cyber-
Kartographen (n = 22) die höchsten (M = 4.15) mittleren Selbstwirksam-
keitswerte aufwiesen (S. 37).
Ähnliche Navigationstypen wie in den bereits beschriebenen Studien identifi-
zierte auch McGregor (1999) in einer Untersuchung an SchülerInnen der sie-
benten und elften Schulstufe, in der die Navigation durch Videoaufzeichnung
des Klickverhaltens der Personen erfasst wurde. Die ProbandInnen mussten
2. Das Medium Hypertext
96
in einem Hypertext über Biotope Informationen sammeln, ihr Vorgehen laut
kommentieren und im Anschluss an die Hypertext-Bearbeitung eine Concept
Map (= nachträglich von der Person gezeichnete Darstellung der Hypertext-
Struktur) erstellen, um ihr Verständnis der über- und untergeordneten Struktu-
ren des Systems unter Beweis zu stellen. Aus den Video- und Tonbandproto-
kollen wurden als Navigationsvariablen Gesamtbearbeitungszeit, Anzahl und
durchschnittliche Betrachtungszeit der aufgerufenen Knoten erschlossen. Mit
Hilfe einer Clusteranalyse identifizierte McGregor folgende Navigationstypen
(S. 196ff.):
• „Sequential studiers“ (= sequentiell Lernende) bewegten sich langsam und
auf sequentielle Art durch das System und klickten dabei auf den einzelnen
Knoten alle verfügbaren Links entweder von oben nach unten oder von
links nach rechts an. Ihre Aufmerksamkeit verteilten sie in etwa gleichmäßig
auf alle besuchten Knoten. Sie lasen alle Texte und verfolgten damit offen-
sichtlich das Ziel, die angebotenen Materialien möglichst vollständig zu be-
arbeiten. In ihren Concept Maps konnten diese Personen zwar die hierar-
chische Struktur des Hypertexts wiedergeben, ihre Zeichnungen zeigten je-
doch nur wenige Querverbindungen zwischen den Inhalten an.
• „Video viewers“ (= Video-Betrachter) waren dagegen vornehmlich an jenen
Knoten interessiert, die Bewegungs- oder Tonsequenzen enthielten und
verbrachten ca. 83 % der Gesamtbearbeitungszeit auf ihnen. Alle anderen
dargebotenen Informationen klickten sie nur kurz an, Texte lasen sie dabei
eher nicht. Dass diese Personen die Verbindungen zwischen den Inhalten
nicht erfasst hatten, zeigten ihre sehr einfach gestalteten Concept Maps,
die auf eine sehr oberflächliche Informationsverarbeitung schließen ließen.
• „Concept connecters“ (= Hersteller von konzeptuellen Verbindungen) wähl-
ten selektiv und gezielt einzelne Knoten aus und folgten von diesen aus
Querverbindungen zu konzeptuell verwandten Knoten. Die Kommentare der
Personen ließen darauf schließen, dass sie versuchten, Verbindungen zu
bereits Bekanntem herzustellen, und um eine Integration der neuen Infor-
mationen in ihr Vorwissen bemüht waren. Die Concept Maps dieser Gruppe
spiegelten ein Vordringen in die tiefsten Schichten des Hypertextes.
2. Das Medium Hypertext
97
Die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Navigationstyp und
Kontrollüberzeugungen der ProbandInnen, die mit der LOC-Skala von Nowicki
und Strickland (1973) erhoben worden waren, ergab, dass sich in der Gruppe
der „concept connecters“ (n = 3) nur Personen mit internaler Kontrollüberzeu-
gung, in der Gruppe der „sequentiell studiers“ (n = 3) dagegen nur Personen
mit externaler Kontrollüberzeugung befanden (McGregor, 1999, S. 201). Die
Ergebnisse dieser Studie erscheinen jedoch aufgrund des sehr kleinen Stich-
probenumfangs von nur zehn Personen und der angewandten Methode der
nachträglichen Transkription der Videoaufzeichnungen in Logfiles in eher
fragwürdigem Licht.
Aufgrund unterschiedlicher Hypertext-Strukturen, Aufgabenstellungen und er-
hobener Navigationsvariablen sind die Ergebnisse der referierten Studien
vermutlich nur eingeschränkt vergleichbar. Dennoch fallen gewisse Gemein-
samkeiten im Navigationsverhalten auf: In jeder der besprochenen Untersu-
chungen wurde z. B. eine Personengruppe identifiziert, die in erster Linie an
den diversen Features und weniger am Inhalt des Hypertextes interessiert er-
schien und deren Hypertextbearbeitung durch Suche und Nutzung der ent-
sprechenden Angebote charakterisiert ist. Auf dieses Phänomen weisen auch
Barab et al. (1997) hin, die in diesem Zusammenhang eine nähere Erfor-
schung von möglicherweise dafür verantwortlichen Personenvariablen wie
Motivation und Interesse empfehlen (S. 38).
2. Das Medium Hypertext
98
2.7 Hypertext als Lernmedium
Allgemeine Erwartungen in die Wirksamkeit von Hypertext als Lernmedium
gründen sich vor allem auf die Möglichkeit einer vernetzten Repräsentation
multicodaler und multimodaler Informationen und des flexiblen, lernerorien-
tierten Zugriffs darauf (Tergan, 2002, S. 105). Hypertext erleichtert zwei
Teilprozesse des Lernens, nämlich Selektion und Organisation von Informati-
onen. Er präsentiert sich dem Lerner aufgrund seiner Beschaffenheit als fle-
xible Informationsquelle, die er seinem aktuellen Informationsbedürfnis bzw.
der jeweiligen Aufgabenstellung entsprechend auf unterschiedliche Arten und
seinem individuellen Arbeitstempo gemäß nutzen kann (Unz, 2000). Als die
wesentlichsten Probleme, die beim Lernen mit Hypertext auftreten können,
werden in der Literatur immer wieder Desorientierung und kognitive Überlas-
tung genannt (vgl. z. B. Conklin, 1987; Kuhlen, 1991; Unz, 2000; Tergan,
2002; Blömeke, 2003).
2.7.1 Argumente für Hypertext
2.7.1.1 Kognitive Plausibilität
Ein informationsvermittelndes System gilt dann als „kognitiv plausibel“, wenn
von der Repräsentation des Wissens in ihm zur Repräsentation des Wissens
im Rezipienten möglichst wenige Umformungsprozesse notwendig sind
(Freisler, 1994, S. 43).
Die netzwerkartige Informationsrepräsentation in Hypertext würde der An-
nahme von der kognitiven Plausibilität zufolge den Wissenserwerb erleichtern,
weil sie den assoziativen und schemabasierten Strukturen des menschlichen
Gedächtnisses vergleichbar sei und somit vom Lerner, ohne Umweg über die
bei papierbasierten Lineartexten notwendige Delinearisierung, mehr oder we-
niger einfach und direkt in seine eigenen kognitiven Strukturen integriert wer-
den könne (Jonassen, 1986, 1988; Marchionini, 1988; Kuhlen, 1991; Ford &
Chen, 2000).
2. Das Medium Hypertext
99
Empirische Befunde haben dies jedoch bislang nicht unterstützen können
(Dillon & Gabbard, 1998; Tergan 2002), denn es muss angenommen werden,
dass die Art der mentalen Repräsentationen der Knoten in semantischen
Netzwerken wesentlich komplizierter ist als bei Hypertext (Rouet, Levonen,
Dillon & Spiro, 1996; Blumstengel, 1998). Natürliche Netze sind im Unter-
schied zu Hypertext-Netzen mehrdimensionaler, da die Verknüpfungen in ih-
nen auf und zwischen allen Ebenen existieren, und dynamischer, d. h. sie ver-
ändern sich mit der Zeit bzw. verfügen über die Eigenschaften des Metawis-
sens und des Vergessens (Freisler, 1994). Eine Gleichsetzung der Hypertext-
struktur mit den komplexen Strukturen im menschlichen Gedächtnis erscheint
somit als unzulässig. Das Argument der kognitiven Plausibilität von Hypertext
sollte daher besonders kritisch hinterfragt (siehe Gerdes, 1997, S. 56ff.) und
eher den „pädagogischen Mythen“ über Hypertext zugerechnet werden
(Schulmeister, 1996, S. 245).
2.7.1.2 Multimedialität
In Hypertext können Texte, Bilder, Tonsequenzen, etc. miteinander in einem
Knoten kombiniert werden. Diese Verwendung unterschiedlicher Codierungs-
formen bedeutet ein gleichzeitiges Ansprechen mehrerer Sinnesmodalitäten.
Der Theorie der dualen Codierung und der Theorie von der Hemisphärenspe-
zifität des Gehirns zufolge wirkt sich das positiv auf das Verstehen der so dar-
gestellten Sachverhalte aus, was zu einer besseren Verankerung und leichte-
ren Abrufbarkeit der gelernten Inhalte führt (Barnes, 1994; Anderon, 1996;
Tergan, 2002). Für das Fremdsprachenlernen z. B. konnten Plass, Chun,
Mayer und Leutner (2003) dies empirisch nachweisen. In einer Untersuchung,
in der politische Texte über das geteilte Deutschland gelernt werden mussten,
erzielte die Studentengruppe, der der Lernstoff als multimedialer Hypertext
vorgelegt wurde, die besten Ergebnisse im nachfolgenden Wissenstest (Rette-
rer, 1991, zitiert nach Hasebrook, 1995, S. 96).
Andere Befunde zeigen aber, dass der multimediale Charakter von Hypertext
nicht notwendigerweise höhere Lernwirksamkeit bedeuten muss. Auffällige
Gestaltungsmerkmale lenken die Aufmerksamkeit von Lernern nämlich zum
2. Das Medium Hypertext
100
Teil so stark, dass es zur Bildung falscher mentaler Modelle kommen kann
(Lowe, 1996, zitiert nach Blömeke, 2003). Die Verarbeitung multipler Codie-
rungsformen erfordert außerdem einen kognitiven Zusatzaufwand vom Lerner,
was vor allem bei geringem Vorwissen dazu führen kann, dass potenzielle
lernfördernde Effekte nicht zum Tragen kommen können (Tergan, 2002). Eine
gleichzeitige Präsentation von z. B. textueller und gesprochener Information
kann daher nach dem Redundanzprinzip (= „redundancy principle“, Mayer und
Moreno, 2000, zitiert nach Blömeke, 2003, S. 63) auch zur Überforderung der
Verarbeitungskapazität des Lerners führen. Mehrere Studien zum Navigati-
onsverhalten (siehe Kapitel 2.6.3.) haben ergeben, dass multimediale Fea-
tures die Navigation durch Hypertext massiv beeinflussen und das sogenannte
„art museum phenonmenon“ (Carmel et al, S. 865) bewirken können: Der User
verbringt zwar viel Zeit im Hypertext-System, lernt aber nichts. Bei Webseiten,
die mit vielfältigen Hypermedia-Elementen ausgestattet sind, bewirkt diese
Komplexität eher Verwirrung beim User (Wang & Beasley, 2002). Der Einsatz
von Bild, Ton und dergleichen sollte daher wohlüberlegt und sparsam erfol-
gen, um diese „engaging details“ (= Elemente, die den Lerner dazu bewegen
sollen, sich aktiv mit dem Inhalt auseinanderzusetzen) nicht zu „seductive de-
tails“ (= Elemente, die für den Lerner so attraktiv sind, dass sie ihn von der
Auseinandersetzung mit dem Lernstoff abhalten) (Wade, Schraw, Buxton &
Hayes, 1993, zitiert nach Barab et al., 1997, S. 38) werden zu lassen.
Eine aus lerntheoretischer Sicht günstige Gestaltung eines Hypertextes kann
möglicherweise dennoch nicht zu einem erwünschten Lernergebnis führen.
Das passiert vor allem dann, wenn aufgrund der ansprechenden Gestaltung
ein Lerninhalt als so leicht verständlich wahrgenommen wird, dass dem Lerner
eine tiefere Auseinandersetzung damit als nicht notwendig erscheint und er
der „illusion of knowing“ (Blömeke, 2003, S. 70) erliegt.
2. Das Medium Hypertext
101
2.7.1.3 Kognitive Flexibilität
Ein weiteres Argument für die Eignung von Hypertext als Lernmedium ergibt
sich aus der Kognitiven Flexibilitätstheorie (Spiro & Jehng, 1990; Spiro, Col-
lins, Thota & Feltovich, 2003), die sich mit dem Wissenserwerb in komplexen
und wenig strukturierten Bereichen auseinandersetzt. In fortgeschrittenen Sta-
dien des Wissenserwerbs sieht sich der Lernende mit Inhalten von hoher
Komplexität konfrontiert. Ihre Bewältigung erfordert kognitive Flexibilität, d. h.
die Fähigkeit zur spontanen Rekonstruktion des eigenen Wissens auf viele
Arten in adaptiver Antwort auf sich ständig ändernde Anforderungen innerhalb
von Situationen und über Situationen hinweg (Spiro & Jehng, S. 165). Dafür
braucht es Lernumgebungen, die den Lerner mit der Komplexität und Irregula-
rität von Sachverhalten vertraut machen, Übervereinfachungen vermeiden und
Konzepte in verschiedenen Kontexten unter verschiedenen Zielsetzungen und
aus verschiedenen Perspektiven beleuchten. Hypertexte, deren Design die-
sem sogenannten „criss-crossed landscape approach“ (Spiro et al., 2003, S.
6) entspricht, sollen multidirektionales und multiperspektivisches Lernen er-
möglichen und gewährleisten, dass das auf solche Art erworbene facettenrei-
che Wissen flexibel angewandt werden kann. Anhand eines Prototypen, der
Aspekte der multithematischen Struktur des Films „Citizen Kane“ von Orson
Welles lehrte, beschrieben Spiro und Jehng (1990) die Eignung eines nach
den Forderungen der Kognitiven Flexibilitätstheorie konstruierten Hypertextes
für komplexes Lernen. Eine nachfolgende empirische Untersuchung mit einem
Hypertext über den Einfluss von Technologie auf Gesellschaft und Kultur des
20. Jahrhunderts ergab bessere Leistungen der Versuchsgruppe bei Transfer-
aufgaben. Hinsichtlich des Behaltens von Faktenwissen war jedoch die Kon-
trollgruppe überlegen (Jacobson & Spiro, 1995).
2.7.1.4 Lernerkontrolle
Eines der klassischen Argumente für Hypertext als Lernmedium ist das hohe
Ausmaß an Lernerkontrolle, das er ermöglicht. Unter Lernerkontrolle versteht
man den Grad, in dem ein Lerner seinen Lernprozess selbst steuern kann
(Milheim & Azbell, 1988, zitiert nach Wang & Beasley, 2002, S. 75), d. h. in-
2. Das Medium Hypertext
102
wieweit ihm selbst die Kontrolle über Lerngeschwindigkeit, Selektion und Se-
quenzierung der Lerninhalte überlassen ist (Reigeluth & Stein, 1983, zitiert
nach Wang & Beasley, 2002, S. 75) Im Unterschied zu anderen Lernmedien,
wie z. B. herkömmlichen Computer-Lernprogrammen, bietet Hypertext in der
Regel diesbezüglich wesentlich mehr Optionen, ist offener und weniger direk-
tiv und ermöglicht damit selbstgesteuertes Lernen (vgl. Gall & Hannafin, 1994;
Gerdes, 1999). Damit erscheint eine wesentliche Forderung der konstruktivis-
tisch orientierten Instruktionspsychologie erfüllt: Es sollen Lernbedingungen
geschaffen werden, in denen der Lernstoff nicht in fixfertiger Form vorgegeben
und passiv rezipiert wird, sondern der Lerner soll die Möglichkeit erhalten, ak-
tiv Bedeutung zu konstruieren (Schulmeister, 1996).
Obwohl die Ergebnisse vieler empirischer Studien ein widersprüchliches Bild
bieten, was darauf zurückzuführen sein dürfte, dass die Effektivität des Ler-
nens nicht allein vom Grad der Lernerkontrolle abhängt, sondern verschiedene
andere personeninterne und externe Faktoren, wie Lernertyp und Lernbedin-
gungen, eine Rolle spielen (Wang & Beasley, 2002), wird Lernerkontrolle all-
gemein dennoch als sehr wichtig für effektives Lernen erachtet (Dillon & Gab-
bard, 1998). Es wird angenommen, dass sie nicht nur zu besseren Lernergeb-
nissen, höherer Kompetenz und schnellerem Lernen führen kann, sondern
auch zu einer positiveren Einstellung dem Lerngegenstand gegenüber. Da-
durch, dass der Lerner mehr Selbstbestimmtheit erlebt, wird seine Selbstwirk-
samkeitsüberzeugung gestärkt, was sich auf sein künftiges Lernen günstig
auswirkt (Lawless & Brown, 1997). Lernumgebungen, in denen ein Lerner
aufgrund von Lernerkontrolle Autonomie erlebt, bewirken eine Steigerung der
intrinsischen Motivation, der Kreativität und des Selbstvertrauens. Die Erfah-
rung von weniger Druck und Anspannung als in sehr direktiven Lernumgebun-
gen wirkt sich letztlich auch positiv auf seine psychische und physische Ge-
sundheit aus (Deci & Ryan, 1987).
Lernerkontrolle bedeutet, dass der Lerner aktiv handelnd in das Lerngesche-
hen einbezogen wird, sich als selbstverantwortlicher Initiator von Veränderun-
gen in seiner Lernumgebung erlebt und dabei, unter der Voraussetzung von
Interesse am Lerngegenstand, einem hohen subjektiven Wert, den dieser
2. Das Medium Hypertext
103
Lerngegenstand für die Person darstellt, und der Überzeugung, sein Handeln
und die zugehörigen Umgebungsbedingungen kontrollieren zu können bzw.
über entsprechende Kompetenz zu verfügen, in so hohem Maß in die Lernsi-
tuation involviert werden kann, dass Flow-Erleben, ein Gefühl des völligen Ab-
sorbiertwerdens und Aufgehens im Handlungsablauf, möglich wird (Mandl &
Hron, 1989; Konrad, 1993). Eine Untersuchung der Gründe, warum sich Ju-
gendliche mit Computern beschäftigen, ergab übereinstimmend mit den Kern-
gedanken des Flow-Konzepts, einen engen Zusammenhang zwischen Zeit-
aufwand, Interesse und Anstrengung am PC mit Kontrollwahrnehmung und
tätigkeitszentrierten Anreizen und zeigte, dass Kontrollüberzeugungen und
Kompentenzerwartungen eng mit der „Freude am Tun“ im Sinne der Flow-
Theorie verbunden sind (Konrad, 1993). Dass Lernen mit Hypermedia bei
Personen positive affektive Zustände auslösen kann, konnten Konradt, Filip
und Hoffmann (2003) nachweisen: Ca. ein Viertel ihrer 66 ProbandInnen gab
nach der einstündigen Bearbeitung eines Hypermedia-Lernprogramms über
Management by Objectives (= Managementkonzept, das die Zielsetzungsthe-
orie anwendet) an, Flow erlebt zu haben. Die positive Stimmung korrelierte
außerdem mit höheren Wissensergebnissen.
Der Ausspruch „leave them alone and they will learn on their own“ (Merrill,
1990, zitiert nach Grabowski & Small, 1997, S. 161) hat sich in zahlreichen
Untersuchungen jedoch als Trugschluss erwiesen, denn nicht alle Personen
können gleich gut mit Hypertext lernen. Um die als Folge der höheren Lerner-
kontrolle beim Wissenserwerb mit Hypertext laufend notwendigen Entschei-
dungen treffen zu können, braucht der Lerner die Fähigkeit, sein Navigations-
verhalten zu strukturieren und selbstgesteuert durchzuführen (Ford & Chen,
2000). Vor allem Lernende mit geringem Vorwissen (vgl. Marchionini & Shnei-
derman, 1988; Dillon & Gabbard, 1998; Wang & Beasley, 2002), aber auch
Personen, die nicht über effektive Strategien bzw. ausreichende Selbstregula-
tionskompetenz verfügen (Steinberg, 1989, zitiert nach Barab et al., 1997, S.
25), können dabei überfordert sein. Außerdem sollte bedacht werden: Je mehr
Freiheit eine Lernumgebung einem Lerner lässt, desto größer wird auch seine
Freiheit, sich nicht besonders beim Lernen zu engagieren (Salomon, Perkins
& Globerson, zitiert nach Barab et al., 1997, S. 25).
2. Das Medium Hypertext
104
2.7.1.5 Entdeckendes und inzidentielles Lernen
Wird in der Literatur gelegentlich zwischen „entdeckendem Lernen“ und
„explorativem Lernen“ unterschieden (vgl. Gerdes, 1997, S. 53), so meinen
beide Begriffe im Grunde dasselbe. Die Bezeichnung „exploratives Lernen“
legt den Fokus eher auf den Weg, die Bezeichnung „entdeckendes Lernen“
eher auf das Ergebnis. Entdeckendes Lernen kann nach Heller (1990) vor al-
lem in Lernumgebungen wie Hypertext erfolgen, wo dem Lerner eine Fülle an
Möglichkeiten zur selbstkontrollierten Exploration von Alternativen und Ergeb-
nissen geboten wird, die ihn bislang noch nicht erkannte Zusammenhänge
wahrnehmen und verstehen lassen. Hypertextknoten und ihre Links haben
hohen auffordernden Charakter, denn sie verlocken geradezu zum Anklicken
und damit zum Erforschen der Hypertextbasis. Im Zuge der Exploration, die
ein Aktiverwerden des Lernenden als z. B. die Bearbeitung eines traditionellen
Lehrbuches erfordert, wird Wissen angesammelt, das dem Lerner einerseits
hilft, die aktuelle Aufgabenstellung zu bewältigen, das andererseits aber auch
neue Fragen aufwerfen kann, zu deren Beantwortung weiteres Erforschen des
Netzwerkes notwendig wird. Dieser selbst-perpetuierende Prozess wird durch
Interesse bzw. Neugierde in Gang gehalten (vgl. Kuhlen, 1991). Dass das ak-
tive Erarbeiten eines Lernstoffs mit positiveren Gefühlen verbunden ist und
dass ein Lerninhalt, der aktiv erarbeitet wurde, besser behalten werden kann,
ist pädagogisches Allgemeinwissen (vgl. Unz, 2000).
Bei der Verfolgung von interessant erscheinenden Links stößt der Lerner häu-
fig aber nicht nur auf Inhalte, die er zur Lösung der aktuellen Aufgabe benötigt.
Vor allem in Hypertexten mit größerem Umfang wird ein Lernender so manche
Information finden, nach der er ursprünglich gar nicht gesucht hat, die ihm
aber dennoch merkenswert erscheint. Heller definiert diese Form des eher
zufälligen Lernes als ungeplantes Lernen, das in einer Lernumgebung stattfin-
det, die eigentlich andere explizit festgelegte Lernziele unterstützen soll (Hel-
ler, 1990, S. 434).
Da Hypertext eine elaborierte Präsentation von Konzepten und ihren Bezie-
hungen zueinander erlaubt, dürfte er in besonderem Maße für inzidentielles
Lernen geeignet sein (Jones, 1989). Auch Gall und Hannafin (1994) vermuten,
2. Das Medium Hypertext
105
dass Hypertexte eher für entdeckendes und inzidentielles als für ergebnisori-
entiertes Lernen geeignet sind, weisen aber darauf hin, dass es unklar ist, ob
das am Hypertext per se liegt oder am Umstand, dass Hypertext für direktives
Lernen noch nicht erfolgreich adaptiert werden konnte (S. 224).
Ob entdeckend und/oder inzidentiell gelernt werden kann, hängt aber nicht nur
vom Lernmedium ab, sondern auch von der Person des Lerners. Heller (1990)
nimmt an, dass sich entdeckendes Lernen vor allem für Personen mit wenig
Lernangst und der Fähigkeit zur Selbststeuerung ihrer Lernprozesse eignet.
Dixon und Cameron (1975) konnten nachweisen, dass hochmotivierte Perso-
nen bei inzidentiellen Lernaufgaben bessere Ergebnisse erbringen, vermutete
Zusammenhänge mit dem LOC (= „locus of control“, Kontrollüberzeugungen)
konnten dagegen nicht bestätigt werden. Wolk und DuCette (1974)
untersuchten in zwei Studien den Zusammenhang zwischen Kontroll-
überzeugungen und inzidentiellem Lernen: Die Personen mussten
vordergründig Texte nach Schreibfehlern durchsuchen, erfasst wurde aber,
wie viel sie vom Inhalt des Textes behalten hatten. Nach dem ROT-IE als
internal Eingestufte zeigten sich bei diesen inzidentiellen Lernaufgaben den
Externalen überlegen. Auch bei Dollinger (2000) erzielten in einer von drei
Studien zum LOC und inzidentiellem Lernen internale Studenten – zur Erfas-
sung des LOC wurde hier die IPC-Skala von Levenson eingesetzt – bessere
Ergebnisse: In einem Wissenstest, in dem neben Inhalten der Persönlichkeits-
psychologie auch lernstoffirrelevante Details, wie Kurszeiten, Sprechstunden-
termine und Einzelheiten des Prüfungsprocedere abgefragt wurden, lagen die
Scores der internalen ProbandInnen signifikant über denen der externalen.
2.7.2 Argumente gegen Hypertext
2.7.2.1 Desorientierung
Orientierungsprobleme können in Hypertext in zweifacher Hinsicht auftreten:
bezogen auf die Navigation als „getting lost in space“ (Conklin, 1987, S. 38)
und/oder als konzeptuelle Desorientierung und zeigen sich in einem zu hohen
Tempo beim Durchgehen des Hypertextes, in unsystematischer Bearbeitung
2. Das Medium Hypertext
106
der Inhalte und einer „Flucht in Details“, bei der wesentliche Zusammenhänge
aus den Augen verloren werden (Blömeke, 2003, S. 72).
LOST IN HYPERSPACE:
Diese hypertextspezifische Form der Desorientierung äußert sich nach Unz
(2000, S. 39) und Gerdes (1999, S. 204) unter anderem darin, dass der User
nicht mehr weiß
• wo genau im Hypertext er sich gerade befindet,
• wie er zu einer bestimmten Information gelangen kann, von der er weiß
oder vermutet, dass sie im Hypertext enthalten ist,
• wie er zu einer bestimmten Stelle im Hypertext zurückfinden soll,
und tritt vor allem dann auf, wenn ein Hypertext sehr umfangreich ist, eine
komplexe Struktur aufweist und seine Bearbeitung durch den User mehr durch
assoziatives als durch zielorientiertes Vorgehen gekennzeichnet ist (vgl. z. B.
Tergan, 2002). Ursachen dafür können aber auch das Fehlen entsprechender
Navigationstools, eine unzureichende Aufklärung des Users über ihm zur Ver-
fügung stehende Navigationshilfen oder Unkenntnis ihrer Bedienung sein
(Dünser, 2000). Dem User ist es damit nicht möglich, eine adäquate mentale
Repräsentation von der Organisationsstruktur des Hypertextes auszubilden,
was sein Informationssuch- bzw. Lernergebnis vermutlich massiv beeinträchti-
gen wird. Als wichtiges Indiz für das Auftreten von Desorientierung betrachten
Möller & Müller-Kalthoff (2000) Fehleinschätzungen des Hypertext-Umfangs
durch den Leser. Während Altun (2000) die Meinung vertritt, dass Lost in Hy-
perspace in Wirklichkeit gar kein so großes Problem darstelle, weil als häu-
figste Navigationshilfe ohnehin der Back-Button des Browsers verwendet
werde (S. 49), ist Unz (2000) der Ansicht, ein geringes Ausmaß an Desorien-
tierung habe auch Vorteile, weil es neugierig mache und damit das explorative
Verhalten fördere (S. 40).
KONZEPTUELLE DESORIENTIERUNG
Mangelndes Vorwissen und/oder fehlende Hinweise auf die Relevanz be-
stimmter Inhalte für die jeweilige Aufgabenstellung können die kognitive Ori-
2. Das Medium Hypertext
107
entierung des Lerners innerhalb der im Hypertext dargestellten Sachstruktur
erschweren. Vor allem im Zuge des assoziativen Browsings kann es dazu
kommen, dass die semantische Bedeutung der aufgesuchten Informationen
nicht erkannt wird oder dass semantische Beziehungen zwischen Knoten un-
klar bleiben, sodass der User keine klare Vorstellung davon hat, auf welche
Knoten er als nächstes zugreifen soll. Dadurch ist er in der Folge nicht in der
Lage, die gelesenen Informationen in seine Wissensstruktur zu integrieren
bzw. eine kohärente Wissensrepräsentation aufzubauen (Tergan, 2002).
2.7.2.2 Kognitive Überlastung
Effektives Lernen mit Hypertext erfordert im Unterschied zur Bearbeitung
eines Lineartextes auf Papier zusätzlichen mentalen Aufwand: Der Lernende
muss sich merken, welche Knoten er schon gelesen hat und wie er dorthin
gekommen ist, um sie gegebenenfalls ein weiteres Mal zu besuchen, er muss
Links, die zu anderen ihm wichtig erscheinenden Informationen führen, und
ihre Positionen im Gedächtnis behalten, um ihnen zu einem späteren Zeit-
punkt folgen zu können, und schließlich muss er diverse Navigationstools und
ihre Funktionen geistig präsent halten. Daneben müssen Navigationsent-
scheidungen getroffen und Knoteninhalte aufgenommen werden. Diese si-
multanen Aufgaben erfordern erhöhte Gedächtniskapazität, Konzentration und
Fähigkeiten zur metakognitiven Kontrolle und können zu kognitiver Überbe-
lastung („cognitive overhead“, Conklin, 1987, S. 40) führen, die eine tiefere
Informationsverarbeitung verhindert und mit der eigentlichen Anforderung, wie
dem Auffinden und Lernen von Informationen, interferiert (Gerdes, 1999; Unz,
2000; Tergan, 2002). Nahezu paradox erscheint dabei, dass gerade jene
Features, die den User beim Wissenserwerb mit Hypertext unterstützen sol-
len, wie Navigationshilfen und multimediale Elemente, häufig eine Quelle von
kognitiver Überlast darstellen und damit die Gefahr bergen, Hypertext für
manche Personen zu „Hyperchaos“ werden zu lassen (Marchionini, 1988, S.
10).
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