Zum Geleit - reformiert online3 Ich fühle mich fremd - Anstöße zum Fremdsein I. Impuls Alles Gute...

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    Zum Geleit

    „Fremde – Heimat – Deutschland“ lautete das Thema der Koreanisch-deutschen Begegnungstagung vom 12. bis 15. Februar 2002. Eingeladen hatten das Evan-gelische Missionswerk in Südwestdeutschland (EMS) und das Berliner Missi-onswerk (BMW) in die Evangelische Akademie Bad Boll. Die Resonanz war gut und über 70 Interessierte folgten der Einladung. Das entstandene Heft stellt ein Novum dar. Durch das Deckblatt wird das auch schon deutlich. Die KOREA-INFO des BMW und der Informationsbrief des EMS bündeln ihre Kräfte und bringen eine gemeinsame Nummer heraus. In Zu-kunft ist angedacht, diese printtechnische Fusion der beiden Heftreihen in loser Folge fortzusetzen, so es das jeweilige Profil zuläßt. Die vorliegende Dokumentation der Tagung bietet nun die Möglichkeit alle ge-haltenen Hauptreferate, eine Hinführung zum biblischen Text (Jer 29), gegebe-ne Gesprächsimpulse für die Weiterarbeit in Gruppen sowie einige Zusammen-fassungen der Gruppenergebnisse nachzulesen. Trotz der Fülle der zusammen-getragenen Beiträge erhebt diese Dokumentation keinen Anspruch auf Voll-ständigkeit. Dennoch ist im Ergebnis ein repräsentativer Querschnitt herausge-kommen. Allen, die mit ihren Erfahrungen, ihren Gaben und ihrem Wissen zum Gelingen der Koreanisch-deutschen Begegnungstagung beigetragen haben, sei an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich gedankt. Besonders möchten wir uns bei der Güterloher Verlagshaus GmbH bedanken, die uns freundlicherweise den Abdruck von Jürgen Moltmanns Beitrag „Das Erkennen des Anderen und die Gemeinschaft der Verschiedenen“ genehmigten. Lutz Drescher Carsten Rostalsky Berlin/Stuttgart, im Juli 2002

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    Ich fühle mich fremd - Anstöße zum Fremdsein

    I. Impuls

    Alles Gute und Gottes Segen für Sie im neuem Jahr! Heute ist neues Jahr nach dem Mondka-lender, und neben Chu-sock, ein Erntedankfest im Herbst, der größte Feiertag. Diese Festtage sind wirklich Familienfeste wie hier das Weihnachtsfest. Fast alle Koreaner reisen - meistens mit dem Auto oder Zug - in die Heimat ins Elternhaus, um mit allen Angehörigen zu feiern. Ich glaube, ein Familienfest bedeutet Freude der Begegnung mit Familien und Angehörigen, und durch ein solches Fest denken die Menschen mehr an ihre Heimat.

    Einerseits bin ich heute ein bisschen traurig, aber anderseits freue ich mich, heute mit meinen Landleuten und mit Deutschen, die uns mit dem Herzen kennenlernen und verstehen möch-ten, hier zusammen zu treffen.

    Ich weiß, dass es hier viel Leute gibt, die ihre Heimat früher als ich verlassen habe, und mehr Erfahrungen und Gefühle von Fremde gemacht haben. Ich möchte zu Beginn sagen, dass ich nur meine Eindrücke und meine Erfahrungen erzähle. Deswegen weiß ich nicht, ob meine Ansicht falsch und missverständlich ist.

    Ich lebe mit meiner Frau seit 3 ½ Jahren in Deutschland. Wir arbeiten als ökumenischer Mit-arbeiter in der Evangelischen Kirche der Pfalz. Deshalb habe ich hier viele gute Beziehungen zu Deutschen und viele gute Erfahrung gemacht. Aber ich habe oft gefühlt, dass ich hier ein Fremder bin. Wann habe ich mich fremd gefühlt?

    1. Einsamkeit

    Wenn es eine Festzeit hier gab, besonders zu Weihnachten, verschwinden viele Leute ir-gendwo hin und ich konnte kaum Menschen sehen. Klar, meistens sind die Familien zu Hau-se oder irgendwo mit Freunden zusammen. In jener Zeit haben wir oft gedacht "wir sind hier allein." Wenn der Heilige Abend kommt, freue ich mich auf der einen Seite als Christ, aber auf der anderen Seite habe ich ein bisschen Sorgen. Weil alle Geschäfte in der Weihnachts-zeit viele Tage schließen, muss ich besonders viele Nahrungsmittel einkaufen. Aber wir ha-ben Glück gehabt und sind dankbar, dass wir in jeder Weihnachtszeit einmal oder zweimal von deutschen Freunden oder von unserer netten Nachbarin eine Einladung zum Essen be-kommen haben. Trotzdem mussten wir dem Rest der Feiertage allein zu Hause mit Fernsehen oder etwas Langeweile verbringen.

    Jetzt ist hier Karneval, Faschingszeit. Im dieser Zeit werden Karnevalssitzungen im Fernse-hen jeden Tag übertragen. Alle Deutschen bei den Fasching Veranstaltungen sieht man la-chen und schreien vor Spaß - Helau!, Helau! Leider kenne ich das nicht und kann nicht la-chen wie die Deutschen. Wenn ich manchmal im Fernsehen zugeschaut habe, kann ich nur wenig verstehen. Die Menschen sprechen schnell und viel Dialekt. Das ist langweilig für uns. Ich kann nur die komische Kleidung und die Schminke der Narren sehen. In diesem Fall habe ich gedacht. "Ah, ich bin eben ein Ausländer. Ich gehöre nicht dazu."

    Warum gibt es hier so viele Feiertage? Nach dem Weihnachtsfest kommt bald die Fast-nachtszeit, danach die Osterferien und Pfingsten und dann Sommer- und Herbstferien, danach Adventszeit und wieder Weihnachten. Viele Festzeiten haben eine Verbindung zur christli-chen Tradition. Aber ich sehe auch, dass die christlichen Feste für die meisten Leute wenig oder keine Bedeutung haben.

    An Festtagen sind wir meistens einsam. Viele Leute sind irgendwo unterwegs; und wenn wir nicht allein bleiben wollen, müssen wir auch etwas unternehmen.

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    Ich möchte noch über eine weitere Beobachtung sprechen: Nach dem Gottesdienst verlassen alle Gemeindemitglieder die Kirche sehr schnell und grüßen nur ganz kurz. Besonders in der ersten Zeit in Deutschland war ich darüber sehr erstaunt. In Korea bleiben viele Gemeinde-glieder nach dem Gottesdienst noch lange zusammen, weil es anschließend verschiedene Programme gibt.

    Ich habe gedacht, es gibt so unterschiedliche kirchliche Gemeindekulturen zwischen hier und Korea, obwohl wir doch alle Christen sind. Ich dachte: "Ich bin wirklich im fremden Land." 2. Termine

    Es ist schwer für Fremde hier einen Termin auszumachen. Es war an einem Wochenende. Da bin ich einfach zum Frisur gegangen, um mir die Haare schneiden zulassen. Die Friseuse hat mir gesagt. "Haben Sie schon einen Termin gemacht?" Ich antwortete ihr: "Nein!" Sie sagte dann: "Leider müssen Sie einen Termin ausmachen. Drei oder vier Tage später ist es mög-lich." "Oh, ich bin armer Ausländer." So musste ich nach Hause zurückgehen. Das war Scha-de. Solche Erfahrungen habe ich viel mal erlebt. Bis jetzt habe ich mich noch nicht daran gewöhnt, solche Termine auszumachen.

    Es gibt weitere Erfahrungen mit Terminen. Am Ende oder Anfang des Jahres, wenn die Leute in einem Arbeitskreis zusammen zwei oder drei Termine für das neue Jahr ausmachen, habe ich immer interessiert die Deutschen beobachtete. Da heißt es: "Dieser Tag geht nicht." Je-mand schlägt einen anderen Tag vor: "Nein, geht auch nicht." Das ist immer schwer und es dauert sehr lange Zeit bis Termine festgemacht werden. Ich habe zu mir gesagt. „Kein Prob-lem, fast alle Tagen sind möglich für mich. Ich habe noch viel Zeit für Termine.“ Die Deut-schen haben immer schon viele verschiedene Termine gemacht. Und ich habe im Herzen in-nerlich gelacht und bei mir gedacht: "Ich bin halt ein Fremder hier."

    Ich habe keine Ahnung, wieviel Termine die Deutschen schon so lange im Voraus haben. Für die Arbeit oder privat? Wahrscheinliche für beides. Es ist nicht einfach, wenn ich als Erster einen privaten Termin ausmachen möchte. Auch gibt es wenige Deutsche, die erst mit uns einen Termin vereinbaren. Mein Charakter ist nicht so aktiv. Aber es ist auch schwer, hier Freundschaft mit Deutschen zu schließen. Hier muss man vorher einen Termin ausmachen, und dann kann man Bekannte oder Freunde besuchen. In Korea verabreden Leute auch mit-einander Termine, doch es ist nicht so schwierig wie hier. Man besucht oft ohne Termin Freunde. Das ist kein großes Problem.

    Ich lebe jetzt seit fast 3 ½ Jahren hier, aber wenn ich jetzt überlege, wie viel Bekannte und Freunde ich habe, die ich ohne Termin einfach besuchen kann, wenn ich etwas brauche, dann komme ich nicht weit.

    Meine Frau hat wegen Termine oft auch schlechte Erfahrungen gehabt. Oft musste sie drin-gend einen Termin mit einer Arztpraxis ausmachen. Meistens wurde ihr überhaupt kein Ter-min genannt. Wenn aber jemand von unserem Amt angerufen hatte, war die Sache sofort er-ledigt. Das hat sie sehr geärgert. Diese Art des Umgangs wurde uns von allen ausländischen Freunden bestätigt. Im diesem Fall fühlen wir uns sehr verärgert und fremd hier. 3. Sprache und Unterhaltung

    Wenn ich ein Sprachproblem mitten im Gespräche mit jemand habe, habe ich mich fremd gefühlt. Zum Beispiel: Wenn ich die Sprache von meinem Gegenüber nicht verstehe oder umkehrt, bin ich selbst traurig. Während wir miteinander reden habe ich meine Meinung und Ideen im Kopf, doch wenn ich es nicht gut ausdrucken kann, fühle ich mich als Fremder.

    Das geschieht besonders dann, wenn ich mit einigen Leuten zusammen sitze und wir uns un-terhalten und etwas langsamer sprechen. Plötzlich reden die Deutschen miteinander hier

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    schneller oder sprechen Dialekt, lachen zusammen und vergessen mich einfach. In diesem Fall kann ich ihre Gespräche nicht gut verfolgen. Ich habe solche Fälle oft erfahren. Dann muss ich in Ruhig etwas trinken und ein in meiner Phantasie freies Spiel im Kopf zulassen. Und dann habe ich wieder gedacht: "ah, ich bin wirklich fremd."

    Ein weiteres Beispiel: Mein Frau, ich und alle Ausländer, die wir kennen, haben die folgende Erfahrung mehrmals gemacht: Wenn Deutsche uns ansprechen, stellen sie fast immer drei Fragen: Erstens: Gefällt es Ihnen gut in Deutschland? Zweitens: Was machen Sie hier? Drittens: Wann kehren Sie in Ihre Heimat zurück? Es werden sonst keine anderen Fragen gestellt. Wenn wir dann geantwortet haben, sind diese Deutschen leicht mit uns fertig. Unsere ausländischen Bekannten aus verschiedenen Ländern haben übereinstimmend den Eindruck, dass die Deutschen sich die Ausländer vom Leibe halten und keine nähere Beziehung aufnehmen wollen. Dadurch bleiben Ausländer meistens isoliert. Es wird Ihnen schwer gemacht, einen Zugang zu deutschen Menschen und ihrem Leben zu finden. Ich habe gefühlt, dass es allgemein nicht so leicht ist, mit Deutschen Freundschaft zu machen. 4. Kultur des Essens

    Die unterschiedliche Kultur des Essens lässt mich mein Fremdsein besonders spüren. In Ko-rea essen viele Koreaner am Mittag und Abend mit Kollegen und Freunde zusammen. Ich beobachte, dass hier die Kollegen kaum zusammen außerhalb essen. Sie essen entweder et-was Kaltes im Büro- oder zu Hause. Das macht uns etwas traurig.

    In Korea essen die Leute, die arbeiten, meisten am Mittag zusammen. Durch das gemeinsame Essen kann man gute Freundschaft schließen. Aber hier ist es nicht so. Das ist für uns ganz ungewöhnlich. Hier muss ich vorher erst einen Essentermin ausmachen, um zusammen essen zu können.

    Ich denke: Die Deutschen arbeiten nur und machen kaum Pause im Büro, und genießen das Mittagessen nicht zusammen. Nach der Arbeit geht es schnell weg, nach Hause oder irgend-wohin zu einem nächsten Termin.

    Noch etwas anders: Auf den Markt oder im Supermarkt gibt es sehr viele verschiedene Nah-rungsmittel. Doch was ich kaufen kann, ist für mich sehr beschränkt, weil es nicht unsere gewohnten Nahrungsmittel sind.

    Wenn ich im Restaurant Essen bestelle, ist es immer schwierig und ein Risiko, ob mir das bestellte Gericht auch gut schmeckt. Meistens habe ich Glück. Vor dem Essen denke ich an Jesu Wort: „Macht euch keine Sorgen! Fragt nicht, was sollen wir essen?“ Trotzdem habe ich immer Sorge. Dann denke ich: "Oh, ich bin ein armer Fremder. Warum habe ich so we-nig Glauben?"

    Zum Schluss möchte ich sagen: Ich denke, die Kulturschocks sind nicht nur negativ, sondern insofern gut, dass wir die andere Seite besser verstehen und kennenlernen können. Zweifellos gibt es das Gefühl von Fremdheit für Ausländer, die in einem anderen Kulturkreis leben. Deshalb brauchen wir mehr Begegnung und Gespräch miteinander und füreinander mehr Verständnis und Zusammenarbeit. Je mehr zum Beispiel die Deutschen Mühe und Interesse für Ausländer zeigen, desto weniger haben wir das Gefühl von Fremdheit.

    Pfr. YOO Young-Kyong, Landau

    Wer die Fremden nicht schützt, wird sich selber fremd. Ulla Meinecke

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    II. Impuls

    Es sind nun fast 20 Jahre vergangen, seit ich nach Deutschland gekommen bin. Als ich in Deutschland angekommen bin, schien es so als ob nicht allzuviele Schwierigkeiten auf mich zukommen würden (Aber es sollten jedoch sehr viele Schwierigkeiten werden.) Es schien so, als ob damals die Sprache das Schwierigste sei, (auch heute noch) Schwer und mühevoll war es, weil hier ein besonderer Dialekt gesprochen wird (es war eine verwirrende Zeit).

    Damals hatte ich Probleme mit den Worten danke und schön. Das Benutzen des Wortes dan-ke zum Beispiel, wenn also etwas dankenswert sein könnte (inzwischen benutze ich danke mehr als jeder andere). Ein anderes Wort war schön, es war auch ein Wort, das ich nicht ver-stehen konnte. Man sagt zu etwas schön, woran ich bei genauerer Betrachtung nichts schönes finden konnte. Etwas schlecht gemachtes wird als gut gemachtes bezeichnet (inzwischen ver-stehe ich es). Danach hatte ich wegen der koreanischen Denkweise auch Probleme mit den Worten ja und nein. Wenn ich etwas sollte, sagte ich nicht ja oder nein. Heute kann ich, egal was auch immer es ist , klar ja oder nein sagen.

    Ich weis nicht, ob ich im Laufe der Jahre so viel weiter gekommen bin, inzwischen bin ich in allem dankbar und alles ist für mich eine schöne Erinnerung geworden.

    Young Ai WAGERMAIER, Lauffen a.N.

    III. Impuls

    Fremde Heimat Deutschland – Vom Charisma der Fremdheit im eigenen Land

    “Mir fehlen die Menschen auf den Straßen, die Farben, die Gerüche.” – “Hier scheint nie-mand Zeit zu haben.” – “Wenn ich morgens mit der Straßenbahn fahre und den Menschen ins Gesicht sehe, dann erschrecke ich manchmal. So viele verbissene Gesichter. So viele Men-schen die nebeneinander her leben.” – “Gottesdienste in Deutschland erlebe ich als nichtssa-gend, weil sie nicht aus einer gemeinsamen Lebenspraxis heraus entstehen und auf diese be-zogen sind.“ All dies sind Aussagen, die so oder ähnlich in Gesprächen mit Rückkehrer/innen gefallen sind. Ihnen gemeinsam ist, dass sie ein Leiden an der Situation hier ansprechen. Vie-le Menschen, die längere Zeit im Ausland gelebt haben, erleben nach ihrer Rückkehr, zumin-dest für eine gewisse Zeit, Deutschland als fremde Heimat. Manchen gelingt es relativ schnell, sich wieder einzuleben. Andere versuchen krampfhaft, heimisch zu werden und zer-brechen fast daran, dass es nicht ganz gelingen will. Es wäre sicher interessant, der Frage einmal nachzugehen, welche Bedingungen einem sich wieder Einleben förderlich sind. Und es wäre sicher notwendig, im tieferen Sinn des Wortes, dass Institutionen, die Mitarbei-ter/innen aussenden, solche Bedingungen schaffen und auch vertraglich festlegen. Fremdsein als positiven Anstoß sehen

    An dieser Stelle soll ein anderer Ansatz versucht werden. Ich will versuchen der Frage nach-zugehen, ob nicht auch Chancen darin verborgen liegen, wenn Menschen darauf verzichten, hier wieder ganz heimisch zu werden. Könnte es nicht möglich sein, auch hier Fremdsein - ein Stück weit - bewusst zu gestalten? Und könnte es nicht sein, dass sich ökumenisch-missionarische Existenz nach der Rückkehr im Modus des Fremdbleibens vollzieht?

    Ökumenische Mitarbeitende sind Expert/innen nicht nur, was die Begegnung mit fremder Lebenswelt betrifft, sondern sie haben alle am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet ein Fremder, eine Fremde zu sein. Ich erinnere mich gut an eine Begebenheit aus meiner frühen Kindheit. Ich war vielleicht fünf Jahre alt und mit meinem um ein Jahr jüngeren Bruder un-terwegs, als er mich plötzlich aufgeregt am Ärmel zupfte. Er deutete auf einen Menschen, der vorüberging und sagte ganz laut: „Guck mal da, ein Neger!“ Fast 30 Jahre später kehrte sich

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    die Situation um und - wenn es nicht so rassistisch klänge, würde ich sagen - ich selbst wurde zum „Neger“. Bei meinen Spaziergängen in Seoul oder bei meinen Reisen durch Südkorea habe ich inuner wieder erlebt, wie aufgeregte, kichernde Kinder sich gegenseitig am Ärmel zupften, auf mich deuteten und laut sagten: „Boira Mikuk-Saram ida - Guck mal da ein Ame-rikaner!“ Kindermund tut Wahrheit kund. Ich war ein Fremder in diesem Land und es war offensichtlich. Das Fremde fällt auf, es lässt sich nicht verbergen. Es ist nicht möglich, ein-fach in der Masse unterzutauchen. Ständig steht man sozusagen im Blickpunkt und in gewis-ser Weise ist schon allein dies manchmal anstrengend. Eine Freundin meinte jedenfalls nach einem Heimaturlaub: „Ich habe es genossen, mich bewegen zu können, ohne aufzufallen.“ Dies ist ein Aspekt des Fremdseins. Der und die Fremde und auch das Fremde wird gesehen. Damit ist aber weder etwas ausgesagt über die Frage, wie gesehen wird, noch über die Frage, wie der/die Gesehene damit umgeht. Gesehen wird teils mit Neugier, teils mit Wohlwollen, manchmal wird auch eher argwöhnisch beäugt. Die Reaktionen der Gesehenen sind auch sehr unterschiedlich. Bei Touristen ist hin und wieder zu beobachten. dass sie sich angestarrt füh-len und aggressiv reagieren. Ihr Verhalten ist im negativen Sinne anstößig. Bewußt gestaltetes Fremdsein

    Es gehört wohl zu den Kompetenzen, die ökumenische Mitarbeiter/innen erwerben. dass er oder sie bewusst mit der Tatsache umgehen, gesehen zu werden. Bewusst Gestaltetes Fremd-sein ist eine Chance zu wirken. ohne zu handeln. Dazu ein Beispiel: In Korea, einem Land. in dem die meisten Beziehungen hierarchisch sind, gibt es relativ feste Regeln darüber, wer wen zuerst zu grüßen hat: Jüngere die Älteren, Frauen die Männer, „Niedrigstehende“ die „Höher-stehenden“. Ich habe dieses Gesellschaftsspiel nicht mitgemacht und die Menschen, denen ich auf meinen Wegen öfters begegnete, völlig unterschiedslos freundlich gegrüßt. Dabei ist mir ein freudiges Aufblitzen in den Augen der Müllmänner ebenso aufgefallen, wie das Be-fremden in den Augen mancher meist höhergestellten Persönlichkeiten. Mein Fremdsein hat befremdet, war im positiven Sinne anstößig und damit ein Anstoß, der Nachdenklichkeit, ausgelöst hat. Und noch einen Schritt weiter war es eine nicht verbale Verkündigung des E-vangeliums. Ich habe damit deutlich gemacht, dass jenseits der Hierarchien der koreanischen Gesellschaft in Gottes Augen jeder Mensch Geltung hat und es wert ist, gegrüßt zu werden.

    Damit sind wir an einem ganz wichtigen Punkt. Die Begegnung mit dem/der Fremden kann dazu führen, dass Bilder, Vorstellungen und Maßstäbe im positiven Sinne fragwürdig und Konstruktionen von Wirklichkeit einer Oberprüfung unterzogen werden. Dabei kann eine Ahnung davon entstehen, dass es auch anders geht, dass es auch andere Möglichkeiten gibt, das Zusammenleben zu gestalten und den Glauben zu leben. Erfahrungen von Fremdheit zu Hause nutzen

    Nun sind die Verhältnisse nach einer Rückkehr sicher nicht zu vergleichen mit den Verhält-nissen im Einsatzland von ökumenischen Mitarbeitenden. Äußerlich betrachtet ist man nun kein Fremder mehr, fühlt sich innerlich jedoch sehr wohl fremd. Die Verhältnisse und viele Verhaltensweisen sind vertraut, und doch ist gleichzeitig vieles ungewohnt, fragwürdig und wird mit ganz anderen Augen gesehen. Deutschland ist zur fremden Heimat geworden. Mir scheint es wichtig zu sein, diese Erfahrung von Fremdheit nicht zu verdrängen, sondern sie auszuhalten, ihr nachzuspüren und zu versuchen, ihr immer wieder auf den Grund zu gehen. Gleichsam von außen betrachtet gibt es vieles, das befremdlich in diesem Land ist. Nach den Jahren in Korea, einem Land, in dem es schön sein kann, alt zu werden, weil man alten Men-schen nicht nur mit großer Höflichkeit, sondern ausgesprochen freundlich begegnet, ist und bleibt mir der Jugendkult in unserer Gesellschaft und die damit verbundene Art und Weise, alte Menschen auszugrenzen, fremd. Nachdem ich selbst in vielen Ländern der Erde das Ge-schenk der Gastfreundschaft erfahren habe, empfinde ich den Mangel an Gastfreundschaft in diesem reichen Land als Armutszeugnis. Nachdem in der Begegnung mit fremder Kultur und

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    mit fremder Religion mein Leben intensiver und meinen Glauben tiefer wurden, leide ich an dem Mangel an Interesse, der hier nur allzu offensichtlich ist. Die Beispiele lassen sich fort-setzen.

    Befremdlich ist all dies, weil jeweils eine Differenz erlebt wird zwischen dem, wie es ist, und dem, wie es sein könnte. Diese Differenz zu erleben ist schmerzhaft, aber wenn dieser Schmerz ausgehalten wird, kann aus ihm heraus eine fruchtbare Spannung entstehen. Aus dem Schmerz heraus kann die Sehnsucht wachsen, dass es anders und besser wird. Dies kann dazu fuhren, dass die eine oder andere Schwierigkeit, sich wieder einzuleben, in einem neuen Licht erscheint. Es muss ja gar nicht sein, dass ich schnell wieder ganz heimisch werde, dass ich mich einfache anpasse. Auch hier ist es möglich, punktuell, ansatzweise, zeichenhaft und in aller Vorläufigkeit Fremdsein bewusst zu gestalten, alternativ zu leben und Alternativen aufzuzeigen. Dabei geht es nicht so sehr um Aktion als vielmehr um Präsenz. Es geht oft we-niger um ein Tun als um ein Lassen. Es gibt Vieles, bei dem ich nicht mitzumachen brauche, und dadurch entstehen ungeahnte Freiräume. Auch hierzu zwei Beispiele. In unserer Gesell-schaft gilt nach wie vor die nicht zukunftsfähige Formel: „Viel haben = gut leben“. Um der fernen Nächsten willen und im Interesse der zukünftigen Generationen ist es jedoch nötig, andere tragfähige Formeln zu finden. „Weniger = mehr“ könnte eine solche Formel sein. Dass weniger Haben dazu fuhren kann, dass intensiver gelebt wird, haben viele ökumenische Mitarbeiter/innen bei sich und bei anderen erlebt. Ein anderer Punkt ist der Umgang mit der Zeit. Immer schneller ist Motto der westlichen Gesellschaft. Was verloren geht, ist die Muße, sind die Gelegenheiten zu sich selbst und zu anderen zu finden. Ist es immer nötig, auf dieses sich immer schneller drehende, Schwindel erregende und das Bewusstsein raubende Karus-sell aufzuspringen, oder gibt es nicht auch Gelegenheiten zur Entschleunigung beizutragen?

    Dass solche Versuche, im Kleinen Alternativen aufzuzeigen, andere Menschen nachdenklich machen und Gespräche auslösen können, braucht fast nicht erwähnt zu werden. Dass man dabei immer wieder auf Menschen trifft, die ohne im Ausland gewesen zu sein, sich dennoch fremd fühlen und eine ähnliche Sehnsucht kennen, ist ein Geschenk. Erstaunlich ist es und Grund zur Dankbarkeit, dass ihre Zahl größer ist als je vermutet. In Gemeinschaft mit ihnen ist es möglich, auch immer wieder einmal für kurze Zeit Heimat zu finden. Ansonsten gilt jedoch die alte biblische Weisheit, dass wir hier keine bleibende Stadt haben, sondern die zukünftige suchen (Hebr. 13, 14). Gerade weil wir hier nicht ganz heimisch werden, halten wir gleichsam die Zukunft offen, schaffen wir Zwischenräume, in denen hin und wieder et-was von der fremden Wirk-Iichkeit Gottes einbrechen kann.

    Lutz DRESCHER, Stuttgart

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    Das Leben der Koreaner in Deutschland im Wandel der Zeit

    Sehr geehrte Damen und Herren,

    es ist mir eine große Ehre, an der Stelle des Generalkonsuls Ihnen ein Grußwort sagen zu dürfen. Mein Name ist KIM Heung Yoon und ich vertrete z.Z. den Generalkonsul LEE, der am 12. Januar 2002 nach Korea zurückberufen wurde. Ich arbeite seit August 1998 als Kon-sul in Frankfurt.

    Ich denke, die Teilnehmer an dieser Koreanisch-Deutschen Begegnungstagung sind ernsthaf-te Christen, die auch Korea lieb haben.

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    1. Was denken die Koreaner über die Deutschen?

    Meiner Meinung nach mögen die meisten Koreaner die Deutschen, und sie beneiden sie auch und respektieren sie. Es gibt einige Gründe für solche Zuneigung:

    1) Die deutsche Regierung hat uns vor etwa 50 Jahren während des Korea-Kriegs gehol-fen; 2) Neulich haben die deutschen Firmen in Korea relativ viel Kapital investiert, auch wenn es die Finanzkrise erlitten hat. Das war ein Zeichen für das Vertrauen der wirtschaftli-chen Potentialität Koreas, das wiederum andere Investoren motiviert hat, in Korea ihr Kapital auch weiter zu investieren; 3) Die Koreaner beneiden die Wiedervereinigung Deutschlands vor 10 Jahren. Ich glau-be, dass sie Gottes Geschenk für die Deutschen ist; 4) Die Koreaner mögen deutsche Waren. Made in Germany ist ein Symbol für gute Pro-dukte; 5) Die koreanische Regierung ist der deutschen Regierung dafür sehr dankbar, dass sie in den 60er Jahren vielen koreanischen Bergarbeitern und Krankenschwestern die Chance gege-ben hat in Deutschland zu arbeiten. Darüber hinaus konnte die koreanische Regierung ein großes Darlehen von Deutschland erhalten, das ein Teil des Grundkapital Koreas wurde. 2. Die Koreaner in Deutschland

    Etwa 30.000 Koreanerinnen und Koreaner leben in Deutschland. Deutschland ist das Land, in dem innerhalb Europas die meisten Koreaner leben.

    Unter ihnen sind etwa 23.000 Bergarbeiter und Krankenschwester und ihre Familien. Um konkreter zu sagen, kam die erste Bergarbeitergruppe (120) 1963 auf der Basis des Korea-Deutschland-Vertrags, und bis 1977 insgesamt 7.936 Koreaner als Bergarbeiter nach Deutschland. Die Krankenschwestern zählten insgesamt 10.032 Personen von 1963 bis 1977.

    Die Zahl der Angestellten bei koreanischen Firmen in Deutschland und der Selbständigen beträgt ca. 600 und mit ihren Familien ca. 2.000. Die StudentInnen und die Auszubildenden sind ca. 5.300.

    Außerdem gibt es ca. 2.350 Adoptivkinder. Sie leben hier gesetzlich und gesellschaftlich als Deutsche integriert. Deswegen werden sie normalerweise in der Statistik nicht aufgeführt.

    Ca. 40% von Bergarbeitern und Krankenschwestern sind nach dem Ende des Vertrags hier geblieben, 30% sind in die USA oder nach Kanada weiter ausgewandert und 30% sind nach Korea zurückgekehrt.

    Ca. 6.700 Koreaner (21%) besitzen mittlerweile deutsche Staatsbürgerschaft, und ca. 7.600 (24%) haben Dauerwohnrecht. Die Zahl der länger als ein Jahr bleibenden Gäste beläuft sich auf 15.000 (48%) und ca. 2.000 Koreaner (6%) halten sich in Deutschland als Auszubildende u.a. kürzer als ein Jahr auf. 3. Das Leben der Koreaner in Deutschland

    1) Sie gehören meistens, wirtschaftlich gesehen, zur Mittelschicht; 2) Im sozialen und politischen Engagement sind sie dagegen nicht so aktiv; 3) Die erste Migrantengeneration wird älter, und die zweite Generation hat angefangen, sich in der Gesellschaft stark zu engagieren. Deswegen befindet sich die koreanische Welt nun in der Übergangsphase von der ersten zu der zweiten Migrantengeneration.

    Als koreanischer Konsul bin ich sehr stolz darauf, dass die Koreaner sehr selten irgendeine Kriminalität begehen. Sie sind nicht so reich, aber auch nicht so sehr arm, dass sie die ande-ren Mitbürger belästigen können. Nur zwei Koreaner sitzen z.Z. (8. Februar 2002) im Ge-

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    fängnis. Das spricht dafür, dass die Koreaner in Deutschland die betreffenden Gesetze sehr gut halten und angepasst leben.

    Koreaner sind ein Kultur liebendes Volk. In einem fremden Land vermissen sie öfter etwas Traditi-onelles, z.B. Bauernmusik, ein-heimische Spiele, oder verschie-dene koreanische Konzerte, etc. Daher nehmen sie gerne an den Veranstaltungen teil, die mit der koreanischen Tradition zu tun ha-ben. Die Kinder aus der zweiten Generation lernen Koreanisch (Hangúl) und koreanische Lieder am Wochenende in der Hangúl-Schule.

    Konsul KIM Heung-Yoon

    Die Jugendlichen haben als Mino-rität in der Gesellschaft ihre eige-ne Vernetzung aufgebaut, um ihre Einsamkeit, Schmerzen oder sogar Scheitern miteinander besprechen zu können. Sie leben gesetzlich als Deutsche, aber die kulturelle Ver-schiedenheit läßt sie ihre Grenzen in ihrer Lebensumwelt erkennen. Die Vernetzung ist ein Weg, durch den sie sich gegenseitig helfen können.

    Die selbständigen Koreaner betreiben meistens ein koreanisches Restaurant, einen Geschen-keshop, ein Reisebüro, eine Autowerkstatt, handeln mit Immobilien oder haben eine kleine Handelsfirma. Sie übernehmen einen Teil des Handelsverkehrs zwischen Korea und Deutsch-land, auch wenn sie kleine Betriebe haben. Darüber hinaus tragen sie schon teilweise zum Aufbau der gesunden Lebensbasis für die Zukunft Deutschlands bei. 4. Die religiöse Situation der Koreaner

    Die protestantische Kirche hat 92 Gemeinden: in Berlin und Umgebung sind es 20, in Düs-seldorf und Umgebung 25, in Frankfurt und Umgebung 19, in Hamburg und Umgebung 12 und in München und Umgebung 16 Gemeinden. Die katholische Kirche hat 6 Gemeinden: in Berlin, Ruhr-Gebiet, Mainz, Köln, Hamburg und München. Drei buddhistische Tempel befinden sich in Berlin, Bremen und Kaarst.

    Ich möchte einen Witz hinsichtlich des religiösen Lebens der Koreaner erzählen: Wenn sich drei Chinesen treffen, eröffnen sie ein chinesisches Restaurant; Wenn sich drei Japaner treffen, gründen sie eine Aktiengesellschaft; Wenn sich drei Koreaner treffen, bauen sie eine Kirche auf.

    Wenn die Koreaner ins Ausland fahren, besuchen viele von ihnen die koreanische Kirche. Denn sie können dort nicht nur den einheimischen Gottesdienst feiern, sondern auch die In-formationen über das Leben im Ausland bekommen. D.h.: die Kirche ist sowohl ein Ort für

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    den Gottesdienst, als auch ein Treffpunkt, wo man sich mit Freunden trifft, etwas über Korea erfährt oder Lebensweisheiten erhalten kann.

    Ich halte diese Koreanisch-Deutsche-Begegnungstagung deshalb für wichtig, weil wir alle während der Tagung den kulturellen Austausch oder Freundschaften erleben können. Ich bin sicher, dass solche Begegnungen die Beziehungen zwischen beiden Ländern verbessern und verstärken können.

    Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit! Konsul KIM Heung Yoon, Frankfurt am Main

    (zusammengefasst und übersetzt von KIM Sung Keun)

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    Wo und wann fühle ich mich zu Hause?

    I. Impuls: eine Krankenschwester erzählt Es war einmal eine glückliche und harmonische Familie. Sie lebte außerhalb der Stadt Kwang-Ju in einem ländlichen Gebiet. Alle nannten ihr Haus das Haus des Feigenbaumes. In ihm lebten Vater, Mutter und 7 Kinder (fünf Söhne, zwei Töchter).

    Vater: ein Geschäftsmann, streng, ehrlich, sparsam, eng. Er denkt, er käme in den Himmel, auch wenn er nicht in die Kirche gehe, da er niemand etwas zuleide getan habe. Mutter: Ge-genteil des Vaters, großherzig, hilfsbereit, sehr weise, sehr gläubig, sehr offen. Viele Jahre war sie Leiterin der Frauengruppe ihrer Gemeinde. Sie hat großes Ansehen bei den Nachbarn. Sie organisiert alle landwirtschaftlichen Arbeiten.

    Es waren immer viele Menschen im Haus. Landwirtschaftliche ArbeiterInnen, die keine Ar-beit und nichts zu Essen hatten, kamen einfach zu uns, verrichteten kleine Arbeiten und aßen mit der Familie. Und dann kamen auch viele Gemeindemitglieder, Pfarrer, Kirchenälteste und Vorstandsmitglieder. Für uns Kinder war das einerseits sehr störend, weil man sich nicht auf irgendetwas konzentrieren konnte, andererseits schön, so viele Menschen um sich zu haben. Vorteilhaft war auch, dass wir nicht bei der Hausarbeit mithelfen mussten.

    Eines Tages hörte ich, dass in einer christlichen Schule (Gymnasium) in Kwang-Ju einige Schülerinnen nach Deutschland geschickt werden sollen, um dort im Krankenhaus zu arbei-ten. In Deutschland war ein Mangel an Krankenschwestern. Ich drängte und bettelte meine Eltern an, an diese Schule versetzt zu werden. Für mich war es sehr überraschend, dass mein Vater mit dem Schulwechsel einverstanden war.

    1965 war es sehr schwer, ins Ausland zu gehen. Vor unserer Abreise wurden wir von Präsi-dent PARK Chong-Hee ins Chungwhadae, das Blaue Haus, den Amtssitz des Präsidenten eingeladen. Er lud uns zum Tee trinken aus schönen europäischen Tassen ein. Das war meine erste Begegnung mit der europäischen Kultur. Für mich war das eine große Ehre und eine aufregende Begegnung. Ich war 18 Jahre alt. Der Abschied war sehr schmerzhaft, denn ich war noch nie mehr als 3 Tage von meiner Familie getrennt. Ich war voller Spannung und Er-wartungen auf das unbekannte Land Deutschland. Wir wussten sehr wenig über Deutschland. Aus dem Geschichtsbuch wusste ich gerade noch, dass Deutschland Verursacher des 2. Welt-kriegs war und wie Korea ein zweigeteiltes Land. Von Kultur, Menschen, Tradition und Re-ligion hatte ich keine Ahnung. Bis dahin machte ich mir auch keine Gedanken darüber. Dann kam der Tag des Abschiednehmens, der 5. Mai 1965. In Korea Tag des Kindes. Wenn ich mein bisheriges Leben in vier Phasen aufteilen würde, war das meine erste Phase.

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    Meine zweite Phase beginnt hier in Deutschland. Wir landeten am 8. Mai1965 in Köln. Es ist in Korea der Tag der Eltern. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie viele Tränen ich ge-weint habe.

    Wir haben gestern darüber gesprochen, was uns fremd ist. Nun, für mich war damals alles fremd. Menschen, Essen, Straßen, Sprache, Diakonissenschwestern im Krankenhaus und Ar-beit im Krankenhaus. Zu Hause brauchte ich nur die Schule zu besuchen und zu lernen. Aber ich weiß nicht, was für mich schlimmer war: der Trennungsschmerz oder der Kulturschock. Beides hängt wahrscheinlich stark miteinander zusammen.

    Sung-Sook KIM-HEIL (rechts im Bild) Was mich noch sehr traurig machte, war der Wissensstand der Deutschen. Sie sprachen meis-tens von Korea als einem unentwickelten Land, eben einem Dritte-Welt-Land und erinnerten sich an den Koreakrieg, der mein Land in zwei Hälften trennte: Nord und Süd. Ich fühlte mich sehr verletzt, weil ihr Wissen nicht darüber hinaus ging und auch kein Interesse bestand. Ich fühlte mich deshalb auch oft als Mensch dritter Klasse. Ich hatte mir fest vorgenommen, keinen Tag länger als im Vertrag vereinbart (5 Jahre) hier zu bleiben. Ich wäre am liebsten vorher zurückgeflogen. Doch mein Stolz ließ das nicht zu und ich dachte vor allem an meine Familie, die große Erwartungen in mich gesetzt hatte. Es war meine Leidenszeit, über die ich im Nachhinein sehr dankbar bin. Diese Erfahrung möchte ich nicht missen.

    Dritte Phase: Ich war mit meinen fünf Schulfreundinnen in einem Diakonissenkrankenhaus in Frankfurt am Main untergebracht. Wir hatten kaum Kontakt mit der Außenwelt, außer mit den Schwestern und den Patienten.

    Hier lernte ich meinen Mann kennen. Ich kann nicht behaupten, dass es Liebe auf den ersten Blick war. Aber meinem vereinsamten Herz gab er Wärme. Er war immer sehr liebenswür-dig. Wir heirateten im Januar 1971. Ich habe meinen Mann nie als Deutschen, sondern als Gleichen angesehen. Wir haben wohl kleine Auseinandersetzungen gehabt, wie jedes Ehe-paar, bestimmt auch durch die kulturellen Unterschiede, aber es muss nicht so prägend gewe-sen sein, dass ich mich heute noch daran erinnern kann. Eins tat mir aber doch sehr weh: in der Anfangszeit unserer Ehe verstand mein Mann nicht, dass ich ihn liebe, aber trotzdem sehr starkes Heimweh habe. Er glaubte, dass mein Heimweh Ausdruck mangelnder Liebe sei. Er konnte es nicht verstehen, weil er nie seine Heimat verlassen hatte.

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    Wir bekamen zwei Kinder, die uns viel Freude machen. Durch unsere Kinder fühlte ich mich geborgen und durch meine Familie gestärkt. Trotzdem war mein Herz voller Sehnsucht nach meinen Eltern und Geschwistern. Paradoxerweise pflegte ich immer noch den Gedanken, irgendwann gehe ich wieder zurück zu meinen Eltern und lebe mit ihnen. In dieser Zeit gab es hier wenige deutsch-koreanische Ehen. Wir wurden noch schief angeschaut. Wir gehörten weder zur deutschen noch zur koreanischen Gesellschaft. So war mein Bekanntenkreis auf wenige Freundinnen, die auch mit deutschen Männern verheiratet sind, begrenzt.

    Vierte Phase: Durch meinen begrenzten Bekanntenkreis wusste ich sehr wenig über hier le-bende Koreanerinnen. Eines Tages hörte ich, dass es in Frankfurt am Main bereits einige ko-reanische Gemeinden gibt. Eine Freundin nahm mich mit in die Koreanische Evangelische Gemeinde im Rhein-Main-Gebiet. Meine ganzen Erinnerungen wurden wach. Mein Herz wurde weich und warm. Ich stürzte mich ins Gemeindeleben. Pfr. LEE He-Dong half mir sehr. Hier erlebte ich Gemeinde anders als bisher, nämlich politisch sehr engagiert gegen die Diktatur in Korea und für die Integration der hier lebenden Koreaner. Das gefiel mir sehr.

    Trotz meines neu gewonnen Gemeindelebens fühlte ich mich hier in Deutschland nicht 100%ig zu Hause. Denn ich fühlte mich trotz meiner deutschen Staatsbürgerschaft immer noch wie eine Ausländerin.

    Unsere Gemeinde feiert den Gottesdienst im Ökumenischen Zentrum Christuskirche auf dem Beethovenplatz in Frankfurt am Main. Unter dem Dach des Ökumenischen Zentrums feiern vier Gemeinden ihren Gottesdienst: die Allafrikanische Gemeinde, die Christus-Immanuel-Gemeinde, die Serbisch-Orthodoxe Gemeinde und unsere Gemeinde.

    Es gab einen Leitungskreis, in den die vier Gemeinden jeweils zwei Gemeindeglieder und den Pfarrer delegierten, um die ökumenische Zusammenarbeit zu diskutieren und zu planen. Hier habe ich sehr viel gelernt, meinen Horizont erweitert und meine Identität gestärkt. Trotz unserer guten Zusammenarbeit gab es viele Differenzen. Die ökumenische Zusammenarbeit verlangt viel Sensibilität. Inzwischen gehöre ich sowohl dem Vorstand der Christus-Immanuel-Gemeinde als auch dem Vorstand der Koreanischen Evangelischen Gemeinde im Rhein-Main-Gebiet an.

    Ich wurde in die 8. Kirchensynode der Evangelischen Kirche von Hessen und Nassau (EKHN) als Synodalmitglied berufen. Hier arbeitete ich im Ausschuss für Mission und Öku-mene. Ich fühlte mich in diesem Ausschuss ernst genommen. Wir setzten uns für Gerechtig-keit in Kirche und Gesellschaft ein. Ich gehöre auch der Kammer für Mission und Ökumene der EKHN an. Jedes Mal bin ich begeistert über die Art, wie die Kammermitglieder an die gestellten Aufgaben herangehen und immer wieder Lösungen finden.

    Inzwischen lebe ich seit 36 Jahren in Deutschland und arbeite als Gemeindeschwester. Viele Koreaner sagen, dass sie keine Heimat mehr haben. Aber ich kann bestimmt sagen, dass ich zwei Heimaten habe: Korea und Deutschland. Wenn ich nicht mehr arbeiten werde, möchte ich in meinen beiden Heimaten leben. Ein halbes Jahr in Korea und das andere halbe Jahr in Deutschland.

    Sung-Sook KIM-HEIL, Frankfurt am Main Du wirst nie zuhause sein wenn du keinen Gast keine Freunde hast dir fällt nie der Zauber ein wenn du dich verschließt nur dich selber siehst.

    Heinz Rudolf Kunze

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    II. Impuls: eine Studentin erzählt Ich bin zutiefst gerührt und geehrt, heute auf der Deutsch-koreanischen Begegnungstagung nach meinem fast sechsjährigen Aufenthalt in Deutschland meine Erlebnisse und Erfahrun-gen präsentieren zu dürfen.

    Da diesem Vortrag aber ein zeitlicher Rahmen von 15 Minuten gesetzt ist, bin ich ein wenig darum besorgt, meine Aussagen in kürzester Zeit inhaltlich vollständig übermitteln zu kön-nen. Anlass zum Studium im Ausland

    Für mich gab es zwei Beweggründe, in Deutschland zu studieren.

    Während meines Magisterkursus schlug mir Sabine Bauer (damals Ostasienreferentin beim EMS) vor, in Deutschland zu studieren. Sie versprach mir in jeder Hinsicht behilflich zu sein.

    Der zweite Grund war, dass von zu Hause aus Druck auf mich ausgeübt wurde, so bald wie möglich zu heiraten. Nachdem ich dazu gezwungen auf ein blind date zu gehen, mit der Ab-sicht in absehbarer Zeit zu heiraten, entschloss ich mich dazu, in Deutschland zu studieren.

    Während ich damit beschäftigt war meine Bewerbungsunterlagen für das Studium fertig zu stellen, begannen meine Eltern mit den Hochzeitsvorbereitungen. Letztendlich packte ich zwei Jeanshosen und ein paar Bücher zusammen und setzte mich in den Flieger nach Deutschland.

    Erste Eindrücke in Deutsch-land

    In Korea dachte ich immer, dass alle Deutschen sehr groß und körperlich viel kräftiger gebaut wären als Koreaner, aber nachdem ich viele Deut-sche zu sehen bekam, stellte sich heraus, dass das ein Irrtum war. Selbst unter den Deut-schen gibt es viele, die kleiner sind als ich; insbesondere spre-che ich hier auch von den deut-schen Männern!

    Ganz begeistert war ich von den vielen kleinen Städten Deutschlands und der sauberen, frischen Luft, die ich in Seoul keineswegs gewohnt war. Manchmal bekam ich sogar Schwindelanfälle von der sau-beren Luft.

    Was mir sonst noch auffiel, war, dass es draußen keine spielenden Kinder gab. Auch heute hat sich das nicht geän-

    dert. Noch schlimmer aber war das Wetter, das der Grund für Depressionen im ersten Jahr für

    KIM Yoon Hee

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    mich war. Besonders im Winter vermisste ich die bodenbeheizten Zimmer, die in Korea üb-lich sind.

    Das alltägliche Studentenleben

    Positive Aspekte

    1. In Deutschland gibt es keine Studiengebühren. Deshalb muss man sich nicht darum be-mühen gute Noten zu bekommen, um ein Stipendium, dass heißt einen Erlass der Stu-diengebühren, zu erhalten.

    2. Man kann selbst entscheiden und die Vorlesungen auswählen, die man gerne besuchen möchte, je nach Stärken und Schwächen des jeweiligen Professors. In Korea war ich ver-pflichtet, mindestens eine Vorlesung aller Professoren zu besuchen. Das war für mich zuweilen sehr grauenvoll.

    3. Man hat die Gelegenheit Studenten aus vielen Nationen kennen zu lernen. Hier trifft das Wort international vollkommen zu.

    4. Ein Studentenausweis genügt, um sehr gute Konzerte oder Theaterstücke ermäßigt sehen zu können. Auch in Korea gibt es für Studenten eine Begünstigung, die aber bei weitem nicht mit der Gleichberechtigung wie hier zu Lande zu vergleichen ist.

    5. Besonders positiv stellte sich mir das deutsche Sozialversicherungssystem dar. Als ich beispielsweise am Kiefer operiert werden musste, übernahm die Krankenkasse die gesam-ten Kosten.

    Negative Aspekte

    1. Bücher sind so teuer, dass man sich kaum welche leisten kann. Wenn man in der Biblio-thek Bücher bestellt, muss man mindestens 3-4 Wochen warten bis sie zur Verfügung stehen.

    2. In Deutschland kann man in Bibliotheken nicht bis in die späte Nacht lernen, sowie es in Korea üblich ist.

    3. Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist so teuer, dass man nicht allzu weite Stre-cken lieber zu Fuß läuft.

    4. Ausländischen Studenten ist es erlaubt bis zu 90 Tagen im Jahr zu arbeiten. Soll das hei-ßen, dass man darüber hinaus illegal arbeiten muss?

    5. Es ist sehr schwierig in Deutschland eine Wohnung zu finden. Ich wurde oftmals schon am Telefon abgelehnt, aus dem einzigem Grund, Ausländerin zu sein.

    6. In dem Gebiet, wo ich lebe, scheinen die Leute sehr stolz darauf zu sein, ihren Dialekt zu sprechen, deshalb kam ich bei Diskussionen in den Vorlesungen oft nicht zu Wort.

    Beeindruckende Aspekte

    1. In Deutschland wird sehr viel diskutiert. Es kam sogar einmal während einer Vorlesung vor, dass ausführlich darüber verhandelt werden musste, wie weit das Fenster geöffnet werden sollte; ob der Winkel nun bei 45 oder 90º angemessen wäre.

    2. Das Verhalten der Studenten im Hörsaal war bemerkenswert. Während der Professor sei-ne Vorlesung hielt, tranken die Studenten Wasser, Tee oder Kaffee und aßen manchmal sogar Brote oder Äpfel. Wer während der Vorlesung den Hörsaal verlassen wollte, stand einfach auf und ging raus. Nicht nur das, auch Haustiere wie Hunde, ob klein oder groß, brachten sie mit zur Vorlesung. Respekt vor den Professoren war nicht zu erkennen.

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    3. Ich gehe gern spazieren, wobei mich doch so manche deutschen Männer immer mit der gleichen Frage belästigt haben: Sie sind aus Thailand - oder ?. Ich bin beruhigt, dass mir die deutschen Männern unter Ihnen diese Frage heute nicht stellen werden.

    In traurigen und einsamen Zeiten

    1. Um mit deutschen Bekannten telefonieren zu können, musste ich erst einen Termin ver-einbaren. Wenn die zu besprechende Angelegenheit geklärt war, wurde nicht lange weiter geplaudert, sondern oftmals sofort aufgelegt. Das war schon eine sehr traurige Sache für mich, denn in Korea war es eines meiner Lieblingsfreizeitbeschäftigungen zu telefonie-ren.

    2. Vor zwei Jahren, als ich es sehr schwer zu Herzen nahm, wusste ich mir kaum zu helfen und irrte ziellos umher. Zu diesem Zeitpunkt fühlte ich wahrlich wie die Mitmenschlich-keit verloren ging. Auf deutsche Art und Weise wurde ich des öfteren getröstet, doch die Wunden sind bis jetzt noch nicht verheilt.

    3. In der Mensa gab es einmal drei Tage hintereinander nur Kartoffelgerichte, Kartoffelsalat, Kartoffelpüree, Bratkartoffeln, Kartoffelauflauf usw. Ich träumte sogar von Kartoffeln. Als dann zur Abwechslung Blumenkohl auf dem Speiseplan stand, war es fast unfassbar für mich, dass ich beinahe nach hinten umfiel.

    4. Es geschah im Studentenwohnheim. Ich war zu einer Party eingeladen und hatte nichts mitgebracht. Als ich ankam, sagte man mir, ich solle mir mein Besteck aus meinem Zimmer holen, was ich dann auch tat. Es war mir unbegreiflich, als ich zurückkam und zusehen mußte wie jeder das zu essen begann, was er selbst zuvor mitgebracht hatte.

    5. Bevor ich morgens meine Augen öffne und aufstehe, sage ich mir immer das Gleiche: Du mußt wie eine Deutsche denken, wenn Du deutsch sprichst! Dieser Gedanke stresst mich immer wieder und macht mich traurig.

    Ich habe Ihnen ein wenig von meinen persönlichen Erlebnisse und Erfahrungen als ausländi-sche Studentin in Deutschland erzählt. Als ich heute morgen aufwachte, hatte ich ausnahms-weise mal keine Kopfschmerzen wegen der deutschen Sprache. Der Grund dafür war, dass ich mich schon auf die vielen KoreanerInnen auf dieser Tagung gefreut hatte. Ich möchte mich bei Ihnen allen recht herzlich bedanken.

    KIM Yoon Hee, Tübingen

    III. Impuls: eine Hausfrau erzählt

    Es war an einem Tag , als wir mit den Asylbewerbern einen Bibelkreis hatten. Pfr. LEE Be-om-Seong sagte zu mir: „Nächstes Jahr findet die Koreanisch-Deutsche Begegnungstagung statt. Das Thema lautet: Fremde-Heimat-Deutschland, es wäre schön wenn Sie auch einen Kurzvortrag halten könnten.“

    Ich entgegnete ihm: „Ich bin doch eine ganz normale Hausfrau. Was kann ich dazu sagen?“ Als ich an diesem Tag nach Hause kam, berichtete ich alles meinem Mann und meinen Söh-nen und fragte sie, wie ich es am besten vorbereiten könnte.

    Da sagte mein jüngster Sohn: "Mama mach dir keine Sorgen“ Fremde (Mama) und Heimat (Papa) ist Deutschland (wir). Er sagte: “Wir leben in einer multikulturellen Zeit.“

    Es sind inzwischen 19 Jahre vergangen, seit ich meine Heimat verlassen hab und hierher in eine fremde, ganz andere Kultur gekommen bin. Inzwischen ist sie mir zu einer zweiten Heimat geworden. Ich liebe die alte Stadt Lauffen, in der ich sehr gern wohne. Wenn ich

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    mich in meiner Umgebung umschaue, sehe ich die schönen Weinberge. An unserem Ort ent-lang fliesst der Neckar. Wenn es Frühling wird, gibt es allerlei Vögel. Apfel- und Kirsch-bäume stehen in voller Blüte und auch wenn nur ein sanfter Wind weht, ist es, als würde wei-sser Schnee fallen. Wenn es Sommer wird, gibt es in jedem Haus, auf jedem Balkon und in jedem Garten Blumen der Saison und es erfüllt mich mit Freude, in einer solchen Umgebung zu leben.

    Georg & Young Ai WAGERMAIER

    Aber das ist noch nicht alles. Hier ist meine Heimat, in der ich ein Leben lang mit meinem Mann zusammenlebe, in der ich eine Familie gegründet und zwei Söhne bekommen habe, die hier bis heute in einem Nest der Liebe aufwachsen. Ich bin als asiatische Frau hierher ge-kommen und habe an diesem Ort meinen Platz angenommen. Ich bin an einem guten Ort mit guten Freunden und Menschen, die meine Hilfe brauchen, denen ich meine Hilfe geben und mit denen ich meine Liebe teilen kann. Ich danke Gott, der mich bis zu dieser Stunde geführt hat. Er ist meine Hoffnung, hier mit meinen Mann und meinen zwei Söhnen ein Leben zu führen, das sich nicht zu verstecken braucht.

    Jemand hat einmal gesagt und genau so ist es auch: „Die Kraft lieben zu können, ist das grösste Geschenk, das Gott den Menschen gegeben hat.“ Und genauso ist es auch. Wenn ich in die Zukunft blicke, fühle ich mich manchmal als sei es eine finstere Welt und fühle mich bedrückt. Wie ein Pilger, der in ausgebreiteter Finsternis den Weg durch die Wüste geht. Und doch gibt es ihn, den Sternenschein, der uns immer mit dem Licht der Liebe den Weg führt und diese Welt ein gutes Stück wärmer machen kann. Das glaube ich. Wir leben in einer Zeit, in der wir uns nach Wärme sehnen. Ich möchte, dass ein warmes Herz ein Teil von mir ist und alle Dinge lieben kann. Alle Menschen, die an mir vorüber gegangen sind und die ich in Zukunft noch treffen werde, möchte ich ins Gebet einschliessen und sie lieben. Gott, der die-ses Herz gegeben hat, danke ich und möchte ich auch weiterhin danken. Von der Zeit an, als ich nach Deutschland gekommen bin, bis jetzt zu dieser Zeit, in der ich auf das Vergangene zurückblicken kann, danke ich Gott.

    Young Ai & Georg WAGERMAIER, Lauffen a.N. Die ursprüngliche Heimat ist eine Mutter, die zweite eine Stiefmutter.

    Sprichwort

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    IV. Impuls: ein ökumenischer Mitarbeiter erzählt Leider habe ich mich hier nicht oft zu Hause gefühlt. Ich will nur einige meiner Erfahrungen mitteilen:

    Vor zwei Jahren wurden meine Frau und ich von einer Gemeinde zum Gottesdienst eingela-den. Nachdem Gottesdienst hat der deutsche Pfarrer vorgeschlagen: „Haben Sie Zeit und Lust, durch der Dorf zu gehen?“ Wir antworteten. „Ja, sehr gern.“ Dieses Dorf ist klein, aber schön und berühmt wegen dem Wein. Am Ende des Spaziergangs, hat der Pfarrer plötzlich gesagt. „Ich habe eine gute Idee. Ein ehemaliger Presbyter in unserer Gemeinde ist Winzer. Wollen Sie einmal dort hingehen?“

    Wir haben das Haus des Winzers ohne Termin besucht. Der Winzer und seine Frau waren sehr nett und freuten sich, uns zu empfangen. Seine Frau sagte, dass sie uns in der Gemeinde schon gesehen hat. Wir konnten in seinem Weinkeller viele verschiedene Weine probieren. Das haben wir hier zum ersten Mal so erlebt.

    Und dann wurden wir in ihr Wohnzimmer geleitet und wir haben uns unterhalten. Sie waren an der koreanischen Kultur interessiert und haben viel über Korea gefragt. Seine Frau fragte. „Wie sitzen Koreaner auf dem Boden?“ Wir zeigt es, und wir alle setzten uns zusammen auf den Boden und unterhielten uns weiter.

    Ihre Tochter kam zu Besuch und sagte. „Mama, was passiert hier?“ Die Mama sagte: „Wir lernen jetzt ein bisschen koreanische Kultur.“

    Die Frau des Winzers hat uns vorgeschlagen: „Wann kommen Sie in mein Haus, damit wir zusammen Koreanisches Essen kochen.“ Wir sagten: „Ja sehr gern.“ Und wir machten einen Termin aus. Sie hat auch Stäbchen aus der Küche mitgebracht und gefragt: „Wie benutzt man Stäbchen? Ist das so richtig?“ Sie hat dann mit allen Deutschen viel geübt.

    So waren wir bis ungefähr 23:00 Uhr zusammen und gingen dann nach Hause. Wir waren ein bisschen müde, trotzdem haben wir uns damals sehr glücklich gefühlt bei den Leuten, die wir zum erst mal getroffen haben. Damals haben wir uns wie in der Heimat gefühlt.

    Einen Monat später haben wir mit der Familie des Winzers und mit ihren Nachbarn zusam-men koreanisches Essen gekocht und gemeinsam gegessen. Ich konnte dort ihr Leben aus der Nähe ein bisschen beobachten. Ich konnte normales Leben von Deutschen etwas kennenler-nen.

    Ich denke, es war sehr gut für mich und sie sind sehr nett und freundlich. Dadurch haben wir mit ihnen leicht Freundschaft geschlossen. Danach haben wir sie ab und zu besucht - ohne Termin - und konnten uns zusammen freundlich unterhalten. Ich habe das nie vergessen.

    Ich möchte von einer weiteren Erfahrung berichten: Wenn ich zur Weihnachtszeit von Freun-den oder Bekannten eine Einladung bekomme, habe ich mich in ihrer Wohnung mit ihren Familien unterhalten und gegessen. Ich habe ihre Lebensgeschichte im Gespräch gehört und auch über unsere koreanische Lebensgeschichte erzählt. Wir konnten auch deutsche Spiele von ihren Kinder lernen. Ich habe sie koreanische Spiele gelehrt und wir haben zusammen gespielt. Besonders die Kindern waren neugierig und hatten viel Spaß an unseren Spielen. Dabei konnte ich deutsche Kultur und Sitten besser kennenlernen als sonst. Und ich konnte mich mit ihnen eher anfreunden.

    Wenn ich von den deutschen Freunden und Bekannten privat eine Einladung bekomme, und wir gemütlich zusammensitzen und gemeinsam essen, dann freue ich mich und habe ein gutes Gefühl - ähnliche wie in der Heimat.

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    Durch diese Beispiele ist mir an einigen Punkten klar geworden, wo und wann ich mich zu Hause fühle:

    Erstens: wenn ich ohne Termin zu Besuch kommen kann und der Gastgeber sich freut und wir eine gute Gastfreundschaft erleben.

    Zweitens: bei privaten Treffen und private Einladungen habe ich mich mehr zu Hause gefühlt als bei offiziellen Begegnungen oder Treffen. Der Grund dafür ist: ich konnte in diese Zeit frei sprechen ohne Anstrengung und für mich war es eine Gelegenheit gute Freundschaft schließen zu können.

    Drittens: wenn wir zusammen kochen und gemeinsam essen, fühle ich mich zu Hause. Dadurch konnten wir gegenseitig die Kultur kennenlernen und eine freundliche Gemeinschaft erfahren.

    Viertens: wenn wir Spiele des anderen Landes zusammen spielen und uns mitteilen, fühle ich mich zu Hause

    Fünftens: wenn ich nicht nur einmal Kontakt, sondern weiteren Kontakt habe, dann ist das besser für mich als Ausländer.

    Zum Schluss möchte ich sagen: In Korea habe ich für Ausländer kein besonderes und konkre-tes Interesse gehabt. Wenn ich wieder in meine Heimat zurückkehre, werden meine Erfah-rungen als Ausländer in Deutschland für meine Begegnung mit Ausländern sehr wichtig sein. Ich werde sie viel besser verstehen und mit ihnen fühlen können.

    Pfr. YOO Young-Kyong, Landau

    ***

    Zuhause bin ich da, wo ich mein Herz hinlegen kann 1. Zu Beginn meines Dienstes in Korea habe ich viele Tränen vergossen. Es war nicht das Heimweh, das mich zum Weinen brachte, sondern das Tränengas, das im Frühjahr 1987 in reichem Masse verschossen wurde. Immer wieder war ich unterwegs bei den Demonstratio-nen als ein teilnehmender Beobachter. Oft waren junge Pfarrern und Pfarrerinnen mit dabei und aus dieser Erfahrung heraus gemeinsam sich einzusetzen und gemeinsam zu weinen ist ein bis heute anhaltendes Gefühl tiefer Verbundenheit entstanden. Ich erinnere mich gut an eine Begebenheit als plötzlich wie aus heiterem Himmel über uns Tränengasgranaten explo-dierten und wir halb blind versuchten in einem der nahegelegenen Häuser Zuflucht zu finden. Die Tür war verschlossen, aber als der Hausbesitzer durch einen Spalt uns husten, heulen und keuchen sah, da öffnete er die Tür und hilfreiche Hände führten uns zum nächsten Was-serhahn. Für kurze Zeit war ich in diesem Haus zuhause. Aber es gibt noch eine tiefere Ebe-ne. So seltsam, es klingen mag: Zuhause bin ich da, wo ich auch weinen darf, wo ich auch Schwäche zeigen kann, wo ich angenommen werde als der, der ich jeweils bin.

    2. Das gilt auch umgekehrt: Zuhause bin ich da, wo mich Menschen an ihren Konflikten teil-haben lassen. Dem Gast zeigt man sich nur von seiner besten Seite, dem Hausgenossen ge-genüber ist man authentisch. Als ich meinen Dienst in einer kleinen Gemeinde in einem Ar-menviertel begann, da kamen abends hin und wieder MitarbeiterInnen in meine Wohnung. Wir plauderten und tranken Bier und es war nett. Aber das Gefühl „Ich bin nicht nur Gast, ich gehöre hier dazu“, das entstand erst, als in meiner Wohnung ein heftiger Konflikt ausge-tragen wurde. Da spürte ich: „Die Menschen zeigen sich mir nicht nur von ihrer Sonnenseite. sie lassen mich an ihrem Leben teilhaben, sie haben mich aufgenommen, hier bin ich ein Stück weit zuhause“

  • 20

    3. In den Jahren meines Dienstes in dieser Gemeinde gelang es schließlich ein „Haus des Friedens“ einzurichten. Es war einen Treffpunkt an dem alte Menschen zusammen kommen und miteinander plaudern konnten. Eines Tages führte ich einen Besucher dorthin und er fragte. „Wie geht es Ihnen denn“. Und sie antworteten mit einer koreanischen Redensart, die mir in ihrer tiefen Bedeutung erst bei dieser Begegnung deutlich wurde: „Yogi Maum nohko issul su issda“ - wörtlich übersetzt: „Hier kann ich mein Herz hinlegen“. Zuhause bin ich da, wo ich mein Herz hinlegen kann. Es gibt menschliche Beziehungen, wo dies ansatzweise erfahren wird. Es ist möglich, dass wir Menschen einander ein Stück Heimat schenken (und damit sage ich, dass Heimat nicht zuerst ein Ort ist, sondern eine Qualität einer Beziehung). Zugleich aber weist dieses Wort darüber hinaus: mein Herz hinlegen – bei Menschen gelingt das immer nur ansatzweise. Bei Gott gelingt es ganz. Ihm kann ich mein Herz hinlegen, darf es aber auch ausschütten und dort erfahre ich, dass ich erkannt und verstanden werde. Bei Gott gibt es eine Verbundenheit und eine Zugehörigkeit und damit so etwas wie Heimat die nicht einmal der Tod zerstören kann. Und so kann gelten: Bei Gott bin ich zuhause nicht nur zeitlich, sondern ewig.

    Lutz DRESCHER, Stuttgart

    ***

    Das Erkennen des Anderen und die Gemeinschaft der Verschiedenen1

    1. Das Problem von Gleichheit und Ungleichheit

    Erkenntnis und Gemeinschaft sind wechselseitig aufeinander bezogen: Um in Gemeinschaft miteinander zu kommen, müssen wir uns gegenseitig erkennen; und um einander zu erken-nen, müssen wir uns näherkommen, in Kontakt miteinander treten und Beziehungen zueinan-der aufnehmen. Gemeinschaft im persönlichen wie im politischen Leben beruht ganz wesent-lich darauf, ob wir in der Lage sind, »die Anderen« wahrzunehmen, sie zu erkennen und an-zuerkennen, oder ob wir in »den Anderen« nur uns selbst widerspiegeln und sie nach unse-rem Bilde annehmen, um sie unseren Vorstellungen zu unterwerfen. Auf der anderen Seite werden unsere Wahrnehmungen und unsere Vorstellungen von »den Anderen« immer von unseren sozialen Beziehungen zu ihnen und unseren öffentlichen Formen der Gemeinschaft mit ihnen geprägt. Man könnte also sagen: Ohne Erkenntnis keine Gemeinschaft und ohne Gemeinschaft keine Erkenntnis.

    Ist diese ziemlich allgemeine Zuordnung richtig, dann folgt daraus, daß Erkenntnistheorie und Soziologie so eng aufeinander bezogen sind, daß die Gesetze in dem einen Bereich in dem anderen Bereich wiederkehren und Veränderungen in einem Bereich Veränderungen in dem anderen nach sich ziehen. Diesen Zusammenhang möchte ich analysieren und zur Dis-kussion stellen. Ich gehe von einer Vermutung aus, die mir schon früh gekommen ist und die ich immer wieder geäußert habe:2 1 Mit freundlicher Genehmigung aus: Jürgen Moltmann: Gott im Projekt der modernen Welt. Beiträge zur öf-fentlichen Relevanz der Theologie. © Chr. Kaiser/Gütersloher Verlagshaus GmbH, Gütersloh 1997, S. 125-140 2 J.Moltmann, Der gekreuzigte Gott. München 1972. 30: »Offenbarung im Widerspruch und das dialektische Erkennen«. M. Welker (Hg.). Diskussion über Jürgen Moltmanns Buch »Der gekreuzigte Gott«. München 1979, 188ff. Vgl. die Kontroverse mit W Kasper, Revolution im Gottesverständnis? und: »Dialektik, die umschlägt in Identität« - Was ist das? Zu Befürchtungen W. Kaspers, in: Welker (Hg.), 140ff. und 149ff. Siehe auch die Weiterführung durch J. Sobrino, Theologisches Erkennen in der europäischen und der lateinamerikanischen Theologie, in: K. Rahner (Hg.), Befreiende Theologie, Stuttgart 1977, 123 ff. - Ich bin eigentlich nur einer Frage nachgegangen, die E. Bloch aufgeworfen hat: Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt 1964, 16, »ob

  • 21

    Das Prinzip der Erkenntnis heißt seit Aristoteles: »Gleiches wird nur von Gleichem

    erkannt«.3 Das Prinzip der Gemeinschaft heißt seit Aristoteles:

    »Gleich und gleich gesellt sich gern«.4

    Das Prinzip der Entsprechung und der Erkenntnistheorie und das Ho-mogenitätsprinzip in der Gesell-schaftstheorie sind gleichlautend.

    Sind sie aber wahr? Dienen sie dem Erkennen »des Anderen«? Sind wir nicht für Andere selbst »die Ande-ren«?

    Es leuchtet schon auf den ersten Blick ein, daß diese Prinzipien für sich genommen gar nichts oder nur das Gegenteil bewirken. Wird Gleiches nur von gleichen erkannt, warum soll es überhaupt erkannt werden? Ist das Gleiche dem Glei-chen nicht völlig gleichgültig?5 Erkenne ich nur Gleiches oder nur mir schon Entsprechendes, dann erkenne ich doch nur das, was ich schon kenne. Der Reiz des Erken-

    nens fehlt. Das Interesse am Erkennen erlahmt. Wenn zwei dasselbe sagen, ist einer überflüs-sig, sagt ein russisches Sprichwort.

    Jürgen MOLTMANN

    Streben sozial die Gleichen immer nur zu den Gleichen, zieht dann nicht die totale Verödung in eine Gesellschaft ein? Die Reichen für sich und die Armen für sich; die Weißen für sich und die Schwarzen für sich, die Männer für sich und die Frauen für sich, die Gesunden für sich und die Behinderten für sich: Jeder bleibt unter seinesgleichen und keiner kennt »den Anderen«, denn »die Hölle - das sind die Anderen« (.J.-P. Sartre). Das wäre die totale Segre-gationsgesellschaft zusammenhangsloser Ghettos und in jedem Ghetto würde der Tod durch Langeweile herrschen.

    Muß man also nicht versuchen, von entgegengesetzten Prinzipien auszugehen, um zur Er-kenntnis der Anderen und zur Gemeinschaft mit Anderen zu gelangen?

    nur Gleiches Gleiches auffassen könne oder ob, umgekehrt Ungleiches dazu geeigneter wäre«. - Einen ontologi-schen Zugang zum Problem sucht E. Lévinas, Die Spur des Anderen, Freiburg 1983, 209ff.

    3 Metaphysik II, 4. 1000 b.

    4 Nikomachische Ethik, VIII, 4, 1155 a.

    5 Mit recht sagt E. Käsemann zur Charismenlehre des Paulus »Der Leib (Christi) besteht nicht aus einem, son-dern aus vielen Gliedern. – Denn während das Gleiche sich nur anödet und gegenseitig überflüssig macht, ver-mag das Unterschiedliche sich gegenseitig zu dienen und in diesem Dienst der Agape eins zu werden«, Exegeti-sche Versuche und Besinnungen I, Göttingen 1960, 115.

  • 22

    In der Erkenntnistheorie von dem Grundsatz: »Anderes wird nur von Anderen erkennt«

    in der Gesellschaftslehre von dem Grundsatz: »Die Annahme der Anderen schafft Gemeinschaft in der Verschiedenheit

    (community in diversity)«.

    Ich nenne das erste das Analogie- und Homogenitätsprinzip und das zweite das Prinzip der Differenz und der Verschiedenartigkeit oder: analogisches und dialektisches Denken. Ich will zunächst das erste genauer darstellen und dann das zweite. Ich werde beide Prinzipien jeweils an der Erkenntnis der anderen Menschen, der anderen Natur und des ganz-anderen Gottes prüfen, indem ich frage, zu welchen Formen von Gemeinschaft sie führen. Zuletzt werde ich nach dem Grund des Erkennens der Menschen, der Natur und Gottes im elementaren Staunen über das Dasein fragen. 2. Entsprechung in der Erkenntnis fährt zur Gemeinschaft von Gleichen und

    Gleichgemachten

    »Gleiches wird nur von Gleichem erkannt.« Wird dieser Gleichheitsgrundsatz in der Er-kenntnistheorie strikt verstanden, dann kann Ungleiches, d.h. »Anderes«, überhaupt nicht erkannt werden. Alles Erkennen ist dann nur ein Wiedererkennen von schon Bekanntem, und Erkenntnis ist nichts anderes als die »ewige Wiederkehr des Gleichen«. Die frühe griechische Philosophie hat diesen Grundsatz darum sofort auf das Ähnliche erweitert: »Ähnliches wird nur von Ähnlichem erkannt«. Wir erkennen nach Maßgabe der Analogie, wenn wir nach dem tertium comparationis fragen. In den Bereichen des Verschiedenen nimmt der Erkennende immer das Ähnliche, d. h. das ihm Entsprechende, wahr. Warum? Nur das, was in seinem Innern eine Entsprechung findet, wird von ihm wahrgenommen. Dem Makrokosmos draußen entspricht der Mikrokosmos drinnen. Jedes Erkennen von Dingen in der Außenwelt bringt eine Resonanz in der Innenwelt hervor, und so kommt es zur Erkenntnis. Wir würden heute sagen: Nur wenn der Empfangende die gleiche Wellenlänge eingeschaltet hat wie der Sen-dende, kann er ihn hören. Darum sagte Empedokles, auf den dieses erkenntnistheoretische Prinzip zurückgeht:

    »So griff Süßes nach Süßem, Bitteres stürmte auf Bitteres los, Saures auf Saures, Warmes ergoß sich auf Warmes. So trieb das Feuer empor, das zum Gleichen gelan-gen wollte«.

    Denn »mit der Erde (scil. in uns) sehen wir die Erde, mit dem Wasser das Wasser, mit der Luft die göttliche Luft, aber mit dem Feuer das vernichtende Feuer, mit der Liebe die Liebe, den Streit mit dem traurigen Streit«. 6

    Das erkenntnisleitende Interesse ist hier die Vereinigung des Gleichen im Menschen mit dem Gleichen im Kosmos. Gleiches strebt nach dem Gleichen, um sich mit ihm zu vereinigen. Es ist die das Universum schaffende und zusammenhaltende Macht des Eros, die zum Erkennen des Gleichen durch das Gleiche führt. Wesensgleichheit zwischen dem Makro- und dem Mik-rokosmos ermöglicht das menschliche Erkennen der Welt, und das Erkennen führt seinerseits die Menschen zur Gemeinschaft mit der Welt durch Entsprechung von drinnen und draußen. »Alles Getrennte findet sich wieder« (Hölderlin): Dieses Gemeinschaftsziel ist das Interesse und das Ziel des Erkennens. Der Grund liegt in der kosmischen Tatsache: »Alles ist im In-nern verwandt« (Eichendorf). Dieser ontologische Grundsatz macht die Vereinigung durch Erkennen möglich. Weil in der altgriechischen – wie ja auch in der alttestamentlichen Welt - Erkennen immer Gemeinschaft stiftet, ist das Erkennen durch und durch erotisch: »Da er-kannte Adam Eva ... « (Gen 4,1), und das Resultat war ihr Sohn Kain. Worin aber besteht die Macht des Eros? Sie liegt in der Anziehungskraft des Liebenswürdigen (eidos) auf die Liebe 6 W. Capelle, Die Vorsokratiker, Berlin 1958, 217f., 236.

  • 23

    (eros), des Reizvollen auf die Begierde und des Wertvollen auf die Anerkennung. Die Macht des Eros ist die Kraft des Erkennens und der Vereinigung und muß darum als die Grundlage dieser Erkenntnistheorie wie auch dieser Soziologie angesehen werden.

    Wir wenden nun diesen Grundsatz auf das Erkennen der anderen Menschen, der anderen Dinge und des ganz anderen Gottes an.

    1. Erkennen nur Gleiche einander, darin erkenne ich in anderen Menschen nur das, was mir selbst in meinem Wesen entspricht. Ich nehme das Andersartige und das Fremde an anderen Menschen nicht wahr, ich blende es aus. Nur das, worin wir uns gleichen, wird von mir er-kannt und kann zur Grundlage der Gemeinschaft zwischen eins werden. »Wahre Freund-schaft«, sagt Aristoteles, »besteht auf der Grundlage der Gleichheit«.7 Freundschaft der Glei-chen war der Inbegriff der griechischen Gesellschaftslehre. Dem entspricht der Geist der aus-gleichenden Gerechtigkeit. die »Gleiches mit Gleichem vergilt«: Gutes mit Gutem, Böses mit Bösem. Zwar wurden manche Helden »Freunde der Götter« genannt, aber von einer Freund-schaft der Menschen mit dem Göttervater Zeus kann man nicht eigentlich reden. So ist es auch zwischen Männern und Frauen, zwischen Freien und Sklaven. Auf dem Boden der Gleichheit wirkt Freundschaft exklusiv. Aus Gleichen entstehen immer nur geschlossene Ge-sellschaften. In ihnen bestätigen sich die Gleichen gegenseitig ihre Identität durch den Aus-schluß der Anderen und die wiederholte Versicherung, nicht so zu sein wie die Anderen. Auch in unserer, nach Karl Popper »offenen Gesellschaft«8 finden sich die Gleichen in exklu-siven Zirkeln zusammen. Abgesehen davon, daß ein solches Verhalten für die ausgegrenzten »Anderen« verletzend wirkt, führt es diejenigen, die »in« sind, in tödliche Langeweile, weil sie alle Geschichten und Witze, mit denen sich geschlossene Gesellschaften zu unterhalten pflegen, schon hundertmal gehört haben.

    Das Prinzip der Entsprechung führt auch zu keinem Erkenntnisgewinn, sondern nur zur stän-dig wiederholten Selbstbestätigung des schon Bekannten. Das Prinzip der Gleichheit führt zur Kasten- und Klassengesellschaft und zerstört das Interesse an der Lebendigkeit des Lebens, das aus Polaritäten und Kontrasten besteht. 2. Wenden wir dieses Erkenntnisprinzip auf die Natur an, dann ist die Wirkung ambivalent. In der Antike bedeutete Erkenntnis Teilnahme: Ich erkenne die Natur draußen mit der Natur in mir, um mit meiner Natur an der Natur im Ganzen teilzunehmen und mich mir ihr zu ver-einigen. Vernunft war wesentlich eine betrachtende Vernunft (theorein), ein Denken mit den Augen, die sehen, was vorhanden ist.

    In der Neuzeit aber entstand das Verständnis des Menschen als Person und Subjekt gegen-über einer Natur, die zum Objekt seiner Erkenntnis gemacht wird. Seit Francis Bacon und René Descartes heißt erkennen beherrschen: Ich will die Natur draußen erkennen, um sie zu beherrschen. Ich will sie beherrschen, um sie mir anzueignen. Ich will sie mir aneignen, um mit meinem Besitz zu machen, was ich will. Das ist ein Denken mit der greifenden Hand: Begreifen - auf den Begriff bringen - im Griff haben. Die Vernunft der modernen »wissen-schaftlich-technisch« genannten Zivilisation wird nicht mehr als ein vernehmendes Organ, sondern als Instrument der Macht aufgefaßt.9 Die naturwissenschaftlich geprägte Vernunft der modernen Welt sieht nach Immanuel Kant, der Newtons Weltbild philosophisch rationali-sierte, »nur das ein, was sie selbst nach ihrem Entwurfe hervorbringt ... Sie geht mit ihren Prinzipien ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen voran und muß die Natur nötigen, auf ihre

    7 Nikomachische Ethik,.VIII,4. 8 K.Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2 Bände, Bern 1957. 9 Vgl. U. Horkheimer, Zur Kritik an der instrumentellen Vernunft, Frankfurt 1967; Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt 1966.

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    Fragen zu antworten«.10 Die menschliche Vernunft verhält sich zur Natur wie ein Richter, der die Zeugen ins Kreuzverhör nimmt. Das Experiment ist nach Francis Bacon die Folter, der die Natur unterworfen wird, um auf die Fragen der Menschen zu antworten und ihre Geheim-nisse preiszugeben.11 Versteht aber diese aggressive Vernunft von der Natur nur das, was sie an ihr nach ihrem eigenen Entwurf »hervorbringt«, dann bleibt ihr das Andere und Fremde in der Natur auf ewig verborgen. Von dem »Ding an sich« kann es keine Erkenntnis geben, wie Kant klargemacht hat, der die Erscheinungsweisen auf das aktive Subjekt bezog. Ist das aber richtig, dann lebt die Menschheit in der durch die Naturwissenschaften zur Erscheinung ge-brachten Natur wie in einem Spiegelkabinett: Wohin man auch blickt, man sieht nur die Pro-jektionen, die Reflektionen und die Spuren der Menschen. Die produktive Vernunft ist nur in der Lage, ihre eigenen Produkte wiederzuerkennen. Vom Innern der Dinge und vom Eigenle-ben der Natur weiß sie nichts. Wird »Gleiches nur von Gleichen erkannt«, darin wird von dieser menschlichen Vernunft nur die ihr angepaßte, ihr gleichgemachte, ihr unterworfene Natur erkannt. Das aber zerstört das eigene Leben der Natur und vereinsamt die Menschen. Übrig bleiben Technopolis und die Wüsten. Wir haben die Erde zum Steinbruch unserer Zivi-lisation und zu unserer Müllhalde gemacht."12 3. Auf Gott angewendet, führt der Gleichheitsgrundsatz entweder zur Vergottung des Men-schen oder zur Vermenschlichung Gottes. In der Antike sah man in jeder wahren Gotteser-kenntnis eine Vergottung des Menschen (theosis). Denn Erkenntnis ist Teilhabe und schafft Gemeinschaft. Wir können das Göttliche über uns aber nur mit dem Göttlichen in uns erken-nen, denn »Gott wird nur durch Gott« erkannt. Goethe dichtete in diesem Sinne:

    »Wär' nicht das Auge sonnenhaft, wie könnte es die Sonn' erblicken. Wär' nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt' uns Göttliches entzücken.«

    Erkennen stiftet Gemeinschaft und nur die Gemeinschaft des gleichen Wesens macht solches Erkennen möglich. Es ist hier wieder zu beachten, daß nach antiker Auffassung die Erkennt-nis den Erkennenden verändert, so daß er dem Erkannten entspricht. Ist darin aber Gott von nichtgöttlichen Wesen überhaupt zu erkennen?

    Eine besonders aparte Wendung hat Goethe dem theologischen Gleichheitsgrundsatz verlie-hen: Wird Gott nur durch Gott erkannt, darin gilt auch die Umkehrung: »Nemo contra Deum nisi Deus ipse«. Es ist nicht klar, von wem Goethe diesen gewaltigen Satz hat oder ob er bzw. F. W. Riemer den Ausspruch geprägt und dann als alt ausgegeben hat. Goethe stellt den Spruch als Motto über das vierte Buch seiner Autobiographie »Dichtung und Wahrheit«, die er, 1830 geschrieben hat. Er spricht dort von »dämonischen« Persönlichkeiten, die jenseits von Gut und Böse zu stehen scheinen und schließt: »Selten oder nie finden sich Gleichzeitige ihresgleichen, und sie sind durch nichts zu überwinden als durch das Universum selbst, mit dem sie den Kampf begonnen; und aus solchen Bemerkungen mag wohl jener sonderbare, aber ungeheure Spruch entstanden sein: Nemo contra Deum nisi Deus ipse«. Eduard Spran-

    10 I. Kant, Vorrede zur zweiten Auflage der »Kritik der reinen Vernunft«, Werke II, Darmstadt 1966, 23. Die Fortsetzung jener Stelle lautet. »Die Vernunft muß mit ihren Prinzipien, nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdach-te, in der anderen, an die Natur gehen, zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der Qualität eines Schü-lers, der sich alles vorsagen läßt, was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorlegt. Und so hat sogar die Physik die so vorteilhafte Revolution ihrer Denkart lediglich dem Einfalle zu verdanken, demjenigen, was die Vernunft selbst in die Natur hineinlegt, gemäß, dasjenige in ihr zu suchen (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen muß und wovon sie für sich selbst nichts wissen würde«. 11 Siehe W Leiss, The Domination of Nature, New York 1972; C Merchant, The Death of Nature. Women, Ecology and the Scientific Revolution, San Francisco 1980. 12 B. McKibben, The End of Nature, New York 1989.

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    ger ist der Sache nachgegangen13, und hat in Riemers »Mitteilungen - über Goethe« die Aus-legung Goethes gefunden: »Ein herrliches Diktum, von unendlicher Anwendung. Gott be-gegnet sich immer selbst, Gott im Menschen sich selbst wieder im Menschen... « Im Sinne des von Goethe verehrten Spinoza heißt dann der Satz: Gott ist alles und in allem. Gibt es etwas Widergöttliches, so liegt auch dieser Widerspruch gegen Gott in Gott selbst. Denn au-ßer Gott selbst gibt es niemanden, der gegen Gott kämpfen könnte. Selbst im härtesten »cont-ra Deum« liegt noch verborgen - »Deus ipse«.

    Für sich genommen macht dieser Satz jedoch Gott selbst zu dem einzig denkbaren Atheisten. Kann keiner außer Gott selbst »gegen Gott« sein, dann ist menschlicher Atheismus unmög-lich. Oder dieser Satz vergottet jeden ernsthaften Atheisten, der »gegen Gott« ist, zu Gott selbst. So ungeheuer der Satz klingt und so spannend die Denkmöglichkeiten auch sind, die er eröffnet, er kann auch zur theologischen Selbstimmunisierung verwendet werden: Gott wird nur von Gott erkannt, niemand kann gegen Gott sein außer Gott selbst. Was sich aber damit in der Theologie so unangreifbar macht, daß wir nicht einmal dagegen sein können, das geht uns auch wirklich nichts mehr an.

    Die Vernunft der modernen Welt versteht den Erkenntnisvorgang genau umgekehrt wie die Antike: Durch das Erkennen wird das Erkannte dem Erkennenden unterworfen und angepaßt, denn erkennen heißt beherrschen. Auf das Göttliche über uns angewendet, führt darum der Gleichheitsgrundsatz dazu, alle Gotteserkenntnis als Projektion menschlicher Phantasie auf-zufassen. Alle Vorstellungen und Begriffe des Göttlichen sind nur menschliche Produkte und sagen nichts über das Göttliche selbst aus. »Du gleichst dem Geist, den du begreifst, nicht mir«, ruft der »Erdgeist« Dr. Faust in Goethes Drama zu, der ihn beschwören will. Also schaffen Menschen ihre Götter nach ihrem Bilde: die männlichen Götter, die weißen Götter, die schwarzen Götter, die weiblichen Götter. Das Andere und das Fremde und das - wie Karl Barth14 nach Rudolf Otto15 sagte »Ganz Andere« des Sittlichen ist so unerkennbar, daß es nicht einmal gedacht werden kann. Der Gleichheitsgrundsatz macht die Vernunft der moder-nen Welt im Prinzip agnostisch. Er macht sie, wie die moderne Religionskritik von Feuer-bach beweist, sogar narzißtisch. Wie der schöne Jüngling Narziß sieht der moderne Mensch, wohin er sich auch wendet, an andere Menschen oder an die andere Natur oder an das Ganz-Andere des Göttlichen, überall immer nur sein eigenes Spiegelbild. Doch ist uns die entzück-te Selbstliebe des alten Narziß inzwischen verloren gegangen und bei vielen schon in den umgeschlagen, der Menschen befällt, wenn sie sich eingeschlossen haben und nicht mehr herauskommen. Es ist eine Art klaustrophobisches Selbstmitleid entstanden, aus der mit M. Horkheimer nur noch gelegentlich eine »Sehnsucht nach dem ganz Anderen« aufsteigt.16

    Nehmen wir als Beispiel das große Ereignis, das am Anfang der modernen Welt steht, weil es die Welt verändert hat, die sogenannte »Entdeckung Amerikas« durch Kolumbus, Cortes und die Conquistadores seit 1492. Wie T. Todorov in seiner Studie »Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen«17 gezeigt hat, ist Amerika von den Europäern nie wirklich in sei-ner Eigenart und Andersartigkeit »entdeckt« worden. Die Conquistadores sahen gar nichts und »entdeckten« nur das, was sie suchten, nämlich Gold und Silber. Die Indianerreiche wur-den nie erkannt. Sie blieben bis heute unverstanden. Sie wurden unterworfen, zerstört und ausgebeutet und nach Maßgabe europäischer Entwürfe missioniert und kolonisiert, Die ande- 13 Das hat genauer untersucht E, Spranger, Nemo contra Deum nisi Deus ipse (1949) in: Philosophie und Psy-chologie der Religion, Tübingen 1974, 315ff. Siehe auch C Schmitt, Politische Theologie II, Berlin 1970, 116, 123ff. und Moltmann, Der gekreuzigte Gott, 145f. 14 K Barth, Der Römerbrief, München 19212, 222ff. 15 R. Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen (1917), München 1963. Dieses Werk trägt das Motto Goethes: »Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil. / Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure; / »Ergriffen fühlt er tief das Ungeheuere«. 16 M. Horkheimer, Die Sehnsucht nach dem ganz anderen, Hamburg 1970, 56ff. 16 Frankfurt 1985. 17 Frankfurt 1985

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    ren Menschen wurden den Herrschenden als Untertanen angepaßt. Auch die christlichen Mis-sionare verstanden nur das, was sie sich durch Konversion gleichmachen konnten, wie ihre Tagebücher beweisen. Spanier, Portugiesen und die evangelischen Pilgerväter erkannten die Andersartigkeit und die Eigenart der Indianer nicht. Weil sie nur das ihnen Gleiche erkennen konnten und verstehen wollten, mußten sie die fremden Kulturen zerstören und die anderen Menschen sich gleichmachen. Das traurige Ergebnis waren die koloniale Einheitskultur, die imperiale Einheitsreligion und dies alles nivellierende Einheitssprache. 3. Die Erkenntnis des Anderen führt zur Gemeinschaft in der Verschiedenheit

    »Anderes wird nur von Anderem erkannt.« Auch dieser erkenntnistheoretische Grundsatz hat seine Wurzeln in der altgriechischen Philosophie, in einer Tradition jedoch, die in unserer Kultur nur geringen Einfluß gewonnen hat.

    Euripides, den Aristoteles zitiert, dichtete:

    »Es sehnt die dürre Erde sich nach Regen, es sehnt der hohe Himmel, regenschwer zur Erde sich zu stürzen.«18

    »Alles Lebendige entsteht aus dem Streit«, hatte der geheimnisvolle Heraklit gesagt. Es war jedoch erst Anaxagoras, der Erkenntnisprinzipien formulierte, die denen des Empedokles entgegengesetzt sind:

    »Anaxagoras glaubt, daß die sinnliche Wahrnehmung aus dem Gegensätzlichen ent-steht, denn das Gleiche ist gleichgültig gegenüber dem Gleichen ... Wir nehmen das Kalte durch das Heiße, das Süße durch das Saure, das Helle durch das Dunkle wahr ... Denn sinnliche Wahrnehmung ist verbunden mit Schmerz. Wenn das Ungleiche mit unseren Sinnesorganen in Berührung gebracht wird, entsteht Schmerz.«19

    Die letzte Bemerkung über den Zusammenhang von Erkenntnis und Schmerz ist wichtig. Be-gegnet unseren Wahrnehmungsorganen etwas Gleiches, etwas Bekanntes oder uns schon Ent-sprechendes, dann fühlen wir Bestätigung, und das tut unseren Sinnen wohl. Begegnet unse-ren Sinnesorganen etwas Anderes, Fremdes oder Neues, dann entsteht zunächst Schmerz.20 Wir spüren den Widerstand des Fremden. Wir fühlen den Widerspruch des Anderen. Wir merken den Anspruch des Neuen. Der Schmerz zeigt an, daß wir selbst uns ändern messen, wenn wir das Fremde verstehen, das Andere wahrnehmen und das Neue auffassen wollen. Der Schmerz zeigt an, daß wir uns selbst öffnen müssen, um das Andere, Fremde und Neue aufzunehmen.

    Wodurch aber nehmen wir es wahr? Wir nehmen es nicht durch seine Entsprechung, sondern durch seinen Widerspruch wahr. Man erkennt die Dinge erst durch ihren Kontrast zu dem, was sie nicht sind, könnte man allgemein sagen. Mit dem Entgegengesetzten in uns erkennen wir das Andere.

    Nicht durch Konsonanz, sondern durch Dissonanz werden wir wach für das Neue. Nach der Bildersprache des Anaxagoras: Je dunkler es in uns ist, desto mehr spüren wir die Heiligkeit des Lichtes. Je kälter uns ist, desto stärker fühlen wir die Wärme eines Feuers. Unter Schwar-zen merken wir, daß wir weiß sind; unter Weißen, daß wir schwarz sind. Im übertragenen Sinne: »Jedes Wesen kann nur in seinem Gegenteil offenbar werden. Liebe nur im Haß, Ein-heit nur im Streit«, wie der junge Schelling dialektisch formulierte21. Etwas undramatischer

    18 Nikomachische Ethik, VIII, 2, 1155 b. 19 Theophrast, De sensibus, 27ff., zit. nach G. M. Straton, Theophrast and the Greek physiological Psychology before Aristotle, New York 1917, 90ff. 20 F. J. J. Buytendijk, Über den Schmerz, in: Das Menschliche. Wege zu seinem Verständnis, Stuttgart 1958, 150-169. Vgl. auch seine Monographie: Über den Schmerz, Bern 1948. 21 F. W. Schelling, Über daß Wesen menschlicher Freiheit (1809). Reclam 8913-15, 89.

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    ausgedruckt: Erst in der Fremde verstehen wir, was Heimat heißt. Erst im Angesicht des To-des spüren wir die Einmaligkeit des Lebens. Erst im Streit wissen wir den Frieden zu schät-zen. An den Anderen machen wir die Erfahrung unseres eigenen Selbst. Im Gleichen bemer-ken wir das Gleiche in uns gar nicht. Es ist uns selbstverständlich. Es ist uns so nahe, daß wir es gar nicht wahrnehmen können. Erst in der Distanz und erst recht in der Differenz und dann endlich im Widerspruch nehmen wir das Andere wahr und lernen es schätzen.

    Auch hier ist das erkenntnisleitende Interesse die Vereinigung. Aber das Ziel ist nicht eine Einheit in der Gleichheit (unity in uniformity), sondern eine Einheit in der Verschiedenheit (unity in diversity). Verschiedenes kann sich ergänzen und sich nach wechselseitiger Ergän-zung sehnen, wie die Erde nach dem Regen und der Regen nach der Erde. Verschiedenes kann sich streiten und aus dem Streit heraus neues Leben produzieren. Antagonismen müssen nicht immer tödlich sein. Sie können auch lebendigmachen und das Leben fördern. Mit dem »Streit« (agon) meinten die Griechen trotz Heraklit den Wettkampf und das Spiel als »Vater alter Dinge«.22 Das sind im chinesischen Konzept die Polaritäten Yin und Yang, die sich rhythmisch und fließend trennen und vereinigen, die sich trennen, um sich zu vereinigen, die sich vereinigen, um sich zu trennen, und so den Prozeß des Lebens voranbringen.23 Die Macht der Vereinigten ist auch hier der Eros, aber in einem tieferen Verständnis als oben erwähnt. Es ist die dynamische Dialektik der Liebe (Hegel), die Einheit in der Trennung und Trennung in der Einheit schafft, weil sie die Einheit von Trennung und Einheit selbst ist.24

    Wir wenden nun diese dialektischen Grundsätze auf das Erkennen der anderen Menschen, der anderen Dinge und des ganz anderen Gottes an:

    1. Erkennt Ungleiches sich, dann muß das Interesse an der Andersartigkeit des Anderen grö-ßer als an seiner Gleichartigkeit sein. Ich sehe nicht auf das mir Gleiche in den Anderen, son-dern auf ihr Anderes und versuche, es zu verstehen. Ich verstehe es nur, indem ich mich selbst verändere und mich auf das Andere einstelle. In meiner Erkenntnis des Anderen unter-ziehe ich mich den Schmerzen und Freuden der eigenen Veränderung, nicht um mich selbst dem Anderen anzupassen, sondern um mich in das Andere hineinzuversetzen. Es gibt kein wirkliches Verstehen des Anderen ohne solche Empathie. Ich begebe mich selbst in einen Prozeß der wechselseitigen Veränderung mit dem Anderen. Jeder Lernprozeß enthält diese Schmerzen der Veränderung und die Freuden der neuen Einsicht. Im Griechischen gehören »mathein« (Lernen) und »pathein« (Leiden) in vielen Sprichwörtern zusammen. Aus der ver-stehenden Empathie entsteht dann eine verbindende Sympathie, wenn die Empathie zum ge-genseitigen Verstehen fährt. Sie formt die Gemeinschaft in der Verschiedenheit und die Ver-schiedenheit in der Gemeinschaft. Das Grundgesetz einer solchen Gesellschaft ist »die Aner-kennung des Anderen« in seiner Andersartigkeit. Gesellschaften, die sich auf diesem Grund-satz entfalten, sind keine »geschlossenen Gesellschaften«, auch keine uniformen, gleichge-schalteten Gesellschaften, sondern »offene Gesellschaften«. Sie können nicht nur mit Ver-schiedenen und Andersartigen, sondern, wie Karl Popper verlangte, auch mit »ihren Feinden« leben, denn sie können selbst noch die Feindschaft ihrer Feinde für ihre Interessen fruchtbar machen, Wie ist das möglich? Muß es den Feinden einer Gesellschaft gegenüber nicht doch heißen: Anpassen oder Auswandern? Ich glaube nicht. So wie die Grundlage der Gesellschaft aus Gleichen im Normalfall die Freundesliebe ist, so ist die Grundlage der Gesellschaft aus Verschiedenen im Ernstfall die Feindesliebe. Seine Feinde »zu lieben« heißt, Verantwortung nicht nur für sich selbst und die Seinen, sondern auch für seine Feinde zu übernehmen. Wir fragen dann nicht mehr nur: Wie können wir uns gegen die möglichen Feinde schützen?, sondern: Wie können wir Feinden ihre Feindschaft nehmen, damit wir gemeinsam mit ihnen

    22 E. Fink, Spiel als Weltsymbol, Stuttgart 1960. 23 G. Béky, Die Welt des Tao, München 1972. 24 H. Nohl (Hg.), Hegels theologische Jugendschriften, Tübingen 1907, 345 ff: Systemfragment von 1809.

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    überleben? In diesem Sinne ist Feindesliebe die Grundlage für gemeinsames Leben in Kon-flikten.25

    2. Wenden wir dieses dialektische Erkenntnisprinzip auf die Natur an, dann ersetzen wir das analytische Denken mit seiner Objektivierung der Natur durch das systematische und kom-munikative Denken, das die Natur in ihrer Eigenart achtet und sie in ihrem Gegenüber zum Menschen sein läßt, was sie ist. Das bedeutet einmal, die natürlichen Wesen in ihrer Ganzheit und in ihren Lebenswelten wahrzunehmen und sie nicht mehr zu isolieren