Zeit.de Kultur Musik 2012-11 Nachruf-elliott-carter
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MUSIK
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N A C H R U F E L L I O T T C A RT E R
103 Jahre gelebte MusikgeschichteIn Elliott Carters Werk spiegeln sich die Klänge des 20. und 21.Jahrhunderts. Der Komponist nahm die Literatur und Philosophiein seine Musik mit auf.VON Oda Tischewski | 06. November 2012 - 11:32 Uhr
© John Lent, File/AP/dapd
Der Komponist Elliott Carter 1960 an seinem Flügel in seinem New Yorker Appartement
Seine Freude am Komponieren wich keiner altersmilden Ruhe . Vielmehr wuchs undsprudelte sie noch aus ihm heraus, als ihm das Hören und das Sprechen schon schwer
fielen. Elliott Carter schien ein ungewöhnliches Arrangement mit dem Alter gehabt zu
haben: Mehr als die Hälfte seiner Werke – rhythmisch komplexe und noch immer sehr
moderne Orchester- und Kammermusik, Soloinstrumental- und Vokalstücke – entstand erst
nach seinem 90. Geburtstag, seine erste Oper schrieb er mit 89 Jahren.
"In meinem Kopf gibt es so viele fertige Werke, Klavierkonzerte, Sinfonien,
Streichquartette, dass ich gar nicht dazu komme, sie alle aufzuschreiben", sagte er einmal
im Interview. Zum Komponieren benutzte er kein Instrument, oft hörte er seine Stücke bei
der Uraufführung zum ersten Mal.
Elliott Carter, einer der größten amerikanischen Komponisten des – so muss man
tatsächlich sagen – 20. und 21. Jahrhunderts, wurde am 11. Dezember 1908 als Kind einer
wohlhabenden Familie in New York geboren, jener Stadt, in der er fast sein ganzes Leben
verbringen sollte. Der Musik seiner Zeit begegnete er ganz direkt: Noch als Schüler traf er
den Komponisten Charles Ives, der sein Talent förderte. Stundenlang saß er auf dem Dach
seines Elternhauses am Radio – der Hörfunk war gerade erst populär geworden.
Der Wunsch, Komponist zu werden, wuchs, als der 15-jährige Elliott in der Carnegie Hall
die New Yorker Premiere von Igor Strawinskys Le Sacre du Printemps mit dem Boston
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Symphony Orchestra miterlebte. "Ich begann mit der Musik sozusagen vom falschen Ende
her, denn ich lernte zunächst moderne Musik kennen, und es sollte Jahre dauern, bis ich
auch Beethoven erträglich fand. Heute sehe ich das natürlich anders, aber ich würde noch
immer sagen, dass mich ein sehr gutes modernes Stück mehr interessiert, als irgendein altes
Werk", sagte er im Kollegengespräch mit dem Komponisten Frank J. Oteri.
In Harvard studierte Carter zunächst Englische Literatur, Griechisch, Philosophie und
nebenbei Musik, unter anderem bei Gustav Holst; er spielte Klavier und Oboe und sang im
Harvard Glee Club, dem Universitätschor. "Eigentlich sollte Musik mein Hauptfach sein,
doch als ich zum ersten Mal einen Kurs in Harmonielehre besuchte, stellte ich fest, dass ich
rein gar nichts darüber wusste", erzählte er Oteri.
Nur Noten, die etwas bedeuten
Im Jahr 1932 schloss er die Universität ab, ging nach Paris und nahm Unterricht bei
Nadia Boulanger an der French Music School for Americans. Der exklusive Kreis, der
sich eingehend mit dem französischen Neoklassizismus und dem Werk Strawinskys
beschäftigte, prägte Carters erste kompositorische Arbeiten. "Bei Boulanger lernte ich den
Glauben an die Noten", sagte er später der ZEIT , " man schrieb keine Noten, die nichts
bedeuten". 1935 kehrte er als Doktor der Musik in die Vereinigten Staaten zurück.
Der neoklassizistische Duktus seiner frühen Kompositionen stimmte ihn bald unzufrieden.
Während der Kriegsjahre hatte er für die amerikanische Propagandabehörde gearbeitet,
dann an verschiedenen Hochschulen gelehrt, unter anderem in Yale. Er hatte dieBildhauerin Helen Frost-Jones geheiratet, war Vater eines Sohns geworden und hatte
sich im Greenwich Village eine Wohnung gekauft, in der er bis zu seinem Tod leben
sollte. Doch Ende der 1940er Jahre wurde es Zeit für eine tiefgreifende künstlerische
Veränderung. Sein erstes Streichquartett aus dem Jahr 1950 entstand in der Wüste
Arizonas, es markiert einen Wendepunkt in seinem Schaffen, das sich von nun an einem
radikaleren, atonaleren, vielschichtigeren Stil zuwandte.
Carter galt nun als Vertreter der amerikanischen Avantgarde, stark beeinflusst von der
europäischen Musik, aber konservativ in der Instrumentierung, weit entfernt von den
Klangexperimenten John Cages oder Morton Feldmans. Inspiration schöpfte er ausalltäglichen Beobachtungen, aus der Literatur oder einem einzelnen Gedanken, seine
Streichquartette Nr.2 (1959) und Nr. 3 (1971) brachten ihm jeweils den Pulitzerpreis ein.
Trotz des immer wiederkehrenden Unverständnisses aus den Reihen des konservativeren
Publikums war sein Interesse an einem lebhaften Austausch ungebrochen. Nicht ohne
Grund tragen seine späteren Stücke Titel wie Dialogues für Klavier und Orchester,
Interventions oder On Conversing with Paradise . "Ich schreibe meine Musik für die
Interpreten, ich möchte ihre Vorstellungskraft stimulieren, ihre Freude, ihr Interesse, ihre
Fähigkeiten und ihren Wunsch, mit dem Publikum zu kommunizieren."
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Einer, der Carters Werke gern und häufig interpretiert, ist sein Freund Daniel Barenboim
. Neben Pierre Boulez und Heinz Holliger gehört er zu den größten Förderern von Carters
Arbeiten. Alle drei haben seine Werke häufig dirigiert, auch die Uraufführung seiner ersten
und einzigen Oper What next? fand 1999 unter Barenboims Leitung an der Komischen
Oper in Berlin statt.
Elliott Carters Spätwerk gilt Kritikern als leichter, transparenter, weniger konturiert –
ein begeistertes Publikum findet es dennoch. 2008, anlässlich seines 100. Geburtstages,
ehrte ihn das Boston Symphony Orchestra unter der Leitung von James Levine mit einer
erneuten Aufführung von Le Sacre du Printemps – wie schon 84 Jahre zuvor saß er im
Publikum.
Elliott Carter ist am 5. November 2012 in New York gestorben. Er wurde 103 Jahre alt.
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