Wolfgang Janke-Die Dreifache Vollendung Des Deutschen Idealismus_ Schelling, Hegel Und Fichtes...

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Philosophie, Deutscher Idealismus, Schelling, Fichte, Hegel

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Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus

Schelling, Hegel und Fichtes ungeschriebene Lehre

Fichte-Studien-Supplementa

Band 22

im Auftrage der Internationalen Johann-Gottlieb-Fichte-Gesellschaft

in Zusammenarbeit mit dem Istituto Italiano per gli Studi Filosofici

herausgegeben von

Helmut Girndt (Duisburg)Wolfgang Janke (Wuppertal)Wolfgang H. Schrader (†) (Siegen)Hartmut Traub (Mülheim a. d. Ruhr)

Die dreifache Vollendung des Deutschen Idealismus

Schelling, Hegel und Fichtes ungeschriebene Lehre

Wolfgang Janke

Amsterdam - New York, NY 2009

Die Reproduktion der broncierten Leibniz Büste: ©„Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek“, „Niedersächsische Landesbibliothek Hannover“

Typographie und Satz: Christoph Asmuth (Berlin)

The paper on which this book is printed meets the requirements of “ISO 9706:1994, Information and documentation - Paper for documents - Requirements for permanence”.

ISBN-13: 978-90-420-2503-5©Editions Rodopi B.V., Amsterdam-New York, NY 2009Printed in The Netherlands

Fichte-Studien-Supplementa

Die Supplementa zu den Fichte-Studien präsentieren Forschungen zur Geschichte und Systematik der Transzendentalphilosophie. Es werden in diesem Rahmen umfangreichere Untersuchungen veröffentlicht, z.B. Mono-graphien, Dissertationen und Habilitationsschriften, die dem Verständnis der Transzendentalphilosophie dienen oder ihre Erneuerung und Weiter- entwicklung voranbringen können.

Bildnachweise

Fichte-Porträt: Aquatintaradierung, 1814, von Friedrich Jügel (gest.1833) nach einem Gemälde vonHeinrich Anton Daehling (1808) – Schelling-Porträt: Stahlstich, um 1850, von Albrecht Schult-heiss (1823-1909) nach einem Gemälde von Joseph Stieler (1835) – Hegel-Porträt: Stich, um 1825,von Friedrich Wilhelm Bollinger (1777-1825) nach einem Gemälde von Johann Christian Xeller

Inhalt

Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

1. Abschnitt: Freilegung des Tatbestandes einer dreifachen Vollendung des Deutschen Idealismus ................................................................................................ 1

1. Kapitel: Restitution der Vernunftwissenschaft im Schatten des Nihilismus. Verdeutlichung einer unzeitgemäßen Aufgabe ............................ 1

2. Kapitel: Nachprüfung des philosophiegeschichtlichen Klischees ›Von Fichte über Schelling zu Hegel‹ ....................................................................... 9

3. Kapitel: Exkurs. Heideggers Stellungnahme zum Fortgang des Deutschen Idealismus ....................................................................... 13

4. Kapitel: Vorzeichnung des antihegelschen Vollendungsanspruchs Schellings ........................................................................... 16

5. Kapitel: Verweise auf Fichtes Ankündigung, allen Streit auf dem Gebiet der philosophischen Wissenschaft beendet zu haben .............. 18

6. Kapitel: Vorblick auf die Problemlage der ›ungeschriebenen Lehre‹ Fichtes ............................................................................. 21

2. Abschnitt: Konkurrierende Denkwege: Fichte – Schelling – Hegel Eine biographische Annäherung .................................................................................. 24

1. Kapitel: Dokumentation der wachsenden Rivalität zwischen Schelling und Fichte ................................................................................ 25

2. Kapitel: Zuspitzung des Differenzpunktes im Briefwechsel Fichte – Schelling (der Scheidebrief vom 15. Januar 1802) .................................. 30

3. Kapitel: Hinweise auf das ausgebliebene Grundlagengespräch zwischen Fichte und Hegel ...................................................................................... 34

4. Kapitel: Erinnerung an den Zerfall der Geistesbruderschaft zwischen Schelling und Hegel ................................................................................. 37

5. Kapitel: Annäherung an den wahren Grund der feindseligen Entfremdungen ............................................................................ 39

Teil I: Schelling

1. Abschnitt: Vorlage des Vollendungsanspruchs von Schellings Identitätssystem 1801 .................................................................................... 43

1. Kapitel: Ankündigung des ersten Systems der Vernunftwissenschaften. Eine Vorerinnerung .................................................................................................. 43

2. Kapitel: Herausstellung von Hauptsätzen und Grundproblemen des Standpunktes absoluter Identität ..................................... 48

VI Inhaltsverzeichnis

3. Kapitel: Überblick über die Entfaltung des Systems ............................................. 532. Abschnitt: Platonisch-theogonische Vertiefungen 1802 – 1804 ................................. 58

1. Kapitel: Der Gott der Philosophie und der Religion (Philosophie und Religion 1804, Einleitung) ............................................................. 58

2. Kapitel: Platonischer Pantheismus. Zwischenbemerkungen zum Gespräch Bruno oder Über das göttliche und natürliche Princip der Dinge, 1802 .................. 61

3. Kapitel: »Transzendentale Theogonie«. Geschichtliche und systematische Erörterung ...................................................... 65

3. Abschnitt: Einsprüche: Das Identitätssystem und seine Weiterungen. Überprüfung der Schellingkritik Fichtes 1804 – 1806 ................................................ 75

1. Kapitel: Erinnerung an eine schriftstellerische Zurechtweisung ........................ 752. Kapitel: Nachrechnung von Schellings zehnfacher Blindheit

aus Nichtbesinnung in Fichtes Analyse von Philosophie und Religion ................. 783. Kapitel: Die logische Auflösung von Schellings

Einfall vom Abfall des Absoluten ............................................................................ 824. Abschnitt: Ende oder Vollendung? Schellings Spätphilosophie im Widerstreit ..... 87

1. Kapitel: Grundsätzliche Vorgaben. Über Differenz und Korrelation der positiven und negativen Philosophie .............................................................. 88

2. Kapitel: Verfolgen der Streitfrage: Umbruch zum theistischen Spätidealismus oder Vollendung des kritischen Anfangs? .................................. 93

3. Kapitel: Beleuchtung der Schlußapotheose: Schelling, der Vollender ............... 985. Abschnitt: Schellings Lehre von der Wahrheit als Unverborgenheit.

Wiedereinholung einer Gegenstellung ....................................................................... 1021. Kapitel: Über die Umstellung der Wahrheitsoffenbarung in der

Wirklichkeitserfahrung positiver Philosophie .................................................... 1022. Kapitel: Der Weg zur Wahrheit von der intellektuellen Anschauung

zur entsetzenden Ekstasis ....................................................................................... 105

Teil II: Hegel

1. Abschnitt: Vollendung der Vernunftwissenschaft als System? Nachfragen ........... 1091. Kapitel: Hegels Zusammenschluß von Wissenschaft und System.

Wiederholung eines Vollendungspostulats ......................................................... 1092. Kapitel: Zweiteiliger Systembau oder dreiteilige Enzyklopädie?

Eine Vorfrage ............................................................................................................ 1122. Abschnitt: Wege zum absoluten Wissen. Ein synoptischer Überblick .................... 115

1. Kapitel: Der Weg der Erfahrung im Erfassen des absoluten Wissens ............... 1152. Kapitel: Bedenken des absoluten Wissens

als Äther lebendigen Insich-Kreisens ................................................................... 1203. Kapitel: Vorschau auf die Konfrontation Hegels mit

Fichtes Hinführung zum Standpunkte absoluten Wissens ................................ 1233. Abschnitt: Problematisierung des Anfangs der Onto-theo-Logik .......................... 124

1. Kapitel: Wiederholung des Einsatzes der Logik als Onto-theo-Logik ............. 1242. Kapitel: Durchlaufen des Anfangs der Seinslogik.

»Das Werden ist der erste konkrete Gedanke« .................................................... 127

Inhaltsverzeichnis VII

3. Kapitel: Vorbehalte gegenüber der Logik des Anfangs. Eine Problemskizze ................................................................................................. 135

4. Abschnitt: Fragen nach der End- und Vermittlungsfunktion der Ideenlogik ....... 1411. Kapitel: Wiederholung des Endstandes der Logik: die absolute Idee ............... 1412. Kapitel: Zur Restituierung der freiesten Persönlichkeit Gottes ........................ 1443. Kapitel: Nachfragen zu Hegels Andeutungen eines Übergangs

von der Ideenlogik zur Realphilosophie .............................................................. 1465. Abschnitt: Wege und Wesen der Wahrheit. Bereitstellungen zum Widerstreit ..... 150

1. Kapitel: Hegels Wege zur Wahrheit ........................................................................ 1512. Kapitel: Begreifen der Wahrheit auf der Höhe spekulativer Logik ................... 154

6. Abschnitt: Hegel im Widerstreit ..................................................................................... 1561. Kapitel: Hegels Bloßstellung des unvermittelten,

schlechten, leeren und unvollständigen Idealismus (Kant – Fichte) ................ 1562. Kapitel: Herausstellung von Hegels vielseitigem Widerstreit gegen

das Prinzip des Sollens ............................................................................................ 1593. Kapitel: Analyse von Sollen und Schranke als Fichtekritik in

Hegels Seinslogik ..................................................................................................... 1634. Kapitel: Vorblick auf Fichtes Rechtfertigung des Soll –

Umkehr des Widerstreits ....................................................................................... 169

Teil III: Fichte

1. Hauptstück: Fichte im Widerstreit ........................................................................... 1731. Abschnitt: Beiträge zum Streit über die veränderte, ungeschriebene Lehre

und die populären Schriften ......................................................................................... 1731. Kapitel: Stellungnahme zur Diskussion über die ›veränderte Lehre‹ ............... 1732. Kapitel: Wiederentdeckung von Fichtes ›ungeschriebener Lehre‹ .................... 1753. Kapitel: Die ungeschriebene Lehre im Spiegel der populären Schriften.

Eine Erklärung von Schellings und Hegels Abschätzungen .............................. 1794. Kapitel: Ein Vorbericht über die Polemik gegen Fichtes Rede vom

absoluten Sein und göttlichen Leben (Schellings Rezension von Über das Wesen des Gelehrten) .................................. 184

2. Abschnitt: Richtigstellungen. Fichtes populäre Grundsätze über die Natur und das Göttliche unter Anklage ................................................................................. 187

1. Kapitel: Austragen des Grundkonflikts. Fichtes und Schellings Auffassung der Natur ...................................................... 187

2. Kapitel: Versuch einer Schlichtung im Grundsatzstreit um Sein und Sinn derNatur .......................................................................................................................... 191

3. Kapitel: Revision von Schellings Anklage und Aburteilung der Grundsätze in Fichtes Die Anweisung zum seligen Leben .................................... 195

3. Abschnitt: Ausblicke auf die strittige Über-, Unter- und Gleichordnung der Gottesliebe (Amor Dei intellectualis) ................................................................. 200

1. Kapitel: Schellings Angriff auf den Gipfelsatz von Fichtes Religionslehre »Die Liebe ist höher denn alle Vernunft« ..................... 201

VIII Inhaltsverzeichnis

2. Kapitel: Exkurs. Friedrich Schlegels Kritik an Fichtes Prinzip der Liebe(Heidelberger Jahrbücher für Litteratur 1808) ................................................... 204

3. Kapitel: »Auch der Geist ist noch nichts das Höchste – die Liebe aber ist das Höchste«. Zur Überhöhung der Liebe in Schellings Freiheitsschrift 1809 ....................... 206

4. Kapitel: Hegels dialektische Unterordnung des Wunders der Liebe im System der Vernunftwissenschaft ................................................................... 209

5. Kapitel: Bewährung von Fichtes religions-philosophischer Gleichordnung der Liebe als Quellgrund und Band im Widerstreit ................ 211

4. Abschnitt: Apologien zu zwei verrufenen populären Schriften in ihrem Zusammenhang ................................................................................................. 214

1. Kapitel: Korrigierender Bericht über die Wirkungsgeschichte der Reden an die deutsche Nation 1807/1808 ................................................................. 215

2. Kapitel: Exkurs. Verteidigungen gegen die Anklagen des Antisemitismus und des Judenmordes ................................................................. 218

3. Kapitel: Epochale Kennzeichnung unserer Krisenzeit durch den Weltalterentwurf. Vorgaben der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters 1804-1805 ....................... 220

4. Kapitel: Die Reden an die deutsche Nation in ihrer geschichtlichen Zeit. Zur Diagnose und Therapie unserer Epoche »vollendeter Sündhaftigkeit« ...... 225

2. Hauptstück: Das vollendete System der Wissenschaftslehre: Einleitung – Grundlegung – Ausfaltung. Nachkonstruktion der ungeschriebenen Lehre ................................................... 229

1. Abschnitt: Einleitende Hinführungen: faktische Phänomenologie – genetische Prolegomena ................................................................................................ 231

1. Kapitel: Zur methodischen Funktion von Fichtes historisch-faktischerPhänomenologie des Geistes (Die Tatsachen des Bewußtseins) ........................... 233

2. Kapitel: Feststellung von Hauptphänomenen absoluten Wissens in Fichtes faktischer Phänomenologie (Tatsachen des Bewußtseins 1810/1811 3. Hauptabschnitt 4. Kapitel) .................... 236

3. Kapitel: Genetische Phänomenologie. Ermittlung des Grundgesetzes allen Wissens in den Prolegomena der W.L. 1804-II ............... 242

2. Abschnitt: Markierung des veränderten historischen Anknüpfungspunktes ....... 2471. Kapitel: »Bester Anknüpfungspunkt: das System des Spinoza« (W.L. 1812).

Bemerkungen über den Rückgang vom kritischen Kant zum ›heiligen Spinoza‹ ............................................................... 247

2. Kapitel: Ein Zwischenschritt. Der zweideutige historische Rückgang zu Spinoza in der Einleitung zur Königsberger Wissenschaftslehre 1807 .......... 249

3. Kapitel: »So Spinoza, so wir – So wir. Anders Spinoza«. Genaue Markierung des philosophiegeschichtlichen Ausgangs in derWissenschaftslehre 1812 .......................................................................................... 251

Inhaltsverzeichnis IX

3. Abschnitt: Grundlegung der aufsteigenden Einheits- und Vernunftlehre. Eine Durchsicht (W.L: 1804-II, 10.-15. Vortrag) ......................................................... 256

1. Kapitel: Überblick über den Aufstieg zum Ursprung wahrer Einheit.Vorbemerkungen zur Abstufung von Idealismus und Realismus .................... 256

2. Kapitel: Einblick in die Formierung der Gegenpositionen: das »lebendige Durch« ........................................................................................... 261

3. Kapitel: Entfaltung der archaischen Antinomie .................................................. 2634. Kapitel: Überstieg über die Standpunkte des höheren Idealismus

und höheren Realismus ......................................................................................... 2675. Kapitel: Einsicht in Fichtes These vom Sein ........................................................ 270

4. Abschnitt: Grundlegung der Wahrheitslehre ............................................................. 2741. Kapitel: Rückgang zur Wahrheitskehre vom Wissen zum Glauben

(Die Bestimmung des Menschen, 1800) ................................................................... 2752. Kapitel: Fichtes Aufstieg zum Wahrheitsgrund in der

Wissenschaftslehre 1804-II ...................................................................................... 2803. Kapitel: Von einem Vorrang der Fichteschen Konzeption im Rangstreit

der dreifachen idealistischen Wahrheitsbegründung ........................................ 2845. Abschnitt: Grundlegung und Grundzüge der Erscheinungslehre ......................... 290

1. Kapitel: Reine Gewißheit. Vergewisserung von Licht und Evidenz der Erscheinungseinsicht (W.L. 1804-II, 23. Vortrag) .......................... 290

2. Kapitel: Angabe der Aufgabenstellung (Wissenschaftslehre Königsberg, 23. Vortrag) ........................................................ 294

3. Kapitel: Feststellung des Mittelpunktes der fünffachen Vernunftstruktur (W.L. 1804-II, 28. Vortrag) ...................................................................................... 299

4. Kapitel: Genetische Herleitung der unendlichen Vielheit und Veränderlichkeit .............................................................................................. 302

5. Kapitel: Schematisierung der fünf Standpunkte menschlichen Seins- und Weltverstehens ..................................................................................... 304

6. Kapitel: Ausblick auf die 25 Grundformen vernunftbestimmten Wissens ...... 3077. Kapitel: Anweisungen für die fünffache Erscheinungsform der Liebe im Leben

(Anweisung zum seligen Leben, 7.-9. Vorlesung) ..................................................... 3116. Abschnitt: Ausfaltung der Grundlagen

(Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre, 1805) ................................................. 3181. Kapitel: Erörterung des Programms der

explikativen Prinzipienforschung ......................................................................... 3192. Kapitel: Wiederholende Klärung der Aufgabenstellung,

den Hauptgegensatz von Gott und Welt zu verknüpfen .................................... 3223. Kapitel: Einsetzung des kategorischen Soll als Anfangsgrund der

Gottes- und Religionslehre .................................................................................... 3244. Kapitel: »Das absolute Soll des Soll als Soll«: Durchdringen zum

Mittel- und Ableitungspunkt für die sinnliche und sittliche Welt .................... 3275. Kapitel: Erforschung der teleologischen Verhältnisse der

sinnlichen zur rechtlichen wie der sittlichen zur religiösen Weltansicht ......... 332

X Inhaltsverzeichnis

Nachschriften. Ausführungen über die Bedeutung des kritisch vollendeten Idealismusfür das gegenwärtige Zeitalter

1. Abschnitt: Vom Vorrang der ungeschriebenen Lehre (Zu Grundsätzen der Erlanger Wissenschaftslehre 1805) .......................................... 339

1. Kapitel: Hervorhebung des Behauptens einer absoluten Reflexion in transzendentaler Besonnenheit ..................................... 339

2. Kapitel: Sich-Besinnen auf sich. Vorlage der Wort- und Sacherklärung .......... 3413. Kapitel: Problemanzeige der absoluten Reflexion .............................................. 3454. Kapitel: Auflösung des Problems einer absoluten Reflexion.

Anzeige des Vorzugs von Fichtes ungeschriebener Lehre ................................. 3482. Abschnitt: Einsichten in das

gegenwärtige Zeitalter vollendeter Nicht-Besinnung ................................................ 3511. Kapitel: Die Besinnungs- und Wahrheitskrise im

Geiste des Positivismus ........................................................................................... 3512. Kapitel: Philosophische Besonnenheit wider die Idealismuskritik

des pathologischen Nihilismus. Eine unzeitgemäße Betrachtung .................... 355

Quellen (mit Siglen) ............................................................................................................ 359Namenverzeichnis .....................................................................................................................

Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

1. Abschnitt: Freilegung des Tatbestandeseiner dreifachen Vollendung des Deutschen Idealismus

1. Kapitel: Restitution der Vernunftwissenschaft im Schatten desNihilismus. Verdeutlichung einer unzeitgemäßen Aufgabe

Die epochalen transzendentalen und spekulativen Grundlegungen des neu-zeitlichen Idealismus und deren systematische Vollendung in der geistigenHochkultur der Fichte-, Schelling- und Hegelzeit liegen tot und verdunkeltim Schatten des Nihilismus. Nun hatte schon Hegel selbst kurz vor seinemTode 1831 als Abschluß der Vorrede zur zweiten Ausgabe seiner Wissen-schaft der Logik Zweifel darüber geäußert, »ob der laute Lärm des Tagesund die betäubende Geschwätzigkeit der Einbildung, die auf denselben sichzu beschränken eitel ist, noch Raum für die Teilnahme an der leidenschafts-losen Stille der nur denkenden Erkenntnis offen lasse« (TWA 5,34). Undnäherhin hat Schelling im Endstadium seines langen, immer wieder zu ei-genständigen Versionen der alten Wahrheits- und Wirklichkeitsfrage drän-genden Denkweges im Rückblick auf den geschichtlichen Anfang, den Geis-tesblitz des transzendentalen Grundgedankens Fichtes, die diffuse Wir-kungsgeschichte beschrieben: So belebend und umstürzend Fichte für einengroßen Augenblick der Geschichte gewirkt habe, so tot und beiseitegestelltsei er im allgemeinen Bewußtsein wenige Jahrzehnte danach; seine wahreBedeutung sei selbst dem philosophischen Fachmann so gut wie unbekannt,geschweige denn lebendig angeeignet. Der wahre Fichte, der auf das Lebeneinwirken und geschichtlich sein Zeitalter aus dem Zustande selbstsüchtigerGedankenlosigkeit zur Vernunft bringen wollte, sei zur Mumie einer anti-quarischen Philosophiehistorie geworden. Sein kraftvoller, alles umwenden-der Grundgedanke jedenfalls sei »heutzutage von vielen, die sich philoso-phischer Studien und Kenntnisse rühmen, kaum noch gekannt, noch weni-ger verstanden, wie er insbesondere jeden Einfluß auf alle großen Fragendes Lebens verloren hat; – wie alsdann der kraftvolle Fichte, der Urheber des

2 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

transzendentalen Idealismus, dessen Erscheinung wie ein Blitz wirkte, derfür einen Augenblick gleichsam die Pole des Denkens umkehrte, aber auchwie ein Blitz wieder verschwand, in dem gegenwärtigen Bewußtsein derDeutschen kaum noch die Stelle finden wird, an die er damals sein Systemanlegte« (Philosophie der Offenbarung, Einleitung; W XII 14 = SW XIII 14).

In der Tat hatte Fichte, etwa in seinem aufsehenerregenden PublikumVon den Pflichten der Gelehrten in Jena 1794, wie ein Blitz unmittelbar ein-schlagend, das Feuer der Begeisterung für Freiheit und Selbstbestimmungdes Menschen unter Menschen und für das Gleichheitsideal der Französi-schen Revolution entzündet, indem er die Pole des Denkens, Sein und Be-wußtsein, Ding und Vorstellung umdrehte, so daß sich die Energie der Tat-handlung entlud.1 Fichtes kraftvolle Energie, sein rhetorisches Pathos, seinAufruf zum Handeln, ergriff blitzartig die Geister: Novalis, Hölderlin, dieGeschwister Schlegel, Wilhelm von Humboldt, nicht zuletzt den aufgeweck-ten, genialen jungen Schelling. Hölderlin berichtet an Neuffer im November1794: »Fichte ist jetzt die Seele von Jena und gottlob! daß er’s ist. EinenMann von solcher Tiefe und Erscheinung des Geistes kenne ich sonst nicht«(StA VI 139). Und der blutjunge Schelling hatte in einer Mitteilung an HegelFichte als den neuen Helden im Lande der Wahrheit begeistert begrüßt.Aber diese Entladung geistiger Energie in einem kairotischen Augenblick seiauch »wie der Blitz« vergangen. Wenige Jahrzehnte danach sind der trans-zendentale Gedanke und die Erhebung spekulativen Geistes in ihrer auf dasLeben anwendbaren Kraft erloschen. Was das allgemeine Bewußtsein undden Stand positiver Wissenschaftlichkeit angeht, so ist eine Grundeinstel-lung entstanden, die für die großen metaphysischen Grundfragen derMenschheit, etwa für die verzweifelte Nachfrage »Warum ist überhaupt Sei-endes und nicht nichts?« keinen Sinn mehr hat.

1 Die Studie von W. E. Ehrhardt: Schellings Metapher ›Blitz‹ – eine Huldigung an dieWissenschaftslehre, 1997 geht der Frage nach, welche Bedeutung diese Metaphergerade auch für das Auftreten Fichtes im Schellingschen Verstande hat. Diskutiertwird das naturphilosophische Verständnis des Blitzes als Lösung einer Spannungentgegengesetzter Pole, aus der erst plötzliche Helle und Feuer resultieren, übertra-gen als Spannung zwischen der theoretisch verlangten allgemeinen kausalen Ge-setzmäßigkeit und der praktisch zu fordernden Freiheit. Und das sei mit der Tatsa-che zusammenzusehen, daß Schelling auch die Auferstehung Christi einen Blitz ge-nannt hat, welcher eine fundamentale Wende in der Geschichte der Menschheit be-deute.

1. Abschnitt: Freilegung des Tatbestandes 3

Bezeichnenderweise hat Fichte in den ›populären‹ Grundzüge des gegen-wärtigen Zeitalters seine geschichtliche Welt als Periode einer blinden Ver-nunftherrschaft und halben Aufklärung diagnostiziert. Das ist auch heutenoch zutreffend. Eine zersetzende Kritik habe sich von aller Vernunft-autorität befreit, aber nur, um lediglich noch den gemeinen Menschenver-stand und das Interesse des je eigenen Wohlstandes gelten zu lassen. Folge-richtig würden Systeme der Philosophie mit skeptischer Abschätzung be-handelt. Es sei das Zeitalter der Langeweile durch Geistlosigkeit, der Mei-nungsfreiheit ohne Denkfreiheit, des oberflächlichen Raisonnierens ohneden Ernst geistiger Anstrengung, der Empirie ohne Prinzipien der Ideen.

Dem dürfte Heideggers Phänomenologie des Daseins durchaus entspre-chen: die Diagnose unseres ›Verfallens‹ ins ›man‹, in jene Phänomene unse-res Existierens, in denen wir durchschnittlich so eingeebnet leben, wie manzumeist lebt und denkt und miteinander umgeht, nämlich in Gerede, Alltäg-lichkeit, Vielgeschäftigkeit, Öffentlichkeit, Abständigkeit. Darin manifestiertsich nicht nur die Flucht unseres endlichen Daseins vor dem Tode, es prägtauch ein Zeitalter, dessen Ungeist die philosophische Frage nach Sein undDasein niederhält. Und es mag auch nicht abwegig sein, Heideggers schonganz frühen, christlich-katholisch eingewurzelten Impuls, dem Übel desverflachten Modernismus wie dem Ungeist von Naturalismus und Nihilis-mus entgegenzuwirken, mit Fichtes Einsatz der Wissenschaftslehre nachHeideggers Bruch mit Katholizismus und Neukantianismus in Verbindungzu bringen.2 Dem steht die geschichtsmächtige Heraufkunft des europäi-schen Nihilismus immer noch im Wege.

In der Perspektive des scharfäugigen Wahrsagevogels Nietzsche, wel-cher die Heraufkunft des europäischen Nihilismus voraussagt, werden imgegenwärtigen Zeitalter Gestalten des ›unvollkommenen Nihilismus‹ do-minant. Diese verwerten Platonische Ideen, obwohl sie den platonischenIdealismus in allen seinen Ausformungen entwerten. Versteht man mitNietzsche die Tatsachenphilosophie des Positivismus, die Ideenfeindschaftdes Materialismus, die auf Faktenzeugnisse bauende Historie als halbher-

2 Vgl. die kühn zugespitzte These von A. Denker: Fichtes Wissenschaftslehre und diephilosophischen Anfänge Heideggers, 1997, es sei gar nicht die Frage nach demSinn von Sein (bei Aristoteles nach Brentano), sondern die Auseinandersetzungmit Grundlagen der Wissenschaftslehre, welche Heidegger auf den Weg seinesDenkens gebracht hätte.

4 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

zige Phasen der Heraufkunft des Europäischen Nihilismus, so werden Ver-schleierungen des Idealismus greifbar: Es ist nichts (nihil) mit einemReich der Ideen, es ist nichts mit dem ›absoluten Subjekt‹ und dem reinen›Ich-denke‹ der neuzeitlichen Philosophie, und es ist schon gar nichts mitPlatos ›Idee des Guten‹, mit einem spekulativen Absoluten, der Identitätvon Realität und Idealität, Wirklichkeit und Gedanke. Der Gott der Philo-sophen ist tot. Die Sonne Platos, die absolute Idee Hegels sind im Schattendes Nihilismus scheinbar endgültig und unwiederholbar kraft- und trost-los untergegangen.

Im schmerzhaften Schlaglicht von Nietzsches ›Umwertung aller Werte‹bildet der Positivismus im Stile des großen Methodologen Auguste Comteeine Form des unvollkommenen Nihilismus. Er ist Nihilismus, weil er er-klärt: Es ist nichts mehr mit der einstigen Erkenntniskraft der idealisti-schen Metaphysik. Er ist unvollkommen, weil er – wie der Sozialismus –Werte der platonisch-christlichen Weltauslegung nicht ab- und umwertet,sondern verwertet. Nach Comtes berühmtem Drei-Stadien-Gesetz, demGesetz des unumkehrbaren Fortschritts menschlicher Erkenntnis, ist dasdritte und letzte Erkenntnisstadium das der positiven, hierarchisch geord-neten Wissenschaften mit der Physik der Soziologie an der Spitze. DiesesVollendungsstadium hat nicht nur die fiktive Mythologie der Religion,sondern auch das abstrakte Stadium der Metaphysik hinter sich. Positio-nen der Metaphysik sind, so fortschrittlich und aufklärend sie einstmalsauch gewesen waren, unwiederbringlich vergangen. Die Begründung da-für ist ebenso naiv wie weitverbreitet: Die Ideen der Metaphysik abstra-hierten vom positiv Gegebenen und meiden das empirische Sinnkriteri-um.

Ein noch vernichtenderes Urteil im Zuge der Idealismusfeindlichkeitund Religionskritik unseres nihilistisch-materialistischen Zeitalters fällt dasWort des revolutionären Verfechters einer parteilichen, wissenschaftlichenWeltanschauung: Wladimir Iljitsch Lenin. Lenin ordnet Hegel mit Gewalt,nicht aus Unkennntnis in eine umwälzende Dialektik ein. Hegel wird dabeidas Verdienst zugestanden, die Dialektik als Instrument verstanden zu ha-ben, mit dem die Wahrheit des Wirklichen zu erfassen sei. Der dialektischeWeg aber führe von der lebendigen Anschauung zum abstrakten Denkenund von da zur revolutionären Praxis. Hegel habe sich dagegen der Vergan-genheit zugewendet und letztlich die christliche Religion in philosophischeTerminologie übersetzt. Das macht den Weg von Kant zu Hegel unpassier-bar. Die Vollendung des Weges im religionskritisch aufgeklärten Materialis-

1. Abschnitt: Freilegung des Tatbestandes 5

mus führt über Kant und Hegel so hinaus, daß er das idealistische Geredevon Gott und dem Absoluten endgültig erledigt. »Kant setzt das Wissen her-ab, um dem Glauben Platz zu machen. Hegel erhöht das Wissen, beteuernd,daß Wissen das Wissen von Gott sei. Der Materialist erforscht das Wissenvon der Materie, von der Natur und wirft Gott und das ihn verteidigendePhilosophenpack auf den Misthaufen« (LW 38, 160).

Nietzsche schließlich, der sprach- und stilartistische Allesverneiner, derImmoralist, Antichrist, Antiplatoniker hat für die idealistische ›Bildung‹ derdeutschen Hoch-Zeit nur noch von Vorurteilen gesättigten Hohn und häß-liche Verachtung übrig. So will er den Aufklärer Kant als »Nihilist mitchristlich-dogmatischen Eingeweiden« entlarven. Der »Königsberger Chi-nese«, ein moderner Konfuzius, mache Kotau vor den Hirngespinsten von›Tugend‹ und ›Pflicht‹ und dem ›Guten an sich‹. Und seine geschichtlicheWirkung beruhe auf dem Theologeninstinkt einer Gelehrtenwelt, die zudrei Vierteln aus Pfarrer- und Lehrersöhnen bestehe und die ihm, dem ab-gefallenen Sohn eines evangelischen Landgeistlichen, engstirnig dieschmerzlich vermißte Anerkennung und den verdienten Ruhm versagten.Schiller und dessen »edel verstellte Gebärde und edel verstellte Stimme« hatNietzsche bekanntlich als »Moraltrompeter von Säckingen« verhöhnt. ÜberHegel urteilt er, psychologisch nachrechnend, obenhin: »Von den berühm-ten Deutschen hat vielleicht Niemand mehr esprit gehabt als Hegel, – aberer hatte dafür auch eine so grosse deutsche Angst vor ihm, dass er seinen ei-genthümlichen schlechten Stil geschaffen hat. Dessen Wesen ist nämlich,dass ein Kern umwickelt und nochmals und wiederum umwickelt wird, biser kaum noch hindurchblickt [...] -aber in jenen Umwicklungen präsentiertes sich als abstruse Wissenschaft selber und durchaus als höchst moralischeLangeweile!« (Morgenröthe, Drittes Buch 193; KSA 3, 166-167).3

Im Jahre 1888, da der Briefwechsel fast nur noch um die Schinkenpaketeder Mutter, die hypochondrischen Berichte körperlicher Beschwerden, denausgebliebenen Ruhm, die unendliche Genugtuung über die Vorträge von

3 Nietzsches Briefwechsel von 1770 bis 1888 läßt sich zweierlei entnehmen: Von He-gel hat Nietzsche selbst nur eine Vorlesungsstunde bei Jakob Burckhardt über He-gels Philosophie der Geschichte gehört. Von den letzten Hegelianern berichtet er:Deren Parole lautete in den fünfziger Jahren »Wagner und Hegel!«. Das empfandund deutete Nietzsche als Götzendämmerung im unerträglichen Stil. Wagners Par-zival sei »Heuchelei in Musik«. Offenkundig ist Hegel hier nur noch im Streit derHegelianer präsent und in Nietzsches Abscheu vor dem Wagnerianismus.

6 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

Georg Brandes in Kopenhagen über die »Deutsche Philosophie und Fried-rich Nietzsche« kreist, findet sich ein ungemein erregter Protestbrief vom20. Oktober an die verehrte Freundin und »Idealistin« Malwida von Mey-senbug: »Ich behandle den Idealismus als eine Instinkt gewordene Unwahr-haftigkeit, als ein Nicht-sehn-wollen der Realität um jeden Preis: jeder Satzmeiner Schriften enthält die Verachtung des Idealismus.« Und Nietzschefügt eine ebenso maßlose und schrecklich simplifizierende Abwertungsbe-gründung hinzu: »Es giebt über der bisherigen Menschheit gar kein schlim-meres Verhängnis als diese intellektuelle Unsauberkeit; man hat den Werthaller Realitäten entwerthet, damit, dass man eine ›ideale Welt‹ erlog« (KSABr 8, 458). Und pauschal hat Nietzsche ohne genauere Kenntnisnahme dendrei Vollendern des Deutschen Idealismus Fichte, Schelling und Hegel über-haupt einen Platz in der Geschichte der Erkenntnis abgesprochen. Alle dreiseien unbewußte Falschmünzer, unsaubere Schleier-Macher; sie hätten keinBuch hervorgebracht, das Tiefe besitzt (Ecce Homo. Der Fall Wagner 3; KSA6, 31).

Es ist, aufs Ganze gesehen, die philosophische Reszendenzbewegung imradikalen Stile eines Feuerbach, Marx und Nietzsche, welche die Welt verän-dert hat.4 Sie setzt die Transzendenzbewegung zu einer ›Hinterwelt‹ vonübersinnlichen Ideen und den Überstieg zum Göttlich-Absoluten in speku-lativer Vernunft und intellektueller Anschauung außer Kraft. ZarathustrasBeschwörung dringt durch: »Brüder, bleibt der Erde treu!« So scheint dasVerhängnis philosophischer Spekulationen vorüber. Jede Weltanschauung,welche die Sinnenwelt auf ein Unbedingtes hin aufsteigend transzendiert,um es als Erscheinung des Absoluten absteigend zu deduzieren, verkehrtund entstellt die Wirklichkeit der Welt. Weltanschauungen im Siegeszug derReszendenz wollen das Ganze vom Kopf auf die Füße stellen.

Das ist zugleich durch den imponierenden Siegeszug der Natur- undGeisteswissenschaften manifest geworden. Sie bringen das durch Hegel sogeistvoll vollendete dreiteilige System von Logik – Naturphilosophie – Phi-losophie des Geistes zum Einsturz. Hegel hatte ja nach Schellings gottvollerNaturphilosophie im Ausbau seiner Enzyklopädie auch eine eigene Natur-philosophie veröffentlicht. Deren Ideen, etwa über Mechanismus, Chemis-

4 Fundamentale Stationen dieser Reszendenzbewegung hat I. Schüssler: Hegel et lesrescendances de la métaphysique, 2003 analysiert: Schopenhauer – Nietzsche –Marx – Kierkegaard – Wissenschaftspositivismus.

1. Abschnitt: Freilegung des Tatbestandes 7

mus, Organismus, Teleologie sind durch die verselbständigten Einzelwissen-schaften des 19. Jahrhunderts beseitigt worden. Mit einem integralen Teilaber bricht das Ganze des Systembaus zusammen. Das gilt als Urteil des Er-kenntnisfortschritts: Mit der spekulativen Naturwissenschaft ist es nichts.Unbemerkt aber ist der sogenannte Zusammenbruch des Idealismus auchvon Seiten der sich emanzipierenden Geisteswissenschaften zustandege-kommen. Von Wilhelm Dilthey, dem Erzhermeneuten der modernen Geis-teswissenschaften und des geschichtlichen Lebens – dem Entdecker auchder Hegelschen Jugendschriften –, ist das destruktive Wort überliefert: He-gels Logik sei ein schlechthin unverdauliches Zeug.5 Auch das hat sich aus-gebreitet: Mit der spekulativen, ontotheologischen Logik ist es zumal ange-sichts des Fortschritts der mathematischen Logik nichts. Mit der Logik He-gels als alles vermittelnder Mitte aber löst sich das systemgebundene Ganzedes Deutschen Idealismus in allen seinen Teilen auf. So scheint sich derjeni-ge Zustand nach der Auflösung der in der Hochzeit des Deutschen Idealis-mus vollendeten Metaphysik wieder einzustellen, den Hegel vor dem Auf-bau des Vernunftsystems so merkwürdig gefunden hatte. »Indem so dieWissenschaft und der gemeine Menschenverstand sich in die Hände arbei-teten, den Untergang der Metaphysik zu bewirken, so schien das sonderbareSchauspiel herbeigeführt zu werden, ein gebildetes Volk ohne Metaphysik zusehen« (TWA 5, 14).

Diese progressive einzelwissenschaftliche Präzisierung unserer ge-schichtlichen Welt hat eine Rückseite. Sie schneidet zentrale Grundfragennach Wahrheit, absolutem Wissen und Sein ab und schenkt den Stimmenphilosophischer Seinsbesinnung kein Gehör mehr. Das ist dem totalitärenCharakter unserer modernen, technologischen, politisch ideologisiertenWeltpräzisierung geschuldet. Das treffende Grundwort ›Präzisierung‹, dasfortschrittlich leuchtet, hat eine Schattenseite. Lateinisch praecidere besagtauch und zuvor: vorne abschneiden, zum Exempel linguam praecidere: dieZunge abschneiden und ein Sprachwesen verstümmeln.6 Wie aber steht es,wenn die so präzisierte, vom Reich der Ideen, von der philosophischen

5 Vgl. dazu O. Pöggeler: Die Komposition der Phänomenologie des Geistes, 1973,378ff. – H. Glockner: Beiträge zum Verständnis und zur Kritik Hegels, 1963, 485.

6 Vgl. dazu Vf.: Kritik der präzisierten Welt, 1999. Da ist programmatisch die zwei-deutige Präzisierung unserer Welt (praecisio mundi) auf eine Präzisierung desSeins (praecisio entis) zurückgeführt und die zur Präzisionsanalyse gehörige Resti-tutionssynthese als unzeitgemäße Aufgabe angelegt.

8 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

Grundlegung des Rechts, der Sittlichkeit, der Religion abgeschnittene, ›ent-zauberte‹ Welt zum Bezirk der Angst und Sinnlosigkeit geworden ist, in wel-chem der entfremdete Mensch nicht mehr zu Hause ist? Auch das hat Nietz-sche uns, den Mördern Gottes, vor Augen gestellt. Was uns angeht, ist die ei-gentliche Angst der Sinnlosigkeit im Andrang der end-, ziel-, seins- undsinnlosen Werde-Welt. Kommt nicht so wieder ein Bedürfnis unseres nihi-listischen Zeitalters auf, die angstdurchstimmte Entfremdung unseres präzi-sierten In-der-Welt-Seins aufzuheben? Wäre es dann nicht mehr als eineAufgabe von lediglich antiquarisch-historischem Interesse, die im Deut-schen Idealismus vielfach errungene Grundlegung von Bewußtsein undSein, von Welt und Gott zu restituieren, d.h. in ihr unverlierbares Recht wie-der einzusetzen? Und sollte nicht der Stand des ›Gelehrten‹ der von Fichteangemahnten Aufgabe wieder gerecht werden, ein wissenschaftliches Wis-sen der wahren Ideen, etwa der sozialen Gerechtigkeit, auf das geschichtli-che Leben anzuwenden, gerade in einem Zeitalter, das sich von der angeb-lich realitätsfremden Ideenwissenschaft gedankenlos abgewendet hat?

Längst ist der Terminus ›Deutscher Idealismus‹ zum Sammelbegriffund Schmähnamen für das spekulative Reden vom Absoluten und für einleerlaufendes Konstruieren von Systemen in der Sphäre des phantasti-schen Ich=Ich geworden. Eine Restitution, also die Wiedereinsetzung ei-nes Geschädigten in sein Recht, hat nicht nur das systematische Ziel, dieverschüttete metaphysische Naturanlage der menschlichen Vernunftnaturwieder freizulegen. Ihr ist auch aufgegeben, den Gang der Philosophiege-schichte aus gewandelter Problemsituation – und weitaus verbesserterQuellenlage – neu zu sichten und zu überdenken. Dafür sei zuerst dasdreischrittige Fortschrittsschema ›Von Fichtes Wissenschaftslehre überSchellings Naturphilosophie zu Hegels Logik und Enzyklopädie‹ in seinerbestechenden Dialektik und in seinem Fortleben (auch noch in Heideg-gers einschlägigen Vorlesungen) kritisch zu wiederholen. Dieses Klischeeist ja schon durch den Hegel widerstreitenden Vollendungsanspruch vonSchellings Identitätssystem und dem Hochmut Schellingscher Spätphilo-sophie durchstrichen. Zudem und nicht zuletzt ist der sich im Streit mitSchelling formierende Anspruch von Fichtes ›ungeschriebener Lehre‹ ein-zuholen, welcher verkündet, die Riesenschlacht um das Sein endgültig fürsich entschieden zu haben. Das ist vorläufig und einleitend in einem Pro-blemaufriß der dreifachen Vollendung des Deutschen Idealismus vorzu-zeichnen.

1. Abschnitt: Freilegung des Tatbestandes 9

2. Kapitel: Nachprüfung des philosophiegeschichtlichen Klischees. ›Von Fichte über Schelling zu Hegel‹

Der dialektisch markierte Weg von Fichte zu Hegel gilt heute als philoso-phiegeschichtliche Sackgasse. Die gründlich verbesserte Forschungslage,welche die großen Entwürfe der Spätphilosophie Schellings und Fichtesfast gleichzeitig ins Zentrum des Interesses gestellt hatte, läßt das über-kommene Fortschrittsschema als Klischee beiseite, ohne sich freilich denProblemen einer dreifachen Vollendung des Deutschen Idealismus zu stel-len. Dafür aber ist vorerst die immerhin von Hegel selbst inaugurierte tri-plizitäre Ausdeutung in ihrer systematischen Plausibilität und ihrer ge-schichtlichen Fortdauer nachzuprüfen.

Immer noch nämlich wird die Ansicht von der Geschichte des Deut-schen Idealismus als dialektischer Gang zur vollendeten Wahrheit des ab-soluten Geistes vom Hegelschen Schema beherrscht. Danach wird FichtesWissenschaftslehre als Thesis angesehen, welche über die Antithesis derSchellingschen Naturphilosophie in einer diesen Widerspruch aufheben-den Synthesis aufgeht. Diese verführerische Triplizität hat in Hegels ›Diffe-renzschrift‹ von 1801 eine erste maßgebliche Vorzeichnung gefunden. Die-se in den aufbrechenden Streit der Systeme eingreifende Schrift solltenicht nur Fichtes und Schellings Sache so weit wie möglich trennen, siehat auch eine Systemkonzeption nahegelegt, in welcher Fichtes Transzen-dentalphilosophie und Schellings Naturphilosophie umfassend aufgeho-ben sind.

Dafür stellt Hegels Darstellung des Fichteschen Systems fest: FichtesGrundlegung der gesamten, d.h. theoretischen und praktischen Wissen-schaftslehre mache mit der Aufstellung des obersten Grundsatzes Ich=Ichden Anfang, um die unvollendete Vernunftwissenschaft Kants und derenungenügende Kategorienlogik systematisch zu vollenden. Nun verkündeFichtes Grundsatz zwar ein absolutes Ich, aber in der Gestalt einer bloß sub-jektiven Subjekt-Objekt-Einheit unter der Gleichung: absolutes Ich=Alles.Durch Vereinigung mit dem Grundsatz unbedingten Entgegensetzens einesNicht-Ich aber sei das schlechthin sich selbst setzende Ich an Schranken ge-bunden, die zu überwinden zur unendlichen Aufgabe praktischen Vernunft-strebens werde, so daß »die höchste Synthese, die das System aufzeigt, einSollen ist. Ich gleich Ich verwandelt sich in Ich soll gleich Ich sein; das Resul-tat des Systems kommt nicht in seinen Anfang zurück« (TWA 2, 68). Seit-dem ist die Sollenskritik die schärfste Waffe Hegels gegen Fichtes Anspruch,

10 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

Kants Vernunftkritiken systematisch in Form und Gehalt einer Vernunft-wissenschaft abgeschlossen zu haben. Als immer bloß Gesolltes sei hier dasAbsolute nie erfüllt und der Anfangsgrund nicht mit dem Ende vermittelt.

Der dreifache Mangel der Fichteschen Position – die bloß subjektiveSubjekt-Objekt-Einheit, die einseitige Grundgleichung Ich=Alles, der sys-tematisch unvollendbare Endstand Ich soll=Alles sein – fordere eine Ge-genposition heraus, Schellings Naturphilosophie. Diese setzt der Transzen-dentalphilosophie den undogmatischen Versuch entgegen, das Subjektiveaus dem Objektiven, den Geist als höchste Potenz in der Stufenreihe derNatur herzuleiten. Das sei auf dem Wege zur Wahrheit des Ganzen unum-gänglich. Es müsse nämlich nicht nur gezeigt werden, daß Tätigkeit, Le-ben, Freiheit, Vernunft allein das wahrhaft gesollte Wirkliche sind, son-dern auch umgekehrt, daß alles wahrhaft Wirkliche Tätigkeit, Leben, Frei-heit, Vernunft zum Grunde hat. Während formelhaft ausgedrückt FichtesGrundgleichung Ich=Alles lautet, lautet die Grundgleichung der Natur-philosophie Alles=Ich.

Freilich kann das philosophische Bewußtsein in seinem Suchen nachder ganzen Wahrheit als Wahrheit des Ganzen und Absoluten nicht ste-henbleiben; denn auch die Antithese Schellings ist einseitig und darumunvollständig unvollendet. Im Gegenzug zur transzendentalen Subjektivi-tät erhebt sie das Objektive, die Natur als Inbegriff des Objektiven, zumErklärungsgrund von Sein, Erkenntnis und Wahrheit. Das Prinzip der Na-turphilosophen ist die objektive Subjekt-Objekt-Einheit.

Nun entspricht es dem Bedürfnis des neuzeitlichen philosophischenGeistes, sich nicht mit einem Dualismus abzufinden, sondern die Einsei-tigkeiten gegensätzlicher Ansätze zu einem Ganzen zu ergänzen, und zwarnicht einfachhin als additive Hinzufügung des einen zum andern, sondernauf den Spuren Spinozas im Aufstieg zum Absoluten unter der LosungHen kai Pan. Hegels Differenzschrift weist für diese Vollendungsgestalt aufeinen absoluten Idealismus, auf die indifferente Subjekt-Objekt-Einheitvon Schellings Identitätssystem. Im Stande der absoluten Indifferenz vonSubjektivität und Objektivität, von Geist und Natur, sind die einseitigenPrinzipien dadurch vernichtet, daß sie im Absoluten polar vereinigt wer-den. So wird der Fortgang vom subjektiven über den objektiven zum abso-luten Idealismus als Selbstkonstruktion der Identität zur Totalität durch-sichtig.

Obwohl Hegel unüberhörbar Schellings Identitätsgedanken als Vollen-dung dieses Fortschrittsschemas anpreist, lassen sich doch Indizien dafür

1. Abschnitt: Freilegung des Tatbestandes 11

herauslesen, daß Hegel über Schellings Grundlegung hinaus will. Schellingzufolge ist das Absolute, der Gott der Philosophen, ungeschiedene Indiffe-renz des Idealen und Realen und die reale Welt deren äußerliche abgestufte,quantitative Differenzierung. Hegel dagegen spricht schon in der Differenz-schrift eine andere Grundformel des absoluten Idealismus an, eine Identität,welche die Negativität, das Entgegensetzen, die Nicht-Identität in sich selberhat. Hegels berühmt gewordene Grundformel lautet: »Das Absolute selbstaber ist darum die Identität der Identität und Nicht-Identität: Entgegenset-zen und Einssein ist zugleich in ihm« (TWA 2, 96). Darin deutet sich einedialektische Vollendung einer Vernunftwissenschaft im Geiste vollständigerIdentität an. »Die ursprüngliche Identität [...] muß beides vereinigen in derAnschauung des sich selbst in vollendeter Totalität objektiv werdenden Ab-soluten« (TWA 2, 112).7

Ein halbes Jahrzehnt später ist Hegel mit seiner Vorrede zur Phänomeno-logie des Geistes selbstsicher mit eigenen Grundbestimmungen eines absolu-ten Idealismus hervorgetreten. Dabei wird Schellings Prinzip der Indifferenzdes Realen und Idealen, der Grund und Boden des vollendeten Identitäts-systems, zum Entsetzen Schellings als das unerfüllte Leere, die Nacht, in deralle Kühe schwarz sind, beiseitegestellt. Und im Ausbau der Logik erscheintdas Ganze und Wahre als die absolute, alle Seins-, Wesens- und Begriffsbe-stimmungen in sich versammelnde Idee, die im Anderswerden, im frei ent-schlossenen Sich-Entlassen in Natur und Sinnenwelt bei sich bleibt, sich alssubjektiver, objektiver, absoluter Geist aufsteigend bewährt und im großentrinitarischen Kreisgang in seinen Anfang zurückkehrt.

Dabei schließt Hegels geistesgeschichtlicher, methodisch-dialektischerSystembau ein, daß auch die Philosophiegeschichte logisch schrittweiseaufsteigt und in ihr Ziel, die Grundlegung und Entfaltung des Wahren,

7 Die Überprüfung der Differenzschrift durch A. Schurr: Philosophie als System beiFichte, Schelling und Hegel, 1974, 173-192 verteidigt nicht nur die erkenntniskriti-sche und transzendental-philosophische Grundlegung der Jenaer Wissenschafts-lehre als stimmige Systemvollendung, die durchaus zur vollständigen Identitätdurchdringe, insofern die bewußtseinskonstitutive Beschränkung der Tathandlung– durch die Entgegensetzung des 2. Grundsatzes, die Deduktion des Anstoßes, dieKonsequenz eines gesollten Absoluten – unaufhebbar sei. Dagegen scheitere HegelsSystemkonzeption daran, daß eine Potenzierung des Objekts zur Selbstanschauungeines Subjekt-Objekts undenkbar und letztlich darum gesetzt sei, um die unterstell-te Identifizierbarkeit von Subjekt und Objekt im Absoluten zu gewährleisten.

12 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

welches das Ganze ist, kommt. Hegels Sinngebung der Philosophiege-schichte aus Einsicht in den methodischen Fortgang der ontotheologi-schen Logik revidiert den äußerlichen Anblick der Philosophiehistorie.Für den ›gesunden Menschenverstand‹ und unser natürliches Bewußtseinstellt sich die Philosophiehistorie als eine Anhäufung von Weltanschauun-gen dar, aus deren Angebot sich jedermann das Passende heraussuchenkann. Gemeinsam aber sei allen, daß sie, durch einander widerlegt, einVergangenes sind. Mithin führe das trostlose Studium der Philosophiebestenfalls zum Skeptizismus. Das ist wohl allgemeine Ansicht geblieben:Keine der seit Plato bis Hegel in der Geschichte hervorgetretene Philoso-phie, schon gar nicht Fichtes verstiegene Wissenschaftslehre und Schel-lings phantastische Naturphilosophie, bieten haltbare Wahrheiten, welcheunser Zeitalter der modernen Wissenschaft, mathematischen Technologie,politischen Ökonomie in Gedanken zu fassen vermöchte.

Von solcher Trostlosigkeit befreit der geistvolle Durchblick HegelscherDialektik. Danach bilden die geschichtlich hervortretenden Systeme derPhilosophie verschiedene Stufen der logischen Seinsbestimmungen als »me-taphysische Definitionen Gottes« auf ihrem Wege zur absoluten Idee; dennsie haben die systematische Vollendung des Anfangs im kühnen, abstraktenSeinsgedanken des Parmenides durch ein Vernunftsystem auf dem Grundund Boden konkretester Identität zum Ziel. Also schreitet die Geschichteder Philosophie dialektisch vom ersten und abstrakten Vernunftsystem zueinem immer reicheren und konkreteren fort. Ihre Phasen entsprechen demFortgange der Ontologik vom unbestimmt-unmittelbaren Sein bis zumReichtum der absoluten Idee. Die früheren, ärmeren, einseitigen Systemewerden in die späteren aufgehoben (negiert – konserviert – eleviert). Damitsind sie ebenso widerlegt wie nicht widerlegt. Sie sind widerlegt, insofern ihrPrinzipienanspruch negiert wird; sie werden nicht widerlegt, insofern ihreGrundgedanken und Hauptsätze als Momente einer erfüllteren Grundideebewahrt und erhöht werden. Mithin hat es die Geschichte der Philosophiegar nicht mit Vergangenem und Abgetanem zu tun, sondern mit Ewigemund schlechthin Gegenwärtigem. Sie bilde mit Hegels pathetischem Wortnicht eine Galerie menschlicher Verirrungen, sondern ein Pantheon vonGöttergestalten.

Zu den Heroen auf dem Wege zur wahren Philosophie zählen Fichte,der Kants Vernunftkritik aufhebt, ebenso wie Schelling, der Spinozas Ge-danken des Hen kai Pan systematisch ausbaut. Beide verbreiten nicht be-liebige Meinungen, sie fördern das Wissen, daß es Wahrheit in der Gestalt

1. Abschnitt: Freilegung des Tatbestandes 13

eines einzigen und vollendeten Vernunftsystems gebe. Indessen könnennach dem Urteil Hegels Fichtes und Schellings Systeme in ihrer Differenznicht bestehen. Beide enthalten zwar eine echt spekulative Tendenz, aberkeins von beiden dringe zur vollkommenen, konkreten Identität durch. Siesind als Momente im Fortgange zum vollendeten System des absolutenGeistes aufzuheben und höher zu heben. So also behauptet Hegel, die Auf-gabe der neueren Philosophie im dialektischen Dreischritt gelöst zu ha-ben. Und die Philosophiegeschichtsschreibung ist dieser geistvollen Kon-struktion allzu lange gefolgt.

3. Kapitel: Exkurs. Heideggers Stellungnahme zum Fortgang des DeutschenIdealismus

Hegels eindrucksvolle, mit geordneter Gedankenfülle, genialen Geistesblit-zen, universaler Gelehrsamkeit, theologischer Fundierung begabte spekula-tive Synthese eines zur Vollendung fortschreitenden Vernunftsystems leuch-tet ein, zumal in einem Zeitalter, das unter der Idee der Perfektibilität unddes Fortschritts im Glauben an die Macht der Vernunft in der Geschichtesteht. Das hat lange die neuere Philosophiegeschichtsschreibung unter demFortschrittsmuster ›Von Kant zu Hegel‹ beeindruckt.8

Auch für diese fortlebende Perspektive kann die AuseinandersetzungHeideggers mit Fichte und der Geschichte des Deutschen Idealismus alsZeuge aufgerufen werden. Heidegger hat Fichtes Jenaer Grundlage der ge-sammten Wissenschaftslehre 1928 mit dem Vorgriff seiner Fundamentalonto-logie neu gelesen und im Sommer 1929 die Erträge seines Fichte-Studiumsvorgetragen. Hier ist lediglich zweierlei in den Blick zu fassen: die philoso-phiegeschichtliche Zusammenstellung der drei maßgeblichen Systembil-dungen und der thematische Schwerpunkt von Heideggers Fichte-Interpre-tation. Dabei muß konstatiert werden: Heideggers Vorlesung geht im Drei-schritt von Fichte über Schelling zu Hegel als dem Vollender der abendlän-

8 Beispielhaft dafür ist das noch zur Zeit der Schulherrschaft des Neukantianismusentstandene Standardwerk von Richard Kroner: Von Kant zu Hegel, 1921-1924. –Und das bildet auch noch den Hintergrund im Werke von V. Hösle, Hegels System,1988. Lediglich in einem Seitenblick auf die dreifache Vollendung des DeutschenIdealismus mahnt Hösle eine Forschungsaufgabe an, nämlich Fichtes und Schel-lings Spätphilosophien in ihrem Vollendungsanspruch durch eine von Hegel inspi-rierte Kritik in die Schranken zu weisen.

14 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

dischen Metaphysik vor; und das Zentrum der Fichte-Erörterung liegt aufden drei obersten Grundsätzen der Wissenschaftslehre 1794. Dabei wird die-se erste, unvollendete Grundlegung im Horizont der fundamentalontolo-gisch angesetzten Seinsfrage durchgesprochen und Fichtes absolutes Ich mitdem ekstatischen Dasein in seinem geworfenen Entwurf konfrontiert. Fol-gerichtig fällt das Schwergewicht solcher Auseinandersetzung auf den drit-ten Grundsatz, die transzendentale Teilbarkeit des Ich im Ich und des Nicht-Ich im Ich mit dem Charakterzug der transzendentalen Selbst-Verendli-chung. Von der ontologisch-existentialen Seinsverfassung des Daseins aberbleiben alle drei Urhandlungen des Ich abgeschnürt.9

In der Vorlesung vom Sommersemester 1929 wird die philosophiege-schichtliche Situation seit Fichtes Wissenschaftslehre so skizziert: FichtesUnternehmen belasse das Ich in der isolierten Leere der Selbstherrlichkeitseines Setzens und verharre in einer merkwürdigen Enge, die weder der Na-tur noch der Kunst in ihrem Eigenwesen einen Platz einräume. Diese Positi-on werde folgerichtig durch Schellings Naturphilosophie ergänzt und da-nach von Hegel aufgehoben. »Situation. Fichte: Identität – oberster Grund-satz, Schelling: Identität – Natur. Problem der absoluten Identität, d.h. derIdentität im Absoluten und durch das Absolute [...]. So macht Hegel Ernstmit dem Absoluten und dem absoluten Erkennen. Er will loskommen vonder je einseitigen Substanz, sei es das Ich, sei es die Natur [...]. Absolute Iden-tität ist nicht absolute Indifferenz sondern Totalität der Bestimmtheit« (Derdeutsche Idealismus § 19, 198-199).

9 Einen genauen Bericht über die intensive Beschäftigung Heideggers mit demGrundriß der Jenaer Wissenschaftslehre vom Wintersemester 1916/1917, über diegroße Vorlesung vom Sommersemester 1929 mit dem Titel: Der Deutsche Idealis-mus. Fichte, Schelling, Hegel bis zum Seminar im Wintersemester 1933/1934 (Fich-tes Wissenschaftslehre von 1794) bietet F.-W. von Herrmann: Fichte und Heidegger,1976. – Der Bericht von C. Strube: Heideggers Wende zum Deutschen Idealismus,1992 stellt Heideggers Vorgriffe heraus: Fichtes Vorzug der Gewißheit vor derWahrheit, den »Machtspruch der Vernunft« als das, was die Ichheit als solche for-dert, das Ideal eines einstimmigen Systems als großartige Grundlegung der Meta-physik, bei der die Seinsfrage immer mehr in Vergessenheit gerät. – Die Studie vonJ. Stolzenberg: Martin Heidegger liest Fichte, 2003 zeigt auf, wie Heideggers Er-schließung der Existenzverfassung, zumal das Sichentscheiden zur Eigentlichkeit,die Analyse des Selbstbewußtseins voraussetzt, und daß Heidegger im GrundeFichtes Begriff des ursprünglich praktischen Selbstbewußtseins für sich entdeckt.

1. Abschnitt: Freilegung des Tatbestandes 15

Hegels Auseinandersetzung mit dem Deutschen Idealismus stellt sich alsein Miteinanderringen um die ursprüngliche, aber ausgebliebene Fassungder Leitfrage nach dem Sein heraus. Und diese Auseinandersetzung wendetsich am Ende Hegel zu; denn Hegel vollende die abendländische Metaphy-sik im Fragen nach dem Absoluten, das aus dem Denken Fichtes und Schel-lings herausgewachsen ist. In seinem bislang unveröffentlichten Amsterda-mer Vortrag von 1930 Hegel und das Problem der Metaphysik wiederholtHeidegger das Schema ›Von Fichte zu Hegel‹: »Fichtes Wissenschaftslehresucht das absolute Wissen und will im absoluten Ich die Relativität der Kan-tschen Transzendentalphilosophie überwinden. Schellings Naturphiloso-phie erkennt, daß das Nicht-ich [...] bei Fichte keine eigenständige Machthat, und so versucht er umgekehrt, die Relativität der Subjekt-Objekt-Bezie-hung in der Natur zu gründen, bis Schelling selbst dann mindestens zur for-malen Idee derjenigen Identität vordringt, die Ich und Nicht-Ich (Intelligenzund Natur) einigt. Während bei Schelling diese absolute Identität nur nega-tiv, als der Wider-Spruch gefaßt wird, ist er bei Hegel positiv. Das Absolute istals Geist und Vernunft, die Wirklichkeit des Wirklichen [...] das ens realissi-mum, das alle Realitäten, Wesenheiten in sich einigend, die Ermächtigungdes Wirklichen ist« (vgl. den Bericht von W. Biemel: Heideggers Gesprächmit Hegel, 2006).

Indessen, Heidegger selbst hat außer der hierarchischen Triplizität unddem dialektischen Dreischritt zur Vollendung des Deutschen Idealismusauch die Perspektive eines dreifach getrennten Denkweges zu je eigenenPrinzipien und Systemgründungen vorgesehen. »Fichte, Schelling, Hegel: 1.Jeder in seiner Weise das Ganze. 2. Jeder in seiner Weise eine prinzipielleBegründung« (Der deutsche Idealismus § 17, 186). Das ist in der Problem-entfaltung des Idealismus im dreifachen Stadium seiner Vollendung einlei-tend zuzuschärfen.

Nicht mehr diskutiert werden kann in dieser Problemstellung die›seinsgeschichtliche‹ Erfahrung Heideggers auf seinem Denkweg der›Kehre‹ in den ›anderen Anfang‹. Da wird die Vollendung der platonischenMetaphysik in der Gestalt des vollendeten Vernunftsystems als jenesSeinsgeschick erblickt, da die Wahrheit (Aletheia) unter dem Joch der Ideevon einem abgeschlossenen System her durch und durch bestimmt ist.

16 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

4. Kapitel: Vorzeichnung des antihegelschen VollendungsanspruchsSchellings

Hinführend zum Problemstand der dreifachen Vollendung ist eine philo-sophiegeschichtliche Streitsache hervorzuheben. Vor und gegen Hegelsgroßmächtige Entfaltung der philosophischen Enzyklopädie hat geradeauch Schelling auf seine Weise eine prinzipielle Begründung des Ganzenvon Gedankenwelt und Wirklichkeit aufgestellt: am Anfang durch die Ideedes Identitätssystems, am Ende durch die komplementäre Konfundierungvon negativer und positiver Philosophie. Und niemand hat den Primat desHegelianismus kompetenter verworfen als Schelling am Ende seines pro-theushaften Gestaltwandels.

Den Anspruch, als erster die Philosophie von der Bedeutungsleere desKathederbetriebs auf die großen Grundfragen der Menschheit zurückge-führt und den festen Standpunkt einer umfassenden, kohärenten System-gründung errungen zu haben, bekräftigt Schelling in seiner MünchenerAntrittsvorlesung am 6. November 1822. Da verlangt er von einer wahrenPhilosophie, sich auf einen Standpunkt zu stellen, »da die innere Identitätaller Wissenschaften sich enthüllt [...]; wo endlich die vieltausendjährigeUnruhe des menschlichen Wissens zur Ruhe kommt, und die uralten Miß-verständnisse der Menschheit sich lösen« (W V 56-57 = SW IX 363). Die-sen Standpunkt habe der philosophische Geist vor einem Vierteljahrhun-dert – in der Grundlegung des Identitätssystems – eingenommen, undseitdem sei kein anderes und wesentlich neues System erschienen, der ge-läufigen Meinung vom schnellen Wechsel der Systeme zum Trotz. »Manhat aber nicht gesehen, daß irgendein wesentlich neues und in seinen ma-teriellen Grundlagen anderes System in den letzten fünfundzwanzig Jah-ren sich erhoben und lebendiger Geister sich bemächtigt hätte, und wasallein seit dieser Zeit Geltung sich erworben, gibt sich selbst nur für Ver-besserung, für Vollendung des damals Gewonnenen« (W V 58 = SW IX364). Und wie das Identitätssystem vormals ein epochaler Durchbruchzum Unbedingten war, steht jetzt, in einer neuen Krisenzeit, ein noch tie-ferer Durchbruch bevor. Er, Schelling, sei bereit, was er einst begann, jetztzu vollenden.

Diese Vollendungsaufgabe erfordert, von einer bloß ›negativen Philoso-phie‹ zur ›positiven Philosophie‹ überzugehen. Dabei heißt eine philosophi-sche Wissenschaft negativ, welche bloß die logische Gedankenbewegung derabsoluten Idee, d.i. das Gesamt der Wesensbestimmungen von der Natur bis

1. Abschnitt: Freilegung des Tatbestandes 17

zur Kunst, organisch und differenziert entwickelt. Aber solche Systembil-dung logischer Wesenheit ist negativ. Sie vermag nicht, das Wirkliche, dasDaßsein des Existierenden zu erfassen. Geschichtlich gesehen habe die ne-gative Philosophie ihre höchste Stufe im Identitätssystem erreicht. Um dieausstehende Konfundierung von logischer Idee und existenter Wirklichkeitzu erreichen, sei es im Zeitalter der Vollendung wahrer Philosophie notwen-dig, die Bahn der Hegelschen Allesvermittlung zu verlassen.

Eine radikale Aussonderung der Hegelschen Doktrin haben die aus demhandschriftlichen Nachlaß herausgegebenen öffentlichen Münchener Vorle-sungen Zur Geschichte der neueren Philosophie gefordert. Hier ist lediglichdie allgemeine und grundsätzliche Abschätzung von Intentionen des Hegel-schen Irrweges wiederzugeben.

Schelling nimmt das Programm der Hegelschen Ontotheologik beimWort: Die Vernunftwissenschaft habe sich in das reine Denken zurückzuzie-hen; ihr einziger unmittelbarer Gegenstand sei der reine Begriff. »Man kannHegel das Verdienst nicht absprechen, daß er die bloß logische Natur jenerPhilosophie, die er sich zu bearbeiten vornahm, und die er zu ihrer vollkom-menen Gestalt zu bringen versprach, wohl eingesehen hatte« (W V 196 =SW X 126). Aber Hegel habe diese Intention seiner Logik, die negative Philo-sophie zu vollenden, überspannt und dadurch das Ziel heillos verfehlt. Ersetze das Logische an die Stelle des Realen und maße sich an, innerhalb ei-ner Gesamtbewegung des sich entäußernden und zu sich zurückkehrendengöttlichen Begriffs in die Realität von Welt und Gott einzudringen. »So we-nig ist Hegel geneigt, seine Philosophie als die bloß negative zu erkennen,daß er vielmehr versichert: sie sey die Philosophie, die schlechthin nichtsaußer sich zurücklasse« (W V 197-198 = SW X 127). Damit eröffne dieseGrenzüberschreitung eines logisch negativen Philosophierens den Irrwegdes Geistes; denn der Übergang aus der Welt des Begriffs in die wirklicheWelt der Existenz müsse mißlingen. Auf dem Wege einer Selbstbewegungder Idee im Äther des absoluten, sich als Einheit von Gedanke und Realitätwissenden Wissens komme auch die reichste Entfaltung einer Seins-, We-sens- und Begriffslogik nicht an die Wirklichkeit und Existenz heran. Mit-hin liefere Hegels Vermittlung von Begriff und Wirklichkeit nicht etwa dieVollendungsgestalt, sondern ein Zerrbild der Philosophie. Der Hegelianis-mus sei keineswegs das erfüllte Endstadium einer tausendjährigen Ge-schichte des Geistes, sondern eine ins Leere und Monströse verlaufende Epi-sode. »Für so verdienstvoll man daher auch die Anwandlung anschlagenmuß, die Hegel hatte, die bloß logische Natur und Bedeutung der Wissen-

18 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

schaft, die er vor sich fand, einzusehen, so verdienstvoll insbesondere es ist,daß er die von der früheren Philosophie im Realen verhüllten logischenVerhältnisse als solche hervorgehoben hat, so muß man doch gestehen, daßin der wirklichen Ausführung seine Philosophie (eben durch die Prätensionauf die objektive, reale Bedeutung) um ein gut Theil monströser gewordenist, als es die vorherrschende je war, und daß ich daher auch dieser Philoso-phie nicht Unrecht gethan habe, wenn ich sie – eine Episode nannte« (W V198 = SW X 128).

Dieser Rückblick auf die Selbstauslegung Schellings in seiner Absonde-rung von Hegels Prätension mag genügen, um vorerst die Problemfülle an-zudeuten, welche Schellings Prioritätsanspruch auslöst, als erster und gänz-lich das Bedürfnis der Zeit nach Vollendung eines Vernunftsystems undnach Beendigung des alten Streits um Sein und Nichtsein einer wahren Phi-losophie befriedigt zu haben. Inzwischen hat eine intensive philosophiege-schichtliche Forschung die Spätphilosophie Schellings, die übrigens ohneSchulnachfolge geblieben war, aufgenommen und das geläufige Bild desDeutschen Idealismus zwiespältig revidiert. So ist Schelling als Inauguratordem ›Spätidealismus‹ zugeordnet und gleichsam als das fehlende Glied indie Kette zwischen Hegelianismus und Antihegelianismus eines Kierkeg-aard, Nietzsche, Marx eingeordnet worden.10

5. Kapitel: Verweise auf Fichtes Ankündigung, allen Streit auf dem Gebietder philosophischen Wissenschaft beendet zu haben

Genau denselben Anspruch, den Schelling im Widerstreit mit Hegel erhebt,nämlich als erster das Ringen der Menschheit um die Wahrheit bestandenund den Streit der Geister für sich entschieden zu haben, hat auch Fichte imZuge der Ausarbeitung seiner ungeschriebenen Lehre in den großen Berli-ner Vortragszyklen 1804 erhoben. Dabei ist für eine Rezeption der Fichte-schen Grundlegung einer vollendeten Vernunftwissenschaft ernstlich zurKenntnis zu nehmen: Die frühen Grundsätze der gesamten Wissenschafts-lehre in Jena – der Grundsatz der theoretischen Vernunft (»Das Ich setztsich als bestimmt durch das Nicht-Ich«), der Grundsatz der praktischen

10 Daß der in solch aktuelle geistige Auseinandersetzung verwickelte Schelling nichtgenau der historischen Wahrheit entspricht, vermerkt X. Tilliette: Schellings Wie-derkehr, 1975. Letztlich blieb selbst für Kierkegaard, dem Hörer Schellings in Berlin,dessen Spätphilosophie terra incognita.

1. Abschnitt: Freilegung des Tatbestandes 19

Vernunft (»Das Ich bestimmt sich als bestimmend das Nicht-Ich«) und derSchlußsatz der absoluten Vernunft (»Das Ich soll sich gleich Ich setzen«) –sind keineswegs die letzte Form und äußerste Grundlage der gesamten Wis-senschaftslehre. In mündlichen Vorträgen während der Blütezeit seines im-mensen Schaffens 1804-1807 hat Fichte immer reiner ein eigenständiges Sys-tem der Wahrheits- und Erscheinungslehre ins Klare gebracht mit dem An-spruch, damit den Systemstreit um die wahre Philosophie überzeugend be-endet zu haben. Das betrifft nicht zuletzt den offen ausgebrochenen Zwistmit Schellings Naturphilosophie und Identitätssystem. In Fichtes Darstel-lung ist das allreale Absolute, das in sich geschlossene Singulum von Lebenund Sein, als das Unbegreifliche und Unsägliche begriffen und damit dievon Hegel perhorreszierte negative Theologie auf der Höhe absoluter Refle-xion und Selbstbesinnung des absoluten Wissens vollendet, dergestalt, daßdas absolute Wissen als einzig unmittelbares Dasein des Seins sich intelligie-rend als Bild des Absoluten in allen Formen und Abstufungen der Selbst-,Welt- und Gottesbezüge prinzipiell durchbildet.

Nun ist diese gewaltige Gedankenarbeit Fichtes nur in ihren Resultatenmit der Einschränkung bloß faktischer Evidenz als Grundlage der veröffent-lichten und heiß umstrittenen populären Schriften – Grundzüge des gegen-wärtigen Zeitalters, Vom Wesen des Gelehrten, Die Anweisung zum seligen Le-ben – zur Kenntnis genommen worden. Schelling hat in seinem ›Anti-Fich-te‹, der Streitschrift gegen Fichtes ›verbesserte Lehre‹, das neue System in ru-dimentärer Kenntnisnahme als den »vollendetsten Eklekticismus« ingrim-mig ironisiert. »Ueberhaupt kommen diesem neuen System in Vergleichungmit den übrigen Philosophien unleugbare Vortheile zu. Es ist, wie wir esjetzt, nach sattsam erlangter Kenntniß davon, wohl ohne Bedenken ausspre-chen können, der vollendetste Eklekticismus, der für unser Zeitalter möglichwar. Dem Kantianismus bleibt sein Theil von Wahrheit; der Fichtesche Idea-lismus ist durch die eben angeführte Theorie wieder in das Ganze aufge-nommen; aber auch die Naturphilosophie behält über gewisse Punkte recht,die sie wahrscheinlich nur selber nicht recht verstanden hatte« (W III 678 =SW VII 841). Am Ende hat Schelling Fichtes Wirkungsgeschichte eben aufdie wie ein Blitz in die Geister der Zeit einschlagende Jenaer Grundlage re-duziert und als beschränkte Teilvollendung des Idealismus zurückgelassen.Dessen Wissenschaft des Wissens erhebe zwar energisch das Ich zum Aus-gang apriorischer Deduktionen und zum Herleitungsprinzip aller Erkennt-nis. Aber sie intendiere die Ausarbeitung einer vollendeten Vernunftwissen-schaft, ohne deren wahren Einheitsgrund zu erreichen. Sein System war

20 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

eben bloß vollkommener Idealismus, dem die Welt nur in den notwendigenVorstellungen des Ich bestehe, da im Grunde nur der zeitlose Akt menschli-chen Selbstbewußtseins existiere. Als Beleg zitiert Schelling einen aus demKontext herausgerissenen Satz der Anweisung zum seligen Leben: »Allein dasmenschliche Geschlecht ist da« (W XII 51). Fichtes Idealismus mußte als ini-tialer Anfang zurückbleiben. An die Stelle eines verabsolutierten menschli-chen Bewußtseins ist ein Unbedingtes getreten.

Die spätere ›verbesserte‹ Wissenschaftslehre in Gestalt der von Schel-ling zur Kenntnis genommenen ›populären‹ Schriften arbeitet nach Schel-lings Vorurteil die wissenschaftlichen Vorstellungen ins Populäre hinüber,und Fichtes Grundsätze vermischen eben entlehnte, der Wissenschaftsleh-re anfänglich fremde Ideen vom Absoluten mit dem früheren Reflektier-system und bringen es nur noch zu einem systemlosen Mischmasch. Die-sem Urteil Schellings, das alle Ansprüche der Wissenschaftslehre auf syste-matische Vollendung der wahren Philosophie abweist, sollte sich Hegel an-schließen: Fichtes spätere Schriften seien ohne jeden spekulativen Wert.

Gleichwohl hat Fichte in Berlin, Erlangen, Königsberg von 1804 bis 1807eine eigenen Wahrheitslehre durchgearbeitet und in voller Klarheit darge-stellt. Mit welch hohem Anspruch er diese seine Vollendungsgestalt der Phi-losophie versehen hat, dokumentiert ein Pro Memoria für das KöniglicheKabinett in Berlin vom 3. Januar 1804. »Es ist seit kurzem auch in seiner äu-ßeren Form vollendet, ein System vorhanden, welches von sich rühmt, daßes, in sich selber rein abgeschloßen, unveränderlich und unmittelbar evi-dent, außer sich allen übrigen Wißenschaften ihre ersten Grundsätze undihre Leitfäden gebe, hierdurch allen Streit und Misverständniß auf dem Ge-biet des Wißenschaftlichen auf ewige Zeiten aufhebe« (GA III/5, 222). Someldet sich die nach Form der Darstellung und im Sachgehalt der Grund-sätze rein vollendete Vernunftwissenschaft an, wie sie in den Berliner Jahrenab 1800 entdeckt und für geeignet gefunden wurde, Leitfäden für dieRechts-, Sitten- und Religionslehre herzugeben und in Anwendungswissen-schaften wie Politik, Pädagogik, Geschichtsphilosophie heilvoll auf das Le-ben anwendbar zu sein.

Diese Entdeckung bringe die rein abgeschlossene Wissenschaftslehremit genetischer, nicht nur faktischer Evidenz ins Reine. Daher habe allerStreit von Weltanschauungen und alles dogmatische Suchen nach Wahr-heit ein Ende. Dieses System hebe das, was die Vorzeit seit den Anfängender Philosophie als Liebe zur Weisheit dunkel geahnt hätte, in die Helleder Gewißheit und begreife die Ursprungsverhältnisse, die bis dato ver-

1. Abschnitt: Freilegung des Tatbestandes 21

geblich gesucht waren. Und sie entziehe jener Pseudoweisheit den Boden,welche mit Plattheiten Nicolaitischer Aufklärung die Möglichkeit einertranszendental besonnenen Systembildung bekämpfe. »Daß eine solcheWissenschaft, ohnerachtet sie vom Beginn alles wissenschaftlichen Bemü-hens unter dem Namen Philosophie dunkel geahndet, und gesucht wor-den, dennoch niemals in der Vorzeit auch nur vorgeblich vorhanden ge-wesen, liegt am Tage; wie denn in dem kecken Abläugnen der Möglichkeiteiner solchen Erkenntniß die ganze Weißheit und Aufklärung unsrer Tagebesteht« (GA III/5, 223).

Im Blick auf solch zeitgenössische geistige Verfallenheit verkündetFichte eine epochale Wende der Menschheitsgeschichte. Durch die nun-mehr entdeckte volle Wahrheit sei der Grund und Boden dafür geschaffen,daß die ins Dunkel versunkene Geistlosigkeit der Menschheit wiedergebo-ren werde und daß alle menschlichen Verhältnisse nach Prinzipien derVernunft aus Freiheit eingerichtet werden könnten. »Klar ist daher, daßdurch jene Entdeckung, wenn sie nur wirklich ist, was sie zu seyn behaup-tet, eine noch nie möglich gewesene Wiedergeburt der Menschheit, undaller menschlichen Verhältniße, vorbereitet worden« (GA III/5, 223).

6. Kapitel: Vorblick auf die Problemlage der ›ungeschriebenen Lehre‹ Fichtes

Der Problemstand des Deutschen Idealismus im Stadium seiner dreifachenVollendung hat sich durch die Veränderung des Fichte-Bildes neu gestellt.Anfänglich war Fichtes Wissenschaftslehre systematisch wie wirkungsge-schichtlich eben fast ausschließlich durch die erste 1794-95 veröffentlichte,unvollendete Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre geprägt und ana-log zur politischen Französischen Revolution als geistige Freiheitstat und alsbedeutendste Tendenz des Zeitalters unmittelbar aufgenommen worden,um sonach vorzüglich in den Systembildungen Schellings und Hegels fort-entwickelt und aufgehoben zu werden.

Weithin unbekannt sind die der ersten Werkgruppe folgenden 15 neuenbzw. veränderten Fassungen der Grundlegung eines umfassenderen Ver-nunftsystems geblieben. Fichte hat sie öffentlich vorgetragen, aber mitAusnahme eines Abrisses der W.L. 1810 nicht in der Form der Schriftlich-keit allgemein zugänglich gemacht. Diese ›ungeschriebene Lehre‹ erreichtan Klarheit und Tiefe der Darstellung ihren Höhepunkt in den Vortrags-zyklen zu Berlin (1801/1802, 1804), Erlangen (1805) und Königsberg (1807).Sie ist allein den Hörern in Kolloquien zur Diskussion gestellt worden,

22 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

eine schriftliche Abfassung wollte Fichte dem Ungeist im Zeitalter vollen-deter Gedankenlosigkeit nicht ausliefern.

Bekannt waren die zeitgleichen ›populären Schriften‹: Über das Wesendes Gelehrten und seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit, Die Grundzü-ge des gegenwärtigen Zeitalters, Die Anweisung zum seligen Leben und inwechselnden Verunstaltungen die Reden an die deutsche Nation. In ihnenwenden die ›Anwendungswissenschaften‹ der Pädagogik, der Politik, derReligionslehre Prinzipien der Wissenschaftslehre auf das geschichtliche, bil-dungsfähige religiöse Leben jedes einzelnen Menschen in seinem Lebens-entwurf an. Daher finden sich, freilich lediglich historisch-faktisch, Resulta-te der ungeschriebenen, nur mündlich einem erlesenen Hörerkreis mitge-teilten Lehre in ihnen vorangestellt. Deren Verständnis aber blieb erschwert,sofern und solange die wissenschaftlich zureichenden, methodisch in gene-tischer Evidenz deduzierten Grundlegungen im Hintergrund verborgensind bzw. hartnäckig ausgeklammert werden.

Darum sind die Schriften der ›mittleren Periode‹ seit der Bestimmungdes Menschen von 1800 als Flucht in den Glauben, als Abwendung vom Kri-tizismus und Hinwendung zu Schwärmerei und Mystizismus und – imBlick auf die Reden an die deutsche Nation – als Verrat an weltbürgerlichenIdealen verkannt worden. Schelling hat sie als heterogenen Eklektizismusverworfen. Die Erlanger Reden über die Bestimmung des Gelehrten oderdie Berliner Anweisungen der Religionslehre stückten Grundsätze überGott, das Sein, das Absolute aus Schellings Identitätssystem mit der Reflexi-onstheorie des subjektiven Idealismus unverträglich zusammen. Und Hegelhat die ›populären Schriften‹ kaum mehr beachtet. Als Vorträge vor einemunqualifizierten Publikum wären sie von keinerlei spekulativem Interesse.An dieser Kenntnislage hat auch die Edition der nachgelassenen Schriftendurch Fichtes Sohn Immanuel Hermann im Jahre 1834/35 nichts geändert,obwohl da nicht nur die großen Darstellungen der Wissenschaftslehre von1801 und 1804, sondern auch die letzte vollendete Fassung von 1812 sowie diekriegsbedingt abgebrochene Wissenschaftslehre 1813 öffentlich gemachtwurden. Weder Hegel noch Schelling haben sie zur Kenntnis genommen.

Inzwischen sind diese unausgeschriebenen Darstellungen der Wissen-schaftslehre entweder erstmalig überhaupt oder erstmals in gereinigterFassung ediert und ins Zentrum der Forschung gerückt. Fast einhelligwird zumal die mittlere Schaffensperiode Fichtes nicht mehr als Abbruch,Rückschritt oder als Scheitern des transzendentalphilosophischen An-fangs, sondern als Höhepunkt einer Systementwicklung angesehen, die

1. Abschnitt: Freilegung des Tatbestandes 23

sich kontinuierlich der Vollendung annähert, anknüpfend nicht mehr aus-schließlich an Kants drei Kritiken, sondern an die All-Einheitslehre Spi-nozas und so in Konkurrenz tretend mit den Tübinger GeistesbrüdernSchelling und Hegel, die über das Eingangstor ihres Denkweges die Lo-sung »Hen kai Pan« geschrieben hatten.

Zudem ist die Werkgruppe der spätesten Schaffensperiode in Fichte letz-ten vier Lebensjahren von 1810 bis 1814 editorisch umfassend neu erschlos-sen worden.11 Sie umfaßt fünf Darstellungen der Wissenschaftslehre, die vonJahr zu Jahr neu vorgetragen und zum Teil aus äußeren Gründen nicht ab-geschlossen wurden. Die fortschreitende Auslegung und Erörterung dieserWerkreihe der ungeschriebenen Lehre prägt die Problemlage weiter aus. Soist es kennzeichnend, daß sich in eindrucksvoller Klarheit eine Weiterent-wicklung der Grundlagen abzeichnet, die zum Jenaer Anfang, zum subjekti-ven Grundsatz des Ich, und zum Jenaer Abschluß, dem sittlich strebendenWollen, zurückkehrt. Das gilt etwa für den dritten Teil des Diarium von1813/1814 oder für den Torso der W.L. 1814. Gleichwohl baut dieses mehr undmehr erforschte Spätwerk der ›dritten Periode‹ auf Prinzipien, die in derzweiten Periode zur Darstellung gekommen waren. Da hat die Philosophieals Einheits-, Seins- und Wahrheitslehre dadurch ein Fundament gelegt, daßdie Selbstgewißheit des einenden und sondernden Ich in die Wahrheit desabsoluten, allrealen Seins eingewurzelt wurde, und zwar unter Bewahrungeiner kritischen Besonnenheit, welche die innere Existentialform des in sichgeschlossenen, absoluten göttlichen Seins und Lebens und die äußere Exis-tentialform des menschlichen Daseins als sich bildenden Bildes des Absolu-ten unterscheidend zusammenhält. Das, was noch beim letzten Fichte imZentrum der Wissenschaftslehre steht, hat diese Grundlegung ausgearbeitet,nämlich das Ich als Bild Gottes zwischen Gott und Welt. Das bedeutet nunkeineswegs, daß mit dem Grundlagenstand von 1804 das abschließende,letzte, alles erschöpfende Wort gesprochen war. Fichte hat in fortwährenden

11 Ein detailliertes chronologisches Verzeichnis des Fichteschen Spätwerks auf demneuesten Editions- und Forschungsstand bietet E. Fuchs: Verzeichnis der Lehrver-anstaltungen, Predigten und Reden J. G. Fichtes in chronologischer Reihenfolge,1998. – Über die Grundlegung der Wissenschaftslehre durch den ›letzten Fichte‹,zumal über die als Diarium geführten, informellen Notate aus den Jahren 1813 und1814 berichtet G. Zöller: Leben und Wissen. Der Stand der Wissenschaftslehre beimletzten Fichte, 2001. – Ders.: »On revient toujours...«: Die transzendentale Theoriedes Wissens beim letzten Fichte, 2003.

24 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

neuen Denkleistungen an der Vervollständigung seines Systems weitergear-beitet, zumal an den Einleitungen der Tatsachen des Bewußtseins und an ei-ner weiter klärenden Darstellungsform der Erscheinungslehre, ohne die er-reichte Grundlage von 1804 zu verlassen.

Mithin bilden die drei abgrenzbaren Perioden des Fichteschen Denk-weges keine diskrete Abfolge mit Brüchen und Rückfällen, sondern einekontinuierliche Vertiefung des Anfangsgrundes und eine fortschreitendeAusarbeitung des Systemganzen, wobei die ungeschriebene Lehre dermittleren Periode im Prinzip einen nicht mehr überbotenen Höhepunktbildet. Ein Motiv solcher fortwährenden Fortbildung liegt sicherlich in derAuseinandersetzung mit den Systementwürfen eines Reinhold, Bardilioder Jacobi. Der nachhaltigste Antrieb aber entwickelt sich im Widerstreitmit Schelling. Und der untergründigste Kampf um die Wahrheit ist dieimmer noch offene, zu Lebzeiten der philosophischen Heroen nicht ausge-kämpfte Konkurrenz zwischen Hegels ausgebreitetem System des absolu-ten Geistes und Fichtes versunkener ungeschriebener Lehre.

2. Abschnitt: Konkurrierende Denkwege: Fichte – Schelling – HegelEine biographische Annäherung

Die drei großen Repräsentanten des Deutschen Idealismus fühlten sich imAnfang durch die gemeinsame Aufgabe einmütig verbunden. Sie brachenauf, das Zeitalter endlich aus der Zerrissenheit von Weltansichten zu erlö-sen und zum Quellgrund einer Wahrheit zu führen, aus welchem ein all-umfassendes organisches, auf das Leben einwirkendes System aller Ver-nunftwissenschaften quillt. Im Ausbau ihrer Denkwege aber entferntensich ihre Methoden und Prinzipien immer weiter voneinander, so daß ihrZusammenwirken in Polemik und Streit umbrach und die anfänglichefreundschaftliche Verbundenheit unglücklich zerfiel. Am Ende ihres Le-bens hatten Fichte und Schelling, Schelling und Hegel einander nichtsmehr zu sagen. Einleitend soll lediglich die wachsende menschliche Ent-fernung anhand biographischer Zeugnisse verfolgt und auf den wahrenGrund des Widerstreits hingewiesen werden.

2. Abschnitt: Konkurrierende Denkwege: Fichte – Schelling – Hegel 25

1. Kapitel: Dokumentation der wachsenden Rivalität zwischen Schelling und Fichte

Den völligen Umbruch im Verhältnis zwischen Schelling und Fichte mögenzwei Zeugnisse illustrieren. Am Dreikönigsabend 1795 schreibt der 20jährigeSchelling an seinen Geistesbruder Hegel: »Fichte wird die Philosophie aufeine Höhe heben, vor der selbst die meisten der bisherigen Kantianerschwindeln werden. [...] Glücklich genug, wenn ich einer der ersten bin, dieden neuen Helden, Fichte, im Lande der Wahrheit begrüßen! – Segen seidem großen Mann! Er wird das Werk vollenden!« Im selben Atemzug abermeldet er dem Freund hochgemut: »Nun arbeit’ ich an einer Ethik à la Spi-noza; sie soll die höchsten Prinzipien aller Philosophie aufstellen, in denensich die theoretische und praktische Vernunft vereinigt« (Hegel Br. I 15 Nr.7).Am 3. Oktober 1801 attestiert Schelling, nunmehr selbst im Besitze eines ei-genen umfassenden Vernunftsystems, Fichte brieflich nur noch, sich derwahren Spekulation angenähert, ein System des Unbedingten aber nicht imwissenschaftlichen Wissen begründet zu haben. Voreilig bezieht sich Schel-ling freilich dabei, ohne die ab 1801 ausgearbeitete, in Prinzipien und Formneue Grundlegung Fichtes abzuwarten, auf die populäre Bestimmung desMenschen. Da finde sich das Spekulative aus dem Wissen in den Glaubenübertragen, »von dem meines Erachtens in der Philosophie so wenig dieRede seyn kann, als in der Geometrie. Sie erklärten in derselben Schrift, fastmit so viel Worten: das eigentlich Ur-Reale, d.h. doch wohl das wesenhaftSpekulative, sey im Wissen nirgends aufzuzeigen. Ist dieß nicht Beweises ge-nug, daß Ihr Wissen nicht das absolute, sondern irgendein noch bedingtesWissen ist, welches die Philosophie, wenn es in ihr herrschend seyn müßte,zu einer Wissenschaft wie jede andere herabsetzen würde« (GA III/5 83).Angesichts dieses Umbruchs von Begeisterung zu Abschätzung mag es keinZufall sein, daß Schelling die Zusammenarbeit mit Fichte in demselben Jahraufgab, da Hegel nach Jena kam und eine Verbindung mit ihm auch in der›Zeitschriftenfrage‹ philosophisch befestigt wurde.

Umgekehrt hat sich das persönliche Verhältnis von seiten Fichtes vomAusdruck freundlichen Wohlwollens zum Tadel einer »schriftstellerischenZurechtweisung« gewandelt. Auch dafür mögen vorläufig zwei Dokumentesprechen. Am 20. September 1799 schreibt Fichte an Schelling: »Sie habenein Publicum, das Sie ehrt; es ist der äussere Haupt-Beweiß der Richtigkeitder WL., daß ein Kopf, wie Sie, sich derselben bemächtigt und sie in seinenHänden so fruchtbar wird« (GA III/4, 86; vgl. den Brief an Reinhold vom

26 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

2. Juli 1795, worin Fichte Schellings Schrift Vom Ich als Prinzip der Philoso-phie als trefflichen und unterrichtenden Kommentar seiner Wissen-schaftslehre lobt). Indessen konnte Fichte schwerlich übersehen, daß Schel-ling sich dagegen sträubte, als Vertreter der Naturphilosophie in das Systemder Wissenschaftslehre ein- und untergeordnet zu werden, und dazu über-ging, Fichtes Wissenschaftslehre und die Transzendentalphilosophie als Teil-wissenschaft in seinem System unterzubringen. Solche Tendenz war in denFrühschriften Schellings noch vorsichtig verborgen.12 Sie tritt aber im Sys-tem des transzendentalen Idealismus, 1800 und unverhüllter in SchellingsDarstellung meines Systems, das er eben als Erzeugnis seines eigenen Geistesankündigte, heraus.

Jetzt zeichnet sich ein Systemkonzept ab, da die eine Grundwissen-schaft, die Naturphilosophie, das Objektive zum Ersten macht und zeigt,wie das Subjektive hinzukomme, während die andere Grundwissenschaft,Fichtes Transzendentalphilosophie das Subjektive zum Ersten macht unddarlegt, wie ein Objektives hinzukomme, beide Wissenschaften aber dasAbsolute, die Indifferenz des Subjektiven und Objektiven, als erstes undoberstes Prinzip des Systems haben. Im Brief vom 3. Oktober erklärtSchelling offen, daß sein System mit jener höchsten Synthesis als dem Ers-ten anfange, bei der Fichte als letzter Synthesis aufhöre, daß FichtesGrundlegung daher propädeutisch und sein idealistisches System zwarnicht falsch sei, aber eben doch nur ein Teilgebiet des Identitätssystemsdarstelle.

Es ist solch prinzipieller Prioritätsanspruch, der Fichtes Urteil über dasgeniale Talent Schellings, mit dem er bis zum Abschied aus Jena Gemein-schaft hatte und mit dem er gehofft hatte, in Einem Geiste fortzuarbeiten(glaubhaft überliefert durch Fichtes Schüler J. D. Gries; vgl. FG II 124), inseinem revozierenden Rückblick aus dem Jahre 1806 umschlagen läßt.»Was zuerst meine früheren weniger geringschätzigen Urtheile betrift, sogebe ich dabei zu bedenken, daß damals, als ich diese fällte, der Mann

12 Zur Auslegung von Schellings Frühschriften und über den Streit darüber, ob darinschon ein Durchbruch zu einer Ontologie oder gar zu einem Mystizismus des Ab-soluten konzipiert sei, vgl. die Untersuchungen von F. Meier: Die Idee der Trans-zendentalphilosophie beim frühen Fichte, 1961. – R. Lauth: Die erste philosophi-sche Auseinandersetzung zwischen Fichte und Schelling 1795-1797, 1967. – Ch. Wild:Reflexion und Erfahrung, 1968. – I. Görland: Die Entwicklung der FrühphilosophieSchellings in der Auseinandersetzung mit Fichte, 1973.

2. Abschnitt: Konkurrierende Denkwege: Fichte – Schelling – Hegel 27

schon um seiner Jugend willen der philosophischen Reife und Klarheitdurchaus unfähig war, und ich diese an ihm loben weder wollte nochkonnte, daß ich aber hoffte, er werde fleißig seyn, und nicht zweifelte, daßdurch Fleiß ihm etwas gelingen könnte, und daß es allein diese Hoffnun-gen waren, welche ich aussprach. [...] Jene meine guten Hoffnungen vonihm hat er nun keinesweges erfüllt, sondern durch unverständigeSchmeichler früh sich verderben laßen, und seit dieser Zeit keines anderenDinges sich befleißigt denn des Hochmuths, und des Eigendünkels, unddurchaus den Rang ablaufen wollen demjenigen, welchen auch nur zu ver-stehen er gleichwohl fortdauernd unfähig geblieben« (Bericht; GA II/10,62-63).

Persönlich sind sich der anfangs angebetete Heros der neueren Philo-sophie Fichte und das frühreife Tübinger Genie wohl nur flüchtig begeg-net: auf Fichtes Durchreise durch Tübingen 1793 und 1794 und währendjener Monate, da Schelling 23jährig nach seiner von Fichte befürwortetenBerufung nach Jena neben seinem berühmten und berüchtigten Meisternaturphilosophische Vorlesungen vortrug. Zwar blieben Schelling undFichte durch einen lebhaften und intensiven Briefwechsel noch einige Jah-re verbunden, aber letztlich führte der immer unverhüllter hervortretendeRangstreit um die wahre Philosophie zur unversöhnlichen Rivalität. Es istdie polemische Herabsetzung seiner Rangstellung, die Schelling in seinemletzten grußlosen Brief vom 25. Januar 1802 bitter beklagt: die »zweideuti-ge Aeußerung in der Ankündigung der Wissenschaftslehre und der Briefan Herrn Schad« (GA III/5, 116).

In seiner Ankündigung einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre,die in der Allgemeinene Zeitung 1801 am 24. Januar erschienen war, apostro-phiert Fichte Schelling als seinen geistvollen, aber problematischen Mitar-beiter. »Inwiefern es meinem geistvollen Mitarbeiter, Herrn Prof. Schelling,in seinen Naturwissenschaftlichen Schriften und in seinem neuerlich er-schienenen Systeme des transscendentalen Idealismus, besser gelungen sey,der transscendentalen Ansicht Eingang zu verschaffen, will ich hier nichtuntersuchen« (GA I/7, 154). Schelling ist tief verletzt. Er spürt in jenem her-ablassenden Lob die versteckte Zurechtweisung, daß auch er die Einstellungder Wissenschaftslehre nicht verstanden habe. Das sei Wasser auf die Müh-len Friedrich Nicolais und dessen Organ der Allgemeinen Deutschen Bib-liothek, »mich als Ihren geistvollen Mitarbeiter zu rühmen, dabei aber demPublikum auf eine feine und versteckte Weise, daß es auch die Nicolais undRecensenten der Allg.D.B. merken, unter die Füße zu geben, daß ich Sie

28 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

nicht verstehe« (GA III/5, 88-89). Das reduziere die zitierte Mitarbeit Schel-lings auf das Bemühen, Fichtes Philosophie darstellen zu wollen und darinnicht einmal glücklich gewesen zu sein. Über diesen Fall schreibt KarolineSchlegel an Schelling am 1. März 1801: »Eben habe ich Fichtes Ankündigunggelesen. [...] So wie ich die Sache einsehe, würde ich vermuten, daß er Dichmit der Naturphilosophie wie in einem Nebenfach zurückweisen und dasWissen des Wissens für sich allein behalten möchte« (FG III, 14).

Noch aufgebrachter reagiert Schelling auf den ominösen, gleichsam of-fenen Brief Fichtes an Johann Baptist Schad (1758-1834, seinerzeit Privat-dozent in Jena), der in Jena herumgezeigt wurde. »Mir«, teilt Schelling anFichte mit, »(unter andern auch) ist noch nicht lange eine Mittheilung ge-gen einen Dritten von Ihrer Seite zu Gesicht gekommen, worin steht, daßSie mein Vorgeben u.s.w. in seiner ganzen Blöße darzustellen gedenken,und daß ich die Wissenschaftslehre nicht besser verstehe, als sie FriedrichNicolai auch versteht« (GA III/5, 116).

In der unvollständig erhaltenen Abschrift dieses Manifests an den Hin-terträger Schad vom 29. Dezember 1801, der diese abschätzige Zuschrift inJena mit dem Kommentar verbreitete, diesmal verstehe Fichte Schellingnicht, heißt es: »Was Prof. Schelling betrifft, so ist mir das, was Sie mir gü-tigst melden, nicht unbekannt gewesen. Ich hoffe, meine zu Ostern erschei-nende neue Darstellung soll sein Vorgeben, daß er mein System, welches ernie verstanden hat, weiter geführt, in seiner ganzen Blöße darstellen. Es magwohl seyn, daß seine Naturphilosophie, indem er darauf auszugehen scheint,die Erscheinung völlig zu vernichten, sich auf meine Metaphysik nicht bau-en ließ. Und was soll man zu seinem neuen – verklärten! – Spinozismus sa-gen, in welchem er glücklich das Absolute unter Quantitätsformen existirenläßt, wie es Spinoza freilich auch thut und aller Dogmatismus. Kann derjeni-ge, der die wahre Quelle des ganzen Quantitätsbegriffs und mit ihm allerMannigfaltigkeit so wenig kennt, jemals gewußt haben, was der kritischeIdealismus sey? Freilich hat Schelling dieses nie gewußt. Er gibt es nun deut-lich an den Tag, daß er geglaubt, die Wissenschaftslehre leite das Ding vondem Wissen vom Dinge ab, und daß er ehemals mit seinem eigenen Idealis-mus es wirklich also gemeint; daß er sonach die Wissenschaftslehre so ver-standen, wie sie Fr. Nicolai auch versteht« (GA III/5, 100-101).

Über das Manifest an Schad berichtet Karoline Schlegel an ihren Mannam 28. Januar 1802: »In diesem Brief hat Fichte schon alles gebrochen, was erSchelling auch im äußersten Falle gelobt: er hat in seiner Wut alle Achtungaus den Augen gesetzt. Wir haben das Schreiben selbst gesehen. Schad hat es

2. Abschnitt: Konkurrierende Denkwege: Fichte – Schelling – Hegel 29

niemanden geheim gehalten, wie auch wohl nicht die Absicht war, und hates auf den ersten Wink Schelling selbst gebracht, indem er gänzlich auf des-sen Seiten zu seyn sich erklärt« (FG III 103). Kurz zuvor schon, im Februar1801, hatte sie Schelling dringend geraten: »Sehr bin ich auch der Meinung:laß Dich nicht wegschieben. Das Entgegensetzen, denke ich, könnte wohl soabgehen, daß es nur die wahrhaft Eingeweihten gewahr würden – denn Dukannst fortbauen ohne Dich um ihn zu kümmern, er ist an Kenntnissen undPoesie so gewaltig zurück, daß er mit aller Denkkraft Dir doch Deine Naturnicht nachmachen kann, also hast Du Dich nicht so sehr dagegen zu ver-wahren, daß er Dir das Deinige raube, und eine offenbare Spaltung würdeeine ungeheure Verwirrung nach sich ziehen« (FG III 12-13). Nun ist dasdurchaus ein skandalöses Abschieben, einem Schelling zu unterstellen, erverfalle in Betracht der Wissenschaftslehre in dieselbe Seichtigkeit undOberflächlichkeit wie ein Nicolai, der über das rein Faktische aus völligerUnfähigkeit zur genetischen Reflexion nicht hinauskomme.13 Das ist derHabitus einer ›Nicolaitischen Verwachsenheit‹. So hat Fichte in seiner vonAugust Wilhelm Schlegel im Mai 1801 herausgegebenen Parodie FriedrichNicolais Leben und sonderbare Meinungen polemisch formuliert: Die We-sensverfassung dieses unverschämten Philisters bestehe in einer absolutenBedürfnislosigkeit, über die Oberfläche hinauszugehen; »und so entsteht inihm und verwächst mit seinem Selbst das Phänomen der absoluten Ober-flächlichkeit und totalen Seichtigkeit. [...] Die absolute Oberfläche ist dasnackte abgerißne Faktum, als solches« (GA I/7, 420).

Freilich endet der letzte, frostige Brief Schellings an Fichte mit der abmil-dernden Floskel, es sei noch immer Schellings Plan und Hoffnung, Fichteim Frühjahr 1802 persönlich begrüßen zu können. Von einer letzten persön-lichen Begegnung berichtet, wenn auch vage und unbestätigt, Jean Paul ineinem Brief an Jacobi vom 13. August 1802, ausgeschmückt mit der geradezusukzessionsmythischen Anmerkung: »Das Geschöpf ›Schelling‹ frisset sei-nen Schöpfer (Fichte) [...] und dieser jenen«. Nach Jean Pauls Zeugnis fan-

13 Mit Recht weist Ch. Asmuth: Fichte: Ein streitbarer Philosoph, 1997, 17-20 auf die-sen abfälligen Passus des Schad-Briefes als einen Skandal in der philosophisch ge-bildeten Welt der Jahrhundertwende hin, der zur Beendigung des Fichte-Schelling-schen Briefwechsels den Anstoß gab und durch den Fichte seinen wohl kompeten-testen und kongenialen Ansprechpartner verlor.

30 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

den beide nicht mehr gütlich zueinander. »Fichte und Schelling giengen inDresden (oder Berlin) schnell zornig auseinander« (FG III 134).14

2. Kapitel: Zuspitzung des Differenzpunktes im Briefwechsel Fichte – Schelling (der Scheidebrief vom 15. Januar 1802)

Fichtes entschiedener, zunächst aber zurückgehaltener Scheidebrief vomOktober 1801 war schließlich dem Brief an Schelling vom 15. Januar 1802beigelegt worden. Er bringt die wissenschaftliche Differenz im nur schein-bar gemeinsamen Denkweg zum Absoluten, wenn auch nur in hingeworfe-nen Winken, zu einer vorläufigen Anzeige. Nun kann sich eine einleitendeEinführung mit einer gezielten Analyse dieses Scheidebriefes begnügen, ob-wohl auch vorhergehende Briefabhandlungen philosophisch durchaus er-giebig sind.15 Eine Konzentration auf den endgültigen Scheidebrief ge-

14 Also ist die Streitfrage: Schelling oder Fichte? gerade auch angesichts der parallelenRenaissance der Fichte- und Schelling-Forschung seit Jahrzehnten ebenso aktuell wiedas Kongreßthema: Kant oder Hegel? – M. J. Siemek: Schelling oder Fichte. Zwei Pa-radigmen des nachkantianischen Denkens, 1987 hat Schellings Identitätssystem undFichtes Wissenschaftslehre als zwei ganzheitliche Paradigmen philosophischen Den-kens charakterisiert, die miteinander unvereinbar und unvergleichlich sind, sofernSchelling das Ich-Subjekt depotenziere, das Objekt von subjektiver Sinngebung reini-ge und das Sein als unvordenkliche Indifferenz verabsolutiere. Eine Entscheidungdieser Alternative für Fichtes transzendentalen Grundgedanken könne die zeitgenös-sische Kritik an der Bewußtseinsphilosophie, sofern und soweit sie sich auf das Schel-lingsche Paradigma stützt, ins Schwanken bringen.

15 Dafür sei etwa auf den eindringlichen Kommentar der Fichte-Briefe an Schellingvom 31. Mai und vom 17. August 1801 durch V. L. Waibel: Fichtes Kritik an Schelling,2005 mit dem Resultat hingewiesen: Hier werden Konzepte für eine evidente Synthe-se von Natur- und Transzendentalphilosophie entworfen, die sich gar nicht notwen-dig widerstreiten, sondern prinzipiell koexistieren können, zumal da die Kontroverseeigentlich in einen persönlichen Konflikt um die Werthierarchie der philosophieren-den Subjekte umschlägt. – Schellings Systemskizze im Brief vom 19. November 1800hat B. Sandkaulen: Was heißt Idealismus?, 2005 herausgestellt und weitsichtig über-dacht. Hier werde der Begriff von Idealismus überhaupt strittig. Schellings System-skizze suche die Differenz zwischen dem Idealismus der Wissenschaftslehre als einerformallogischen Methodologie und einem ›Spinozismus der Physik‹ aufzuheben, ver-stricke sich aber in einen Zirkel, wodurch die Grundfragen nach Idealismus, Realität,Freiheit neu entfacht werden. – K. Okada: Fichte und Schelling, 2003 legt in seinerUntersuchung der Schöpfungsphase im Briefwechsel die These vor, hier habe Fichte

2. Abschnitt: Konkurrierende Denkwege: Fichte – Schelling – Hegel 31

schieht also nicht, weil die vorangegangenen Briefabhandlungen zumalnach 1800 philosophisch bedeutungslos wären, sondern darum, weil dieTiefe des Widerstreits mit seiner rücksichtslosen Schärfe erst aufbrach, alsSchelling öffentlich den Primat seiner erstmalig vollendeten Vernunftwis-senschaft vertrat und Fichte seine ausreifende Grundlegung, über die Syn-thesis der Geisterwelt als Zielpunkt der Wissenschaftslehre hinaus, in derungeschriebenen Lehre 1804 formuliert hatte.

Jedenfalls läßt sich im Doppelbrief vom Oktober 1801/Januar 1802 jenerScheidepunkt markieren, da sich Fichtes Methode einer Ableitung allerMannigfaltigkeit und Vielheit aus der einfachen Einheit des unbegreiflichenAbsoluten in der Durchdringung des absoluten Wissens von SchellingsIdentitätssystem und dessen Vervollständigung eines im Grunde dogmati-sierten Spinozismus trennen werden. Am Ende des vielfach, auch kulturhis-torisch interessanten vieljährigen Briefwechsels zwischen Fichte und Schel-ling kündigt sich die tiefste wissenschaftliche Differenz zwischen den ausei-nanderlaufenden Systembegründungen an. Sie trat heraus, als Schelling eineDarstellung seines eigenen Systementwurfs für sich reklamiert hatte. Unddas wirft ein Licht auf Fichtes künftige Stellungnahmen zur spekulativenEntfaltung des Absoluten im Ansehen des Spinozistischen Hen kai Pan undder idealistischen Indifferenz von Subjektivem und Objektivem: Solche Sys-teme ignorieren den Reflexionsstand absoluter Besonnenheit im Andenkendes Absoluten und bleiben dogmatisch verwachsen.16

Eine einschneidende Kontradiktion der wissenschaftlichen Differenzzwischen der vertieften Wissenschaftslehre und der Darstellung des soge-nannten Identitätssystems spricht der Doppeleinwand Fichtes aus: »Ihr Sys-tem ist in Beziehung auf das Absolute nur negativ [...]; und das Ihrige erhebtsich eben nicht zum GrundReflex« (GA III/5, 111). Damit hebt Fichte nichtnur einen Mangel in der Auffassung des Absoluten selbst heraus, er kreidet

den für seine neue Darstellung der Erscheinungslehre so bedeutenden Grundbe-griff ›Bild‹ eingeführt.

16 Dieser Ansatz teilt die Auffassung von W. Schulz: Fichte – Schelling Briefwechsel,1968, daß der Briefwechsel nur der Reflex der auseinandergehenden Systemwege,nicht der Entstehungsgrund persönlicher Entfremdung sei und daß darum erst dieletzten Briefe ein eigenes philosophisches Schwergewicht erhalten. – Dem kommtdie Zweiteilung des ganzen Briefwechsels in »Der große Zeitschriftenplan« und»Schellings Trennung von Fichte« durch H. Fuhrmans: F. W. J. Schelling. Briefe undDokumente, Bd. 1, 1962 entgegen.

32 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

vor allem die Unterlassungssünde im gescheiterten dogmatischen Versuchan, Vielheit und Mannigfaltigkeit, die Differenz von Denken und Sein, Idea-lem und Realem dem Absoluten zu entnehmen. Als Indifferenz ist das Ab-solute eben nur negativ gefaßt, nämlich als Nicht-Unterschiedensein desSubjektiven und Objektiven. Solcher Einwand findet sich auch in Hegelsvielzitierter Auslassung, Schellings oberstes Prinzip sei wie die Nacht, in deralle Kühe schwarz sind. Während Hegel jedoch die Einheit von Identität undNichtidentität, von Positivität und Negativität für den lebendigen, absolutenUrsprung aller Spekulation einfordert, geht Fichte auf den ausweisbarenStandpunkt einer Grundreflexion auf der Höhe des absoluten Wissens zu-rück.

Ausgang des Scheideweges ist so der Punkt, da sich die transzendentaleReflexion auf den Zusammenhang und den Unterschied von absolutemWissen und dem Absoluten selbst besinnt. Vom absoluten Wissen ist einzu-sehen: Außer dem Absoluten ist nichts außer dem Dasein absoluten Wis-sens. Darauf insistiert die komplexe Briefformel Fichtes: »Es scheint mir ansich klar, daß das Absolute nur eine absolute, d.h. in Beziehung auf Mannig-faltigkeit, durchaus nur Eine, einfache, sich ewig gleiche Aeusserung habenkann; und diese ist eben das absolute Wissen« (GA III/5, 112). Dies ist dasFormprinzip aller Disjunktion und Sonderung des Idealen und Realen, Sub-jektiven und Objektiven, Unendlichen und Endlichen, einfach Einen undunendlich Vielen. Das Absolute selbst dagegen bleibt in sich geschlossenund geht nicht wie in Hegels Hilfskonstruktion aus Freiheit aus sich heraus.Es kann nur als Unsägliches ausgesprochen und als Unbegreifliches begrif-fen werden.

Damit bringt Fichte in transzendentaler Besinnung die überkommeneLehre einer negativen Theologie von Gott als dem Unsagbaren (Arrheton)wieder zu Ehren. Den Grundsatz, der ein unreflektiertes, rein spekulativesGerede vom ›Absoluten‹ untersagt, hat Fichtes Brief scharf formuliert: »Dasabsolute selbst aber ist kein Seyn, noch ist es ein Wissen, noch ist es Identität,oder Indifferenz beider: sondern es ist eben – das absolute – und jedes zwei-te Wort ist von Uebel« (GA III/5, 113).

Diese Maxime einer Wissenschaft vom absoluten Wissen, das sich aufsich als einzige unmittelbare Daseinsform des an sich unfaßlichen Absolu-ten besinnt, versperrt den Denkweg Spinozas wie des Schellingschen Sys-tembaus. Auch das findet sich im Scheidebrief Fichtes klassisch formuliert.»So ergeht es Spinoza. Das Eine soll Alles [...] seyn, und umgekehrt; wasdenn ganz richtig ist. Aber wie das Eine zu Allem, und das All zu Einem

2. Abschnitt: Konkurrierende Denkwege: Fichte – Schelling – Hegel 33

werde – den Uebergangs-Wende- und realen IdentitätsPunkt derselben kanner uns nicht angeben, daher hat er das Eine verlohren, wenn er aus dem Allgreift, und das All, wenn er das Eine faßt« (GA III/5, 112). Und dieses Spino-za-Dilemma überträgt Fichte auf Schellings Alleinheitssystem, welches denSpinozismus verklären will, dergestalt, daß es das indifferent Unbedingtezwischen den Polen des Denkens mit dem Übergewicht des Subjektivenund dem des Seins mit dem Übergewicht des Objektiven quantitativ ausdif-ferenziert, so wie Spinoza ohne den Schatten eines Beweises. »Drum stellt erauch die beiden GrundFormen des Absoluten, Seyn, und Denken eben ohneweiteren Beweiß hin, wie Sie eben auch, – durch die W.L. keinesweges be-rechtigt, thun« (GA III/5, 112).

Diese Markierung des wissenschaftlichen Differenzpunktes macht eineInterpretation zweifelhaft, welche im Ideenaustausch der Schlußbriefe im-mer noch den Versuch sieht, die auseinanderdriftenden Systembegründun-gen am Ende doch wieder einander anzunähern und einen gemeinsamenGrund und Boden idealistischer Prinzipien einzuhalten.17 Das sind beider-seitige Beteuerungen und Ausdruck eines Strebens, den je eigenen Ansatzals das grundlegende Wahre einsichtig zu machen. Das muß in den AugenFichtes scheitern; denn die Basis und das proton pseudos des SchellingschenIdealismus wie der Einheitslehre Spinozas und eines jeglichen spekulativenDogmatismus überhaupt ist ein Andenken des Absoluten, das sich nicht aufsich besinnt, sondern alles, was doch der Reflexionsform des absoluten Wis-sens geschuldet ist, als Formierung des Absoluten selbst mißversteht. Undsolche Nichtbesinnung rechnet Fichte Schelling vor. »Nemlich weil Sie andas Absolute unmittelbar mit Ihrem Denken gingen, ohne sich auf Ihr Den-ken, und daß es wohl nur dieses seyn möge, was durch seine eigenen imma-nenten Gesetze Ihnen unter der Hand das Absolute formirte, zu erinnern«(GA III/5, 91). In der Region des Formgesetze des absoluten Wissens aber

17 Daher plädiert der Kommentar von H. Traub: Schelling – Fichte Briefwechsel, 2001für zwei Tatsachen. Gegen W. Schulz wird darauf hingewiesen, daß im späteren Brief-wechsel explizit behandelte, philosophisch schwergewichtige Probleme schon in derfrüheren Korrespondenz bis 1800 impliziert waren, und ferner, daß der Schlußstandeben die Perspektive einer Systemannäherung offenhält, die sich freilich nicht reali-siert hat, so daß der Kairos für die Umwälzung der Denkungsart des Zeitalters durcheine einmütige, wirkungsgeschichtlich umfassende, machtvoll geschlossene Vollen-dung des Deutschen Idealismus ungenutzt verstrich und in einer Trilogie schwer mit-einander vermittelbarer Vollendungsgestalten idealistischer Metaphysik verendete.

34 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

liegt der Idealismus der Wissenschaftslehre. Sie ist Schelling unbekannt ge-blieben. Sie war zur Zeit des Briefwechsels auch noch nicht zur reifen undrein vollendeten Darstellung gekommen. Daher reicht der Widerstreit zwi-schen Fichte und Schellling in seinem vollen Ausmaße über den Briefwech-sel hinaus.18

3. Kapitel: Hinweise auf das ausgebliebene Grundlagengespräch zwischen Fichte und Hegel

Das gescheiterte Ringen um eine gemeinsame Vollendung eines umfassen-den Vernunftsystems im Andenken eines Unbedingten und all-einen Abso-luten, wie es sich im Briefwechsel zwischen Fichte und Schelling spiegelt, hatdas Tragische einer unverschuldeten Blindheit an sich; denn Schelling hatdie großen Entwürfe von Fichtes ungeschriebener Lehre seit den immer tie-feren und reineren Darstellungen der neuen Grundlegung ab 1801 nicht ein-sehen können, und Fichte ist der Aufbruch der Schellingschen Spätphiloso-phie seit der ›Freiheitsschrift‹ von 1809 nicht mehr vor Augen gekommen.19

Eine gleiche tragische Unkenntnis aus geschichtlicher Ungleichzeitigkeitherrscht im ausgebliebenen namentlichen Gespräch zwischen Fichte undHegel; denn deren Systembildungen, die beide über das einseitige absoluteIch-Subjekt zur Entfaltung von absolutem Wissen und Absolutem führen,sind beiden epochalen Geistern so gut wie unbekannt geblieben und histo-risch entgangen. So hat Fichte den gigantischen Entwurf der Phänomenolo-

18 Darauf geht die souveräne, konzentrierte Studie von Ch. Danz: Die Duplizität des Ab-soluten in der Wissenschaftslehre von 1804 (Zweiter Vortrag) – Fichtes Auseinander-setzung mit Schellings identitätsphilosophischer Schrift ›Darstellung meines Systems‹(1801), 1997 ein. Danach erschließt sich die Auseinandersetzung erst im Kontext derW.L. 1804-II mit dem Grundsatz von der Vernichtung des Begriffs durch die Selbst-konstitution des Absoluten im unmittelbaren Denkvollzug, der die in sich geschlosse-ne Einheit des Seins von sich und durch sich in sich behält. Diese Seinslehre Fichtesist durchzogen von kritischen Äußerungen gegenüber Schelling, zumal in dessen Zu-ordnung zum ›höheren Idealismus‹: Schelling habe sich nur scheinbar vom Reflexi-onsstandpunkt entfernt und das, was erste Erscheinung ist, zum Absoluten selbst ge-macht.

19 Darauf hat W. Schulz: Briefwechsel, Einleitung 12 hingewiesen: »Fruchtbar wäre dasGespräch zwischen Fichte und Schelling gewesen, wenn Schelling in der Zeit desBriefwechsels bereits seine eigene Spätphilosophie konzipiert hätte, dann wäre dieAuseinandersetzung von einem sachlich vergleichbaren Ansatz her möglich gewe-sen.«

2. Abschnitt: Konkurrierende Denkwege: Fichte – Schelling – Hegel 35

gie des Geistes von 1807, zu der Zeit in Königsberg eine neue Darstellung sei-ner philosophischen Wissenschaft vortragend, überhaupt nicht zur Kennt-nis genommen. Ebenso hat Hegel die Phase der sich vollendenden Wissen-schaftslehre ignoriert und die darauf bauenden populären Schriften, Schel-ling nachredend, unnachsichtig abqualifiziert. Hegel ist nach dem gründli-chen Studium der frühen Jenaer Schriften Fichtes verstockt bei der Meinunggeblieben, daß der höchste Punkt der Wissenschaftslehre, welcher die Wi-dersprüche der Vernunft aufzulösen vermeint, das Sein als Sollen sei unddaß damit Fichtes Streben nach dem Absoluten auf dem Stande der End-lichkeit stehen und im Widerspruch stecken bleibt. Die gesamte Systembil-dung, d.i. Fichtes spätere Einleitungen einer historisch-faktischen Phänome-nologie, die genetische Entfaltung der Wissenschaftslehre als prima philoso-phia, die Ausfaltung ihrer Prinzipien auf die philosophischen Wissenschaf-ten von Recht, Sittlichkeit, Religion wie deren Applikation auf Leben undGeschichtlichkeit in den ›Anwendungswissenschaften‹ wie Pädagogik, Poli-tik, Geschichtsphilosophie, hat Hegel, befangen in seinen Vorurteilen, nichtinteressiert. Ist es Zufall, daß Hegel Fichtes Tatsachen des Bewußtseins von1810-1811, die 1817 erschienen waren, wohl in der Winterschen Buchhand-lung in Heidelberg bestellt, aber ›aus Versehen‹ remittiert hat?

Fichte, der wenigstens doch wohl Hegels ›Differenzschrift‹ kannte, ist, je-denfalls direkt, niemals auf Hegels Okkupation der Jenaer und auf Abschät-zungen der Berliner Fassungen seines Werkes eingegangen. Einen Brief-wechsel, gar von dem Gewicht der Fichte-Schelling-Briefe, gibt es nicht.Fichte und Hegel sind einander nie persönlich begegnet. Als Hegel 1801nach Jena kam, war Fichte schon endgültig nach Berlin umgezogen. Als He-gel im Oktober 1818 seine Vorlesungen in Berlin eröffnete, war Fichte schonvier Jahre auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof begraben. Die Geisterwaren gleichsam aneinander vorbeigeglitten. Wohl suchte Hölderlins Fichte-Begeisterung Hegel für den Jenaer Titanen im Gleichklang mit Schellingeinzunehmen, aber als Hegel 1801 die Differenzschrift mit der unterordnen-den Einteilung der Jenaer Grundlage herausgab, war Fichte bereits auf sei-nem weiteren Denkweg: über das Sollen im Streben der praktischen Ver-nunft hinaus zum absoluten Wissen als Dasein des sich bildenden Bildes desAbsoluten. Aber auch umgekehrt: Wohl hatte Schelling Fichte auf die Diffe-renzschrift hingewiesen. »So ist erst dieser Tage ein Buch von einem sehrvorzüglichen Kopf erschienen, der zum Titel hat Differenz des Fichteschenund Schellingschen Systems der Philosophie, an dem ich keinen Antheil habe,das ich aber auf keine Weise verhindern konnte« (Jena, den 3. Oktober 1801;

36 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

GA III/5, 98). Aber Fichte zählte Hegel noch zu den Schildknappen Schel-lings und zu den Verschlimmbesserern der Wissenschaftslehre, als dieserschon längst auf seinem Wege zur Vollendung eines spekulativen Systemsdes absoluten Geistes war. Fichte erwähnt Hegel wohl nur ein einziges Mal.Dabei dreht es sich immerhin um die Grundlegung der Ersten Philosophie.An Schelling schreibt Fichte am 15. Januar 1802 über das strittige Wissen desAbsoluten: »So wünschte ich wohl, daß Sie sowohl als Hegel über diesenStreitpunkt nicht weiteres Aufheben, und dadurch, wie ich glaube, die Mis-verständnisse nicht zahlreicher machten; bis meine neue Darstellung er-schienen ist« (GA III/5, 113). Die neue Darstellung hat ihre reinsten Fassun-gen nun erst in den Berliner Vortragsreihen gewonnen. In ihren Grundla-gen ist diese Lehre zu Hegels Lebzeiten nicht im Druck erschienen.

Allerdings hat Fichte Hegels Logik noch zur Kenntnis nehmen können.Und in der Tat gibt es maßgebende Fichte-Forscher, welche im Blick aufFichtes Logik-Texte und auf die Tatsachen des Bewußtseins von 1813 die Ver-mutung angestellt haben, daß Fichte nach der Konfrontation mit Schellingbeim Erscheinen von Hegels Wissenschaft der Logik 1812 zu einer funda-mentalen Auseinandersetzung mit Hegel ansetzte, was freilich dem Umfangder Sache nach ein Randphänomen blieb. Es hat sich auch ein polemischer,freilich für die Vorlesung gestrichener Abschnitt im Manuskript der Fichte-schen Logik 1812 gefunden, der auf Hegel gemünzt sein könnte.20 Da wirdein »scharfsinniger, neuerer Schriftsteller« abgefertigt, der entschlossen sei,den Idealismus nicht gelten zu lassen und den Dogmatismus wieder einzu-führen. Das ließe sich auf Hegel und dessen eben erschienene Logik (eherdoch wohl auf Herbart) beziehen. Der folgende Satz dieser polemischenVerortung macht den Hegel-Bezug fraglich. »Nun sieht dieser zum Unglükein, daß im Seyn der Grund einer Veränderung eines Werdens nicht liege«(GA II/14, 140). Hegel hat doch wohl unübersehbar am Anfag der Seinslogikübermittelt, daß der erste konkrete Gedanke vom absoluten Sein eben dasWerden ist.

Mithin hat das möglicherweise machtvollste Streitgespräch über Prin-zipien und Methode, Einleitung und Systembildung der Ersten Philoso-phie nicht stattgefunden. Das mag dazu beigetragen haben, daß Fichtes

20 Vgl. dazu J. Widmann: Johann Gottlieb Fichte, 1982, 34 u. 44. – Ausführlich R.Lauth: Eine Bezugnahme Fichtes auf Hegels ›Wissenschaft der Logik‹ im Sommer1812, 1998. – Vgl. auch die redaktionelle Anmerkung in GA II/14, 140.

2. Abschnitt: Konkurrierende Denkwege: Fichte – Schelling – Hegel 37

Wissenschaftslehre zur Vorstufe von Hegels absolutem Idealismus herab-gestuft blieb und die geistvollste Durchkonstruktion des absoluten Geistesund der absoluten Idee in der Philosophiegeschichtsschreibung ihre Vor-herrschaft so lange unwidersprochen behaupten konnte.

4. Kapitel: Erinnerung an den Zerfall der Geistesbruderschaft zwischen Schelling und Hegel

Ebenso umstritten wie die Aufhebung der Wissenschaftslehre als einseitigsubjektiver Idealismus durch Hegels absoluten Idealismus ist die Aufhe-bung der Schellingschen Philosophie als einseitig objektiver Idealismusvermerkt worden. Schelling hat eben anfangs nicht nur solche Aufhebunggegenüber Hegel in einem Identitätssystem auf dem Grunde der absolutenVernunft als eine eigene Leistung reklamiert, er hat am Ende Hegels spe-kulative Systembegründung als Auswuchs einer bloß negativen Philoso-phie systematisch degradiert und philosophiegeschichtlich verflüchtigt.Das geht mit dem völligen Zerfall einer einstmals blühenden persönlichenGeistesfreundschaft zusammen, und zwar in aller Stille. Während die Ver-feindung Fichtes und Schellings die geistige Welt aufregte und zu Partei-nahmen, etwa im Kreise der Frühromantik, veranlaßte, wurde die Ent-fremdung zwischen Schelling und Hegel Jahrzehnte später kaum mehr re-gistriert.

Persönlich hat Schelling zu guter Letzt mit dem einstigen Tübinger Stu-dienfreund total gebrochen, erbittert über den entglittenen Ruhm, den He-gel ihm gestohlen habe. Systematisch-sachlich hat Schelling im Vollen-dungsstadium seiner positiven Philosophie mit Hegels Herrschaftsan-spruch als einer hyperbolisch verirrten Vernunftbildung abgerechnet.Nach Schelling habe das Urteil der Geschichte eben zu lauten: Hegels Wegzum allesvermittelnden Systemganzen sei ein Irrweg, eine zum Verschwin-den bestimmte Episode in der Vollendungsgeschichte der neueren Philo-sophie. Beides, die persönliche Entfremdung und die philosophiege-schichtliche Radikalkritik, ist zusammenzusehen, nicht nur, um die selbst-herrliche Alleinherrschaft des Hegelianismus in Frage zu stellen, sondernauch, um die Konfrontation mit der letzten End- bzw. Vollendungsgestaltdes Idealismus kenntlich zu machen.

Nun ist kaum ein innigeres geistiges Freundschaftsverhältnis – idemvelle, idem nolle – zu denken als das zwischen den Jugendfreunden Hegelund Schelling. Beide für den Theologenstand bestimmte Stipendiaten der

38 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

Landesuniversität Tübingen haben im Verein mit Hölderlin einen Bundfreier Geister geschlossen. Der gemeinsame Tanz um den Freiheitsbaumeiner revolutionären liberté aber ist doch wohl Legende. Durch Schellinghat Hegel später in Jena Fuß gefaßt, und beide haben unter der LosungHen kai Pan ihren langen Weg zur Wahrheit angetreten. Gemeinsam ga-ben sie 1802/1803 das Kritische Journal der Philosophie heraus. Und in derSystemfrage schien Hegel gleichsam als Sprachrohr des erfolgreicherenJüngeren zu sprechen, nicht zuletzt nach dem Eindruck Fichtes. So hat He-gel zumal in der Differenzschrift Schellings Identitätssystem als überlege-nen Fortschritt gegenüber der Jenaer Wissenschaftslehre gepriesen, ob-wohl sich hier bereits andeutete, daß Hegels Weg zur Vollendung des Sys-temprogramms über Schelling hinausführte.

In der Vorrede der Phänomenologie des Geistes trat Hegel dann in macht-voller Souveränität mit eigenen Grundsätzen auf: Das Wahre ist das Ganzeund nur als System wirklich; die Substanz ist wesentlich Subjekt; das Abso-lute spricht sich als Geist aus, als das in seinem Außersichsein in sich selbstBleibende. Und Schelling konnte wohl zu seiner Überraschung auch die Ab-sage an seine Auffassung des Absoluten (A=A, Subjekt=Objekt) lesen. »SeinAbsolutes für die Nacht ausgeben, worin, wie man zu sagen pflegt, alle Küheschwarz sind, ist die Naivität der Leere an Erkenntnis« (TWA 3, 22). Jeden-falls hat Hegel Schelling fernerhin lediglich den Ruhm als Stifter der neuenNaturphilosophie, welche Begriff und Geist in die Natur einführte, gelassenund die Idee eines Identitätssystems für sich vereinnahmt. Nach 1807 undnach der Lektüre der Vorrede von Hegels Phänomenologie hat Schelling sei-nen Freund keines Wortes mehr gewürdigt. Hochempfindlich gekränktempfand er es z.B. als einen feindseligen Akt, als Friedrich Immanuel Niet-hammer, ab 1803 Oberzentralschulrat in Bayern, es unternahm, Hegel nachErlangen zu bringen. Ingrimmig hat er die Priorität für die Idee einer Ent-wicklungsgeschichte des Bewußtseins unter Berufung auf sein System destranszendentalen Idealismus von 1800 reklamiert. Die transzendentale Ge-schichte des Geistes sei seine Erfindung und gehöre zum Eigentümlichenseines Systems. Dieses sein geistiges Eigentum habe Hegel ihm gestohlen. Indieser Seelenlage ist eine persönliche bittere Entfremdung erwachsen. Dasillustriert jenes zufällige Wiedersehn der beiden Titanen der Philosophie imSpätsommer 1829 in Karlsbad. Hegel, in den Augen der Welt der ruhmreicheImperator im Reiche des Geistes, suchte ahnungslos den erbitterten Jugend-freund auf, der ihn längst als Räuber seines Ruhms und seiner Ideen perhor-reszierte. Zu einem wissenschaftlichen Gespräch ist es nicht gekommen, le-

2. Abschnitt: Konkurrierende Denkwege: Fichte – Schelling – Hegel 39

diglich zu einer ›guten Unterhaltung‹ für ein paar Abendstunden. Der ab-gründige persönliche und tiefe sachliche Bruch der einst so begeistert be-schworenen Freundschaft kam nicht zur Sprache. Dabei hat Schelling Chris-tian H. Weiße, dem hegelkritischen ›Spätidealisten‹, gegenüber gnadenlosgeurteilt: Die sogenannte Hegelsche Philosophie sei nichts als Episode undgänzlich als nicht vorhanden zu betrachten; um zur wahren Vollendung derPhilosophie zu kommen, dürfe man Hegels Vernunftwissenschaft nicht fort-setzen, man müsse ganz von ihr abbrechen.

5. Kapitel: Annäherung an den wahren Grund der feindseligen Entfremdungen

Ein einvernehmliches Gespräch, der einander fördernde Gedankenaus-tausch, selbst eine neutrale gegenseitige Anerkennung zwischen den Stif-tern der Wissenschaftslehre, des Identitätssystems, der Ontotheologie hatnichts gefruchtet, trotz zeitweilig betriebener Pläne der Zusammenarbeit,etwa im großen Zeitschriftenprojekt. Freundschaftliche Verbindungen, seies die innige Jugend- und Geistesfreundschaft der ingeniösen Tübinger, seies das eher förmliche akademische Einvernehmen zwischen Fichte undSchelling, haben sich aufgelöst und in Feindseligkeiten verwandelt. Fürdieses Scheitern ist sicherlich auch die empfindliche Reizbarkeit der agie-renden Personen mit schuld, so daß lobende Anerkennung sich in peinli-che Beleidigungen gefühlsmäßig verkehrten. Dahinter aber steckt ein Rin-gen der Geister um das intellektuelle Licht der Wahrheit, das in der inter-essierten Öffentlichkeit freilich als gespenstisch empfunden wurde. Soschreibt geradezu symptomatisch Sophie Reimarus, die Gattin des Ham-burger Arztes und Schriftstellers, am 1. Oktober 1804 am Sulpiz Boisserée:»Schelling, Hegel, Fichte und das große Heer ihrer Zunft kann ich mir nurals Gespenster denken, die sich unter einander herumpeitschen um einenLichtfunken, den jeder in sich zu haben glaubt, und der nur da ist, wo sieihn nicht suchen« (FG III 270). Indessen, das ist keine ins Leere leuchten-de Irrlichterei, sondern ein wissenschaftliches Ringen um die eine, allum-fassende Vollendungsgestalt der Philosophie, welche die großen Fragender Menschheit endgültig aufklärt.

Die persönlichen Zwistigkeiten erwachsen aus einschneidenden wis-senschaftlichen Differenzen. Die Entfernungen auf den Stadien des Le-bensweges resultieren aus der Unvereinbarkeit der Denkarbeit. Und es istdie Hypothesis des einzig wahren Systemgrundes, die es verhindert, den

40 Einleitungen. Hinführungen zum Problemstand

Widersinn zweier Absoluta und das Nebeneinander dreier gleichermaßenin sich abgeschlossener Systeme zuzulassen. Daraus nährt sich der Vor-wurf des einen, vom anderen in seinem Standpunkt verkannt und miß-deutet und letztlich auch um den Ruhm des wahren Vollenders gebrachtworden zu sein. Gewiß sind verletzende Herabsetzungen – auch imDunstkreis von akademischem Klatsch – Anstoß für Zerwürfnisse. Aberdas sind Anlässe und nicht der tiefere Grund für unüberbrückbare Entfer-nungen. Was das Zerbrechen der befreundeten Gemeinschaft der führen-den Geister bewirkt, ist die Behauptung einer Systemstiftung, welche diePosition der anderen zum integralen Teil des konstruierten Ganzen herab-setzt.

Dabei sind es nur retardierende Momente im Drama dieses Konflikts,wenn immer wieder die Gemeinsamkeit der zu lösenden philosophischenAufgabe beschworen wird. So hat Schelling noch am 24. Mai 1801 seinem»verehrungswürdigen, theuersten Freund« Fichte gegenüber beteuert, »daßwir beide nur Eine und dieselbe absolute Erkenntnis zugeben, welche in al-lem Erkennen die gleiche, immer wiederkehrende ist, und die in allem Wis-sen darzustellen und offenbar zu machen, unser beider Geschäft ist. [...] Wirmögen uns über dieselbe verschieden ausdrücken, sie auf ganz verschiedeneArt darzustellen streben, über sie selbst können wir nie mehr uneinig sein[...]. Wenn diese Erkenntnis erst als einziges Thema und Princip des Philo-sophirens förmlich etabliert und festgesetzt ist, so wird dann die göttlichePhilosophie ihrer ganzen Freiheit wieder gegeben seyn, und gleich dem Ge-genstand, den sie darstellt, in unendlichen Formen und Gestalten, immernur das Eine Absolute wiederholen und an den Tag bringen. [...] Es wirdalso fortan nur Ein Gegenstand seyn, und nur Ein Geist, Ein Erkennen, EinWissen dieses Gegenstandes« (GA III/5, 39-40). Indessen, diese Einigungs-beschwörung impliziert, daß die göttliche Philosophie die Selbsterkenntnisdes Absoluten zum Erkenntnisgrund und die absolute Indifferenz des Rea-len und Idealen – also Schellings Systementwurf – zum Einheitsgrund hatund Fichtes Transzendentalphilosophie sich vom bedingten Ich zu diesemUnbedingten aufzuschwingen habe.

Ähnlich zweideutig ist Fichtes Versöhnungsangebot am Ende seines un-erbittlich polemischen Berichts über den Begriff der Wissenschaftslehre von1801. »Uebrigens ist auch das, was der Mann durch seine Speculation suchtund anstrebt, keinesweges etwas schlechtes und gemeines, sondern es ist dashöchste, deßen der Mensch theilhaftig werden kann, die Erkenntniß derEinheit alles Seyns mit dem göttlichen Seyn« (GA II/10, 64). Leider sei diese

2. Abschnitt: Konkurrierende Denkwege: Fichte – Schelling – Hegel 41

achtenswerte Absicht, die höchste gemeinsame Aufgabe aller wahren Philo-sophie zu vollbringen, in von Blindheit geschlagene Antiphilosophie umge-schlagen. Darum bricht Fichte jeden weiteren Dialog ab. »Mit diesem ge-nannten Mann selber rede ich, da wir durchaus von kontradiktorisch entge-gengesetzten Maximen ausgehen, und in Beziehung auf Kunstfertigkeit zwi-schen uns beiden kaum ein Verhältniß stattfinden dürfte, niemals« (GAII/10, 65).

Im Hintergrund der persönlichen Spannungsverhältnisse zwischenFichte und Schelling, Schelling und Hegel stehen also die kontradiktori-schen Standpunkte, Methodenwege, Prinzipien im Ausbau des einzig-ei-nen, allumfassenden Systembaus der Vernunft: seit Fichtes Grundlage dergesamten theoretischen und praktischen Wissenslehre, Schellings Identi-tätssystem, Hegels Enzyklopädie bis zur Spätphilosophie Schellings unddem Übergang des Idealismus von der negativen zu einer positiven Philo-sophie.

Zeichnet sich so überdeutlich eine strittige dreifache Vollendung desDeutschen Idealismus ab, so steht die gegenwärtige philosophiegeschicht-liche und systematische Grundfrage nach Wissen und Sein, nach Wahrheitund Einheit vor einer Entscheidung. Der ist man nur entzogen, wenn mansolchartigen idealistischen Spekulationen überhaupt mit Skepsis begegnetund im historischen Bericht zwischen den drei entgegengesetzten Syste-men bei aller Gelehrsamkeit in der Schwebe bleibt. Dagegen hat ein Schel-ling in seiner berühmten Münchener Antrittsvorlesung zu Recht erklärt:»Man kann nicht in der Philosophie zwischen entgegengesetzten Syste-men kapituliren oder gar unbestimmt schweben, es ey denn, man ergebesich frei und offen einem traurigen, unerquicklichen, Geist und Herz tö-tenden oder doch entlarvenden Sceptizismus« (W 5 52 = SW IX 358).Gleichwohl ist eine philosophiehistorische Nachkonstruktion aus neuerer,umfassenderer und gründlicherer Quellenkenntnis dabei, die drei einan-der widersprechenden Systeme unentschieden gleich-gültig nebeneinan-der wiedereinzuholen und durchzuarbeiten. Das aber kann nur einenSkeptizismus, der solchen Systemen zweifelsfreie Wahrheit abspricht, be-stärken. Eine systematisch-geschichtliche Restituierung dagegen muß sichder Frage nach dem Vorrang des einzig wahren Systemgrundes auf derHöhe absoluten Wissens stellen.

Teil I: Schelling

1. Abschnitt: Vorlage des Vollendungsanspruchs von Schellings Identitätssystem 1801

1. Kapitel: Ankündigung des ersten Systems der Vernunftwissenschaften. Eine Vorerinnerung

Das authentische Dokument für ein Vollendungsprogramm der philosophi-schen Grundwissenschaften, welches erstmals dem neuzeitlichen Anspruchauf systematische Darstellung Genüge zu tun verheißt, ist Schellings 1801 inder Zeitschrift für spekulative Physik öffentlich gemachte Darstellung mei-nes Systems der Philosophie. Nun ist die Ausarbeitung dieses SystemplansFragment geblieben. Durchgeführt wurde allein das System der naturphilo-sophischen Ideen in einer reellen Reihe der Begriffe Materie, Kraft, Licht,Magnetismus, Elektrizität bis zur Organik, offengeblieben ist die Darstellungder ideellen Reihe, die in der Idee der Wahrheit und Schönheit gipfelt. Wassomit inhaltlich vorgetragen wurde, war nicht neu, sondern bereits in Schel-lings Studien zur Naturphilosophie vorgelegt. Neu und unerhört aber ist derAnspruch, in evidenter und methodisch stringenter Darstellung zum erstenMal und ganz allein ein System der Philosophie aufzurichten. Diese pro-grammatische Ankündigung eines folgerichtig erreichten Vollendungsstadi-ums der Vernunftwissenschaft spricht die hochgemute »Vorerinnerung« aus(W III 3-10 = SW IV 107-114). Selbstverständlich stellt sich bei jeder neu auf-tretenden, epochalen Grundlegung im Laufe der Philosophiegeschichte zu-mal in einer Krise der Vernunftwissenschaft und Vernunftkunst die stets mitimmenser Gelehrsamkeit betriebene Frage, ob und in wie langer Inkubati-onszeit sie herangewachsen oder wie der Blitz plötzlich ausgelöst ist, undzudem, ob und wie stark sie von Vergangenem vorbereitet, beeinflußt, aufden Weg gebracht oder ob und wie dringend sie durch eine bestimmte Pro-blem- und Notsituation auf den Plan gerufen wurde. Schellings Vorerinne-rung erklärt: Der vorgestellte neue Anfangsgrund einer umfassenden Sys-tembildung werde, durch eine bestimmte Krisenlage genötigt, früher als ge-plant öffentlich gemacht. Aber es sei das von Anfang an verfolgte Ziel und

44 Teil I: Schelling

der früh ins Auge gefaßte Orientierungspunkt eines Denkweges. »Nachdemich seit mehreren Jahren die eine und selbe Philosophie, welche ich für diewahre erkenne, von zwei ganz verschiedenen Seiten, als Natur- und alsTranszendental-Philosophie darzustellen versucht hatte, sehe ich mich nundurch die gegenwärtige Lage der Wissenschaft getrieben, früher als ichselbst wollte, das System selbst, welches jenen verschiedenen Darstellungenbei mir zu Grunde gelegen, öffentlich darzustellen« (W III 3 = SW IV 107).

Zur gegenwärtigen Lage der Vernunftwissenschaft gehört es, Schellingaufgrund der frühreifen Schriften des Tübinger Magisters (Über die Mög-lichkeit einer Form der Philosophie überhaupt, Vom Ich als Prinzip der Philo-sophie) als Meisterschüler und besten Erklärer von Fichtes Wissenschafts-lehre zu betrachten und Schellings Naturphilosophie als mehr oder minderglückliche Ergänzung der Transzendentalphilosophie ein- und abzuschät-zen. So war Schelling von Baggesen als »Ichmarktschreier« und von JeanPaul als »Generalvikar und Geheimdiener Fichtes« karikiert worden. Sol-cher Lageentsprechung, da auch Fichte Schelling eben als seinen trefflichenMitarbeiter und Interpreten ansah, erteilt Schellings öffentliche Vorerinne-rung eine deutliche Absage. Und widersprochen wird auch der Meinung,Schelling habe seine philosophische Intention mit der Aufstellung des Iden-titätssystems sprunghaft verändert. »Das System, welches hier zuerst in sei-ner ganz eigenthümlichen Gestalt erscheint, ist dasselbe, was ich bei denganz verschiedenen Darstellungen desselben imer vor Augen gehabt, undworan ich mich, für mich selbst, in der Transzendental- sowohl als Natur-philosophie beständig orientiert habe« (W III 4 = SW IV 108).

Diese Selbstauslegung seines Verfahrens als Einholen eines von Anfangan ins Auge gefaßten Standpunktes beruft sich darauf, weder die Natur-noch die Transzendentalphilosophie als vollständiges System, sondern bei-de stets als einseitige Darstellungen eines erst noch zu vervollständigen-den Systemganzen vorgegeben zu haben. Beide Grundwissenschaften bil-den entgegengesetzte, einander entgegengerichtete Pole. Die Transzenden-talphilosophie geht vom Pol des Subjektiven aus, um das Objektive ausihm entstehen zu lassen, die Naturphilosophie hat das Objektive zum Aus-gangspol, um daraus das Subjektive herzuleiten. Eine systematisch vollen-dete Vernunftwissenschaft aber steht im Indifferenzpunkt des Subjektivenund Objektiven. Der erst erlaubt es, die Totalität des All-Einen in den Dif-ferenzierungen von Natur und Geist durchzukonstruieren. So ließen sichdie unvermittelten Pole der Naturphilosophie als Lehre von der Natur, d.i.dem seiner selbst noch nicht bewußten Geist, wie der transzendentale Ide-

1. Abschnitt: Vorlage des Vollendungsanspruchs 45

alismus als Lehre von der Geschichte des Selbstbewußtseins vermitteln.Dafür ist ein Standpunkt aufzuheben, der auf das Ich, die Tathandlung, dasabsolute Subjekt und die Methode der Reflexion als Statthalter der Subjek-tivität setzt. Nur so komme eine an sich seiende Vernunft ins Klare: als In-differenzpunkt, der sich in das maximal Objektive (die äußere Welt unddas materiale Sein) als Minimum des Subjektiven gleichermaßen quantita-tiv differenziert wie in das maximal Subjektive (die Welten des Geistesund der Kunst) als Minimum des Objektiven.

Offenkundig wird damit ein Anfangs- und Systemgrund proklamiert,der das absolute Ich eher im Sinne Spinozas, denn im Sinne der JenaerGrundlage auffaßt. Das hat Schelling von Anfang an im Blick: das absoluteIch als das Unbedingte, das Ursache seiner selbst, schlechthinnige Einheitund das All-Eine ist. Und es gibt Bekenntnisse genug, da Schelling bekundet,er sei Spinozist geworden.1 So schließt schon das Vorwort zur Schrift von1795 Vom Ich als Prinzip der Philosophie mit der Vorankündigung einer Ver-nunftidee, die als Gegenstück zu Spinozas Lehre De Deo als All-Einheitsleh-re auf den Boden der Subjekt-Objekt-Einheit ins Werk zu setzen sei. »Undhoffen darf ich es, daß mir noch irgend eine glückliche Zeit vorbehalten ist,in der es mir möglich wird, der Idee, ein Gegenstück zu Spinozas Ethik auf-zustellen, Realität zu geben« (W I 83 = SW I 159). In der Tat hat SchellingsVernunftsystem von 1801 an öffentlich die Lehre Spinozas »in seiner erha-bensten und vollkommensten Gestalt« verwandelt in sich integriert. Das be-trifft den Grundsatz über die an sich bestehende All-Einheit ebenso wie dieMethodik des mos geometricus. Offenbar läßt sich diese Kontinuitätshypo-these problematisieren und mit der Gegenthese konfrontieren, Schellinghabe 1801 eine philosophische Erleuchtung erlebt (vgl. den Brief an Eschen-mayer, 30. Juli 1805). Ihm sei plötzlich ein Licht aufgegangen, eine Idee desAbsoluten, ein Strahl der Identität, und zwar im Lichte der reinsten Evidenz.Bis zu dieser Erleuchtung sei Schellings Suchen nach dem Anfangsgrundeund obersten Prinzip ein unbestimmtes Schweben zu etwas Unbedingtem

1 Vgl. den gärenden Freundschafterneuerungsbrief an Hegel aus Tübingen vom 4. Feb-ruar 1795, worin der 20jährige bekennt: »Ich bin indessen Spinozist geworden! […]Spinoza’n war die Welt (das Objekt schlechthin, im Gegensatz gegen das Subjekt) – al-les; mir ist es das Ich. [...] Vom Unbedingten muß die Philosophie ausgehen« (HegelBr. I, 22).

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gewesen und Schellings philosophische Schriften bis dahin ein freies Kom-mentieren von Prinzipien der Wissenschaftslehre geblieben.2

So nun wie diese Vorerinnerung einen Bruch und Sprung im kontinu-ierlichen Denkweg von den frühesten Entwürfen bis zum ausgereiftenIdentitätssystem verneint – und die Annahme einer wachsenden Reifezeitbraucht ja nicht mit dem Einbruch plötzlicher Erleuchtung zu streiten –,so verwahrt sich Schelling auch dagegen, diese seine originäre Denkleis-tung einem Vorgänger geschuldet zu haben.

Das gilt wohl auch für den Fall Bardili und Reinhold. So hat Reinhold inseinem Beyträgen zur leichteren Übersicht des Zustandes der Philosophiebeym Anfang des 19. Jahrhunderts vermerkt, Schelling habe seine Augenglä-ser zum Erblicken des Identitätssystems von Bardilis Grundriß der erstenLogik, 1799 machen lassen. Aber diese Streitfrage liegt zeitlich nach der Pro-klamation der Vorerinnerung. Und beiseite bleiben kann auch die nicht sounwahrscheinliche Vermutung, Schelling habe sein Identitätssystem eigent-lich von Reinhold übernommen. In seiner Vorerinnerung attestiert Schel-ling, gekränkt durch Reinholds wenig empfehlende Rezension seines Systemdes transzendentalen Idealismus von 1800, diesem, einem unspekulativenKopf und bloß historisch-faktischem Geist, zeit seines Lebens in tiefster Un-wissenheit über den eigentlichen Kern aller Spekulation gelebt zu haben.3

Das Hauptanliegen der Vorerinnerung, die Eigentümlichkeit des nunerstmals und ohne Vorgänger hervortretenden Gesamtsystems zu versi-chern, besteht darin, sie vom Standpunkte der Wissenschaftslehre abzugren-

2 Vgl. dazu X. Tilliette: Schelling an der Furt des Identitätssystems, 1989. Zumal imBlick auf Schellings Briefe über Dogmatismus und Kritizismus könne konstatiertwerden, Schelling sei nicht kontinuierlich zum Absoluten fortgeschritten, habe erdoch das Absolute einer intellektuellen Anschauung in dieser Frühschrift dem abso-luten Ich menschlicher Freiheit geopfert. Zudem habe sich die intellektuelle Anschau-ung verflüchtigt, so daß sich Schelling rühmen konnte, den Namen intellektuelle An-schauung in der allein kanonischen Schrift, der Darstellung meines Systems, keinmalbenutzt zu haben.

3 Der Frage, ob Schelling die Idee der absoluten Identität von Bardili oder von Rein-hold her gekommen war, ist R. Lauth: Schellings Konzeption der absoluten Identi-tät in Beziehung auf diejenige Reinholds, 1974 akribisch und mit souveräner Detail-kenntnis nachgegangen. Mit dem Resultat: Schelling habe Bardili den Primat derKonzeption der absoluten Identiät zu Unrecht abgesprochen, und Reinholds Kon-zept habe durchaus die entscheidende Systemveränderung bei Schelling auslösenkönnen.

1. Abschnitt: Vorlage des Vollendungsanspruchs 47

zen. Dafür ist dadurch Sorge getragen, daß das Proömium behutsam Vor-schläge zur Unterscheidung nahelegt. »Fichte zB. könnte den Idealismus invöllig subjektiver, ich dagegen in objektiver Bedeutung gedacht haben; Fich-te könnte sich mit dem Idealismus auf dem Standpunkte der Reflexion hal-ten, ich dagegen hätte mich mit dem Prinzip des Idealismus auf den Stand-punkt der Produktion gestellt: um diese Entgegensetzung aufs Verständ-lichste auszudrücken, so müßte der Idealismus in der subjektiven Bedeu-tung behaupten, das Ich sey Alles, der in der objektiven Bedeutung umge-kehrt: Alles sey = Ich« (W III 5 = SW IV 109). Mithin ergäben sich zwei ent-gegengesetzte Einstellungen des Idealismus. Besteht Fichte auf dem Reflexi-onsstandpunkt, wonach alles, was ist, ein vom Ich Gesetztes ist, dannherrscht die Grundgleichung Ich=Alles. Stellt sich ein Idealismus dagegenauf den Standpunkt der Produktion, dann herrscht die Grundgleichung Al-les=Ich. Eine Systembildung wiederum, die sich nach dem Muster Spinozasauf den Standpunkt des Absoluten stellt, erhebt sich zur Gleichung: das All-Eine = absolute Vernunft oder Indifferenz von Subjektivem und Objekti-vem. Offenkundig also ließe sich nach diesen Vorerinnerungen eine Konti-nuitätshypothese über das notwendige Fortschreiten der neuzeitlichen Ver-nunftwissenschaft in drei Phasen konstruieren. Das Reflexionssystem(Ich=Alles) schlägt um in ein Produktionssystem (Alles=Ich), um sich imStadium des Identitätssystems als Vernunftwissenschaft zu vollenden.

Diese Elevation, die Erhebung zur Höhe eines absoluten Idealismus,setzt die Negation und Entfernung des Reflexionssystems voraus. Deutlichwird, daß die Auseinandersetzung zwischen Schelling und Fichte auf eineKlärung des Verhältnisses eines absoluten Identitätssystems und eines re-lativen Reflexionssystems hinausläuft und nicht etwa nur im Streit um dieNaturphilosophie hängenbleibt. Das ist nach Schellings Ankündigung vonvitalem Interesse. »Denn es ist um das absolute Identitätssystem, welchesich hiermit aufstelle, und welches sich vom Standpunkt der Reflexion völ-lig entfernt, weil dieses nur von Gegensätzen ausgeht und auf Gegensätzenberuht, in seinem Innern zu fassen, äußerst nützlich, das Reflexionssystem,welchem jenes entgegengesetzt ist, genau kennen zu lernen« (W III 9 =SW IV 113).

Also kündigt Schelling in diesen »Vorerinnerungen« dreierlei an: dieEinholung des von früh an leitenden Orientierungspunktes seines Denk-weges, die Ergänzung der Grundwissenschaften einer Natur- und Tran-szendentalphilosophie in einem System und die Auseinandersetzung mitdem Reflexionsstandpunkt, auf dem Fichtes Wissenschaftslehre zu behar-

48 Teil I: Schelling

ren scheint. So sichert sich die Ankündigung des ersten Vernunftsystemsüberhaupt als genuine Leistung Schellingschen Selbstdenkens ab.

2. Kapitel: Herausstellung von Hauptsätzen und Grundproblemen desStandpunktes absoluter Identität

Die Darstellung des Vernunftsystems von 1801 also war in den Augen Schel-lings immer die Geburtsurkunde der systematisch entfalteten Vollendungs-gestalt eines absoluten Idealismus. Deren Aufbau ist in den Paragraphen1-50 vorgezeichnet. Daher ist es für eine Rückbesinnung auf die Tragweitedes Deutschen Idealismus in seinem Vollendungsstadium unumgänglich,wenigstens einen Überblick über diesen grundlegenden Teil in seinen Axio-men und Problemen zu gewinnen.4 So lassen sich zunächst jene Hauptsätzeund Grundprobleme herausstellen, welche für Schellings Standpunkt der In-differenz charakteristisch sind. Sodann ist wenigstens im Überblick die Dar-stellung eines Systems nachzuzeichnen, da die Indifferenz von Subjektivemund Objektivem gleichermaßen dem objektivem Subjekt-Objekt (der Na-turphilosophie) wie dem subjektivem Subjekt-Objekt (der Geistphilosophie)so vorausliegt, daß verständlich wird, daß und wie aus der Natur der Geisthervorgeht und wiederum der Geist das Bild der Natur hervorbringt.

Den Sicht und Halt gebenden Standpunkt der Philosophie charakteri-sieren drei Grundsätze.(1) »Der Standpunkt der Philosophie ist der Standpunkt der Vernunft«

(§ 1; W III 11 = SW IV 115). Das ist Platonisches Erbe.(2) »Es gibt keine Philosophie, als vom Standpunkt des Absoluten« (§ 2;

W III 11 = SW IV 115). Das entspricht der Herausforderung Spinozas.

4 Der Problemdurchblick bei H. Zeltner: Das Identitätssystem, 1975 sieht in 1801 dasGeburtsjahr einer systematischen Philosophie, welche nicht mehr vom Ich, son-dern vom ›Absoluten‹, der ›absoluten Vernunft‹ ausgeht. Und er hebt Schwierigkei-ten dieser Neuorientierung heraus: die Markierung des Indifferenzpunktes, dieKausalitätsproblematik, die Entpersönlichung, Probleme der intellektuellen An-schauung, der quantitativen Differenz, der Potenzenlehre. – S. Jürgensen: Schellingslogisches Prinzip: Der Unterschied in der Identität, 2000 verfolgt die Hauptschwie-rigkeiten des Identitätssystems in den Jahren nach 1800 bis zur Freiheitsschrift mitder Leitthese: Es sei nicht die Identität, welche den Unterschied, sondern umge-kehrt der Unterschied, welcher die Identität bestimme, dergestalt, daß das Absoluteim Unterschiedenen nicht eine Identität mit sich, sondern nur Ähnlichkeit errei-che.

1. Abschnitt: Vorlage des Vollendungsanspruchs 49

(3) »Ich nenne Vernunft die absolute Vernunft, oder die Vernunft, insofernsie als totale Indifferenz des Subjektiven und Objektiven gedacht wird«(§ 1; W III 10 = SW IV 114). – »Die absolute Identität ist nur unter derForm einer Identität der Identität« (§ 16; W III 17 = SW IV 121). Das istSchellings Standpunkt eines absoluten Idealismus, der Platos Ideenlehreund Spinozas Lehre absoluter All-Einheit eigentümlich in sich aufhebt.

Dieser Anspruch sieht sich tödlichen Einsprüchen ausgesetzt.

(1) Die Identität (A-A) sei nicht die Selbsterkenntnis des Absoluten, son-dern die Naivität der Leere an Erkenntnis. Eine absolute Identität sei al-lein in der Form einer Identität von Identität und Nichtidentität zudenken (Hegel).

(2) Die absolute Vernunft sei nicht das Absolute selbst, sondern dessenDasein und Bild; das Absolute als Ineinanderaufgehen von Subjektivitätund Objektivität sei in sich geschlossen und nur als Unbegreifliches be-greiflich (Fichte).

Unangefochten aber bleibt die Platonische Standortbestimmung in Kraft:Philosophie ist Vernunftwissenschaft, wahre Erkenntnis »ist eine Erkennt-nis der Dinge an sich, d.h. wie sie in der Vernunft sind« (§ 1; W III 11 = SWIV 115). Platonisch-idealistisch gedacht ist das Sehen der Vernunft deren›Gesicht‹, das Vernommene, nämlich die Idee in ihrem immerwährendenAnsichsein. Schellings Vernunftwissenschaft faßt die Ideen als Potenzen,als Arten und Stufen, in denen sich die Identität von Subjektivem und Ob-jektivem, das wahre Ansich, differenziert und potenziert ausdrückt.

Nun beansprucht Schellings Grundlegung als wahren Anfang undGrund aller Philosophie den Standpunkt des Absoluten oder der absolu-ten Vernunft im strengen Sinne, so daß »vom Standpunkt der Vernunftaus (§ 1) keine Endlichkeit sey, und daß die Dinge als endlich betrachten,so viel ist, als die Dinge nicht betrachten, wie sie an sich sind« (§ 14 Zusatz;W III 15 = SW IV 119). Dabei gehört zur Verendlichung der Einzeldinge inihrer wesenlosen Nichtigkeit gerade die Kategorie, welche die objektiveRealität der Dinge konstituieren soll, die Kausalität. Kausal geordnet beste-hen die Dinge gar nicht an sich, sondern durch ein anderes in endloserReihe. So aber sind die Dinge wesenloser, zum Irrtum verleitender Schein.Hier bricht der schon gegen Spinoza gerichtete Einwand des Akosmismusauf. Sind Gott und das Universum eins, unsere endliche, zeitlich-kausale

50 Teil I: Schelling

Welt aber nicht wahr, sondern nichtig und scheinhaft, ist dann nicht dasabsolute Universum weltlos? Ist Schellings Pantheismus, konsequent er-wogen, etwa ein Akosmismus? Zu solcher weltabgesonderten Vernunftan-sicht gelangt jeder Vernunftbegabte auf dem Wege einer Abstraktion, wel-che nicht nur von sich, dem denkenden Subjekt, sondern vollständig vonder Differenz zwischen Denkendem und Gedachtem in einer Subjekt-Ob-jekt-Relation absieht, so daß die Dinge gar nicht mehr als Objekte und Ge-genstände erscheinen, die nach Gesetzen der Reflexion uns entgegenge-setzt sind. Im Vollzug einer »völligen Abstraktion« kommt die absoluteVernunft als Indifferenz zu Gesicht.

Die strittige Frage einer Vernunftwissenschaft ist, ob und wie sich aufdiesem Wege der Zugang zum Absoluten eröffnet und ob sich mit diesemResultat ein vollständiges System entfaltet. Fichtes kritisch besonnener Be-scheid auf dem Höhepunkt seiner Vernunftwissenschaft von 1804 wird er-klären: Der aufsteigende Weg einer absoluten Abstraktion erreicht imWegsehen von aller Bewußtseinsrelation das von diesen Bezügen absol-vierte Absolute – unter der Bedingung, daß von dieser ununterscheidba-ren, ineinander aufgehenden Einheit des aus sich lebenden Lichts und Le-bens mit dem substanten, auf sich beruhenden Sein nichts Begreifbaresweiter gesagt werden kann als: Das Absolute – ist.

Von Schellings ›Spinozistischem‹ Axiom aus lassen sich dagegen folge-richtig zwei umwälzende Hauptsätze der Vernunftwissenschaften herlei-ten. Zusammen befestigen sie eine pantheistische Ansicht. »Außer der Ver-nunft ist nichts, und in ihr ist alles« (§ 2; W III 11 = SW IV 115). Das ist eineProposition der Ethik Spinozas. Sie wird sich in allen Vollendungsgestaltendes postspinozistischen Idealismus wiederfinden: Es ist in Wahrheit (subspecie aeterni) nichts außer dem Sein und Leben der absoluten Vernunftals Indifferenz (Schelling), als Identität von Identität und Nichtidentität(Hegel), als Inkludenz (Insichgeschlossensein: Fichte) des Substantialenund Subjektiven. Davon unabtrennlich ist der Folgesatz: »Die Vernunft istalso Eine im absoluten Sinne« (§ 3; W III 12 = SW IV 116). Das schließt al-len Dualismus, die Zweiheit erster Prinzipien, von substantia cogitans undsubstantia extensa, von Geist und Natur, aber auch von göttlicher undmenschlicher Vernunft, von Gott und Ich, aus. Das Absolute ist Eins undAlles. Hier steckt in Fichtes Sicht das Grundproblem einer Philosophie, dienicht Dualismus sein wollte. Entweder müßte Gott als Prinzip zugrundegehen oder Wir; Gott sollte nicht, Wir wollten nicht.

1. Abschnitt: Vorlage des Vollendungsanspruchs 51

Der eigentümliche Standpunkt einer absoluten Vernunft in Schelling-scher Intuition aber besteht jenseits von Platonismus und Spinozismus aufzwei Hauptsätzen. Der erste erklärt das Sein, der zweite die Form des Ab-soluten. »Das höchste Gesetz für das Seyn der Vernunft, und da außer derVernunft nichts ist (§ 2), für alles Seyn (insofern es in der Vernunft begrif-fen ist) ist das Gesetz der Identität, welches in Bezug auf alles Seyn durchA=A ausgedrückt wird« (W III 12 = SW IV 116). Ist absolute Vernunft dasAll-Eine, das sich selbst schlechthin gleich ist, dann gibt es in ihm keineUngleichheit zwischen Denkendem und Gedachtem. Beides ist einandergleich und läßt sich eben im Axiom A=A ausdrücken. Solches Seinsgesetzder universalontologischen, schlechthin unendlichen, niemals aufzuhe-benden Identität ist eien ewige Wahrheit. Sie erstreckt sich auf alles, waswesenhaft an sich seiend ist. Philosophisch, vom Standpunkte der absolu-ten Vernunft sub specie aeterni angesehen, bewährt sich die Wahrheit:»Alles, was ist, ist an sich Eines« (§ 12, Zusatz; W III 15 = SW IV 119). DasGanze ist einbehalten in der untrennbaren Einheit von Subjektivem undObjektivem.

Der hier einfallende Problemstand erregt die Streitfrage, ob überhaupt,und wenn, auf welche Art das Absolute aus sich in das Sein der endlichund mannigfaltig scheinenden, im Nacheinander der Zeit und Auseinan-der der Kausalität eines erscheinenden Dinges heraustritt. Hegel wird die-se Frage im Übergang von der Logik zur Realphilosophie spekulativ frag-würdig und vom späteren Schelling vehement verworfen, Fichte im Über-gang von der Wahrheits- zur Erscheinungslehre kritisch besonnen zu lö-sen versuchen. Schellings Identitätssystem erklärt Hypothesen, wonach dieabsolute Identität wirklich aus sich herausgetreten sei, zum »Grundirrt-hum aller Philosophie« (§ 14, Erläuterung), ein Irrtum, der sich freilichvon der Creatio-Metaphysik bis zu Hegels Theologik durchhält. Dagegenstellt sich Schellings Hauptsatz: »Die absolute Identität ist nicht Ursachedes Universums, sondern das Universum selbst« (§ 32; W III 25 = SW IV120).

Nun aber gehört zur Grundlegung der absoluten Vernunft nicht nurdie Demonstration des Seins eines absoluten Identischseins, sondern auchdie Konstruktion der davon unabtrennlichen Form. Aus dieser Aufgaberesultiert der Hauptsatz: Die absolute Identität hat die Form einer Identitätder Identität. Diejenige Form nämlich, welche das Absolute formt, ist dieursprüngliche Erkenntnis der Gleichheit mit sich selbst. Der Satz A=A istja seit Leibniz ebenso Seins- wie Erkennntisprinzip. Mithin beschließt sich

52 Teil I: Schelling

die Grundlegung des Identitätssystems im Hauptsatz: »§ 19. Die absoluteIdentität ist nur unter der Form des Erkennnens ihrer Identität mit sichselbst« (W III 18 = SW IV 122). Das erhebt eine Einheitslehre auf denStandpunkt eines absoluten Idealismus. Das oberste Prinzip von allem,was in Wahrheit ist, ist absolute Vernunft, die in der Form unendlicherSelbsterkennntis lebendig ist.

Damit klärt sich die drückende Frage, in welcher Form die totale Indif-ferenz zugänglich ist. Für einen positiven Bescheid reicht offenbar der äu-ßere Vorgang einer Abstraktion nicht aus. Die Abstraktion von allem Sub-jektiven – und das ist zugleich die Abstraktion von allem Objektiven –scheidet lediglich die Reflexion des Verstandesdenkens aus. Nun konnteaber darüber hinaus gleichsam von Innen heraus bewiesen werden: Dieabsolute Vernunft ist sich selbst gleich und so ein unbedingtes Vernehmender Identität A=A. Mithin ist die Form des Zugangs ein Erkenntnisvor-gang, in dem sich die Vernunft selbst als das Sein absoluter Identität imSinne totaler Indifferenz unmittelbar intuierend vernimmt.

Es ist nun durchaus vermerkt worden, daß Schelling hier sein Schlüssel-wort für die Form des Zugangs zum Absoluten, die intellektuelle Anschau-ung, nicht einsetzt. Das bedeutet aber weniger einen Abschied von dieserLehre als eher eine Richtigstellung. Korrigiert wird eine Fehldeutung, derselbst Hegels Einwände erliegen. Die intellektuelle Anschauung ist nichtVermögen und Organ des menschlichen Intellekts, und sei dieser noch sozur philosophischen Prinzipienforschung fähig; sie ist jene Form, in welcherdie absolute Vernunft sich selbst in ihrer Identität qua Indifferenz ver-nimmt.5

Steigt so ein absoluter Idealismus über den schlechthin unbedingtenGrundsatz der frühen Wissenschaftslehre von der Tathandlung des abso-luten Subjekts, das schlechthin die Welt und Natur als Nicht-Ich entgegen-setzt, zur Alleinheit auf, dann wird die Frage nach der Konstitution unse-

5 Die Problemskizze bei Ch. Asmuth: Der Anfang und das Eine. Die Systemgestaltbei Fichte, Schelling und Hegel, 2000 konstruiert diesen Beweisgang sehr deutlichnach, um die intellektuelle Anschauung als Anfang und Zugang zum absoluten Ei-nen zu demonstrieren, mit dem Anfang der W.L. 1804 und dem Anfang der Seins-logik Hegels zu kontrastieren und um diesen dreifachen Anfang zu problematisie-ren. Das führe zu einer jeweils fixierenden und hierarchisierenden Abgeschlossen-heit eines Systems, welches über die tiefe Verunsicherung menschlichen Anfangs-denkens hinwegtäusche.

1. Abschnitt: Vorlage des Vollendungsanspruchs 53

rer Welterfahrung neu rege. Wie denn kann außerhalb der absoluten Tota-lität eines unendlichen Seins und Lebens der Vernunft noch eine davonunterschiedene Welt als Inbegriff endlicher und mannigfaltiger Dingesein, wenn doch außer dem Absoluten nichts ist? Noch schärfer gefragt:Muß sich nicht ein Vernunftprozeß, der abstrahierend zur Indifferenz auf-steigt, mit dem Standpunkt einer negativen Theologie begnügen, das Ab-solute oder Gott sei für unser Begreifen des Unbegreifliche und für unserAussagen das Unsägliche? Und wie in aller Welt kann sich das indifferenteAbsolute begreiflicherweise in die Wirklichkeiten der Natur und des Geis-tes entfalten?

3. Kapitel: Überblick über die Entfaltung des Systems

Schellings Erstes System erschließt die Totalität aller Vernunftwissenschaf-ten in polarer Abstufung der absoluten Identität vom Standpunkt absoluterVernunft aus. Seine Entfaltung wird von zwei Hauptsätzen geleitet: vomSonderungsprinzip der quantitativen Differenz und von der Totalität allerPotenzen. Die erste einschlägige Proposition lautet: »Zwischen Subjekt undObjekt ist keine andere als quantitative Differenz möglich« (§ 23; W III 19 =SW IV 123). Der Beweis setzt (fälschlicherweise) eine ausschließende Dis-junktion voraus. Entweder sei diese Differenz qualitätiv oder quantitativ –tertium non datur. (Fichte wie Hegel setzen dagegen ein ganz anderes Son-derungs- und Disjunktionsprinzip ein.) Unter Schellings Voraussetzung er-gibt sich schlüssig: Ist die eine der einander ausschließenden Möglichkeitenfalsch, dann ist die andere eo ipso wahr. Nun ist offenkundig eine qualitätiveDifferenz zwischen Subjekt und Objekt unmöglich; das widerstreitet derPrämisse qualitätiver Wesensgleichheit des wahren, indifferenten Seins. Mit-hin ist es undenkbar, daß etwas Objektives und Naturhaftes jemals in seinerWesensbeschaffenheit vom Subjektiven und Bewußthaften unterschiedenund getrennt ist. Dieser Abweis reicht weit. Er widerlegt alle Ansichten, wel-che eine Differenz in der Wesensbeschaffenheit der Natur und des Geistesunterstellen. Was wahr und wesenhaft ist, ist im Stande einer qualitativenUngeschiedenheit. Also bleibt zur Erklärung der Unterschiedenheit einzigeine quantitatve Differenz denkmöglich. Solche quatitative Differenz betrifftmithin nicht die Wesensbeschaffenheit, wohl aber die Größe des Seinsbe-standes. So bleibt zwar das Eine und Selbe, die wesenhafte Untrennbarkeitder Subjektivität und der Objektivität, von Selbsterkennen mit dem Sein, ge-wahrt, zugleich aber ist ein Sonderungsprinzip gefunden: das quantitative

54 Teil I: Schelling

Übergewicht der Objektivität auf der einen Seite (A+=B) bzw. das Überge-wicht an Subjektivität auf der anderen Seite (A=B+).

Zu diesem Hauptsatz der Systementfaltung gehört der noch problemrei-chere Folgesatz. »Die Form der Subjekt-Objektivität ist nicht actu, wennnicht eine quantitative Differenz beider gesetzt ist (§ 24; W III 20-21 = SWIV 125). Dieser Satz behauptet eine quantitative Differenz nicht nur als Be-dingung für die widerspruchsfreie Denkmöglichkeit der Sonderung, er ver-steht sie als notwendige Bedingung für die Wirklichkeit gesonderter Formendes Erkennens und Selbsterkennens. Die gesonderte Form der Selbster-kenntnis ist nicht wirklich, wenn Subjekt und Objekt nicht als solche ausein-andergehalten und unterscheidbar werden. Und solches Auseinanderhaltenist nur aufgrund der quantitativen Differenz möglich. »Beweis. Denn sie istnicht actu, wenn nicht Subjekt- und Objektivität als solche gesetzt sind. Nunkönnen aber beide nicht als solches gesetzt seyn, sie seyen denn als quantita-tive Differenz gesetzt« (§ 24; W III 21 = SW IV 125). Nach Fichte gehört dieSonderungsform des Als hingegen nicht zum wirklichen Dasein absoluterIndifferenz, sondern zur reflektierten Besinnung des sich als Dasein des Ab-soluten wissenden Wissens. Nach Schelling ermöglicht die quantitative Dif-ferenz aber gerade auch die Differenz der Erkenntnisgröße in den Wirklich-keiten des Naturhaften wie des Geisthaften.

Der Zweite Hauptsatz, der die Systementfaltung klarmacht, lautet: »Dieabsolute Identität ist nur unter der Form aller Potenzen« (§ 43; W III 31 =SW IV 135). Es ist Schellings Potenzenlehre, welche den Systemcharakter derIdentität als absolute wie als relative Totalität von Potenzen schematisch zurDarstellung bringt. Und es ist deren abschließende Erläuterung, welche dieEntfaltung des Systems ins Ganze der beiden philosophischen Grundwis-senschaften der Natur wie des Geistes als Aufeinanderfolge der Potenzen sovorzeichnet, daß das Überwiegen des Subjektiven reell wird. »Da das obenverzeichnete Schema aus dem Begriff der Potenz überhaupt (A=B) abgelei-tet ist, so ist es nothwendig Schema aller Potenzen, und da ferner die absolu-te Totalität nur durch ein Reellwerden des Subjektiven in allen Potenzen,wie die relative durch ein Reellwerden in der bestimmten Potenz, construirtwird, so wird diesem Schema auch wieder die Aufeinanderfolge der Poten-zen selbst sich unterwerfen müssen« (§ 60, Erläuterung 3; W III 38 = SW IV142).

›Potenz‹ wird hier der Titel für die Stufen und Arten des Identischen(A-A) in der quantitativen Differenz von Subjektivität (Idealität, Erkennen= B) und Objektivität (Realität, Sein = A) im Schema A-B. Jede bestimmte

1. Abschnitt: Vorlage des Vollendungsanspruchs 55

Potenz enthält somit die Dreiheit der unauflöslichen Indifferenz in derquantitativen Differenz von Realität und Idealität, d.h. im Übergewicht deseinen über das andere. Potenzen als Abstufungen der Indifferenz habenaufgrund einer artbildenden Differenz Ideencharakter. Also tritt am Endeder Potenzenreihe die Potenz mit dem größen Übergewicht an Subjektivi-tät als Idee hervor, in der sich die absolute Vernunft selbst erfüllt undselbst erkennt.

Insgesamt bilden nun alle schlechthin gleichzeitigen Potenzen den Sys-temcharakter der Totalität. Dabei formiert sich eine absolute Totalität alsInbegriff aller Potenzen, sowie eine relative Totalität jeder einzelnen Po-tenz in der Totalität seiner dreieinigen Struktur von Indifferenz, differen-ter Realität, differenter Idealität, sofern sie auf das Gesamt der Potenzen-reihe bezogen ist.

Nun aber entscheidet eine Schellingsche Zentraleinsicht die gesamteEntfaltung der Vernunftwissenschaft in die Grundwissenschaft der Natur-wie der Transzendentalphilosophie: Die Aufeinanderfolge der Potenzen inder Explikation des Systems absoluter Totalität ordnet sich nach demSchema, wonach in der je bestimmten Potenzart die Subjektivität reellwird, abgestuft vom Pol der Materie als jener Potenz in relativer Totalität,da ein Minimum an Subjektivität bei einem Maximum an Objektivität re-ell ist, bis zum Gegenpol, der Potenz des Kunstwerkes, da ein Maximuman Subjektivität und Idealität (die Idee der Schönheit) bei einem Mini-mum an Objektivität (materieller Schwerkraft) Wirklichkeit gewinnt, undzwar im schöpferischen Produzieren eines genialen Geistes, der ›wie dieNatur‹ schafft.

Auf solchen Grundlagen läßt sich der Ausbau des Identitätssystems inseinem vorherrschenden Grundschema überblicken. Für eine Wiedereinho-lung mag ein skizzierender Ausblick genügen, zumal die Darstellung von1801 ja nur den ersten Teil als durchgegliederte Zusammenfassung derschon vorgetragenen Naturphilosophie liefert.6 Dieser Systemteil hebt an

6 Die genauere Unterscheidung einer transzendentalphilosophischen, naturphiloso-phischen und identitätsphilosophischen Begründung der Naturphilosophie ist vonW. Neuser: Die Methoden der Naturwissenschaften im Spiegel der frühen Natur-philosophie Schellings, 1997 ebenso angezeigt worden wie deren Verhältnis zur Me-thodik einer empirischen und experimentellen Bestätigung von Theorie und Spe-kulation. – Philosophisch ergiebiger ist die Studie von H. Zeltner: Gleichgewicht alsSeinsprinzip. Schellings Philosophie des Gleichgewichts, 1961. Hier werden die ver-

56 Teil I: Schelling

bei einem äußersten Pol, der Materie, und entwickelt die philosophische Na-turansicht bis zum Organischen in den Abstufungen von drei Potenzen desrealen Alls: der Schwere und Materialität (A 1), dem Licht (A 2) und demOrganismus (A 3). Dieser Ansatz unterstellt: In jeder Naturerscheinung ver-einigen sich quantitativ differenziert und potenziert abgestuft alle drei Po-tenzen von Naturkräften. Folglich ist die Annahme einer toten, unorgani-schen Materie falsch und der Standpunkt einer mechanistischen, die Kausa-lität auf das Verhältnis von Ursache und Wirkung präzisierenden Naturer-klärung unter mathematischen Gesetzen zwar nicht verkehrt und fruchtlos,wohl aber oberflächlich. Alle Naturphänomene sind im Grunde organisch,und ihr Sinn enthüllt sich, wenn aufgedeckt wird, wie sich die Subjektivitätin der Abfolge der objektiven Naturerscheinungen durchringt. Das eröffnetneue Sinngebungen für die Struktur der Materie, für das Phänomen des Ma-gnetismus, für Elektrizität bis zum Organismus von Pflanze und Tier. Dabeikommt es im Umkreis der Schellingschen Naturphilosophie unbestreitbarzu phantastischen Analogien, z.B. wenn die Kohäsion des Magneten – ange-sichts der zeitgenössischen Unterordnung der Physik unter die Elementar-wissenschaft der Chemie – polar so erklärt wird, daß der Stickstoff den Süd-pol, der Kohlenstoff den Nordpol, das Eisen den Indifferenzpunkt bildet.Und selbstverständlich ist Schellings Naturteleologie vom beschränktenForschungsstand der zeitgenössischen Naturwissenschaften abhängig, sodaß einzelne Konstruktionen wissenschaftlich überholt und künstlich sche-matisiert erscheinen.

Gleichwohl hält Schelling ingeniös eine Naturansicht überhaupt offen,welche, gleichsam Goethisch morphologisierend und wohl auch von Goe-thes Polaritätsdenken inspiriert, die Formenverwandtschaft der organischenWelt und ihren teleologischen Aufbau systematisch zur Darstellung bringt.Danach ringt sich eben in der Natur die objektive Vernunft von den Poten-zen der Materie bis zur Potenz subjektiver Empfindung bei Pflanze und Tierdurch, und die Mechanik als defiziente Form der Natur wird in Richtung ei-ner sich selbst organisierenden Natur überschritten, welche die Gesetze der

schiedenen Etappen der Naturphilosophie Schellings bis zum Identitätssystem un-ter die Leitthese gestellt, Schelling habe Welt und Sein unter dem Prinzip desGleichgewichts gedacht, und zwar bis in seine Spätphilosophie hinein – das wider-streitet freilich Schellings Erklärung: »Absolute Identität des Subjektiven und Ob-jektiven kann nicht bloßes Gleichgewicht sein« (W IV 88 = SW VII 154).

1. Abschnitt: Vorlage des Vollendungsanspruchs 57

Intelligenz selbst realisiert. So kommt Schelling dem ›neuen Denken derNatur‹ unter dem Paradigma von Selbstorganisation und Autopoiesie entge-gen.7

Nach demselben Schema ist eine Philosophie des Geistes (und die Ge-schichte des Bewußtseins) als ideelle Reihe von Potenzen entworfen. Inquantitativer Differenzierung der Größe des Übergewichts überwiegt hierim Unterschied zur realen Potenzenreihe der subjektive Faktor in den Ab-stufungen Anschauung – Verstand – Vernunft. Und das hebt SchellingsVernunftsystem von Spinozas Explikation der einzig-einen Substanz in dieAttribute des idealen Denkens und der realen Ausdehnung ab. Währenddas reale All in den drei Potenzen Materie/Schwere – Licht – Organismusabgestuft erscheint, kommt das ideale All in den Potenzen Moralität/Reli-gion – Wissenschaft – Kunst zur Erscheinung. In dieser idealen Potenzen-reihe steigt die Größe beim Übergewicht des Idealen so an, daß am Endedie Potenzidee als solche hervortritt: als urplatonische Idee der Wahrheitund der Schönheit.

So zeigt Schellings Darstellung von 1801 ein System der absoluten Ver-nunftwissenschaft von eindrucksvoller Geschlossenheit, umfassender To-talität und idealistischen Sinngebungen vor. Offen bleiben Grundfragen.Löst die Einrechnung einer quantitativen Differenz wirklich das Problemdes Übergangs von der Unendlichkeit zum Endlichen? Kommt es so ausabsoluter Einheit zu wirklicher Vielheit? Kann die Wahrheit des Absolutenüberhaupt zur Erscheinung der Welt übergehen?

7 Die intensive zeitgenössische Diskussion einer romantischen Naturphilosophie imBannkreis von Schellings Ideen ist dokumentiert durch W. Ch. Zimmerli u.a.(Hg.):›Fessellos durch die Systeme‹. Frühromantisches Naturdenken im Umfeld von Ar-nim, Ritter und Schelling, 1997. – Zur Aktualität der geschmähten NaturspekulationSchelling vgl. M.-L. Heuser-Keßler, Die Produktivität der Natur. Schellings Natur-philosophie und das neue Paradigma der Selbstorganisation in den Naturwissen-schaften, 1986. – Dabei gewinnt Schellings Naturphilosophie nicht nur archetypi-sche Bedeutung für die neue Theorie der Selbstorganisation, sondern überdies fürdie Strukturbildung der determinierten, nicht stochastischen Chaostheorie im Sin-ne von I. Prigogine und B. B. Mandelbrot, für die Zirkularität des Weltprozessesoder für das kosmologische Problem der Initialsingularität. Vgl. R. E. Zimmer-mann: Freiheit als Grund des Wirklichen – Zur Entwurfsstruktur SchellingscherOntologie, 1996, 334ff.

58 Teil I: Schelling

2. Abschnitt: Platonisch-theogonische Vertiefungen1802 – 1804

1. Kapitel: Der Gott der Philosophie und der Religion (Philosophie und Religion 1804, Einleitung)

Für die anschließende Erörterung des Identitätssystems wie für die Eröff-nung einer umgestaltenden transzendentalen Theogonie gleichermaßen be-deutsam ist eine kleine, 1804 erschienene Abhandlung Schellings über Phi-losophie und Religion. Sie hat gerade auch ihrer eigentümlichen Zwischen-stellung wegen in der Forschung Diskussionen ausgelöst.8 Hier werden ihreThesen und Problemkomplexe eingebracht, nicht nur, weil ihre Konzeptiondurch Fichtes Kommentar kritisch auseinandergenommen worden ist, son-dern auch, weil Schelling in dieser Schrift eine religionsphilosophisch ver-vollständigte Vernunftwissenschaft zur Geltung bringt, welche wiederumFichtes Wissenschaftslehre ein- und unterordnet.9

Anlaß für diesen erweiterten Systementwurf ist bekanntlich eine Einlas-sung des Arztes Adam Carl August Eschenmayer (1768-1832), eines Lands-mannes und anregenden Anhängers der Naturphilosophie Schellings: DiePhilosophie in ihrem Uebergang zur Nichtphilosophie, 1803. In dieser Schriftwird in kritischer Zuwendung zu Schellings Identitätssystem das Verhältnisvon Philosophie und Religion unter der Leitthese thematisiert, Philosophieals Vernunfterkenntnis könne die Gegenstände der Religion nicht erfassen,da deren Zugang nicht-philosophisch sei: der Glaube und die Ahnung der

8 Eine knappe, aber klärende Erläuterung des Gedankengangs mit Rücksicht auf denForschungsstand bietet J. Hennigfeld: Schellings Philosophische Untersuchungenüber die Lehre der menschlichen Freiheit, 2001, 23-32. – Die Entwicklungsgeschichtli-che Kontroverse können zwei Urteile beleuchten: K. Fischer: Schelling, 1872, 869 be-stimmt diese Abhandlung, insoweit sie das beabsichtigte 2. Gespräch im Bruno auf-nimmt, als Endpunkt in der Entwicklung des Identitätssystems. H. Zeltner: Schellingsphilosophische Idee, 1931, 90-91 hält die Schrift für einen Fremdkörper in der Epocheder Identitätsphilosophie und für eine Erweiterung des Problemkreises, der den Rah-men des alten Systems sprengt.

9 Hinsichtlich der Intention dieser Abhandlung ist dem treffenden Urteil R. Lauths zu-zustimmen: »Was Schelling jedoch mit keinem Wort erwähnt, ist der wesentlicheZweck von Philosophie und Religion, nämlich seine ihm eigene Philosophie in einervollendeten wissenschaftlichen Form darzubieten, um der Transzendentalphilosophiegegenüber den Vorrang und die Oberhand zu behalten« (Kann Schellings Philoso-phie von 1804 als System bestehen?, 1994, 265).

2. Abschnitt: Platonisch-theogonische Vertiefungen 59

Seligen. Gesetzt, die Philosophie erkenne und anerkenne darin ihre Schran-ke, so gehe sie in Fragen der Religion in die Nicht-Philosophie über.

Das nimmt Schelling zum Anlaß, Thesen des religiösen Gottesver-ständnisses für sein Vernunftsystem zu »vindiciren«: Fragen nach demVerhältnis des Absoluten zur Gottheit, nach der »heiligen Freiheit« Gottesund der menschlichen Freiheit, nach der Wurzel des Bösen in der Welt,nach dem Abfall des Menschen von Gott, nach seiner Erlösung und nacheiner Anweisung zum seligen Leben. Dabei würdigt Schelling seinen Ge-fährten auf dem Wege einer apriorischen Erklärung von Naturphänome-nen als »edlen und scharfsinnigen Geist«, ohne ihm, dem späteren Profes-sor der Philosophie und Medizin in Tübingen, ein spekulatives Organ fürdie Religion und deren Gegenstände zuzubilligen. Immerhin sollte konze-diert werden: Eschenmayer war durchaus mit Kant und Fichtes Transzen-dentalphilosophie vertraut. In einem Brief aus Kirchheim vom 21. Juli 1801hatte er Schelling vorgehalten: Dessen Identitätsprinzip A=A vergesseFichtes zweiten Grundsatz -A nicht = A und leide darunter, kein ur-sprüngliches Positives und Negatives zu besitzen und Zuflucht zu einerquantitativen Differenz zu nehmen. »Ich gestehe, daß ich bisher mit Fichtedas A=B in einem ursprünglichen Gegensatz und der Form nach wenig-stens ebenso unbedingt annehme als das A=A, etwa wie der Dynamiker,welcher die unendliche Mannigfaltigkeit der Richtungen im Raumschlechthin nicht in Eine Richtung, sondern nur in zwei entgegengesetzteauflösen kann« (FG III 63-64). Was gleichwohl nach Schellings UrteilEschenmayer abgehe, ist das spekulative Organ für die Idee des Absolutenals wahre Anschauung Gottes.

Davon handelt die Einleitung. Sie setzt die These außer Kraft, neben undüber dem Absoluten als Prinzip der Vernunfterkenntnis gebe es den Gott re-ligiösen Glaubens und religiöser Andacht. Das widerspreche zunächst of-fenkundig dem Ansehen eines Absoluten. Ein Absolutes, das den Gott derReligion außer und über sich hätte, wäre nicht absolut. Versteckter sodannaber ist der Grund, der zum Irrtum verleitet, die philosophische Idee vomAbsoluten als ein Nicht-Absolutes zu beurteilen. Schelling deckt die Her-kunft dieses beirrenden Scheins auf, die übrigens auch Fichte deutlich her-ausgestellt hatte. Das ist der verstockte Standpunkt der Reflexion. Es sei dieReflexion, welche das Absolute durch Gegensätze zum Nicht-Absoluten ne-gativ vermittelt. Das drücke sich in allen drei Urteilsmodi aus. Kategorisch:das Absolute ist weder Subjekt noch Objekt. Hypothetisch: unter der Bedin-gung, daß ein Subjekt und Objekt ist, ist das Absolute das gleiche Wesen bei-

60 Teil I: Schelling

der, nämlich Subjekt-Objekt. Disjunktiv: das Absolute kann entweder alsreal oder als ideal betrachtet werden. »Alle möglichen Formen, das Absoluteauszudrücken, sind doch nur Erscheinungsweisen desselben in der Reflexi-on« (W IV 15 = SW VI 29). So aber werde die Idee des Absoluten verfehlt;denn deren Idee beeinhalte nicht eine vermittelte, sondern die unmittelbare,nicht eine äußere, sondern die innere Identität des Idealen und Realen. Undsie sei niemals durch vermittelnde Reflexion, sondern allein unmittelbar,nämlich durch das Organ einer intellektuellen Anschauung zugänglich.

Das erhärtet den Anspruch Schellings, als erster und einziger ein Ver-nunftsystem des Absoluten vollendet zu haben. »In allen dogmatischenSystemen, ebenso wie im Criticismus und Idealismus der Wissenschafts-lehre ist von der Realität des Absoluten die Rede, die außer und unabhän-gig von der Idealität wäre. In diesen allen ist daher eine unmittelbare Er-kenntnis des Absoluten unmöglich« (W IV 17 = SW VI 27). Diese Ein- undAbschätzung weist nicht nur den dogmatischen Spinozismus, sondernauch den Kantischen Kritizismus und die Wissenschaftslehre als unvoll-kommene Vernunftlehren vom Absoluten ab. Sie kennten nicht eine un-mittelbare Erkenntis des Absoluten im Licht der intellektuellen Anschau-ung.

Nun hatte Kants Kritizismus das Wissen von Gott aus reiner theoreti-scher Vernunft eingeschränkt, um dem Glauben Platz zu machen, um eineTheologie moral-theologisch auf dem Boden der Moralität zu gründen.Darum gibt es nach Schellings Diktum im Kritizismus keine unmittelbarErkenntnis und wahre Evidenz des lebendigen Absoluten.

Das dafür zu belebende Organ, die intellektuelle Anschauung, findet sichdurch Kant kritisch abgewiesen. Kants Einspruch lautet: Unserer endlich-menschlichen Erkenntnis in ihrer Gebundenheit an Zeitlichkeit und Rezep-tivität von Sinnesdaten kommt ein intuitus originarius, ein schöpferischesAnschauen nicht zu. Eine Visions- und Gefühlsphilosophie, welche einfacheine nicht-sinnliche Anschauung des unmittelbaren Sehens intelligiblerDinge an sich unterstellt, enthebt sich von vornherein der mühsamen Arbeiteiner transzendentalen Analytik und gerät in heillose Schwärmerei. KantsGrenzziehung klärt darüber auf: Wir endliche Vernunftwesen besitzen nichtGottes schöpferischen Blick. Für uns gibt es keine intellektuelle Anschauung;denn unser Anschauen ist rezeptiv und intuitiv. Und uns kommt kein intui-tiver Intellekt zu, denn unser Bewußtsein ist diskursiv. Fichte hingegen führtdas Vermögen intellektueller Anschauung wieder ein, freilich so, daß er we-der mit Kant streitet noch in Schwärmerei verfällt. »Die intellektuelle An-

2. Abschnitt: Platonisch-theogonische Vertiefungen 61

schauung, von welcher die Wissenschaftslehre redet, geht gar nicht auf einSeyn, sondern auf ein Handeln« (Versuch einer neuen Darstellung; GA I/4,225). Unbestreitbar sei sich doch der Mensch des Handlungsvollzugs seinerreinen Selbsttätigkeit bewußt, und zwar unmittelbar und nicht sinnlich füh-lend. Mithin ist ein unmittelbares Bewußtsein von Selbstsetzung und mora-lischem Handeln nach dem Gebot des Sittengesetzes »gerade das, was ichintellectuelle Anschauung nenne« (GA I/4, 225). Und das ist für den frühenFichte der einzig feste Standpunkt für alle Philosophie. In ihm vereinigensich Spekulation und Sittengesetz, nicht aber die Anschauung vom Gott derPhilosophie und vom Gott der Religion.10

Im Unterschied dazu beansprucht Schelling das Vermögen der intellek-tuellen Anschauung nicht als das unmittelbare geistige Sehen, in welchemdas menschliche Vernunftwesen seines ursprünglichen Handelns und seinerSelbstsetzung inne wird. Intellektuelle Anschauung ist das Organ, durchwelches das philosophische Ingenium das Ewige und Göttliche einsieht. Sol-che Art Anschauung sieht Gott in Gott im Lichte unvermittelter Evidenzselber an. Das ereignet sich, wenn sich das sterbliche Auge schließt und dasewige Sehen in uns unverstellt hell wird. Erst auf diesem Wege wird uns dieIdee des Absoluten lebendig. »Und alles Philosophiren beginnt und hat be-gonnen mit der lebendig gewordenen Idee des Absoluten« (W IV 17 = SWVI 27). Die lebendige Idee des Absoluten aber ist in eins und zumal dieGottheit der Philosophie und der Gott der Religion.

2. Kapitel: Platonischer Pantheismus. Zwischenbemerkungen zum GesprächBruno oder Über das göttliche und natürliche Princip der Dinge, 1802

Augenscheinlich gehört diese Eschenmayer-Replik zeitlich und sachlich zuden Schriften über das Identitätssystem. Das bezeugt die Berufung auf die

10 Eine umfassende Darstellung der Entwicklungsgeschichte des Begriffs der intellek-tuellen Anschauung bei Fichte von 1793/94 an und eine genaue Nachkonstruktionihrer Selbstkonstruktion in WL 1801 bietet J. Stolzenberg: Fichtes Begriff der intel-lektuellen Anschauung, 1986; auf die versponnene Begriffsgeschichte der intellektu-ellen Anschauung bei Novalis, Schlegel und Hölderlin, vorzüglich aber bei Schel-ling weist X. Tilliette hin: Erste Fichte-Rezeption. Mit besonderer Berücksichtigungder intellektuellen Anschauung, 1981. – In Auseinandersetzung mit Tilliette und M.Gueroult hat A. Philonenko: Die intellektuelle Anschauung bei Fichte, 1981 das Pro-blem der intellektuellen Anschauung in seiner kontinuierlichen Ausarbeitung biszur WL 1804 vorgetragen.

62 Teil I: Schelling

Idee des Absoluten als unvermittelte Identität des Idealen und Realen imeinleitenden Teil. Die Ausarbeitung dieser Grundlage indessen stellt die Phi-losophie als Vernunft- und Ideenwissenschaft auf einen umgestaltetenGrund und Boden. Damit weitet sich der Anspruch, den Idealismus zu voll-enden, bis auf den Anfang der abendländischen Philosophie bei Plato aus.Allein diese Umstellung sollte ein Rückblick auf Schellings Dialog Brunovon 1802 erhellen.

In der Kunstform des Platonischen Dialogs führt der Hauptunterred-ner Bruno (Giordano Bruno, der auch von Jacobi in Anspruch genomme-ne Rennaissance-Platoniker im pantheistischen Geist) siegreich die SacheSchellings. Einer der Mitunterredner, Lukian (der die alten Mythen paro-dierende, moralisch um Wahrheit bemühte Schau- und Prunkredner, zwi-schen 120 bis 180 n.Chr.), repräsentiert unterliegend die Sache Fichtes. Indiesem Gespräch erfährt die Grundlagendiskussion eine Platonische Wen-de. Das gegensatzlose Eine, aus dessen Indifferenz alle Gegensätze hervor-gehen, ist der angeschaute Begriff oder die Idee aller Ideen. Was mythisch-theogonisch der ›heilige Abgrund‹ (Chaos) war, aus dem alles hervorgehtund in den alles zurückkehrt, kommt philosophisch als Anfangsgrund derabsoluten Idee, der Idee von Wahrheit und Schönheit, ins Offene.

So rückt die höchste Potenz in der ideellen Reihe des linear-waagerech-ten, polaren Identitätssystems platonisch an die höchste Spitze eioner verti-kalen Seinsordnung. Und in dieser Perspektive bildet sich ein Ideenkosmosaus, da das Unendliche und das Endliche, das Einzelne und das Ganze imStande einer ewigen, von Zeitfolge und Kausalnexus losgelösten ab-solvier-ten Endlichkeit eins sind. So kommt im Bruno Platos Lehre von der Ver-flechtung (symploke) der Ideen in Analogie zur Einheit des Organischenzum Ausdruck, da die einzelne, endliche Idee als Glied des Ganzen vomGanzen her verlebendigt ist.

Nicht von ungefähr wird in diesem platonisierenden Dialog die Demiur-gie des Timaios zum Vorbild einer Weltkonstruktion und Weltentstehungs-lehre, da ein göttlicher Demiurg die ›Materie‹ unter dem leitenden Vorblickder Ideen aufs Beste und Schönste neidlos, Götterneid und Polytheismusenthoben, zum göttlichen Kunstwerk durchgestaltet. Zudem hat die im Bru-no durchgesprochene Kosmoskonstruktion Platos Theorie der Weltseeleebenso integriert wie die Mathematisierung der Kosmogonie durch den Py-thagoräer Plato (mithilfe der Keplerschen Gesetze). Überdies werden dieGestirne als sichtbar gewordene Götter angesehen und die so entstandeneKörperwelt überhaupt als sichtbar gewordene Ideenwelt gedeutet. Damit

2. Abschnitt: Platonisch-theogonische Vertiefungen 63

tritt in Schellings Bruno-Gespräch die Naturphilosophie, wie sie in ihrer re-ellen Potenzenreihe als eine spezielle Vernunftwissenschaft durchkonstru-iert war, hinter eine Platonische, dem Timaios abgesehene Weltkonstruktionzurück.11

Das alles scheint eine hyperbolische, die Schranken des Bewußtseinsweit überfliegende Schwärmerei zu sein. Schellings früher Timaios-Kom-mentar hat dagegen den gegen die hypostasierten Ideen des »erhabenenPlato« gerichteten Begriff der Schwärmerei dazu verwendet, Plato vor die-sem Vorwurf in Schutz zu nehmen. Bei Plato habe es hypostasierte Ideensubstantieller Urbilder einzelner Gegenstände gar nicht gegeben.Lukian/Fichte aber wiederholt dieses Bedenken. »Allein wie du zu demBewußtseyn zurückkehrtest, nachdem du es soweit überflogen, verlangtmich zu sehen.« Und Lukian fährt fort: Besinnt sich die Philosophie dar-auf, daß wir uns doch der absoluten Einheit als solcher bewußt gewordensind, dann hört jene Einheit auf, »Princip des Wissens zu seyn, und ebendadurch auch, wie mir scheint, Princip der Philosophie, welche die Wis-senschaft des Wissens ist« (W III 148 = SW IV 252).

Die Entgegenung Brunos/Schellings läuft darauf hinaus: Fichtes absolu-tes Wissen sei ein untergeordnetes Prinzip von bloß relativer Absolutheit.Dieses absolute Wissen sei nicht das Absolute. In Wahrheit aber drücke dasWissensprinzip dieselbe Einheit aus, die das Absolute ist. Es komme ebendarauf an, diese Einheit in intellektueller Anschauung zu ersehen und dassterbliche Auge von der Relation auf das Bewußtsein freizuhalten. Das renntnun bei Lukian offene Türen ein. »Hierüber möchten wir uns nun wohl ver-stehen, o Freund, denn auch wir haben die Philosophie an das Bewußtseynzurückgewiesen nur der Einsicht wegen, daß jene Gegensätze des Wissensund Seyns oder wie wir sie sonst ausdrücken wollen, außerhalb des Bewußt-seins keine Wahrheit haben« (W III 153 = SW IV 257). Trotz dieses Verstän-digungsangebots fordert der Noch-Freund Lukian/Fichte von Schellings

11 Daß und wie Schelling schon früh mit Platos Kosmogonie vertraut wurde, dokumen-tiert der Timaios-Kommentar des 18jährigen, gegen Orthodoxie und Despotismusaufgebrachten Studenten Schelling im theologischen Klima des Tübinger Stifts: diegewaltsame Interpretation des Timaios und der Platonischen Weltauslegung über-haupt aus dem Standpunkte der Reinholdschen Philosophie, die nach dem ÜbergangSchellings vom Vorläufer Reinhold zum Vollender Fichte obsolet geworden ist, vgl.F. W. J. Schelling: Timäus (1794), 1994. – Dazu M. Baum, Die Anfänge der Schelling-schen Naturphilosophie, 2000.

64 Teil I: Schelling

pantheistischem Platonismus Aufklärung des mysterium magnum, wie dieKluft (chorismos) zwischen Ideenwelt und Sinnenwelt, zwischen dem ange-schauten Ewigen und dem zeit-kausal gebundenen Bewußtsein aus demAll-Einen entstehe. »Allein, o Freund, daß jene Trennung in Ansehung derhöchsten Idee ohne Wahrheit sey, darüber sind wir zwar einig, allein ebenwie jenes Heraustreten aus dem Ewigen, mit dem das Bewußtseyn ver-knüpft ist, selbst nicht nur als möglich, sondern als nothwendig eingesehenwerden könne, dieses hast du noch keineswegs dargethan, sondern völligunberührt gelassen«, und dem wird von Bruno zugestimmt: »Mit Recht for-derst du, daß ich hiervon rede« (W III 153 = SW IV 257).

Solche Anfrage läßt sich im Rahmen dieses Platonischen Pantheismusplatonisch formulieren. Wodurch fallen der eine Ideenkosmos und dieraum-zeitliche Sinnenwelt auseinander? Wie kommt die Seele aus ihremGewahren der ewigen Ideen zum sinnlichen Wahrnehmen der endlich-ver-gänglichen Erscheinungen herab? Hier wird im Bruno-Gespräch auch einPlatonischer Bescheid eingeflochten. Er wird als Kundgebung geheimsterMysterien ausgegeben und ist Platos Beweis für die Präexistenz der Seele(im Anamnesis-Beweis des Phaidon) entnommen. Sonach ist die Seele imUnterschied zum Körper unwandelbar, unteilbar, eingestaltig und darumden Göttlichen, den ›Unsterblichen‹ am ähnlichsten. Der Körper dagegen istvielgestaltig, teilbar, immerfort veränderlich. Nun nimmt die Seele die Dingeleibhaft als Abbilder wahr, die sich an wiedererinnerte Urbilder angleichen.Folglich muß der Seele Präexistenz zukommen, da sie eine unmittelbare An-schauung der Ideen und Urbilder zwar besessen, aber durch ihre Verleibli-chung in der Wiedergeburt verloren haben. Nach Bruno/Schelling ist derPlatonische Anfang des Idealismus eingetaucht in die Weisheit der Mysteri-en, da die Kunde der Mysterien in der Sophia der Philosophie auftaucht.»Die Lehre der Mysterien ist nichts anderes als die erhabenste, heiligste undvortrefflichste, aus dem äußersten Alterthum überlieferte Philosophie«(W III 130 = SW IV 234).

Lukians/Fichtes Frage nach der Absonderung und Trennung der zeit-räumlichen, kausalbedingten vergänglichen Dinge als Frage nach dem Ur-sprung des wirklichen, endlichen Bewußtseins aus der Allvernunft ist abernicht schon durch die geheiligte Antwort der Mysterien und die Konse-quenzen der Platonischen Anamnesis-Lehre beantwortet. Sie ist im Hori-zont eines Pantheismus auf dem Boden der Indifferenz zu lösen. Denn dasaufgeregte Problem, wie und wodurch das Bewußtsein der Endlichkeit ausdem Ewigen hervortritt, bildet nur einen Sonderfall der Frage nach der Ab-

2. Abschnitt: Platonisch-theogonische Vertiefungen 65

kunft des Endlichen überhaupt aus dem Unendlichen. Nun sind in derhöchsten Einheit das absolut Unendliche und Endliche der Sache nach voll-kommen eins. Insofern ist im Ewigen das Endliche nicht als endlich seiendin relativer Verschiedenheit zum Unendlichen enthalten. Das Endliche istreell der Seinsvollkommenheit nach im Reiche des Ewigen dem Unendli-chen völlig gleich. Gleichwohl hört das Endliche ideell dem Begriffe nachnicht auf, endlich zu sein. Und so ist doch, wenn auch ungetrennt von derIndifferenz, eine Differenz enthalten. Und das ist nun nicht mehr ein quan-titativer Größenunterschied als Übergewicht des je Idealen und Realen, son-dern eine Differenz des Reellen und Ideellen im Ideenkosmos, die jedesEndliche betrifft. Diese Differenz ist in der absoluten Einheit »so enthalten,daß für sich selbst jedes aus ihr sich ein eigenes Leben nehmen, und, ideellzwar, in ein unterschiedenes Daseyn übergehen kann« (W III 154 = SW IV258). Also hat die Idee des Endlichen, wenngleich reell vom absolut Unendli-chen ununterschieden, die Wesensmächtigkeit der relativen Differenz desIdealen und Realen, und als organischer Teil des lebendigen Ganzen besitztsie die Lebensmacht, »erstens sich selbst und seine Zeit, hiernach auch dieWirklichkeit aller Dinge« zu setzen (W III 155 = SW IV 259). So klärt Schel-lings Darstellung eines Platonischen Pantheismus als vollendete Vernunft-wissenschaft das große Geheimnis auf, wie das Endliche aus der Einheit desgöttlichen Lebens heraustritt und wie sich das Bewußtseinsleben vom Le-ben des Absoluten wirklich absondern kann. So also erweitert sich der Voll-endungsanspruch des Identitätssystems zur Aussicht, philosophischeMenschheitsfragen gelöst zu haben, die seit Plato den denkenden Menschenin Unruhe versetzen.

3. Kapitel: »Transzendentale Theogonie«. Geschichtliche und systematische Erörterung

Die Selbsterzeugung und Selbstrepräsentation des göttlichen Uranfangs istin Philosophie und Religion mit der Aufgabenstellung verbunden, die »Ab-kunft der endlichen Dinge aus dem Absoluten und ihr Verhältniß zu ihm«zu erhellen (W IV 18 = SW VI 28). Die Eigenart dieser Erörterung und Orts-anweisung spricht sich in der Spezifizierung der zuständigen Wissensartaus. »Dieses ist die wahre transscendentale Theogonie« (W IV 25 = SW VI35). Eine problemoffene Gegenüberstellung von Schellings Identitätssystemund Fichtes Jenaer Grundlage kann durch eine Interpretation dieser Formeldie zweideutige Einordnung und Verwandlung des Prinzips von Tathand-

66 Teil I: Schelling

lung und Freiheit in Schellings absoluter Vernunftwissenschaft, dessen An-fangsgrund sich theogonisch entfaltet, sichtbar machen.

Diese Themenstellung erregt zwei Vorfragen. Worin besteht das Vorver-ständnis von Theogonie? Worin liegt, vorläufig gesagt, die Eigenart einertranszendentalen Theogonie? Nun unterscheidet sich die auf dem umgestal-teten Grund und Boden des Identitätssystems bedachte Theogonie von dermythisch poetischen Theogonie der Alten Welt ausdrücklich dadurch, daßsie das, was jene sinnlich in Bildern von der Zeugung ausdrückte, philoso-phisch im Urbild und Gegenbild der Idee offenbar macht. Die Vorstellungder göttlichen Zeugung beherrscht in der Tat mythische Theogonien. Dasbezeugt deren einziges vollständig erhaltenes Werk, die Theogonie Hesiods.Da verkündet der von den Musen in das, was einst war, eingeweihte Dichtervom Urgrund des Chaos und vom Gott der Zeugung, Eros, von der heiligenHochzeit von Gaia und Uranos, von der Erzeugung und Fortpflanzung desGöttergeschlechts und vom grausigen Sukzessionsmythos in der AbfolgeUranos – Kronos – Zeus, da am Ende Zeus, der Vater der Götter und Men-schen, die Herrschaft über Himmel und Erde gewann. Von der unendlichenGebärung der Geburt des Ewigen Wesens spricht übrigens auch Jacob Böh-me, auf den Schelling durch den befreundetem Theosophen und Arzt FranzBaader hingewiesen wurde. Aber in Philosophie und Religion wird der Pro-zeß der Selbstgegenwärtigung Gottes nicht in Bildern der Zeugung und Ge-bärung versinnbildlicht, sondern – in Auseinandersetzung mit platonisti-scher Kosmogonie – vom schlechthin Idealen aus folgerichtig zur Vollen-dung gebracht. Darin werden sowohl die demiurgische Kosmogonie des Ti-maios wie die emanative Theogonie der neuplatonischen Schulen einerÜberprüfung unterzogen, wobei am Ende die Endabsicht der Geschichte,die vollendete Offenbarung Gottes, aber auch Platos Glaube an die Neidlo-sigkeit der Götter spekulativ klar werden (vgl. W IV 53 = SW VI 63). Diespezifische Differenz der Schellingschen Theogonie besteht in seiner Theo-rie des Abfalls von Gott, dessen Verwirklichung der Selbständigkeit, Freiheitund Tathandlung der Ichheit geschuldet ist. Hier wird Fichtes Grundlegungdes absoluten Subjekts mit vernichtendem Lob und spekulativer Umdeu-tung der Schellingschen Theogonie ein- und untergeordnet. »Fichte sagt: dieIchheit ist nur ihre eigene That, ihr eigens Handeln, sie ist nichts abgesehenvon diesem Handeln, wird nur für sich selbst, nicht an sich selbst. Bestimm-ter konnte der Grund der ganzen Endlichkeit als ein nicht im Absoluten,sondern lediglich in ihr selbst liegender wohl nicht ausgedrückt werden«(W IV 33 = SW VI 43). Im Lichte dieser Vorklärung ist nun zunächst die ab-

2. Abschnitt: Platonisch-theogonische Vertiefungen 67

solut idealistische Theogonie auszufalten, um sodann die Wende zur Fichte-schen Tathandlung und deren Umwertung zu erörtern.

Schellings Theogonie hat zum Ur- und Anfangsgrund den Gott derPhilosophen in der Absolutheit eines schlechthin Idealen. Dessen Selbster-zeugung geschieht durch Umwandlung der reinen Idealität in Realität.Solche Umwandlung ist der ewige Prozeß einer stillen Folge, in welcherdas Absolute sich im Gegenbild des Ideenkosmos in Form einer Selbster-kenntnis repräsentiert. »Das selbstständige sich-selbst-Erkennen desschlechthin Idealen ist eine ewige Umwandlung der reinen Idealität in Re-alität: in diesem und keinem andern Sinne werden wir nun in der Folgevon jener Selbstrepräsentation des Absoluten handeln« (W IV 24 = SW VI34). Die so angelegte Theogonie als Selbstoffenbarung des Gottes läßt sichdurch Analyse ihrer Hauptmomente durchsichtig machen.

Der Urgrund Gottes ist dabei präsent als das schlechthin Ideale. Das istdas Absolute der verabsolutierten intellektuellen Anschauung, anders for-muliert: das Absolute, dem sein Sein allein durch seinen Begriff zukommt.Das verändert offenkundig die Grundstellung des Absoluten als unvermit-telte Indifferenz des Idealen und Realen, wie sie noch die Einleitung in Phi-losophie und Religion eingeführt hatte, und zwar nicht nur terminologisch.Nun ist zu bedenken: Der Anfang beim schlechthin Idealen ist Erbe desBruno-Dialogs, da die absolute Vernunftidee als »angeschauter Begriff« zurDarstellung kam; und diese Fassung des Gottes eröffnet die Aussicht, denewigen theogonischen Prozeß einer Realisierung des schlechthin Idealenevident zu machen. Das leistet die Ausfaltung der absoluten Einheit an ihrselbst, die freilich keine Vielheit als Nicht-Einheit impliziert, sondern eineMehrheit von Momenten in der zeitlosen Folge der Selbstoffenbarung Got-tes in sich hat.

So gehört zum theogonischen Prozeß außer dem Ausgang desschlechthin Idealen die ewige Form einer Selbstrepräsentation, die so vorsich geht, daß das schlechthin Ideale, ohne aus seiner Idealität herauszu-treten, auch als ein Reales sei. Dabei ist festzuhalten: das Absolute geht inder Form des Erkennens nicht aus sich heraus; es bleibt, weil es sich reprä-sentiert, bei sich. Die erfolgende Umwandlung des Idealen in das Reale isteben keine Tat hybrider Freiheit, die sich von Gott losreißt, sondern stilleund ruhige Folge. Natürlich ist bei diesem Folgeverhältnis von der Ansichteiner Abfolge als Nacheinander in der Zeit ebenso abzusehen wie von derAuseinanderfolge von Wirkung und Ursache. Das Erfolgen der formalenVermittlungskraft der Erkenntnisform ist auch kein entschlossenes Her-

68 Teil I: Schelling

ausgehen ins absolute Anderssein, sondern ein stilles Übergehen des abso-luten Anfangsgrundes in sein reales Gegenbild.

Das ins Reale umgewandelte Ideale und Gegen-Bildliche ist, platonischausgelegt, der Kosmos der Ideen. Als Gegenbild bleibt dieses Reich im Medi-um des Ewigen und ist der Zeit, der Vergänglichkeit und aller Nichtigkeitenthoben. Das Universum der Idee ist eben nicht eine abkünftige Wahrneh-mungswelt, sondern eine reine intellektuale Welt. Soweit sind die Struktur-momente des ewigen theogonischen Prozesses herausgegliedert und zurEvidenz gebracht: das schlechthin Ideale als unmittelbarer Anfang undGrund, die ewige Form der Selbst-Repräsentation als ein Vermittelndes unddas Gegenbild des ins Reale verwandelten Kosmos der Ideen. »Die Grund-wahrheit ist: daß kein Reales an sich, sondern nur ein durch Ideales be-stimmtes Reales, das Ideale also als schlechthin erstes sey. So gewiß es alsodas Erste ist, so gewiß ist die Form der Bestimmheit des Realen durch das Ide-ale das zweyte, so wie das Reale selbst das Dritte« (W IV 20 = SW VI 30).

Angesichts dieses Ergebnisses aber bleibt noch das Ausgangsproblemoffen, welches denn der Grund für die Abkunft der endlichen Dinge inunserer raum-zeitlichen Sinnenwelt ist, die wir doch objektiv erfahren.Wie ist das theogonisch zu ergründen, wenn doch das göttlich Ewige dasAbsolute ist, außer dem nichts wahrhaft seiend ist? Dieses Problem löstSchellings transzendentale Theogonie in Konkurrenz mit der emanativenund demiurgischen Theogonie platonistischer Einschulungen. Die in denSchulen des Neuplatonismus wirkungsgeschichtlich machtvoll entwickelteTheogonie ist am Ende eine gefährliche Mißdeutung. Sie konstruieren einSystem, da das Absolute, Gott oder das schlechthin einfache Eine (Hen),an Licht- und Einigungskraft überfließt und sich stetig vom Ur- undLichtquell entfernend abfließt, bis es in der ›Materie‹, dem Bezirk der ab-künftigen Dinge, einheits- und darum seinslos erlischt.

Das ist auch in den Augen Schellings eine bemerkenswerte Lösung. Ei-nerseits ist der Neuplatonismus als Systementfaltung des einfachhin Einenvom Licht des Idealismus erleuchtet, dergestalt, daß er die Materie und diematerielle Welt als ein nichtiges, als das schlechthin einheitslose, in Vielheitzerstiebende Nichts versteht und daß er ein reales Verhältnis des Materialenzum geistigen Lichte Gottes nicht zuläßt. Andererseits wird die neuplatoni-sche Urfrage »Woher das Böse?« drückend. Bleibt nämlich alles Seiende indie Ausflüsse des göttlichen Lichts einbehalten und ist das Böse in vielfacherWeise seiend, wird dann nicht Gott zum Urheber des Bösen? Gibt es ande-rerseits das Böse manichäisch als eigenmächtiges dunkles Prinzip im Wider-

2. Abschnitt: Platonisch-theogonische Vertiefungen 69

streit mit dem Guten, wie läßt sich dieser Dualismus mit dem theogoni-schen Prozeß der Einheit vereinbaren? Schellings Negation der neuplato-nisch-emanativen Theogonie hat einen positiven Ertrag. Wird die Abkunftder an sich nichtigen Dinge durch Emanation des Hen als kontinuierlichesÜberfließen in stetiger Verminderung von Sein und Licht grundlos und fürdas Problem des Bösen zur Sackgasse, dann ist die Herkunft der abkünfti-gen Dinge theogonisch anders zu bedenken: als Entfernung im Modus vonAbbruch und Sprung.

Der roheste Versuch solchen Abbruchs ist nun aus der Sicht einer trans-zendentalen Theogonie die Demiurgie des Timaios. Schelling kennzeichnetdiese theogonische Erzeugung der materiellen Welt verkürzend so. Sie seider roheste Versuch einer Kosmogonie, welche »der Gottheit eine Materie,einen regel- und ordnungslosen Stoff unterlegt, der durch die von ihr ausge-hende Wirkung mit den Urbildern der Dinge geschwängert, diese gebirt undeine gesetzmäßige Verfassung erhält« (W IV 26 = SW VI 36). Solche Dar-stellung im Blick auf das Wirken der Vernunftideen mit Metaphern derZeugung und Geburt erscheint nun als »Vermählung des platonischen In-tellektualismus mit den roheren kosmogonischen Begriffen« (W IV 26 =SW VI 36). Eine solche Mixtur »Plato, dem Haupt und Vater der wahrenPhilosophie« zuzuschreiben, heißt, seinen Namen entweihen. Schelling, dereben noch zur Zeit des Bruno-Dialogs die Herleitung des Kosmos als desdemiurgischen Kunstwerks der besten aller möglichen Welten gefeiert hatte,erklärt plötzlich den Timaios für unecht und für ein unplatonisches Mach-werk, nicht aus philologischen, sondern aus taktischen Gründen, um dieSicht auf eine neue transzendentale Theogonie freizumachen. »Insbesonde-re was die gewöhnliche Darstellung der Platonischen Lehre über diesenPunkt betrifft, welcher zufolge auch Plato jene von Gott unabhängige Mate-rie als wirklich voraussetzt, die erst durch den göttlichen Verstand zur Ord-nung und Harmonie des sichtbaren Universum gebracht worden, so ist un-begreiflich, wie sich diese Darstellung bis auf die neuesten Zeiten hat erhal-ten können« (W IV 102 = SW VII 192).

Die Abgrenzungen von der emanativen wie der demiurgischen Theo-gonie grenzen das Abkunftproblem in der Wahrnehmungswelt ihrer Wirk-lichkeit auf das Prinzip eines vollkommmenen Abbrechens durch einenSprung im Sinne unseres Abfalls von Gott ein. »Vom Absoluten zumWirklichen gibt es keinen stetigen Uebergang, der Ursprung der Sinnen-welt ist nur als ein vollkommenes Abbrechen von der Absolutheit, durcheinen Sprung, denkbar« (W IV 28 = SW VI 38). Also geschieht ein Prozeß

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der Entfernung nicht als stetige Vergrößerung der Distanz bzw. als quanti-tative Verminderung der Nähe, sondern als Bruch und qualitativer Sprung.Dieses totale Abbrechen wird, auf die Selbst-Repräsentation des Absolutenangewendet, als Abfall von Gott gedeutet. Nun ist die Geschichte vom Ab-fall als hybrider, titanischer Aufstand gegen die Götter altes mythisches Er-zählgut. Und christlich ist der Abfall von Gott als Sündenfall im Schöp-fungsbericht der Genesis wie in der Creatio-Metaphysik tief und tiefsinnigverwurzelt. Aber davon nimmt Schellings transzendentale Theogonie Ab-stand.

Der Terminus Abfall und Sündenfall hat zum Mißverständnis geführt,Schellings Einsetzung des Abfalls versuche, die Glaubenslehre vom Sünden-fall einschließlich der Erbsündenlehre im genauen christlichen Sinne in einVernunftsystem zu integrieren, obwohl Schelling offenkundig nicht auf demBoden der jüdisch-christlichen Schöpfungslehre steht und sich sogar dieGefahr abzeichnet, die christliche Lehre im Spannungsfeld von Pantheismusund Theismus zu verunstalten. Darum hat Schelling den Terminus Abfallals unbequem und überflüssig später für den wissenschaftlichen Vortrag fal-len lassen (vgl. den Brief Schellings an Windischmann vom 5. September1805).12

Aufgegeben wird im Grunde auch die Platonische Methexis-Lehre, wo-nach die endlichen Dinge der Sinnenwelt zur Ideenwelt im Verhältnis derTeilhabe stehen. Zugleich ist das Teilungs- und Disjunktionsprinzip desIdentitätssystems, die quantitative Differenz, überholt. Nicht stetige quan-titative Differenzierung, sondern Abbruch, Sprung und plötzlicher Abfallwerden als Grund für die Abkunft der endlichen Dinge in ihrer Nichtig-keit eingesetzt. Und diese Lösung versperrt auch den Weg einer spekulati-ven Theogonie, welche die Entstehung der raum-zeitlichen Natur als Her-ausgehen des Absoluten an sich durch einen freien Entschluß, ins absoluteAnderssein überzugehen, mißdeutet.

12 Zur Sache vgl. H. Wimmershoff: Die Lehre vom Sündenfall in der PhilosophieSchellings, Baaders und Friedrich Schlegels, 1934. – Dazu die Kontroverse L. vanBladel: Die Funktion der Abfallslehre in der Gesamtbewegung der SchellingschenPhilosophie, 1965 mit H. Fuhrmans: Schellings Philosophie der Weltalter, 1954.Während Fuhrmans die Abfallslehre eliminiert, um seine Interpretationslinie einesexplikativen Theismus durchzuhalten, hebt van Bladel die Schlüsselfunktion derAbfallstheorie sogar für die Gesamtentwicklung der Schellingschen Philosophieheraus.

2. Abschnitt: Platonisch-theogonische Vertiefungen 71

Die wahre spekulative Lösung des theogonischen Mysteriums, wie unse-re Welt gegenständlicher Dinge geboren wurde und wie deren Verhältniszum Absoluten sich darstellt, trägt zweierlei vor: die notwendige Bedingungfür die Möglichkeit und die notwendige Bedingung für die Wirklichkeit einesAbfalls vom Absoluten. Das ist die absolute bzw. endliche Freiheit. Dabeikommt die Möglichkeit einer autonomen, in sich selbst stehenden Freiheitinnerhalb der theogonischen Gegenbildung des Absoluten auf. »Das aus-schließende eigenthümliche der Absolutheit ist, daß sie ihrem Gegenbildmit dem Wesen von ihr selbst auch die Selbstständigkeit verleiht. Dieses in-sich-selbst-Sein, diese eigentliche und wahre Realität des ersten Angeschau-ten, ist Freiheit« (W IV 29 = SW VI 39). Dank dieser Freiheit kommt das Ab-solute zur Möglichkeit und Macht, sich als Gegenbild, als das andere Abso-lute in seiner Selbstheit zu ergreifen. Nun aber gehört solche Freiheit unab-trennlich zur Selbstobjektivierung des Absoluten und bleibt in diesem Ver-hältnis im Modus der Notwendigkeit. »Es ist absolut = frei nur in der abso-luten Nothwendigkeit« (W IV 30 = SW VI 40). Freiheit als Grund für dieWirklichkeit des Abfalls vom Absoluten kann sonach nicht von der Art sol-cher Wesensnotwendigkeit sein. Folglich ist eine Freiheitstat zu suchen, dienicht im Absoluten, sondern im Abgefallenen liegt und vom Absoluten ge-trennt ist. Mithin ist zu scheiden: »Der Grund der Möglichkeit des Abfallsliegt in der Freiheit und inwiefern diese durch die Einbildung des absolut-Idealen ins Reale gesetzt ist, allerdings in der Form, und dadurch im Absolu-ten; der Grund der Wirklichkeit aber einzig im Abgefallenen selbst« (W IV30 = SW VI 40).

Das sieht logisch wie ein fehlerhafter Zirkel aus. Der Abfall vom Absolu-ten setzt die Wirksamkeit einer nicht-absoluten, endlichen Freiheit voraus –die Tat endlicher Freiheit setzt ein Abgefallenes, mithin Trennung und Ab-fall voraus. Und das hört sich geschichtlich doch wie eine Wiederholung derschon verworfenen emanativen Theogonie des Ausfließens an: »Von jenerersten Selbstständigkeit des Gegenbildes fließt aus, was in der Erscheinungs-welt als Freiheit wieder auftritt« (W IV 29 = SW VI 39). Am Ende weistSchelling alle Erklärungen ab, indem er das Ereignis des Abfalls zu einemUnerklärlichen erklärt; denn es geschehe nicht in einem faßbaren Momentder Zeit, es sei ewig und außer der Zeit und darum bar jeder Erklärung ei-nes Vor und Nach, einer Folge von Ursache und Wirkung. »Der Abfall kannauch nicht (was man so nennt) erklärt werden, denn er ist absolut undkommt aus der Absolutheit« (W IV 32 = SW VI 42).

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Wohl auszudeuten aber sei der Abfall der Seele wie ihre Strafe für die-sen ›Sündenfall‹. Die dreifache Strafe bestehe darin, das Nichts der sinnli-chen Dinge produzieren zu müssen, ins Endliche verwickelt zu sein undein unmittelbares Verhältnis zum Absoluten zu unterbrechen. Ist das Realevon der Seinseinheit mit der Idealität getrennt, dann muß es nichthaft, alsNicht-Absolutes, als ein Bedingtes und als Sinnliches erscheinen. Die See-le, welche sich in diesem Nichtigen objektiviert, schaut sich selbst in einembloßen Scheinbilde an. Und die scheinhaften endlichen Dinge können,verwickelt in einen unendlichen Kausalnexus, nicht mehr unmittelbar aufdas Absolute zurückgeführt werden. Die Selbständigkeit und Freiheit derabgefallenen Seele produziert also durch und für sich selbst das Nichts ei-ner sinnlichen Welt.

An dieser Stelle nun ordnet Schelling Fichtes Prinzip der Tathandlungein. »Klarer hat wohl auf dieses Verhältniß von allen neueren Philosophenkeiner gedeutet als Fichte, wenn er das Princip des endlichen Bewußtseynsnicht in einer That-Sache, sondern in einer That-Handlung gesetzt will« (WIV 32 = SW VI 42). Dabei akzentuiert Schelling Fichtes Ichheit als bloß fürsich seiendes Wesen, das nichts anderes ist als ein Sich-Setzen, da Handlungund deren Produkt, die Tat, ein und dasselbe sind: das Ich=Ich ohne jedesVerhältnis zu Gott oder dem Absoluten. Solch reflexiver, von Gott losgeris-sener Freiheitsvollzug als Grund der ganzen nicht-ichhaften Endlichkeit ge-genständlicher Dinge drückt den transzendentalen Sündenfall unübertreff-lich aus. »Fichte sagt: die Ichheit ist ihre eigene That, ihr eigenes Handeln, sieist nichts abgesehen von diesem Handeln und nur für sich selbst, nicht ansich selbst. Bestimmter konnte der Grund der ganzen Endlichkeit als einnicht im Absoluten, sondern lediglich in ihr selbst liegender wohl nicht aus-gedrückt werden« (W IV 33 = SW VI 43).

Nun ist schwerlich zu übersehen, wie tiefgreifend sich Fichtes Freiheits-und Ich-Prinzip in diesem Kontext verwandelt. Die Jenaer Grundlage be-ginnt mit der schlechthin unbedingten Freiheit des absoluten Subjekts, daHandeln und das Ergebnis der Handlung, die Tat, ein und dasselbe sind,und endet mit dem freien Streben, alles Vernunftlose, das Nicht-Ichhafteund Unfreie der entgegengestellten Welt, der Vernunft anzugleichen. Wieeben die Französische Revolution die Idee der Freiheit im Gebiete des Po-litischen, so hat Fichte die Tat des Freiheit im Reiche des Geistes gestiftet.Nach Friedrich Schlegels berühmtem Wort seien die Französische Revolu-tion und Fichtes Wissenschaftslehre die großen Tendenzen des Zeitalters.In den Augen Schellings aber ist solche Eigenmächtigkeit der Freiheit Ver-

2. Abschnitt: Platonisch-theogonische Vertiefungen 73

fall der göttlichen Freiheit als Sündenfall. So kennzeichnet er die ›Tat-handlung‹ paradoxerweise als unbewußt eingesetztes Prinzip des Abfallsund Fichtes Freiheitsdoktrin als eine »Philosophie, welche das Princip desSündenfalls in der höchsten Allgemeinheit ausgesprochen, wenn auch un-bewußt, zu ihrem eigenen Princip gemacht« (W IV 33 = SW VI 43).

Scharf zugespitzt: Im Zuge der transzendentalen Theogonie wird dieTathandlung Fichtes als Prinzip des Abfalls zum Urakt der Unfreiheit.Durch ihre ichhafte Verwirklichung verendlicht sich die absolute Freiheitderart, daß deren Wesenseinheit von Notwendigkeit und Freiheit ausein-anderfällt und die Eigenmächtigkeit des abgefallenen Ich ihre möglicheGöttlichkeit abstößt, um sich unfrei an die Welt zu verlieren. Die Freiheitdes Ich erscheint so als Ausgang eines Freiheitsverfalls, in dem das Ich ver-leiblicht an das Endliche so gebunden wird, daß der leibhafte Mensch un-fähig wird, sich selbst aus der Unfreiheit zu lösen und seine göttliche Frei-heit und Wesensnotwendigkeit wiederzugewinnen.

Das aber schließt eine positive Sinngebung des Sündenfalls menschlicherFreiheit nicht aus. Theogonisch erklärt Schelling den Abfall zum Mittel, umdie Endabsicht der Geschichte zu verwirklichen und um zur vollendetenOffenbarung Gottes zu gelangen.13 So wird der Freiheitsverfall des Men-schen in seiner Leib- und Weltgebundenheit als ›Opfer‹ gerechtfertigt. Gottopfert sein Gegenbild, damit die Idee fähig werde, als unabhängig existie-rend wieder in der Absolutheit zu sein. »Die Vernunft und die Ichheit in ih-rer wahren Absolutheit, sind ein und dasselbe, und ist diese der Punkt deshöchsten für-sich-selbst-Seyns des Abgebildeten, so ist sie zugleich derPunkt, wo in der gefallenen Welt selbst wieder die urbildliche sich herstellt,jene überirdischen Mächte, die Ideen, versöhnt werden, in Wissenschaft,Kunst und sittlichem Thun der Menschen sich herablassen in die Zeitlich-keit. Die große Absicht des Universum und seiner Geschichte ist keine ande-

13 Darauf hat L. van Bladel seine Auslegung abgestellt: Schellings Theogonie des Ab-falls komme eine Schlüsselfunktion im Durchblick durch die Gesamtbewegung sei-nes Systemdenkens zu. Die ontologische Aufhebung der ursprünglichen Indiffe-renz im Bewußtwerden der raum-zeitlichen Welt sei notwendig, damit die Indiffe-renz als solche bewußt wiederhergestellt werden könne. Das gelte nicht nur für dieWende vom horizontalen Ideal-Realismus zum vertikalen Real-Idealismus der 2.Periode (1802-1821), sondern auch für die letzte Periode (1821-1854), da es durchden Abfall (Ekstasis) zum Bewußtsein der vollendeten Selbstverwirklichung dernegativen und positiven Vernunft kommt.

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re als die vollendete Versöhnung und seine Auflösung in die Absolutheit«(W IV 33 = SW VI 43). Damit ist Fichtes moralisch-praktische Freiheit alsPotenz in eine ideale Reihe des Identitätssystems eingerückt und die Selbst-macht der Freiheit als Umschlagspunkt gedeutet, da die gefallene Welt wie-der auf den Weg der Versöhnung gebracht und die göttliche Absicht derWeltgeschichte erfüllt werde.

Mit dieser Sinngebung des Abfalls schließt die so beziehungsreicheStreitschrift Philosophie und Religion gleichsam christlich theogonisch ab.»Indem Gott, kraft der ewigen Nothwendigkeit seiner Natur, dem Ange-schauten die Selbstheit verleiht, gibt er es selbst dahin in die Endlichkeit,und opfert es gleichsam, damit die Ideen, welche in ihm ohne selbstgegebe-nes Leben waren, ins Leben gerufen, eben dadurch aber fähig werden, alsunabhängig existierende wieder in der Absolutheit zu seyn« (W IV 53 = SWVI 63). Unübersehbar markiert Philosophie und Religion einen Wendepunkt,da das Identitätssystem zurückgelassen wird und die Odyssee eines Den-kens in der Weite der Freiheitsschrift und Weltalterlehre beginnt.14

14 So A. Denker: Three Men standing over a Dead Dog, 2000 – drei große Systemden-ker, die auf dreifache Weise den Geist Spinozas wiedererweckten, von dem man zuvor›wie von einem toten Hunde‹ redete. – Strittig ist, ob sich Philosophie und Religionzum großen Entwurf der Freiheitsschrift von 1809 öffne oder sich ihm verweigere.Einerseits ist deutlich: Die Kritik der Emanationslehre, die Frage nach der Herkunftdes Bösen, das Verhältnis der absoluten und menschlichen Freiheit sind in der Frei-heitsschrift aufgenommen. Andererseits sind die Auffassung der menschlichen Frei-heit als Vermögen des Guten und Bösen, die Konzeption einer Grund-Existenzonto-logie, der oberste Grundsatz »Urseyn ist Wille« in der Spannung von Eigen- und Uni-versalwille noch nicht im Blick. Daher hat R. F. Brown die Frage: Is much ofSchelling’s Freiheitsschrift already present in his Philosophie and Religion?, 1996 ne-gativ beantwortet und beide Schriften grundsätzlich getrennt, übrigens auch darum,weil die Freiheitsschrift eine Auseinandersetzung mit Spinoza und Leibniz, Philoso-phie und Religion die Auseinandersetzung mit Plato und dem Neuplatonismus the-matisch verfolgt.

3. Abschnitt: Einsprüche: Das Identitätssystem und seine Weiterungen. 75

3. Abschnitt: Einsprüche: Das Identitätssystem und seine Weiterungen. Überprüfung der Schellingkritik Fichtes 1804 – 1806

1. Kapitel: Erinnerung an eine schriftstellerische Zurechtweisung

Unter den von I. H. Fichte 1835 herausgegebenen Nachgelassenen WerkenFichtes findet sich eine ins Jahr 1806 datierte Abhandlung, die als Einleitungeiner geplanten philosophischen Zeitschrift abgefaßt war und durch dieKriegswirren nicht zur Veröffentlichung kam. Sie ist unter dem nicht rechtpassenden Titel Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre und die bis-herigen Schicksale derselben bekannt geworden. Für Fichtes Gegenstellunggegen Schelling in diesem Zeitraum ist das 2. Kapitel des 2. Abschnitts mitdem herausfordernden Titel von Interesse: »Ein Beispiel insbesondere vonden philosophischen Beurtheilungs-Vermögen des Zeitalters« (GA II/10,43-45). Hier wird jener Mangel an Beurteilungskraft beklagt, welcher dasIrrlicht der grassierenden Antiphilosophie nicht durchschaut und so »einemder verworrensten Köpfe« in die Verwirrung unserer Tage folgen: FriedrichWilhelm Joseph Schelling. Solche Verwirrung in Sachen der Philosophieentstand nicht zuletzt durch eine dreifache Verdunklung der Wissenschafts-lehre. Sie sei das Gespenst eines Subjektivismus, das Schellings objektiverIdealismus vorgibt, vertrieben zu haben; dieser Subjektivismus könne durcheine Annäherung an Methode und Substanz des Spinozismus überwundenwerden; der transzendentale Gedanke sei so zu integrieren, daß die wahrePlatonische und neuplatonische Ideenlehre spekulativ vollendet würden.Dadurch würden jene, welche doch durch Kants Vernunftkritik und dieWissenschaftslehre aus ihrem dogmatischen Schlummer geweckt wordenwaren, zu Spinoza und Plato »zurückgescheucht«, in ihrem Urteilsvermögendurch die Autorität, die dialektischen Künste, das schriftstellerische Talentund den sophistischen Witz eines Mannes verwirrt, der absolut dessen un-kundig sei, was wahre und besonnene Spekulation wirklich vermag undnicht vermag.

Im Grunde ist es eben der Streit um die Vollendung der Philosophie alsVernunftsystem, der Fichte zu dieser ingrimmigen Schellingkritik bewegt.Das belegt der Brief an K. F. Beyme, Geheimer Kabinettsrat in Berlin, vom10. Mai 1806, Fichtes Berufung an die damals Preußische Universität Erlan-gen betreffend: »Den nachgesuchten Urlaub für dieses Semester habe ich er-halten und gedenke diese Zeit zu einer schriftstellerischen ZurechtweisungSchellings in seinem Vorgeben, daß er mein System übertroffen habe, wel-

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cher für meinen Auftritt in Erlangen von Folgen seyn muß, zu gebrauchen«(GA III/5, 357). Dabei rückt eine Schrift ins Zentrum der Zurechtweisung,die Fichte tatsächlich in der Erlanger Wissenschaftslehre 1805 in der Hinter-hand hielt und 1806 in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung stellte,Schellings Eschenmayer-Replik Philosophie und Religion von 1804. Mithinstehen Schellings Darlegung des wahren Verhältnisses der Naturphilosophiezu der verbesserten Fichteschen Lehre vom Herbst 1806 und Fichtes Ausar-beitungen Zur Darstellung von Schellings Identitätssystem von 1801 nichtmehr im Brennpunkt der Fichte-Schelling-Krise von 1804 – 1806.

Im Grunde hält Fichte dafür, daß sich das sogenannte Identitätssystemvon 1801 eigentlich von selbst als künstlicher und täuschender Schein ent-hüllen sollte, der zu haltlosen Irrtümern über Grundlegung und Ausfaltungeines philosophischen Vernunftsystems verleitet. Gleichwohl faßt Fichte sei-ne eigentliche Analyse zu dieser Schelling-Schrift (vgl. GA II/5, 487-508) zueiner schlagenden Kritik »im Vorbeigehen« zusammen.15

Zuerst wird mit vier Schlägen die Grundlage des Identitätssystems zer-trümmert, die Erklärung von § 1: »Ich nenne Vernunft die absolute Vernunftoder die Vernunft, in sofern sie als totale Indifferenz des Subjektiven undObjektiven gedacht wird.« Vor allem und zuerst bleibt offen, wie derleigrundsätzliche Behauptungen genetisch hergeleitet sind; denn SchellingsSpekulieren verschließt sich einer absoluten Reflexion, d.i. dem Sich-Besin-nen auf sich im Gedanken des Absoluten. Diese transzendentale Blindheitist das Hauptgebrechen, an welchem Schellings bodenlose Grundlegungkrankt. Sodann sollte mit Händen zu greifen sein, daß einer absoluten Ver-nunft nicht nur die Indifferenz, sondern in eins die Differenz des Subjekti-ven und Objektiven zuzuschreiben ist. Damit kreidet Fichte dieselbe Einsei-tigkeit an, die auch Hegel vermerkt und aufgehoben hat, ohne daß dieserseinerseits freilich zur transzendentalen Besonnenheit zurückgefunden hät-

15 Einschlägig ist die Stellungnahme von J. Hennigfeld: Schellings Identitätssystemvon 1801 und Fichtes Wissenschaftslehre, 1997. Schellings Systementwurf lasse sichauf Anknüpfungspunkte an Fichtes Grundlage von 1794 – vorzüglich auf denGrundsatz Ich=Ich, da das Ich mit sich selbst gleichgesetzt ist – zurückführen; sotrete die Abgrenzung umso schärfer heraus, und die Ansicht eines kontinuierlichenÜbergangs von der W.L. zu Schellings absolutem Idealismus erweise sich als Bruch;das bezeuge die Grundsatz-Kritik von Fichtes »Bericht«, die im Einspruch kulmi-niere, Schelling verdecke die Differenz zwischen dem Absoluten und dem absolu-ten Wissen.

3. Abschnitt: Einsprüche: Das Identitätssystem und seine Weiterungen. 77

te. Ob Fichte hier auf die Differenzschrift anspielt, ist fraglich; thematisierthat er den möglichen Seitenblick auf Hegel jedenfalls nicht. Zudem: ist dieabsolute Vernunft schlechthin Indifferenz, dann ist sie tot und ohne Organ,sich lebendig aus sich in differente Bestimmungen zu entwickeln. Nun be-stimmt das Identitätssystem aber das Absolute in den Folgesätzen weiterdurch, indem es ihm Prädikate wie Nichts, Einheit, Sichselbstgleichheit zu-spricht. Das ist die vierte Verirrung: Diese Seinsbestimmungen sind willkür-lich und auf gut Glück in das Absolute hineindemonstriert. Dieser geballteEinspruch bringt zwei Corrigenda auf. Was eine haltbare Vernunftwissen-schaft zu meiden hat, ist eine blinde Nichtbesinnung auf sich im Denkendes Absoluten sowie das Hineindemonstrieren von Wissensprädikaten indas absolute Sein.

Resultat solcher Nichtbesinnung ist auch der 2. oberste Grundsatz desIdentitätssystems: »§ 2 Ausser der Vernunft ist nichts und in ihr ist Alles.«Diese logisch erschlichene Grundlegung einer All-Einheit übersieht, daßetwas außer dem Absoluten ist, aus dem Alles, die unendliche Vielheit desEndlichen, folgt, nämlich das absolute Wissen. Richtiggestellt ergibt dieserAusschluß des Nichts aus der Absolutheit der Vernunft nicht die Verkün-dung einer pantheistischen, sondern die Vollendung einer negativenTheologie: »In der Vernunft, und für die Vernunft ist schlechthin nichts«(GA II/10, 48). Vom Absoluten ist allein zu sagen: Es ist – nichts weiterund kein einziges Wort mehr.

Diese Korrektur erstreckt sich auch auf den Ansatz von § 3: »Die Ver-nunft ist schlechthin eine und schlechthin sich selbst gleich.« Abgesehendavon, daß Schelling zum Beweis den Satz vom Grunde einschmuggelt, istsolche Eintragung von Seinsprädikaten ins Absolute eben unstatthaft undsollte im Sinne einer negativen Theologie korrigiert werden. »Die Ver-nunft ist weder eines, noch sich selbst gleich« (GA II/10, 49).

Endgültig entkräftet wird der oberste Grundsatz der Indifferenz durchdie Hauptthese der Systementfaltung, das Absolute entfalte sich polar durchdie Kräfte der quantitativen Differenz als Übergewicht an Objektivität bzw.Subjektivität. Den Widerspruch beider leeren Hypothesen spricht FichtesSchlußbemerkung im Vorübergehen aus: »Ist die Vernunft die absolute In-differenz des Subjektiven und Objektiven, und giebt es gar kein anderesSeyn außer das der Vernunft, so kann in keinem Seyn diese Indifferenz auf-gehoben werden, und eine quantitative Differenz an ihre Stelle treten« (GAII/10, 50). So schlagend nun diese korrigierende Kritik auch immer noch ist,im Urteil Fichtes sind die Sünden dieser Darstellung des Identitätssystems

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von 1801 verjährt. Darum konzentriert sich die erneute Auseinandersetzungmit dem Urheber philosophischer Verwirrung um das Jahr 1804 auf jeneAbhandlung, »die den Anschein des Denkens wirklich an sich nimmt, undüber die dermalen höchsten Principien dieses Philosophen Auskunft zu ge-ben verspricht« (GA II/10, 51), nämlich auf die 1804 bei Cotta in Tübingenerschienene Schrift Philosophie und Religion.

2. Kapitel: Nachrechnung von Schellings zehnfacher Blindheit ausNichtbesinnung in Fichtes Analyse von Philosophie und Religion

Im 2. Abschnitt des Berichts über den Begriff der Wissenschaftslehre und diebisherigen Schicksale derselben findet sich zum Abschluß eine Auseinander-setzung mit der Schrift Schellings, welche Fichte so charakterisiert hat: »diebeste, d.h. die noch am wenigsten stümperhafte unter den zahlreichen Pro-dukten seiner Feder [...], Religion und Philosophie betitelt« (GA II/10, 51).Für die Nachrechnung der Fichteschen Einsprüche gegen diesen stümper-haften spekulativen Versuch, die Einheit des absoluten Seins mit der Wirk-lichkeit darzustellen, ist die am Ende herausgestellte Grundmaxime Schel-lings leitend: »Er haßet und fliehet die Besonnenheit, in welcher allein dasHeilmittel von Irrthümern liegt, mit gutem Bedachte, und hält sie für leereKlarheit; und macht die Unbesonnenheit zur ausdrücklichen GrundMaxi-me alles Realismus, erwartend von einer blinden Natur die Heilung« (GAII/10, 65). Der Unterton dieses Generalangriffs ist ironisch. Er parodiertSchellings Invektive, Fichte hasse und fliehe die Natur aus unheilbarer Na-turblindheit, »da alle Heilkraft nur in der Natur ist« (vgl. Schellings Rezensi-on von Fichtes Über das Wesen des Gelehrten vom 27. Juni 1806). Im Ernstmarkiert diese Anti-Formel Fichtes den Grundmangel der SchellingschenSpekulation. Sie folge der Maxime einer Nicht-Besinnung, welche sich imDenken und Begreifen des Absoluten nicht auf dessen Gedacht- und Begrif-fensein im absoluten Wissen außer dem Absoluten besinnt und darum ebenGrundbestimmungen, die dem Wissen und dessen Ichform geschuldet sind,dem Absoluten zusprechen. So ist das Heilmittel gegen die großen Irrtümerim Bedenken des Absoluten aus Blindheit übersehen worden.16 Mithilfe die-

16 Die Untersuchung von R. Lauth: Kann Schellings Philosophie von 1804 als Systembestehen? – Fichtes Kritik, 1994 insistiert nicht nur auf Unstimmigkeiten von Philoso-phie und Religion mit den Voraussetzungen der »Darstellung«, sie hebt auch die Kri-

3. Abschnitt: Einsprüche: Das Identitätssystem und seine Weiterungen. 79

ser kritischen Sonde einer mangelhaften transzendentalen Besonnenheitnun konzentriert sich Fichtes Untersuchung auf denjenigen Abschnitt vonPhilosophie und Religion, der am ehesten kritische Beachtung verdient, näm-lich von der Ableitung der endlichen Dinge aus dem Absoluten und derDarstellung ihres Verhältnisses zum Absoluten. Solche Theogonie leide aneiner zehnfachen Blindheit.

Die erste Blindheit verleitet einen reinen Willlkürakt dazu, die Absolut-heit des obersten Einheitsgrundes als ein ›schlechthin Ideales‹ aufzustellen –unter Berufung auf die intellektuelle Anschauung als Selbstbeobachtung desabsoluten Wesens und mithilfe eines apagogischen ›Beweises‹. Der stütztsich auf den aus Spinozas Ethik entlehnten Satz: Dem Absoluten kann keinSein zukommen, als das durch seinen Begriff; sonst wäre es durch etwas an-deres außer ihm bestimmt, was unmöglich ist. Das ist blind und gedanken-los. Abgesehen davon, daß kein Grund dafür angegeben ist, warum einschlechthin Ideales überhaupt durch etwas bestimmt sein muß, ist dieseGrundlegung blind dagegen, daß so das schlechthin einfache Eine in eineformale und materiale Zweiheit zerrissen wäre: in die formale Zweiheit vonSchauen und Angeschautem (dem objektivierten Wesen) und in die materi-ale Zweiheit eines Bestimmenden und eines Bestimmten. Überdies und vorallem: In dieser Wurzel schon erwächst der Zweifel, ob der Anfangsgrundvon Philosophie und Religion mit der Grundlegung des Identitätssystemsüberhaupt noch kompatibel sei; denn ein schlechthin Ideales, das ausdrück-lich nicht real ist, ist schwerlich mit dem vormals unterstellten oberstenPrinzip einer unvermittelten Identität des Idealen und Realen vereinbar.

Die zweite Blindheit besteht darin: Der Blick verschließt sich davor,daß die Beschreibung der Form des Absoluten nicht in das Absolute selbsthineinführt. Das ist einschneidend. Fichtes Einspruch rekurriert auf denauch durch Spinoza aufgekommenen Begriff des Absoluten, »daß er seyvon sich, aus sich, durch sich« (GA II/10, 52): Einheit der Substantialität(des Bestehens in sich und durch sich) und Subjektivität (geistige Leben

senpunkte der Debatte heraus. Als Antwort der Frage ergibt sich: Schellings Systemkann nicht bestehen; sein Prinzip ist nicht evident, seine Ableitung ist nicht wahr.»Das Fazit von allem Gesagten ist, daß von einem System im strikten Sinne bei Schel-lings Position von 1804 nicht die Rede sein kann. [...] Da Schelling den transzenden-talen Standpunkt des logologischen Bildens (das Bilden des Bildes in seinen konstitu-tiven Akten) nicht erreicht, setzt er bei einem, wie Fichte es nennt, ›toten‹ Absolutenan und kann nun von diesem nicht ableiten« (295).

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von und aus sich). Und nun wendet Fichte ein: Begrifflich zu fassen istdieses Schema des Absoluten nur durch die Gegensatzrelation zum Nicht-Absoluten. Absolut heißt das, was von aller Relation abgetrennt und losge-löst ist, was mithin nicht von, aus und durch ein Anderes besteht und be-greifbar ist. Steht es so, dann führt diese Besinnung zu den Bewußtseinsre-lationen und Ichformierungen zurück, aber nicht in eine Offenbarung desgöttlichen Absoluten von sich und aus sich hinein.

Die dritte bis fünfte Blindheit führt zu drei Unterlassungssünden: näm-lich das Denken, welches die Unrichtigkeit der Fremdbestimmung denkt,nicht zu berücksichtigen; das willkürlich vorausgesetzte reale Bestimmt-sein des Absoluten durch einen Begriff nicht zu hinterfragen; und vor al-lem die Besinnung auf den Begriff des Begriffs vom Absoluten zu unter-laufen und daher den wahren Sitz und Mittelpunkt der Mannigfaltigkeitund ›Fünffachheit‹ der beiden Relata der Ich-Einheit zu verfehlen. Das istNichtbesinnung. »Daß ich mich ja nicht besinne, daß zulezt ich doch sel-ber es sey, der jenen Begriff von einem Begriffe des Absoluten von sichselbst, habe« (GA II/10, 54).

Eine sechste und siebte Blindheit wird für die Behauptung Schellingsdiagnostiziert, ewig gleich mit dem schlechthin Idealen sei die ewigeForm. Hier fehlt eine Reflexion auf zweierlei: wie, nach welchem geneti-schen Gesetz, uns dieser Gedanke einer ewigen Form entstehe und wie dasEwige überhaupt zu begreifen sei. Und im Rückblick auf das Identitätssys-tem wird die Frage drückend: Gesetzt, die ewige Form des Selbst-Erken-nens vermittelt wirklich das Ideale mit dem Realen, indem es das Idealeins Reale verwandelt, wie stimmt das mit dem Ansehen der vormals ver-kündeten unmittelbaren Identität des Idealen und Realen zusammen?

Einschneidender noch als solche Einforderungen einer widerspruchs-freien genetischen Evidenz ist die achte aufgedeckte Blindheit. Die vertieftdie Nichtbesinnung, indem diese übersieht, »daß die innere Grundformdes Begriffs des Absoluten von sich selbst die Ichform ist« (GA II/10, 55).Diese erste Form des Absoluten bleibt unbenutzt liegen, und darum wirdeine zweite ewige Form ohne den Schatten eines Beweises herbeigeredet,einzig deswegen, um den Zweck der Spekulation zu erfüllen, nämlich dieRealität aus dem Absoluten zu erklären. Nun aber ist doch der Begriff desRealen auch nur als Gegenbegriff des Idealen zu erfassen, mithin als Seinan sich, das außer dem Fürsichsein und so losgelöst von der Bewußtseins-relation und dessen Konstituierung der Erscheinungswelt besteht; »dasReale muss daher seyn ein Seyn, das keines andern Seyns fähig ist, also

3. Abschnitt: Einsprüche: Das Identitätssystem und seine Weiterungen. 81

nur des ausser dem Begriffe, die absolute Bewusstlosigkeit« (GA II/10, 57).Sonach wird die Einsetzung einer zweiten ewigen Form dafür gebraucht,um die mögliche Herleitung des realen Seins an sich aus dem Absolutenwirklich zu vollziehen, nicht nur, um den Ideenkosmos als Gegenbild desAbsoluten zu bilden.

Damit stürzt der Grundpfeiler des Schellingschen Systembaus ein. Deroberste Grundsatz drückt gar nicht die Wahrheit und Gewißheit einer ab-soluten Indifferenz des Idealen und Realen aus, das unzweifelhaft Gewisseenthüllt sich als an sich seiende Realität. Der Anfang und Grund des gan-zen Systemgebildes ist nicht die intellektuell angeschaute Absolutheit Got-tes, »der Ausgangspunkt deßelben ist daher der allerblindeste, und stock-gläubige Empirismus, und ein Absolutes wird lediglich der Welt zu Liebeangenommen« (GA II/10, 56).

Die neunte Blindheit zeigt sich darin, daß nicht bemerkt wird, wie dererste Fortgang in der Selbstoffenbarung des Absoluten genau genommensogleich wieder zurückgenommen wird. Der erste Schritt der Ableitungbringt es dahin zu erklären: Die ewige Form der Selbsterkenntnis sei einsmit dem schlechthin Idealen. Der darauf folgende Satz nimmt das zurück:Das schlechthin Ideale sei selbst außer aller Form, da das Absolute ja vonjeglicher Bestimmtheit absolviert sei. So aber verwirrt sich die Schelling-sche Rede vom Absoluten vollends. In Rede steht das schlechthin Ideale,das selbst außer aller Form ist, aber auch ein zweites Absolutes, da dasschlechthin Ideale untrennbar in der ewigen Form sei. Um dem Unsinnvon zwei Absoluta zu entgehen, werde eingeredet: Es sei doch das Absoluteselbst, das in der Form ist, ohne doch selbst in der ewigen Form zu sein:»Alles ein Selbst, das zugleich auch Nichtselbst, eine Identität, die zugleichauch Nichtidentität ist?« (GA II/10, 57).

Das ganze unvermerkte Dilemma, die zehnte Blindheit, steckt in derAbsurdität folgender Antithese: Entweder sei das Absolute ganz und unge-teilt in jedem Sich-Formieren oder nicht. Im ersten Falle gebe es nichts,das außer dieser ungeteilten All-Einheit wäre, auch nicht die Selbsttätig-keit und Freiheit des Menschen in seiner je eigenen Individualität – wasSchelling selbst verwirft. Im zweiten Falle aber zerteilte sich das Absolutein zwei halbe Absoluta, nämlich in ein Absolutes in der Form und ein an-deres außer der Form, was absurd ist. Schellings blindes Spekulieren istAntiphilosophie, die sich das Ansehen einer vollendeten Vernunftlehre zugeben weiß. »Ein so über alle Maaßen ungeschikter und stümperhafter So-phist, wie wir es ihm nachgewiesen haben, ist also der Mann, dem es ge-

82 Teil I: Schelling

lungen ist, die Philosophen dieses Zeitalters irre zu machen« (GA II/10,62).

3. Kapitel: Die logische Auflösung von Schellings Einfall vom Abfall des Absoluten

Schellings Systembau ist durch die Aufrechnung der vielfachen Blindheitaus dogmatischer Nichtbesinnung eingestürzt. Gleichwohl kann eine Be-trachtung, die bei transzendentaler Besonnenheit im Denken des Absolutenbleibt, einen Haltepunkt retten, der die Aufgabe wahrer Spekulation, die ob-jektive reale Welt herzuleiten, zu lösen verspricht. Fichte zitiert Philosophieund Religion: »Das Absolute würde in dem Realen nicht wahrhaft objectiv,theilte es ihm nicht die Macht mit, gleich ihm, seine Idealität in Realität um-zuwandeln und sie in besonderen Formen zu objectiviren« (GA II/10, 58).Auf dem Boden dieses indirekten Beweises zeichnet sich eine Möglichkeitab, die Systementwürfe Fichtes und Schellings doch noch zu koordinieren,freilich dadurch, daß Schellings transzendentale Theogonie zur unverfälsch-ten Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre zurückkehrt. Jedenfallssieht Fichte an dieser Stelle eine Gelegenheit, Schelling doch noch die Augenzu öffnen. Es müsse nur dreierlei genetisch evident gemacht werden: daßdas einzig Reale, in welchem das Absolute wahrhaft objektiv geworden sei,die Realität unseres absoluten Wissens als Dasein und Existenz des Absolu-ten ist, daß dem absoluten Wissen die Macht vermittelt ist, seine Idealitätund Ichform in die objektive Realität der Welt zu verwandeln und daß da-durch das Absolute in uns objektiv geworden sei. Die Aussicht auf diesetranszendentale Rückbesinnung in Schellings ansonsten blinder Spekulationstellt Fichte mit übertriebener Freundlichkeit hin. »Nun, da ist ja mit Einem-male alles gewonnen, und die Aufgabe der Speculation in unermesslicherKlarheit und Leichtigkeit, zu allgemeinem Vergnügen und Bequemlichkeit,gelöst!« (GA II/10, 58).

Indessen begräbt Fichte sogleich solche Hoffnung auf Versöhnung.Schelling habe jene glückliche Wendung verspielt, und zwar durch seinemerkwürdige und unerwartete Rede: Beim Übergang des Absoluten zumWirklichen gebe es keinen stetigen Übergang, sondern nur einen Abbre-chen des Absoluten durch einen Sprung. Anders gesagt: der Grund derendlichen Dinge liege nur in einer Entfernung, einem Abfall vom Absolu-ten. Bei dieser Wendung sollte durchsichtig sein: Einen stetigen Übergangder Idealität und Realität gebe es in der ewigen Form des Selbsterkennens;

3. Abschnitt: Einsprüche: Das Identitätssystem und seine Weiterungen. 83

er werde als stille und ruhige Folge (ohne rechten Beweis) unterstellt, umden Akt eines schlechthin unbedingten Sichsetzens abzuhalten. So werdendie Freiheit der Tathandlung dafür einsetzbar, den möglichen Abfall vomAbsoluten zur wirklichen Wirklichkeit zu verwirklichen, wobei Freiheiteben als Fall in leiblich-endliche Gebundenheit umgedeutet werde.

Fichte hat Schellings Lehre vom Abfall und Sündenfall nachdrücklichzurückgewiesen. Die Zurechtweisung beginnt damit, Schellings Berufungauf Plato und die griechischen Mysterien als Autoritätsbeweis im Namendes Selbstdenkens abzuweisen. Sie hat ihre Mitte darin, die Absurdität derAbfall-Hypothese nachzuweisen. Und sie endet damit, die Einheitsspeku-lation Schellings als Dualismus und die Erkenntnishaltung als primitivenEmpirismus zu demaskieren.

Im einschlägigen Abschnitt seines Berichts über Begriff und Schicksalder Wissenschaftslehre weist Fichte, logisch haltbare Beweise und genetischeEvidenzen fordernd, zuerst eine Berufung auf historische Traditionsbestän-de ab. Seine Lehre vom Abfall der Seele findet Schelling ja eben in der»wahrhaft Platonischen Lehre« der Dialoge Phaidon und Phaidros vorge-prägt und in griechischen Mysterien geweissagt. Für Fichte dagegen ist diesegeschichtlich-faktische Anknüpfung ein Argument ex autoritate ohne ge-dankliche Kraft und auf dem Sand ehrfurchtsgebietender Überlieferung ge-baut. »Nun, wenn Plato und die griechischen Mysterien das annahmen, sowerden wir andern wohl Respekt haben, und es uns gleichfals gefallen laßenmüßen; sollt es sich auch finden, daß in der ganzen Lehre durchaus keinSinn und Verstand sey« (GA II/10, 59).

Historisch nachgerechnet, hat der Schelling des Identitätssystems esdurchaus unternommen, den Idealismus in Platonischem und neuplatoni-schem Verstande zur Vollendung zu bringen. Bemerkenswerterweise hatauch Fichte, wenn auch viel vager, Plato an seine Vernunft- und Ideenlehrehistorisch nahegerückt. So vermerkt die erste Stunde des vierten Vortragesder Wissenschaftslehre in Erlangen am 18. Juni 1805: »Historisch: kein philo-sophisches System vor Kant hat deutlich das Wissen, als solches zum aus-schließenden Objekt seiner Betrachtung gemacht. Am nächsten war, so vielwir das beurtheilen können, Plato« (GA II/9, 181). Gleichzeitig aber hat Fich-te Plato zu den religiös Begeisterten in der Menschheitsgeschichte gezähltund unter die Repräsentanten der ›Höheren Moralität‹ vor und unterhalbder Vernunftwissenschaft eingereiht. So sei Plato unter den Griechen aufdem Wege, ohne indessen zur Klarheit über die wahren Prinzipien der Ide-enwissenschaft zu kommen. »Wir sind die eigentlichen Nachfolger der Al-

84 Teil I: Schelling

ten, nur daß wir klar einsehen, was für sie dunkel blieb« (GA I/9, 74).17 Undim Vortrag Das System der Sittenlehre 1812 macht Fichte die »HistorischeAnmerkung. – Meine Seynslehre. Als reine Theoria. – Bei Plato: die DingeAbspiegelungen der Ideen, der Gesichte. [...] Platoniker; – Ich glaube wohlmehr zu seyn« (GA II/13, 338).

Und ein Rückblick auf Plato und die griechischen Mysterien läßt eineTheorie des Abfalls im Dunkeln. Beim Wort genommen enthüllt sie sich alsein gedankenloses Gerede, verstrickt in die Unlogik eines Dilemmas. Dasbringt eine einfache Nachfrage heraus. »Denn was soll dann dasjenige seyn,das da abfällt vom Absoluten?« (GA II/10, 59). Es wären zwei Fälle und nurdiese möglich. Entweder ist es das Absolute selbst, das abfällt, oder das Ab-fallende ist nicht das Absolute selbst. Keines von beiden kann sein. Ist dasAbgefallene das Absolute selbst, dann müßte es sich selbst als solches ver-nichtet haben, was absurd ist. Ist das Abgefallene nicht das Absolute selbst,dann ist es ein anderes Absolutes; denn ihm käme die Seinsdignität zu, vonsich und durch sich zu sein. So aber wären zwei Absoluta anzunehmen, wasgleichfalls absurd ist. Fichte variiert dieses Argument auf eine kosmotheolo-gische Hypothese des Timaios, die Schelling inkonsequenterweise gutheißtund in seine Theogonie integriert: Der neidlos-gute demiurgische Gottformt aus der aufnahmebereiten ›Materie‹ die beste aller möglichen Welten.Fichte verkürzt diese Aufhebung des Götterneides in der Idee des Guten zurAussage, das Absolute habe das andere, den materialen Kosmos, gut ge-macht, und höhlt sie als Grundlage einer Abfalltheorie logisch aus. »Es gehtnicht, daß man sage: das Absolute habe jenes andere gemacht, und es gut ge-macht, und es sei nur nachher abgefallen« (GA II/10, 59); das münde wiede-rum in die Absurdität eines Dilemmas. Entweder ist das Vermögen abzufal-len vom Absoluten erteilt worden, oder das Abgefallene müßte eben vonsich und aus sich selbst abfallen. Beides ist, wie schon gezeigt, undenkbar,nämlich sowohl, daß das Absolute von sich selbst abfalle (»die erste Absur-dität«), als auch, daß dem gut Geschaffenen als einem anderen Absoluten

17 Eine kritische Auseinandersetzung Fichtes mit Platonischen Dialogen ist ausgeblie-ben. So ist die These von M. Wundt: Fichte-Forschungen, 1929, 357, vom Erschei-nungsjahr des ersten Bandes von Schleiermachers Plato-Übersetzung 1804 an wur-de Fichte in einem neuen Sinne Platoniker, überzogen. Fichte erinnert wohl an Pla-tos ahnungsvolle Gesichte, aber er weiß sich im vollen Besitze des transzendentalenGedankensystems dem überlegen. Zum Verhältnis Fichte-Plato vgl. Vf.: Von der Er-fahrung des Seins in Fichtes Vollendung des Platonischen Idealismus, 2001.

3. Abschnitt: Einsprüche: Das Identitätssystem und seine Weiterungen. 85

das Vonsichsein schlechthin zukomme (»die zweite Absurdität«; GA II/10,60).

Abgesehen von solchem Dilemma aber hebt die Erfindung eines Ab-brechens eine Spekulation auf, die eigentlich einen stetigen Übergang vomAbsoluten zum Wirklichen verheißt. Schelling erkläre doch, daß das Abso-lute dank seiner Macht, seine Idealität in Realität umzuwandeln, in stillerund ruhiger Folge objektiv und so zum Wirklichen werde. Auf einmal abernehme Schelling solche Erklärung zurück, indem er solchen Übergang fürein Unerklärbares erkläre. Damit aber werde doch alle Spekulation unter-höhlt und für unwahr erklärt. Zum Systemabschluß findet sich der Sys-temanfang durchstrichen.

Solcher Inkonsistenz im Systembau geht Fichte auf den Grund, indem erdie äquivoke Seinsbedeutung von Wirklichkeit entdeckt. Zuerst, in der steti-gen Herleitung des ›Wirklichen‹ aus dem schlechthin Idealen, geht es umdie Wirklichkeit der Idee. Für die anschließende Theorie des Abfalls dage-gen wird ein anderer Begriff von Wirklichkeit unterstellt; das zur Erschei-nung gebrachte Wirkliche sei »nicht das rechte Wirkliche, nicht das wirkli-che Wirkliche« (GA II/10, 60). Das rechte, wirkliche Wirkliche ist die mate-rielle, in sinnlichen Empfindungsgehalten sich bekundende, an sich beste-hende Realität der Außenwelt. Das leuchtet dem gesunden Menschenver-stand und einem »pöbelhaften Empirismus« ein. Logischerweise aber wäredie an sich bestehende Wirklichkeit als ein anderes Absolutes zu denken.»Und so ist bei diesem philosophischen Heros, wo es ernst wird nichts mehrzu finden, als der alte und wohlbekannte Spaß eines materialistischen Dua-lismus. Nicht Wissenschaftslehre, nicht Kant, sondern Du, Heiliger Leibnitz,bitte für ihn!« (GA II/10, 61). Am ehesten vermag, da solcher Unverstandden transzendentalen Gedanken doch nicht faßt, ein Leibniz als Nothelfereinzuspringen. Der hatte überzeugend die Ansicht von Dingen an sich auf-gehoben und die Prinzipien der Identität und des zureichenden Grundes insSystem einer prästabilierten Harmonie hineingebildet und die Hypotheseder besten aller möglichen Welten herausgebildet. Damit schließt die Zu-rechtweisung, welche Schellings Anspruch, das Einheitsprinzip einer allenDualismus aufhebenden Vernunftwissenschaft zu konstruieren, widerlegt.

Also bietet der Schelling des Identitätssystems und der Autor von Philo-sophie und Religion ein hervorstechendes Beispiel für die geistige Konfusionder Zeit. In den Auslassungen Fichteschen Unmuts steht es mit SchellingsGenie am Ende nicht besser als mit der unsäglichen seichten Aufklärerei ei-nes Friedrich Nicolai. Diese Charakterisierung Schellings als einen »zweiten

86 Teil I: Schelling

Nicolai« hat eine paradoxe Geschichte. Schon die Erlanger Wissenschafts-lehre 1805 ist weithin als Zurechtweisung Schellings und seiner Behauptun-gen in Philosophie und Religion eingerichtet. Hier bereits kommen die bei-den Haupteinwendungen zur Sprache, nämlich einmal die Blindheit gegen-über dem Denken des Absoluten aus Nichtbesinnung und zum anderen die›Nicolaitische Verwachsenheit‹. Fichte beschließt die 7. Stunde damit, im Na-men des Transzendentalismus, alle blinden Projektionen, vorzüglich beimZweiten Nicolai Schelling zu verwerfen. »Der Sch. ist nicht nur inintellectu-ell, Nicolai sondern sogar irrational, nicht bloß unvernünftig, sondern sogarunverständig; nicht daran fehlts, daß er das absolute Licht nicht von demsich nur nicht intelligirenden hinausschiede: er kann sogar das Seyn nichtvon dem Existenten los kriegen, was eine Nikolaitische Verwachsenheit« ist(GA II/9, 213). Und es ist durchaus auf Schelling gemünzt, wenn Fichte sichin diesem Vortrag vom 4. Juli 1805 gegen die Antiphilosophie in Würzburg,gegen das »Abstraktum der Blindheit« wendet. Philipp Konrad Marheineke,Universitätsprediger und Professor in Erlangen, berichtet an Schleiermacheram 9. August 1805: »Ich höre mit unsern Professoren die Wissenschaftslehrebei ihm in einer Privatvorlesung, der Platon tritt in jeder Stunde unverkenn-bar bei ihm hervor. Schelling verkennt er durchaus; er polemisirt sehr heftiggegen ihn; unter dem Abstraktum der Blindheit ist immer der WürzburgerPhilosoph gemeint« (FG III 360).

Die Gleichstellung von Schelling mit Nicolai hat freilich eine ironischePointe. Friedrich Nicolai ist nicht nur scharfzüngig popularisierend gegenFichtes »plumpen, schwärmerischen Idealismus« zu Felde gezogen, sonderngegen die »modische apriori- und Absolutheitsphilosophie« insgesamt ein-schließlich des »nun nahe ganz vergessenen Schelling-Schülers Hegel«. Dieneuesten Fichte-Schellingschen Inhaber der reinen Wissenschaft kämen auftranszendentalen Stelzen daher und möchten auf papierenem Flügel ins Ab-solute hineinfliegen; Fichte und Schelling verhießen, eine Philosophie zu lie-fern, die nicht nur dem gesunden Menschenverstande widerspreche, son-dern auch zum Absoluten führe, worin alles Widersprechende, selbst Seinund Nichtsein, zusammenstehen könnten (vgl. F. Nicolai: Philosophische Ab-handlungen, 1808, vornehmlich Ueber die nothwendigen Unvollkommenhei-ten der Abstraktion und ueber ihren öfteren Mißbrauch, 1802). Paradoxerwei-se also zählt Fichte am Ende seiner schriftstellerischen ZurückweisungenSchelling zu einem der verworrensten Köpfe des Zeitalters, der auf das Ni-veau eines Nicolai herabgesunken sei. Mithin ergibt sich der Schluß: Ein Di-alog mit der Wissenschaftslehre ist unmöglich, solange Schellings Blindheit,

3. Abschnitt: Einsprüche: Das Identitätssystem und seine Weiterungen. 87

Nichtbesinnung, pöbelhafter Empirismus und Nicolaitische Verwachsenheitden zur Wahrheit strebenden Geist des Zeitalters mit autoritärem Gehabeirre macht.

4. Abschnitt: Ende oder Vollendung? Schellings Spätphilosophie im Widerstreit

Für die wiedererweckte Frage nach der dreifachen Vollendung des Deut-schen Idealismus ist kaum eine Verlautbarung sprechender als SchellingsStellungnahme auf dem Standpunkt seiner Spätphilosophie anläßlich seinerAntrittsrede am 15. November 1841 in Berlin. Da spricht sich das Sendungs-bewußtsein eines Erzürnten aus, dessen Ingrimm in langen Phasen desSchweigens über verfälschende Aneignungen seiner Grundgedanken unge-brochen geblieben war. Er, Schelling, habe ruhig geschwiegen, als der Her-vorgang der neueren Philosophie, die mit Kant begann und in seiner Sys-tembegründung endete, verfälscht und die Tragfähigkeit seines Identitäts-systems ausgebeutet wurde. Das zielt nicht nur auf den vollendeten Eklekti-zismus Fichtes ab. Es richtet sich auch auf die Übernahme der absolutenIdentitätsidee in die überspannten Allesvermittlungen der Enzyklopädiedurch den in Berlin zum Hegemon wahrer Philosophie emporgestiegenen,einstigen Geistesbruder Hegel. Nun sei es an der Zeit zu bekennen: Er,Schelling, allein sei im Besitze der so »dringend verlangten, wirkliche Auf-klärung gewährleistenden, das menschliche Bewußtsein über seine gegen-wärtige Grenze erweiternden Philosophie« (W VI 752 = SW XIV 360). Undnur er, Schelling, fühle sich berufen, eine Philosophie, die er einst selber be-gründet habe, in ihren wahren Grundlagen wieder zu befestigen und vorTendenzen zu beschützen, die sie zerstören, kurz »eine Burg zu gründen, inder die Philosophie von nun an sicher wohnen soll« (W VI 752 = SW XIV366).

Am Ende seines langen, Fichte und Hegel überlebenden Denk- und Le-bensweges beruft sich Schelling noch immer auf die frühe, bahnbrechendeDarstellung seines Systems einer allumfassenden Vernunftwissenschaft.Sie sei der wahre Anfang einer vollendeten Grundlegung einer neuerenPhilosophie gewesen. Mithin ist hier keine Rede davon, daß Schelling seineigenes Identitätssystem als Sündenfall gegenüber dem Positiven und exis-tent Wirklichen verwirft. Er entlarvt allerdings nach vornehmem Schwei-gen über nachhaltige polemische Attacken die Entlehnung seiner oberstenGrundsätze und deren Einmischung ins Reflektiersystem durch die popu-

88 Teil I: Schelling

lären Schriften Fichtes. Und er deckt Hegels Überspannungen des Identi-tätsprinzips in einer Logik der absoluten Idee auf, welche den Übergangaus der negativen in die positive Philosophie heillos verfehlt.

Nach einer Zeit des Schweigens also ist Schelling seit 1827 in München,von 1841 an in Berlin in öffentlichen Vorlesungen hervorgetreten, ohnefreilich deren Publikation nach dem unerquicklichen Prozeß gegen dieunerlaubte Veröffentlichung einer Vorlesungsnachschrift durch H. E. G.Paulus, zu erlauben. Deren verlautbartes Programm ist es, das einst begon-nene Vollendungswerk durch den Übergang zur positiven Philosophieeinzigartig zu Ende zu bringen und dieses Vollendungswerk auch philoso-phiegeschichtlich gegen Fichtes und Hegels Irrmeinungen abzuschirmen.Um diese Perspektive neu zu verfolgen, ist der Problem- und Forschungs-stand der Schellingschen Spätphilosophie auf drei Durchblicke zu konzen-trieren: auf die Klärung des neuangelegten Fundierungsverhältnisses posi-tiver und negativer Philosophie, auf die Erinnerung an die philosophiehis-torische Streitsache über Ende oder Vollendung des Deutschen Idealismusim Spätwerk Schellings und letztlich auf die Einholung von SchellingsZerstörung des Hegelianismus als heilloser Irrweg und traurige Episodeneuzeitlicher Philosophiegeschichte.

1. Kapitel: Grundsätzliche Vorgaben. Über Differenz und Korrelation der positiven und negativen Philosophie

Die Frage nach Ende oder Vollendung des Deutschen Idealismus im Spät-werk Schellings ist immer noch offen. Der Schlüssel, der Aufschluß darüberzu geben vermag, ist die Unterscheidung und Zusammenfügung von positi-ver und negativer Philosophie, die in den ›Weltaltern‹ noch unbekannt istund eben erst in den Münchener und Berliner Vorlesungen Schellings un-veröffentlichter Lehre zum Austrag kommt. Daher sollte zuerst darüberKlarheit geschaffen werden.18

Um darüber grundsätzlich vorbereitend Einsichten zu verschaffen, istzunächst das Vorverständnis darüber einzugrenzen. Worin besteht über-

18 Wegweisend sind die schon im Vortrag von 1954 vorgetragenen Thesen von W.Schulz, diese Unterscheidung sei nicht aus der Differenz von Daßsein und Wasseinherzuleiten, sie breche allein am Gottesproblem auf. – Diesem Zentralgedanken hatH. Fuhrmans: Der Ausgangspunkt der Schellingschen Spätphilosophie, 1956/57 in sei-nen Forschungen zu den Münchener Vorlesungen, die er streng von den späteren

4. Abschnitt: Ende oder Vollendung? 89

haupt das Positive? Und worin liegt das genuin Positive einer positivenPhilosophie? Das Positive ist seinsmäßig und gnoseologisch eigensinnigvorverstanden als das konkrete Sein des Wirklichen und Existierenden indem Eigengewicht eines reinen Daß. In bloßer Existenz ist das Daßseinfür den sondernden Verstand und die Vernunft als Vermögen der Ideenunfaßlich; denn die Ratio ist auf den Begriff, auf die Erkenntnis des we-sentlichen Wasseins fixiert. Dieser Abstand nötigt, eine eingehende Besin-nung auf das reine Daß, die unvordenkliche Existenz vor dem Einwand zuschützen, Schellings Lehre vom Positiven führe aus der Helle rationalerWesenserkenntnis ins Dunkel abgründiger Existenz. Die Zukehr zum Po-sitiven erfolgt vielmehr in der Helle philosophischer Ursprungsforschung.

Im kritisch besonnenen Eingehen auf den Ersten Anfangsgrund der of-fenbaren Welt, seiner Geschichte als Bewußtwerdung Gottes wird deutlich:Der Vernunftidee eines absoluten Geistes ist uneinholbar vorauszusetzen,daß er Geist ist. Dieses reine Daß ist ursprüngliches Suppositum und ›un-vordenklich‹. Ihm kann die Vernunft als Vermögen der Ideen und Wasbe-stimmtheiten nichts vorausdenken. Der Gott der positiven Philosophie istreiner Akt in ewiger Freiheit. Schelling nennt ihn den Herrn des Seins. Erhabe Macht über alle Möglichkeiten (potentia potentiarum). Dieser Ursatz,der Erste Anfangsgrund sei, philosophisch entdeckt, das gegen das SeinFreie, beseitigt den Irrtum, Gottes Offenbarung und Weltschöpfung gesche-he aus blinder Notwendigkeit. Und er eröffnet die Einsicht: Der einzige Er-klärungsgrund für die Welt ist die Freiheit Gottes, sich offenbaren zu kön-nen oder verborgen zu bleiben. Gott, das Überseiende, ist nicht immerschon wirklich, er wird wirklich, damit er als das Allerfreieste geschichtlicherscheine.

Dieser Ansatz einer unbedingten Willensoffenbarung macht Schellingnicht, was eine Schulmeinung meint, zum Ausläufer des Idealismus undzum Überläufer zu einer Willensmetaphysik, etwa im Stile Schopenhauers.Freilich finden sich gleichlautende Grundbestimmungen des Willens als Ur-sein sowohl in Schellings Freiheitsschrift wie bei Schopenhauer, mit demgravierenden Unterschied, daß Schellings Willensprinzip onto-theologisch

Berliner Texten trennt, ebenso entschieden zugestimmt, wie er den Ansatz beimGegensatz von Wesen und Existenz verwarf, um an deren Stelle den Kampf zwi-schen logischer und religiös-geschichtlicher Philosophie herauszuarbeiten.

90 Teil I: Schelling

im Göttlich-Absoluten, Schopenhauers Willensmetaphysik ontologisch-an-thropologisch im Menschen fundiert ist.19

Bei diesem Prius der Willensoffenbarung fängt positive Philosophie an:Daß die unvordenkliche, schlechthin freie Willensverwirklichung demHerrn des Seins zukommt. Das Ziel ihrer Arbeit besteht darin, das unbe-greifliche Daßsein a posteriori, schärfer gesprochen: per posterius als Gottzu erfahren. Das kann nur durch eine Erfahrung von Freiheitsakten gelin-gen, in denen sich Gott geschichtlich offenbart. Daher sucht Schellings posi-tive Philosophie die Wahrheit über das göttliche Ursein im Logos der My-then und in der christlichen Offenbarung mittels der Folge eines Drei-Po-tenzen-Schemas zu enthüllen. So zeichnet sich die Wahrheit über Gott,Schöpfung, Vorsehung in der Geschichte eines gewaltigen theogonischenProzesses ewiger Selbstentwicklung ab. Diese Offenbarungsgeschichte ver-bindet sich mit einer Mythologie, welche im Durchgang durch die archai-sche Naturreligion, polytheistische Mythologie und der eigentlichen Offen-barungsreligion, dem christlichen Monotheismus, jenen geistigen Prozeßdarlegt, durch den Gott im Bewußtsein der Menschen geschichtlich wirk-lich und wahr geworden ist.20

So enthüllt sich das Positive der positiven Philosophie als etwas ganzanderes denn das Positive empirisch versicherbarer Tatsachen des Wissen-schaftspositivismus, der behauptet, über alle Erkenntnisstadien von My-thologie und Metaphysik unumkehrbar fortschrittlich hinaus zu sein. Undes ist auch nicht auf die Analogie von Möglichkeit und Wirklichkeit, Daß-sein und Wassein innerhalb der Vernunftontologie einzuschränken. Esgeht vielmehr um das vom Herrn des Seins frei gewollte, faktisch vorhan-dene und sich vollziehende Wirkliche, erfahrbar in den Urkunden der po-sitiven Religion und aller Offenbarung durch eine Philosophie, welche die

19 Vgl. E. von Hartmann: Schellings positive Philosophie als Einheit von Hegel undSchopenhauer, 1869. – J. Hennigfeld: Metaphysik und Anthropologie des Willens.Methodische Anmerkungen zur Freiheitsschrift und zu Schopenhauers Welt alsWille und Vorstellung, 2006.

20 Das ist der Ansatz der Untersuchung von K. H. Volkmann-Schluck: Mythos undLogos. Interpretationen zu Schellings Philosophie der Mythologie, 1969. Danach seiMythologie bei Schelling eine philosophische Erfahrung des geschichtlichen Be-wußtseinsprozesses im Lichte einer eigenen Wahrheit – im Unterschied zu denvorherrschenden Auffassungen des Mythos als eines bloß Erdichteten, Ausgedach-ten, von uns willkürlich Hergestellten.

4. Abschnitt: Ende oder Vollendung? 91

Menschheitsgeschichte durchdringt und so die Wahrheitssicherung derErsten Philosophie mit einer Erforschung der Wahrheit von Religion, My-thologie und Geschichtlichkeit zusammenfügt.

Dabei erweist sich das unvordenkliche Prius eben per posterius auf demWege eines Empirismus des Apriorischen als erfahrbar. Dazu verhilft alleindie geschichtliche Erfassung jenes Offenbarungsgeschehens, welche Hand-lungen Gottes in der Welt als Abfolge göttlicher Potenzverwirklichungenzum Ausdruck bringt. So gewinnt die positive Philosophie das paradoxeAnsehen eines empirischen Apriorismus. Ihr ist es darum zu tun, »das a pri-ori Unbegreifliche a posteriori in ein Begreifliches zu verwandeln« (Philoso-phie der Offenbarung; W XII 165 = SW XIII 165).

Von diesem Methoden- und Prinzipienstand aus erscheint alle Ver-nunft- und Ideenwissenschaft als eine negative Philosophie. Sie ist nichtfrei für das reine Daß und ist nicht offen gegenüber dem gegen das Seinfreien Herrn. Ihr Vermögen beschränkt sich auf das Vernehmen der Ideen,d.i. auf die Umgrenzungen apriorischer Wesensmöglichkeiten. Daherdenkt sie auch den Ersten Anfangsgrund von Sein und Wissen seit PlatosAufstieg zur ›Idee des Guten‹ als Idee. Sie denkt Gott nicht in seiner Wirk-lichkeit, nicht in der Freiheit des reinen Daß, nicht in seiner wirklichenOffenbarung in der Welt, nicht in der geschichtlichen Faktizität des ewi-gen Prozesses. Diese Schranke der negativen Vernunftphilosophie hatteschon Kants Kritizismus aufgerichtet. Die grundlose Notwendigkeit derExistenz in Gott sei der Abgrund für die menschliche Vernunft. Dem nurExistierenden gegenüber vermag die Vernunft nichts mehr. Sie beschäftigtsich lediglich mit dem a priori Begreiflichen. Das macht den Unterschiedzur positiven Philosophie aus, die sich mit dem a priori Unbegreiflichenso beschäftigt, daß sie es a posteriori in ein Begreifliches verwandelt.

Also vollzieht die negative Vernunftwissenschaft zwar eine apriorischeReflexion kraft eines Wissens, welches das Wißbare dadurch begreift, daß siees in seiner Essenz, d.h. als Seinkönnendes darlegt. Aber sie gerät in die Kri-se, wenn sie sich darauf besinnt, daß dem von ihr ergründeten ersten An-fangsgrund, dem göttlichen Geist-Wesen, ein Uneinholbares vorausgesetztist, nämlich daß Gott frei und unvordenklich Herr gegen Sein und Wesens-möglichkeit ist.

Das erfordert eine neue und tiefergehende Selbstkritik der Vernunft. Siemuß nämlich zur Einsicht kommen, daß sie, solange sie sich selbst verabso-lutierend zum Objekt macht, nur die unendliche Potenz und Wesensmög-lichkeit des Seins findet, aber nicht zum ewigen und wirklichen Sein gelangt.

92 Teil I: Schelling

Die Vernunft kommt zu ihrem wahren Inhalt nur, indem sie sich dem Über-seienden unterwirft, für das ihr Denken keinen Wirklichkeitsgrund findet.»Wenn die Vernunft sich selbst Gegenstand ist, wenn das Denken sich aufden Inhalt der Vernunft richtet, wie in der negativen Philosophie, so ist dießetwas Zufälliges, die Vernunft ist dabei nicht in ihrer reinen Substantialitätund Wesentlichkeit. Ist sie aber in dieser (zieht sie sich also nicht auf sichselbst zurück, sucht sie nicht in sich selbst das Objekt), so kann ihr als un-endliche Potenz des Erkennens nur der unendliche Actus entsprechen. Ihrerbloßen Natur nach setzt sie nur das unendlich Seyende; umgekehrt also istsie im Setzen desselben wie regungslos, wie erstarrt, quasi attonita, aber sieerstarrt dem alles überwältigenden Seyn nur, um durch diese Unterwerfungzu einem wahren und ewigen Inhalt [...] als einem wirklich erkannten zugelangen« (W XII 165 = SW XIII 165).

Also liegt alles daran, mit der Auseinanderstzung von positiver und ne-gativer Philosophie sogleich ihre Zusammensetzung zur Vollständigkeit ei-nes Systems vorklärend zu verdeutlichen. Die negative Philosophie als klas-sische Ideen- und Vernunftwissenschaft beginnt damit, das Wißbare undBegreifbare auf seine apriorischen Wesensbedingungen hin zu übersteigen,um so die notwendigen Bedingungen für die Möglichkeit von Sein, Werdenund Erkennen freizulegen. Sie hat damit zu enden, sich selbst kritisch vorder Unvordenklichkeit des absoluten Prius, des reinen Daß, des Herrn gegendas Sein, zu beugen. Die positive Philosophie ihrerseits beginnt damit, denabsoluten Begriff des Begriffs – und die durch Hegel beendete Tradition desontologischen Gottesbeweises – fallen zu lassen und mit dem bloß Existie-renden ernst zu machen. Und sie endet damit, die negative Philosophie wie-der aufzurichten, indem sie den Rechtsanspruch des Denkens auf Erfassungder Wesensmöglichkeiten im Blick auf die Wirklichkeit des geschichtlich of-fenbarten und theogonisch manifestierten Seins und Bewußtseins bestätigt.

Diese umrißhafte Wiedereinholung mag genügen, um Schellings Schei-dung von positiver und negativer Philosophie zu verdeutlichen und derenkomplementäre Zusammenführung zur Sprache zu bringen. Das sollte inden Stand versetzen, die aufgebrachte Streitfrage nach dem Ende bzw. derVollendung des Deutschen Idealismus sachgerecht neu aufzurollen.

4. Abschnitt: Ende oder Vollendung? 93

2. Kapitel: Verfolgen der Streitfrage: Umbruch zum theistischen Spätidealismus oder Vollendung des kritischen Anfangs?

Quellenmäßig erfaßt, kontrovers diskutiert und philosophiegeschichtlichneu eingeordnet ist Schellings bis dahin fast resonanzloses Spätwerk ei-gentlich erst seit dem Jahre 1929 (H. Heimsoeth, H. Knittermeyer 1929; H.Fuhrmans 1940; W. Schulz 1955; X. Tiliette 1970). Zunächst wird es als Ba-sis eines spekulativen, konkreten Theismus in die Sammelbewegung desSpätidealismus eingeordnet und als Epocheneinschnitt angesehen. Es evo-ziere den Bruch mit der dialektischen Vernunftwissenschaft und eröffneeinen postidealistischen, antipantheistischen, vom Panlogismus abge-wandten Neuanfang. Andererseits tritt eine Auslegung hervor, welcheSchellings Spätphilosophie als Vollendung des Deutschen Idealismus ver-steht. Sie vollende voll-endlich die genuine Intention des neuzeitlichenIdealismus.

Die eine, frühere Position behauptet, Schelling prangere den Idealismuseinschließlich des von ihm selbst inaugurierten Identitätssystems als bloßnegative Philosophie an und erkläre diese zum Sündenfalls philosophischenDenkens gegenüber der Wirklichkeit. Dieses Urteil enthält die Auflage, apri-orische Systemkonstruktionen ganz fallen zu lassen, um für das Geschichtli-che und Kontingente, am Ende für die ewige Freiheit und Nicht-Notwen-digkeit des handelnden Gottes offen zu werden. Das verlangt die Hinwen-dung zu einem an den Fakten der Schöpfung, an Sündenfall und soteriolo-gischer Erlösung orientierten christlichen Theismus. Der hat Gott undialek-tisch zum Anfang; er beendet damit den idealistischen Pantheismus der vonSpinoza inaugurierten Einheitssysteme. Und diese epochale Wende öffnesich wieder jenen Themen und Grundfragen, welche der spekulative Idealis-mus ausläßt oder in ihrer Tragweite verkennt und die Schellings ungeheureFreiheitsschrift und seine Weltalter-Philosophie tiefsinnig thematisiert hat-ten: die schlechthinnige Freiheit Gottes, die zerstörerische Realität und dasEigenprinzip des Bösen, den Schreckensgrund der Welt, die Schwermut inder Tiefe der Natur und des Gemüts, den Abfall der Kreatur als eine urzufäl-lige Geschichte, Sündenfall, Rückkehr, Erlösung des partikulären Willens,endlich: die unabsehbaren Wirklichkeiten in Zeit und Geschichte, in My-thos und Offenbarung. Um all dem philosophisch angemessen gerecht zuwerden und endlich wieder zu einer nicht a priori vorkonstruierten Wirk-lichkeit (und zum Faktum des Christentums) zurückzukehren, fordereSchelling rigoros den Ausbruch aus dem idealistischen Vernunftsystem, ver-

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künde das Ende der idealistischen Blütezeit und ermögliche den Neuanfangeines ›nachhegelianischen Spätidealismus‹.

Der sogenannte Spätidealismus setzt also den Bemühungen einer Ge-dankenarbeit, die reine Subjektivität ins Absolute zu gründen und vollstän-dig systematisch zu entfalten, ein Ende. Er erklärt diesen Hochidealismusfür unvereinbar mit dem Christentum. Er löst den dialektischen Pantheis-mus durch einen ›spekulativen Theismus‹ ab, der einen abstrakten Deismusund eine philosophieleere Orthodoxie hinter sich läßt. Und er richtet sichnach der maßgeblichen geschichtlichen Wirklichkeit aus: nach der Welter-scheinung des Christentums und dessen personaler, theistischer Gottesvor-stellung. Gedanklich führend für diese philosophiegeschichtliche Bewegungsei die positive Philosophie des späten Schelling.21

Dagegen erklärt eine Gegenposition: Schellings Spätphilosophie brechenicht mit dem Deutschen Idealismus, sondern vollende ihn.22 Diese Epo-chenthese blendet weitgehend die religionsphilosophischen Gedankenmas-sen, aber auch Schellings religiöse Existenz aus. Sie konzentriert sich ganzauf den Vorgang einer kritischen Vernunftreflexion auf sich selbst. Somitkomme die negative Philosophie ins Ansehen, selbst die Negation der Ver-nunft angesichts des Positiven, der unfaßlich freien Wirklichkeit Gottes zuvollbringen. Dabei modifiziert diese These die Ansicht dessen, was vollende-ter Idealismus eigentlich sei. Im Namen des absoluten Idealismus leistet diephilosophische Wissenschaft die Gedankenarbeit einer dialektischen Alles-vermittlung und systematischen Versöhnung. Im Licht der negativen Philo-sophie dagegen erscheint der genuine Idealismus als kritische Selbstbegren-

21 Diese Sicht auf den geschichtlichen Umbau der neuzeitlichen Philosophie nachHegel hat K. Leese eröffnet: Philosophie und Theologie im Spätidealismus, 1929. –Als postidealistische Epoche ist der Spätidealismus gleichsam kanonisiert wordendurch H. Heimsoeth: Metaphysik der Neuzeit, 1929. – H. Fuhrmans endlich hat denspäten Schelling ausdrücklich als geistigen Führer dieser epochalen Bewegungnamhaft gemacht: Schellings letzte Philosophie. Die negative und positive Philoso-phie im Einsatz des Spätidealismus, 1940.

22 Eindrucksvoll sind die Thesen von W. Schulz: Die Vollendung des Deutschen Idea-lismus in der Spätphilosophie Schellings, 1955 ausgearbeitet worden. Sie holen diepositive Philosophie in den Raum des Deutschen Idealismus so zurück, daß das ge-läufige Fortschrittsschema revidiert wird. Das Grundgeschehen der Epoche seieben die Selbstbegrenzung der unbedingten Vernunft, da diese die Unerkennbar-keit des Absoluten, das reine Daß, erkennt. – Schelling als geistiger Urheber einesSpätidealismus wird als Legendenbildung durchstrichen.

4. Abschnitt: Ende oder Vollendung? 95

zung der reinen Vernunft. Das sei doch das Grundgeschehen in der Epocheder neueren Philosophie. In Erfüllung dieses Programms bilden negativeund positive Philosophie zwei genuine modi progrediendi, welche zur Ein-heit einer philosophischen Wissenschaft von Gott gehören. Erst in solcherErgänzung zu einem Ganzen scheint der Prozeß des transzendental-kriti-schen Idealismus wirklich als Wissenschaft vom Absoluten vollendet.

Recht besehen ist die Essenzwissenschaft gar nicht falsch und kein Weg,der nur in die Irre führt. Sie ist unvollständig. In die Irre führt sie, wenn sieauf dem Grund und Boden einer negativen Philosophie behauptet, positiveWirklichkeits- und Offenbarungslehre zu sein. Das ist eben der Fall Hegels.Er betreibt negative Philosophie mit dem Anspruch der positiven. Dagegenerwachse die Wahrheit des Ganzen – und das Ganze ist wirklich die Wahr-heit – erst aus der Unterscheidung und wechselseitigen Beziehung von ne-gativer und positiver Philosophie. Daher trägt die Essenzwissenschaft mitRecht immer noch den alten Namen der »Ersten Philosophie«, freilich nichtmit der Aristotelischen Dignität einer grundgebenden Prinzipienwissen-schaft. Aristotelische Arche-Forschung ist autark; sie erweist ontologisch dasSein des höchsten Seienden, nämlich Gott im Wesensanblick reiner Ener-geia/actus purus, und sie beweist onto-kosmologisch die Existenz diesesGottes. Demgegenüber meint ›Erste Philosophie‹ im VollendungssystemSchellings eine erste, vorläufige Wissenschaft, die einer grundlegenden zwei-ten bedarf. Erst in der Aufstellung einer »Zweiten Philosophie«, nämlich derpositiven, vollendet sich das systembildende Geschäft des kritischen Idealis-mus. Dabei summieren sich erste und zweite Philosophie nicht nachträglichals Bestandteile, welche einander äußerlich sind, zur additiven Einheit. Dienegative Philosophie ist, indem sie die positive setzt, deren Bewußtseinsma-chung, und die positive wird, indem sie die negative einholt, deren Bestäti-gung im Wirklichen.

So wird deutlich: in diesem Vollendungsstadium des Deutschen Idealis-mus findet keine Konversion zum Irrationalen statt. Für die Systembildun-gen der negativen Philosophie wird durch Schelling kein Bankrott angemel-det. Zwar mag man in Frage stellen, ob Schelling sein Ziel, den Übergangzwischen negativer und positiver Philosophie vollkommen klarzumachen,erreicht und die Aufgabe einer ›philosophischen Religion‹ bewältigt hat23,

23 Der eigentümliche Denkweg der positiven Philosophie findet sich in zwei großenUntersuchungen dargestellt, X. Tilliette: Schelling. Une philosophie en devenir,

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gleichwohl hat Schellings Spätphilosophie die Zweiheit der Philosophie auf-gehoben und den Mangel eines Dualismus vermieden. »Denn die negativePhilosophie für sich ist noch nicht Philosophie, sondern erst in Beziehungzur positiven. Immer wird sie der positiven Wissenschaft gegenüber sich mitdem Namen der ersten Wissenschaft (prote episteme) begnügen. Dagegenwenn sie sich für sich selbst mit dem Namen der ersten Wissenschaft be-gnügt (die sie als Wissenschaft aller Wissenschaften ist), wird sie der positi-ven den Namen der höchsten Wissenschaft zuerkennen. [...] Die Philoso-phie, wenn sie als negative allem vorausgeht, ist ebenso als positive die allesbeschließende« (W XII 151 = SW XIII 151). Diese Einsicht in den Fortgangzur positiven Philosophie sollte deutlich machen: Die Annahme, negativewie positive Wissenschaft seien Philosophie, ist einzuschränken. Für sichund auf sich selbst gestellt, ist die negative Wissenschaft nicht wahre Philo-sophie. Entkräftet ist auch die Gegenposition, negative Philosophie sei derSündenfall des Denkens. Erst in ihrem Fortgang zur positiven, höchstenPhilosophie wird die erste Wissenschaft ein eigentliches Philosophieren. Da-rum ist sie nicht ganz und gar fallenzulassen.

Wie aber ist dieser Fort- und Übergang systematisch und methodischeinzuholen? Das ist fragwürdig. Einerseits sieht sich doch eine Wissenschaft,die sich prinzipiell auf absolute Freiheit, Kontingenz und geschichtlicheZeitlichkeit, die nicht antizipierbar ist, einläßt, wie ein unabschließbarer Er-kenntnisprozeß an. Sofern nun Abgeschlossenheit zum Kriterium des neu-zeitlichen Systembegriffs gehört und seitdem die Einsicht gewachsen ist,daß es von Dasein und Existenz kein System geben kann, scheint die Redevon einer systematischen Vollendung des kritischen Idealismus durch Schel-ling mißlich. Und hat nicht die Gedankenarbeit des späten Schelling denstolzen Namen Philosophie als Vernunftwissenschaft und Vernunftsystemabgelegt und den Namen Weisheitsliebe (philo-sophia) angenommen? An-dererseits gibt es durchaus ein systematisches Gefüge, das sich auf das abso-lute Sein in seiner durchgehenden Abfolge anwenden läßt. Daran muß zu

1970. – M. Vetö: De Kant à Schelling. Les deux voies de l’idéalisme allemand,1998/2000. Tilliette macht deutlich: Schellings bald durchsichtige, bald undurch-sichtige Lösungsversuche bleiben zweideutig, insofern sie bald von der Ekstatik dernegativen, bald von der Nurexistenz der positiven Philosophie her unternommenwerden. Zudem habe Schelling die Gedankenmassen der religionsphilosophischenThemen nicht bewältigt. – Einen ausgewogenen Bericht über diesen Forschungs-stand bietet H. Zeltner: Schelling-Forschung seit 1954, 1976.

4. Abschnitt: Ende oder Vollendung? 97

Recht erinnert werden. So läßt sich eine Abfolge in der Seinsannäherung desHöchsten ausmachen. Sie entspricht genau der sich vollenden Dreiheit derPrinzipien oder Potenzen in der ewigen Natur. Diese sind in der Sprache derWeltalterlehre ausgesprochen: 1. der bejahende, reine Wille der Liebe, 2. derverneinende, seinsannehmende Wille, 3. der bewußte und im höchsten Gra-de Geist gewordenen Wille. Das eben ermöglicht eine folgerichtige Ansichtdes grundsätzlich vollendeten Prozesses. »Wir können daher auch diese Fol-ge der Offenbarung als eine Folge der Potenzen ansehen, die das Sein zu sei-ner Vollendung durchgeht« (Die Weltalter. Bruchstück, 1813; SW VIII 309).

Am Ende kommt alles auf eine methodologische Bewährung und Festi-gung des Vollendungsprozesses an. Dafür ist in Anschlag zu bringen: DieMethode bahnt den Weg der negativen Philosophie von der Immanenz zurTranszendenz. Ihr Instrument ist die Selbstnegation der Vernunft. Diesesetzt Gott als das »absolute Urständige« und »das eigentlich Transzendente«ekstatisch aus sich heraus. Dieser Vorgang geschieht nicht willkürlich undregellos, er vollzieht sich unausweichlich, insofern das Vernehmen Gottes ineine allseitige Krise gerät. Auf Beihilfe der Erfahrung muß solche Methodeverzichten. Das gilt für die äußere Erfahrung der zweckmäßigen Errichtungder Welt als Ausgang physiko-kosmologischer Gottesbeweise wie für eineinnere, schwärmerische Erfahrung mystischer Erleuchtungen; denn Gottselbst ist in keinem Modus der Erfahrung anzutreffen. Aber eben auch diereine, von Erfahrung unabhängige Vernunft als Vermögen folgerichtigenSchließens kann das Urständige denkend nicht erreichen; denn unser un-verwandt objektivierendes Begreifen verdinglicht Gott. Das ist bekannte,transzendentale Kritik. Das Neue aber besteht in folgendem Schritt: Die da-rüber ent-setzte Vernunft setzt sich Gott als das Transzendente und Nicht-wißbare voraus. Das einzige, was vom Anfang und Seinsgrund positiv zuwissen übrigbleibt, ist, daß sich Gott qua potentia existendi immer schonexistent gemacht hat. Durch den Methodenschritt der Ekstasis also formiertsich aufs Neue der kritische Geist des von Kant methodisch gründlich ange-legten Idealismus, und zwar mit der Radikalität einer ekstatischen Selbstne-gation. Aber das ist nicht Ende oder Vollendung des Kritizismus. Mit demkritischen Grundsatz, die reine Selbstvermittlung Gottes sei ihr unverfügba-rer Anfang und Grund, gewinnt die Vernunft das Vermögen, die Welt undihre Geschichte zu konstituieren, zurück. Die positive Philosophie entfaltetsich als erinnernder Nachvollzug des unvordenklichen Geschehens, in wel-chem sich das Transzendente immanent gemacht hat. Sie nimmt die Drei-Potenzen-Lehre so in sich auf, daß die Geschichte der mythologischen und

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der christlichen Zeit sowie der Anbruch einer Religion des Geistes und derFreiheit verstehbar wird. Darin nun steht die äußerste Möglichkeit einerphilosophischen Wissenschaft von Gott offen. In ihr vermittelt sich die Ver-nunft so weit mit sich selbst, wie sie durch das unvordenkliche Wirken Got-tes vermittelt ist.

3. Kapitel: Beleuchtung der Schlußapotheose: Schelling, der Vollender

Schelling hat das Vollendungsprivileg für seine systematische Grundlegungwahrer Philosphie in der Geschichte der Neuzeit gerade auch in den späte-ren Vorlesungen Zur Geschichte der neueren Philosophie behauptet. Mit sol-chen Vorträgen leitet er seine Münchener Vorlesungstätigkeit 1827 ein. EinZielpunkt darin ist die Abrechnung mit Hegel und dessen Anspruch, alleGegensätze der Seinsauslegungen endgültig vermittelt zu haben. IndemSchelling solchen Hegemonieanspruch des Hegelianismus systematisch wiephilosophiegeschichtlich entkräftet, stellt er seine zweifache Heilstat, dieEntdeckung des Identitätssystems und den kritischen Übergang zur positi-ven Philosophie, in ihrer Einzigartigkeit öffentlich heraus.

Mithin kreist auch diese Wegphase Schellingschen Denkens immer nochunentwegt um die philosophische Auflösung der Ursprungsforschung desUnbedingten, um die Wahrheit und Unverborgenheit des Absoluten, nun-mehr aber von der Aufgabe angetrieben, die Besinnung auf das Absolute ei-nem in sich befangenen logisch-dialektischen Denken zu entwinden, umzur wahren Wirklichkeit des geschichtlich offenbaren Gottes durchzusto-ßen. Darum ist der Abschnitt über Hegel in den Münchener Vorlesungenzur Geschichte der neueren Philosophie für die Spätphilosophie signi-fikant.24

24 T. Rockmore: On Schelling’s Critique of Hegel, 2000 holt für seine Erörterung die-ses Abschnittes der Münchener Philosophiegeschichte die komplexe Auseinander-setzung dieser beiden großen Geister ein, beurteilt die Kritik der Hegelschen Logikdurch Schelling als Mißverständnis und führt den Konflikt eigenwillig auf die Dif-ferenz zwischen Schellings religiösem Intuitionismus und Hegels säkularisiertemRationalismus zurück. – Die Abhandlung von J.-M. Vaysse: Schelling contra Hegel,2000 hat auch diese Auseinandersetzung im Blick, stellt aber Bezüge zum EinflußHölderlins, zu Aristoteles, zu Schellings Weltalter- und Freiheitsschrift her, umschließlich Schellings Frage nach der Existenz an die Philosophie Heideggers zuverweisen.

4. Abschnitt: Ende oder Vollendung? 99

Dabei kulminiert die Hegel-Kritik in der These: Hegels große Logik istnicht einmal die Vollendung der negativen Philosophie. Sie überschreitet il-legal deren Selbstbegrenzung und verfehlt den Übergang zur positiven Phi-losophie, welche den Ursprung der reinen Existenz, des Nur-Daßseins, indie unvordenkliche Freiheit Gottes setzt, und zwar durch eine notwendigeUnterwerfung der Vernunft. Das demonstriert Schelling insbesondere imBlick auf den Grundriß von Hegels Logik. »Seine Meinung ist: Gott istnichts anderes, als der Begriff, der stufenweise zur selbstbewußten Idee wird,als selbstbewußte Idee sich zur Natur entläßt, aus dieser in sich zurückkeh-rend zum absoluten Geist wird« (W V 197 = SW X 127). Dieser Grundrißbeansprucht zugleich, vollkommene Erkenntnis der christlichen Trinitäts-lehre zu sein. Schelling faßt Hegels Darstellung des Dogmas komprimiertzusammen. »Gott der Vater, vor der Schöpfung ist der reine logische Begriff,der in den reinen Kategorien des Seyns sich verläuft. Der Gott aber mußsich [...] offenbaren, und diese Offenbarung oder Entäußerung seiner ist dieWelt, und ist Gott, der Sohn. [...] Gott muß auch diese Entäußerung, dieseNegation seines bloß logischen Seyns wieder aufheben und zu sich zurück-kehren, welches durch den Menschengeist geschieht in der Kunst, in der Re-ligion und vollständig in der Philosophie, und dieser Menschengeist ist zu-gleich der heilige Geist, wodurch Gott erst zum vollkommenen Bewußtseynseiner selbst kommt« (W V 198 = SW X 128).

Schellings Einspruch richtet sich auf zwei Bruchstellen dieses onto-theologischen Kreisganges, nämlich auf die Vergöttlichung des Begriffswie auf den fragwürdigen Übergang von der Logik zur Naturphilosophie,d.i. auf die Vermischung Gottes im Stande der absoluten Idee mit demexistierenden Gott als effizientem Ursprung der Weltwirklichkeit.

Das proton pseudos ist die Überhebung des Begriffs zum Gedanken,der zugleich Realität und die Sache in ihrer Wahrheit selbst ist, und nichtsaußer sich als ihm äußerlich zurückläßt. So wird transzendentale Logikontotheologisch. Sie übersteigert die reinen apriorischen Formen des Den-kens zu Wesensgedanken Gottes vor der Schöpfung. Kritisch betrachtetbleibt Hegels Logik zwar die reichste, dichteste, umfänglich abgestuftesteKategorienlehre, welche die abendländische Philosophie kennt, aber siegeht nicht in einer Selbstbewegung aus dem unmittelbaren unbestimmtenSein zum konkreten Gedanken des Werdens fort und über die Stufen derWesens- und Begriffslogik bis zur Vollendung im Gedanken der absolutenIdee fort. Der Reichtum und die Fülle kategorialen Seins entfaltet sich, kri-tisch reflektiert, durch das Andenken des philosophierenden Bewußtseins

100 Teil I: Schelling

und hat seine Notwendigkeit darin, daß der Andenkende ein so reichesSein in einer Erinnerung hält, die ihn nicht bei jeder leeren Abstraktionstehen und anhalten läßt.

Weil Hegels Vergöttlichung des Begriffs die Schranken einer selbstkriti-schen Vernunftwissenschaft überfliegt und im Übergang zur Position desExistenten außer dem logischen Reich der Ideen und Wesensmöglichkeitenverfehlt, verfällt Hegels Systemvermittlung auf einen fatalen Ausweg. Sie er-klärt das Ende der Logik, die absolute Idee, zum freien Ursprung einesÜbergangs, der von der Logik zur Naturphilosophie führt. Schelling zitiertden einschlägigen Schlüsselsatz von Hegels Enzyklopädie § 191: »Die Idee inder unendlichen Freiheit, in der Wahrheit ihrer selbst, entschließt sich, sichals Natur oder in der Form des Andersseyns aus sich zu entlassen« (W V 223= SW X 153). Das ist vom Standpunkt der positiven Philosophie aus ganzund gar schief. Mißlich ist die Ansicht der Natur als Außersichsein und Ab-fall der Idee von sich, fragwürdig ist der Fortgang der absoluten Idee im Sta-tus freien Sichentschließens und undurchdringlich bleibt das Warum dieserEntschließung.

Zuerst: die aus dem Logischen herausgesetzte Natur ist konsequenter-maßen unlogisch; die vom Logischen entblößte Welt, die anfängt, wo dasLogische aufhört, das ist die Natur überhaupt als Agonie des Begriffs. He-gel selbst eben hat die Natur als Abfall der Idee von sich selbst als ein Zer-fallen in die Äußerlichkeit von Raum und Zeit bestimmt. Daher sei vonder Natur nur Abfälliges zu sagen. »In ihr sei der Begriff seiner Herrlich-keit entkleidet, ohnmächtig, sich selbst untreu geworden« (W V 222 = SWX 152). Das ist für Schelling unerträglich. Unüberhörbar desavouiert dieseEntheiligung der Natur als Idee in ihrem absoluten Anderssein SchellingsIdentitätssystem. Dieses enthält doch gerade die logische Entwicklung derNatur in sich, so daß ein Übergang zur Natur außer sich, gar als Übergangins Alogische, unverständlich ist.

So mißlich die Unterbestimmung der von der Idee abgestoßenen Naturist, so rätselhaft ist das Abfallen der absoluten Idee von sich und durch sichselbst. Undurchsichtig ist die Notwendigkeit der Idee, sich überhaupt weiter-zubewegen; denn im Reiche der Logik kann sie gar nicht fortschreiten, siebildet ja das Endziel und den vollständigen Reichtum aller Seins-, Wesens-und Begriffsbestimmungen. Und ein Abbruch ins Anderssein bringt sie erstrecht nicht weiter. In der Idee liegt gar kein Beweggrund, sich weiterzubewe-gen oder anders zu werden. Und auch die geläufige Hegelianische Antwortführt nicht weiter. Die in sich durchbestimmte Idee sei das Wahre, das aber

4. Abschnitt: Ende oder Vollendung? 101

aus sich herausgehen muß, um die Macht ihrer Wahrheit zu bewähren. Dassind Vorspiegelungen. Unmöglich braucht die Idee sich für sich selbst zu be-währen. Sie weiß sich ja bereits als die Macht gesichert, die auch im Anders-sein bei sich bleibt. Vielmehr ist die Bewährungsprobe allein für eine Philo-sophie wünschbar, welche die Natur, die geistige Welt, die Weltgeschichte zuBewährungen der absoluten Vernunft in allem erklärt. »Denn man würdeeiner Philosophie lachen, die bloß Logik im Hegelschen Sinne wäre, undvon der wirklichen Welt gar nichts wüßte [...]. In der Logik liegt nichts Welt-veränderndes. Hegel muß zur Wirklichkeit kommen« (W V 223 = SW X153).

Es bleibt die Hegelsche Auskunft, die Idee habe sich in ihrer unendlichenFreiheit entschlossen, sich aus sich als Natur zu entlassen. Das könnte manbestenfalls theosophisch gutheißen. »Jacob Böhme sagt: die göttliche Frei-heit erbricht sich in die Natur« (W V 223 = SW X 153). Wörtlich genommenaber setzt sich der Einspruch durch: Ein bloßer Begriff kann sich überhauptnicht entschließen. Für einen freien Entschluß aus Freiheit braucht es einwirklich Existierendes. Und das ist der Gott der positiven Philosophie. Aberdavon ist Hegels Vernunftdialektik durch einen Graben getrennt. »Wer übri-gens noch hätte zweifeln können, daß die Idee am Ende der Logik als diewirklich existirende gemeint sey, müßte sich jetzt davon überzeugen: einbloßer Begriff kann sich nicht entschließen. Es ist ein böser Punkt, bei wel-chem die Hegelsche Philosophie hier angekommen ist, [...] ein garstigerbreiter Graben« (W V 223-224 = SW X 154).

Das alles ergibt ein verheerendes Urteil über die Schlüssigkeit undReichweite des Hegelschen Denkweges. Er mache nicht an einer Selbstbe-grenzung der Ideen- und Vernunftwissenschaft Halt, sondern führe zu ei-ner Überspanntheit, indem er das Logisch-Mögliche in das Real-Wirkli-che übergehen und von sich abfallen lasse. Hegels Philosophie ist dahereben durch die Prätension auf objektive, reale Bedeutung »um ein gutTheil monströser geworden, als die vorhergehende je war, und daß ich da-her dieser Philosophie nicht Unrecht gethan habe, wenn ich sie – eine Epi-sode nannte« (W V 198 = SW X 128).

In seinem Brief an Christian H. Weiße vom 6. September 1832 schreibtSchelling noch ungeschminkter. »Die sogenannte hegelsche Philosophiekann ich in dem, was ihr eigen ist, nur als eine Episode in der Geschichteder neueren Philosophie betrachten, und zwar als eine traurige. Nicht siefortsetzen, sondern ganz von ihr abbrechen, sie als nicht vorhanden betrach-

102 Teil I: Schelling

ten muß man, um wieder in die Linie des wahren Fortschritts zukommen.«25

5. Abschnitt: Schellings Lehre von der Wahrheit als Unverborgenheit. Wiedereinholung einer Gegenstellung

1. Kapitel: Über die Umstellung der Wahrheitsoffenbarung in derWirklichkeitserfahrung positiver Philosophie

Die erste Vorlesung zur Einleitung in die Philosophie der Offenbarung (WXII 3-17) führt zur positiven Philosophie als jener vollendeten Lehre vonder Wahrheit hin, deren unser Zeitalter am dringlichsten bedürfe. Ihrnämlich komme es zu, die schon von Leibniz aufgeworfene Frage aufzulö-se, welche den Menschen am tiefsten beunruhige: Warum ist und wozu ge-schieht überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts? Darauf stößt die Sinn-frage nach dem freien Handeln des Menschen in geschichtlicher Welt. Wo-hin führt die unermüdliche Arbeit und Mühe des Menschengeschlechts?Der Anblick der Welt und ihrer Geschichte ist anscheinend trostlos. Ge-schlechter kommen, um zu vergehen. Jegliches Geschehen versinkt in Ver-gangenheit. Alles geschieht umsonst. Diese nihilistische, zu allen Zeiten er-hobene Klage des ewigen Umsonst macht menschliches Tun unbegreiflich.»Weit entfernt also, daß der Mensch und sein Thun die Welt begreiflichmache, ist er selbst das unbegreiflichste [...]. Gerade er, der Mensch, treibtmich zur letzten verzweiflungsvollen Frage: warum ist überhaupt etwas?warum ist nicht nichts?« (W XII 7).

Darauf eine zureichende Antwort zu finden, ist Aufgabe einer unent-behrlichen philosophischen Wahrheitslehre. Vom Philosophen ist zu verlan-gen, den Menschen seiner Verzweiflung und Angst vor dem Nichts zu ent-

25 Der Widerstreit mit Hegel bringt Schellings Spätphilosophie in eine vergleichbarePosition mit Fichtes ungeschriebener Lehre. So arbeitet P. Baumanns: Fichtes undSchellings Spätphilosophie, 1989 im Hinblick auf Schellings theokosmische Speku-lationen in den Weltalter-Entwürfen und deren Modifikation durch die Zweipha-sigkeit von negativer und positiver Philosophie Ansatzpunkte für einen Vergleichheraus: in der Selbstoffenbarung des Absoluten, zu dem sich die unterschiedlicheSubstruktur (Fichtes Reflexionsgewölbe – Schellings trinitarische Heilsgeschichte)gleichermaßen wie Identität zu Indifferenz verhalten. Übereinstimmend gelte aberauch für beide Spätphilosophien, daß zwischen dem Absoluten und seiner Offen-barkeit eine Verbindungslücke klaffe.

5. Abschnitt: Schellings Lehre von der Wahrheit als Unverborgenheit. 103

reißen. »Kann ich jene letzte Frage nicht beantworten, so sinkt alles anderefür mich in den Abgrund eines bodenlosen Nichts« (W XII 8). Nun ist derAnblick der gegenwärtigen Philosophie zweideutig. Nie gab es eine Epoche,da nicht mehr bloß ein gewisses logisches und dialektisch-eristisches Argu-mentieren eingeübt, sondern die großen Fragen und Themen – die Freiheitdes Menschen, der Sinn von Existenz, Grund und Wirklichkeit, das Ge-schehnis der Wahrheit – eindringlich in Angriff genommen wurden. Und esgab zugleich kein Zeitalter, das vom Ziel, dem Begreifen der Wahrheit, demVerstehen des Sinnes von Sein weiter abgekommen wäre. Dieses UrteilSchellings gilt wohl immer noch, zumal in unserer geschichtlich total präzi-sierten, sinnentstellten Welt. Also ist es immer noch Bedürfnis unseres Welt-alters, den Grundsatz zu restituieren, »daß die Wahrheit um jeden Preis,auch um den schmerzlichsten, gewollt werde« (W XII 10). Daher ist KantsVernunftkritik und das daraus resultierende begeisterte und strittige Ringenum das wahre Fundament alles Wissens und um die Grundlegung mensch-lichen Daseins und Lebens aufzunehmen, in der Absicht, den Standpunktder Wahrheit zu erreichen, da das Wissen des Wissens fest gegründet ist unddie Verzweiflung des Menschen an der Wirklichkeit und die Angst vor demdrohenden Nichts zur Ruhe kommen.

Dieses Ziel aber sei nur dadurch zu erreichen, daß die Wahrheitstheoriender tradierten und etablierten negativen Philosophie auf die Wirklichkeits-erfahrung einer positiven Philosophie umgestellt werden. Nur dadurch kön-ne eine zureichende Lehre von der Wahrheit ihr Ziel und ihren Abschlußfinden. Nun ist diese Wahrheitsrevolution weithin vergessen. Um sie wiedereinzuholen, ist zuerst und vor allem die Gegenstellung der positiven Philo-sophie in dieser Frage in Erinnerung zu bringen. Positive Philosophie näm-lich streitet mit einem Wahrheitswesen, das auf der gründlich begriffenenSubjekt-Objekt-Einheit beruht. Das sei immer nur der Anfangsgrund fürdas Wahrseinkönnende und lasse die Frage nach der wahren Wirklichkeitund Existenz aus. Sie verfehle damit die ganze Wahrheit als Wahrheit desGanzen. Schellings kritische Gegenstellung läßt sich auf einer einfachenÜberlegung aufbauen. Jeder Begriff, sei es der empirische, der reine oder derspekulative, faßt das in Gedanken, was eine Sache ermöglicht, wesenhaftdiese Sache an sich zu sein. Der Begriff ist das gedachte wesenhafte Wassein(quid est). Ist ein Sachwesen nur in seinem Begriff anwesend wie bei mathe-matischem Wissen oder wie in Hegels Gedanken-Logik, dann bildet der Be-griff die Anwesenheit der Sache selbst vor, aber eben nur im Sinne essentiel-len Seinkönnens und nicht in der Seinsbedeutung der Wirklichkeit. Das

104 Teil I: Schelling

Existieren hier und jetzt im Modus geschichtlicher Kontingenz entzieht sichoffenkundig der reinen Vernunft. Es ist nur auf dem Wege der Erfahrungzugänglich. Bedeutet nun wahres Wirklichsein primär ein Daßsein (quodest), dann begreift der Begriff nicht mehr als ein seinsloses Seinkönnendesbzw., modal abgewandelt, ein Seinmüssendes bzw. etwas Seinsollendes. Die-ses Defizit gilt total für das Begreifen des absoluten Prius, sofern dieses das»rein Existierende« ist. Es ist begrifflos und unbegreiflich. Es ist derjenigeAbgrund, den die Sprache des Begreifens niemals überbrückt. Konsequen-terweise läßt die positive Philosophie an ihrem Anfang den Begriff fallen.Sie verläßt damit endgültig den klassischen Weg des ontologischen Gottes-beweises, der vom Begriff aus zur Existenz Gottes führen will, den KantsThese vom Wirklichsein »Sein ist kein reales Prädikat« zerstört und den He-gels Begriffslogik wiederaufgebaut hat.

Dadurch nun, daß der Erste Anfangsgrund zu einem Unbegreiflichenund der Vernunft Verborgenen wird, wandelt sich die Wahrheitserfassungzu einem übervernünftigen, nicht etwa widervernünftigen, irrationalenWahrheitsgeschehen. Das Ereignis der Wahrheit ist Offenbarung, dergestalt,daß zur Bewegung des Offenbarmachens das Durchbrechen einer Verbor-genheit gehört. Das stellt die Lichtmetaphysik und deren Wahrheit als Auf-springen des Lichtes um. Die Basis der Lichthelligkeit ist das Dunkel. DieManifestation des Lichtes und der Wahrheit geschieht im Gegenzug von Of-fenbarung und Verbergung. Diesen Wahrheitsursprung stellt eine Leitthesevon Schellings Philosophie der Offenbarung fest (W XII 187): »Überhauptsetzt schon der Begriff der Offenbarung oder eines sich Offenbarenden eineursprüngliche Verdunkelung voraus. Sich offenbaren kann nur, was einstverborgen worden.« Existenzontologisch heißt das: Gott als das bloß Existie-rende hält anfänglich mit sich zurück. Indessen, der Gott der positiven Phi-losophie ist kein Deus absconditus totaler Verborgenheit. Dagegen spricht»das alleinige, das höchste und über allem schwebende Weltgesetz« (W XII8). Es besagt, daß nichts verborgen bleibe, daß alles offenbar werde, daß allesklar, bestimmt und entschieden sei.

Dieses neue Gesetz der Wahrheit wiederholt nicht etwa bloß die Plato-nische und Cartesianische Wahrheitsbestimmung, beide komplementärzusammenfassend: das Offenbarwerden der Ideenwelt im Lichte der Ver-nunft und die zur Gewißheit gewordene, vom unentschiedenen Zweifelgelöste Offenheit und Klarheit der Vorstellung. Schellings höchstes Welt-gesetz spricht vom Wahrheitsereignis in neuer Weise, nämlich als Vorgang

5. Abschnitt: Schellings Lehre von der Wahrheit als Unverborgenheit. 105

eines Geschehens, in welchem ein anfänglich Verborgenes und Unbegreif-liches als Basis der Lichtung zu entschiedener Offenheit durchbricht.

2. Kapitel: Der Weg zur Wahrheit von der intellektuellen Anschauung zur entsetzenden Ekstasis

Ist Wahrheit ein Ereignis unvordenklichen Entbergens, wie sind dann un-ser selbstbezügliches Wissen und unser endlich-sterbliches Sehen diesemWahrheitsgeschehen zugeordnet? Das ist eine unabweisbare Frage kriti-scher Selbstbesinnung. Sie ist im Blick auf Schellings Entdeckung derWahrheit als Un-Verborgenheit zu skizzieren. Dieser Weg führt von derintellektuellen Anschauung zur ent-setzenden Ekstasis.

Das Schlüsselwort für die anfängliche Auffassung, welche Wahrheit alsEvidenz der absoluten Einheit von Denken und Sein versteht, heißt intellek-tuelle Anschauung. »Die Einheit des Denkens und Seyns nicht in dieseroder jener Beziehung, sondern schlechthin an und für sich selbst, mithin alsdie Evidenz in aller Evidenz, die Wahrheit in aller Wahrheit, das rein Ge-wußte in allem Gewußten erblicken, heißt, sich zu der Anschauung der ab-soluten Einheit und dadurch überhaupt zur intellektuellen Anschauung er-heben« (Fernere Darstellungen, 1802; W VII 416 = SW IV 364). Also vermages unser Sehen in den Schranken endlicher Erkenntnis, die Wahrheit in allerWahrheit zu erblicken. Das fragt nach der Evidenzerfahrung des Wahrheits-grundes, der allem Gewußten in der Übereinstimmung von Denken undSein, von Subjekt und Objekt, von Idealem und Realem vor- und zugrunde-liegt. Das eben ist die schlechthinnige Einheit von Denken und Sein; dennallein die Indifferenz von Subjekt und Objekt ermöglicht und verbürgt ein-heitlich, daß in unserem gegenständlichen Wissen Denken und Sein, Sub-jekt und Objekt richtiggehend übereinstimmen. Wie aber kann dieser ewigeWahrheitsgrund uns evident werden? Nun kann der Grund alles objektivGewußten unmöglich selbst Objekt unserer Erkenntnis sein und sinnlich,zeitlich, räumlich angeschaut werden. Gleichwohl kommt der Wahrheits-grund zur Evidenz – dank des Organs der intellektuellen Anschauung (dasfür Kant noch ein hölzernes Eisen war). Das Auge intellektuellen Anschau-ens öffnet sich, indem sich das Auge einer objektivierenden Weltanschauungschließt. Menschliches Einsehen wird durch die Grenzbesinnung der ErstenPhilosophie zum Ort, an welchem die göttliche Vernunft sich selbst erkennt.»Nur in der höchsten Wissenschaft schließt sich das sterbliche Auge, wo

106 Teil I: Schelling

nicht mehr der Mensch sieht, sondern das ewige Sehen selber in ihm sehendgeworden ist« (Kritische Fragmente; W IV 182 = SW VII 248).

Solcher Aufstieg der höchsten Wissenschaft zum Ersehen des Wahrheits-grundes erfordert es, alles gegenständliche Erkennen zu übersteigen und dasendlich-menschliche Ich als Ort der Wahrheit zu verlassen. Das beschränkteIch und dessen gegenständlicher Weltbezug muß am Ende als Gründungs-stätte aller Wahrheit und Gewißheit nihiliert werden. Das ist eine frühe Ein-sicht Schellings. »Der letzte Endzweck des endlichen Ich sowohl als desNicht-Ich, d.h. der Endzweck der Welt, ist ihre Zernichtung, als einer Welt,d.h. als eines Inbegriffs der Endlichkeit« (Vom Ich 1795 § 14; W I 124-25 =SW I 200-201). Wird nun auf diesen vermittelnden Prozeß kritischer Selbst-aufhebung geachtet, dann greift Hegels dreifacher Einspruch ins Leere. Dieintellektuelle Anschauung sei ein Unmittelbares; sie werde einfachhin gefor-dert; sie sei bloß zufällig, da sie zur einzigen Bedingung philosophisches Ta-lent oder gar Genie mache. Dagegen ist die Erhebung zum intellektuellenAnschauen ein ebenso vermittelter wie notwendiger Prozeß. Er bestimmtden Gang des Wissens, das sich zum Wahrheitsgrund des Absoluten erhebt;denn er führt weg von der Bodenlosigkeit eines verabsolutierten menschli-chen Subjekts und löst sich von dessen vergeblicher Bemühung, das Urstän-dige vergegenständlichen zu wollen. Der Eingang in das Licht der intellektu-ellen Anschauung bricht zum Wissensstande durch, in welchem nicht nurdas Ewige im Ich, sondern das sich im Ich sehende Ewige selbst zu erblickenist. Solche das Ich negierende positive Wendung verstärkt der Erlanger Vor-trag von 1821 Über die Natur der Philosophie als Wissenschaft. Er setzt anstel-le des Problemwortes ›intellektuelle Anschauung‹ den sprechenderen Aus-druck ›Ekstase‹.26

26 Die gedankenreiche, zumal Schellings Spätphilosophie beziehungsreich einbezie-hende Darstellung von L. Hühn: Fichte und Schelling. Oder: Über die Grenzemenschlichen Wissens, 1994 verfolgt die These, im Idealismus sei von Beginn andie Tendenz einer Selbstaufhebung am Werk, insofern aller Grundlegung einer rei-nen Subjektivität von Anfang an die Erfahrung der Grenze und Ohnmacht einge-wurzelt sei. Solch frühe Einsicht trete in Fichtes Spätphilosophie in der Gestalt ei-ner negativen Theologie heraus, welche die Absolutsetzung neuzeitlicher Subjekti-vität negiert. Am dramatischsten aber ziehe Schelling die Konsequenz in der Orts-anweisung der Ekstasis; denn sie verlange eine ›Selbstaufgabe‹, da der Mensch vonallem ›lasse‹, was ihn in seinem ›Selbstbesitz‹ auszeichne, so daß sich das Selbst inder Ekstasis kathartisch verwandle.

5. Abschnitt: Schellings Lehre von der Wahrheit als Unverborgenheit. 107

»Nämlich unser Ich wird außer sich, d.h. außer seiner Stelle gesetzt. SeineStelle ist die, Subjekt zu sein. Nun kann es aber gegen das absolute Subjektnicht Subjekt sein, denn dieses kann sich nicht als Objekt verhalten. Also esmuß den Ort verlassen, es muß außer sich selbst gesetzt werden, als ein garnicht mehr Daseyendes. Nur in der Selbstaufgegebenheit kann ihm das ab-solute Subjekt aufgehen, in der Selbstaufgegebenheit, wie wir sie auch indem Erstaunen erblicken« (W V 23 = SW IX 229). Ekstasis meint eben wört-lich: Entsetzung von einer Stelle. Das ist dann unheilvoll und führt zu einembedingungslosen Außersichsein, wenn etwas aus seinem Ort gestoßen undentrückt wird, der ihm wesensgemäß zukommt. Die entsetzend-verrücken-de Ekstase ist heilsam und führt zur Besinnung zurück, wenn etwas aus ei-nem Ort entfernt wird, der ihm nicht gebührt. Die kritisch besonnene Ek-stasis nun entsetzt das Subjekt einer Vernunftwissenschaft, das am falschenOrte steht. Das ist ein Ich auf dem eigenen Grund und Boden der Wahrheit.Dessen Entsetzung geschieht als Selbstabdankung. Das seiner Beschränkt-heit, Grenze und Ohnmacht bewußt gewordene Ich gibt seine oberste Prin-zipienstellung selbst auf.

Die ekstatische Selbstaufgabe gewinnt innerhalb der Scheidung von ne-gativer und positiver Philosophie an Radikalität. Weil das absolute Prius undbloß Existierende allem Ideendenken unerreichbar, unvordenklich voraus-geht, muß die Vernunftwissenschaft ihren Standpunkt als festen Ort derWahrheit aufgeben. »Das bloß – das nur Existierende ist gerade das, wo-durch alles, was vom Denken herkommen möchte, niedergeschlagen wird,das, vor dem das Denken verstummt, vor dem die Vernunft selbst sichbeugt; denn das Denken hat eben nur mit der Möglichkeit, der Potenz zuthun« (Philosophie der Offenbarung I 8. Vorl.; W XII 161).

Die ekstatische Selbstaufgegebenheit aber beugt nicht nur nieder undentsetzt, sie befördert den Vollzug negativer wie positiver Freiheit. Durchsie wird die Vernunft frei davon, sich selbst Objekt sein zu wollen und da-rin immer nur die unendliche Potenz des Seins finden zu können. Kommtdie Vernunft davon los, dann wird sie staunend dazu frei, sich wesensnot-wendig das unendlich Existierende vorauszusetzen. So aus sich herausge-setzt erstarrt sie gleichsam vor Staunen. (Stupor, thambos – das ist dasStaunen als Anfang und Ende des Philosophierens.) »Aber sie erstarrt demalles überwältigenden Seyn nur, um durch diese Unterwerfung zu ihremwahren und ewigen Inhalt, den sie in der Sinnenwelt nicht finden kann,als einer wirklich erkannten zu gelangen« (W XII 165).

108 Teil I: Schelling

Am Ende kehrt die Anfangsfrage nach dem obersten Wahrheitsgrundzur Unruhe eines metaphysischen Zweifels zurück. Das initiale Anfangspro-blem stellt sich im Horizont von Schellings positiv-philosophischer, ekstati-scher Besinnung auf die Unverborgenheit des Nur-Existenten so: Wiekommt es zu jener Krise, in welcher die Vernunftwissenschaft ihren usur-pierten Ort räumt, um für das Offenbarungs- und EntbergungsgeschehenPlatz zu machen? »Wie kann aber der Mensch zu dieser Ekstase gebrachtwerden, welches so viel heißt als: wie wird der Mensch zur Besinnung ge-bracht?« (W V 24 = SW IX 230). Schellings Bescheid lautet: Es ist der zerrei-ßendste Zweifel, welcher zur Besinnung über das Ordnungs- und Fundie-rungsverhältnis von Vernunft und Wahrheit führt; dieser Zweifel zerreißtden Zustand der Spannungslosigkeit und Gleichgültigkeit, da ihm die ge-dachte Wesensmöglichkeit und das existierende Wirkliche gleichviel gilt,und erzeugt die gespannte Unruhe, den Grund des Wirklichen und Wahren– unter den Namen absolutes Subjekt, ewige Freiheit, lauterer Wille – sichausdenken zu wollen und es nicht zu können. So findet sich das vernünf-tigste Lebewesen umgetrieben, ein Urständiges zu suchen, das alle Verge-genständlichung flieht. »Dieser innere Umtrieb ist der Zustand des zerrei-ßendsten Zweifels, der ewigen Unruhe« (W V 25 = SW IX 231). So führtSchelling den metaphysischen Zweifel Descartes’ auf die ewige Unruhemenschlichen Existierens und Wahrheitsuchens zurück. Er löst den Prozeßder ekstatischen Selbstentsetzung und eröffnet eine Freiheit, welche für dasEreignis der Entbergung frei wird.

Im Ganzen erfaßt Schellings Spätphilosophie das Wahrheitsgeschehender Unverborgenheit, indem sich die positive Philosophie vorzüglich aufdrei notwendige Bedingungen ihrer Erfahrung besinnt: daß unser sterbli-ches Auge sich schließt, daß unser Ich ekstatisch außer sich gesetzt und instarrem Staunen entsetzt wird, daß ein zerreißender Zweifel unser Existie-ren in ewige Unruhe versetzt. Erst eine Besinnung auf eine solche Selbst-aufgabe des Ich vermag es, das Ereignis der Unverborgenheit als Offenba-rungsgeschehen des Wahrheitsgrundes durchsichtig zu machen. Damitrückt Schellings Spätphilosophie am nächsten an Fichtes ungeschriebeneLehre heran und weicht am weitesten von ihr ab.

Teil II: Hegel

Schellings philosophiegeschichtliches Todesurteil ist niemals exekutiertworden. Zwar hat die Reszendenzbewegung der großen Revolutionäre des19. Jahrhunderts, Kierkegaard und Marx, Hegels Grundlegung des absolu-ten Geistes existenztheologisch wie politisch-ökonomisch als illusionäreTranszendenz entwurzelt. Die eindrucksvolle Hegel-Renaissance der neue-ren Idealismusforschung aber hat es verhindert, Hegels Denkweg als trau-rige Episode und heillosen Irrgang zu verlassen. Stattdessen ist Hegels ge-nialer Systementwurf als Vollendung der Metaphysik durchsichtig ge-macht und als systematische Entfaltung der platonischen Hypothesis desEidos wieder ernsthaft zur Diskussion gestellt worden, und zwar unterweitgehender Abblendung der beiden anderen, in der neueren Forschungebenfalls in den Mittelpunkt gerückten Vollendungsgestalten des Deut-schen Idealismus, eben der Spätphilosophie Schellings seit seiner Frei-heitsschrift und der Darstellung der Fichteschen Wissenschaftslehre inden Vorträgen seiner ungeschriebenen Lehre.

Im restitutiven Vorgriff auf die Blütezeit des Deutschen Idealismusim Stadium seiner dreifachen Vollendung ist Hegels grandioser, geistvollerSystementwurf in seinen Eckpunkten zu problematisieren. Das sind derEndstand der Phänomenologie des Geistes, der Anfang der Seinslogik sowieder Übergang der absoluten Idee einer Ontotheologik zur Realphilosophie.Und es ist der Widerstreit Hegels gegen den Vollendungsanspruch von Fich-tes Wissenschaftslehre zu verfolgen. Das gelingt vorzüglich auf dem proble-matischen Wege einer metaphysischen Sollenskritik.

1. Abschnitt: Vollendung der Vernunftwissenschaft als System?Nachfragen

1. Kapitel: Hegels Zusammenschluß von Wissenschaft und System.Wiederholung eines Vollendungspostulats

Ein fester Maßstab, an dem die Vollendung der Philosophie als Wissen-schaft in der Neuzeit gemessen wird, ist ihr Systemcharakter. Hegel macht

110 Teil II: Hegel

es nachdrücklich klar, »daß das Wissen nur als Wissenschaft oder als Sys-tem wirklich ist und dargestellt werden kann« (TWA 3, 27). Wissenschaftund System sind Synonyme. Eine Philosophie ohne systematische Abge-schlossenheit und Kohärenz kann nicht wissenschaftlich heißen. Unsyste-matisches Philosophieren verfährt zufällig und bleibt fragmentarisch. Wassich zumal nach dem ›Zusammenbruch‹ des Hegelschen Systems ausbrei-tet, ist belletristische Essayistik und eine Aphoristik von Geistesblitzen.Diese Darstellungsart legitimiert sich dadurch, daß sie die Möglichkeit ei-ner in sich geschlossenen Systembildung aus einem Stück durchstreicht.Sie gibt der Philosophie als strenger Wissenschaft den Abschied. Nach He-gels Votum aber bringt sie es nicht zur Einsicht ins absolute und totaleSelbsterkennen der Vernunft und bleibt unvermögend, ein absolutes Wis-sen dialektisch als Vermittlung der Wahrheit, die doch das Ganze ist, dar-zustellen.

Die Systemanforderung beleuchtet eine Philosophiegeschichte, die nichtzusammenhanglos, sondern die Arbeit eines Geistes und das Werk vonJahrtausenden ist. Seit dem Aufbruch der Metaphysik durch Platos undAristoteles’ Ideenlehre bietet philosophisches Denken ein System in ge-schichtlicher Entwicklung dar. Dabei nimmt die dem geschichtlichen Zeital-ter nach spätere Systementfaltung stets das Resultat der vorhergehendenGrundgedanken, sie ergänzend, in sich auf. Ein System kann so zur gedan-kenreichsten und aufgeschlossensten Darstellung gelangen, weil es alle »indüsterer Unmittelbarkeit« aufgetretenen Vorstufen aufhebt und vermittelt.So kommt am Ende der weltgeschichtlichen Arbeit des Begriffs die Wahr-heit des Ganzen vollständig und evident zu Tage: als Totalität aller Wissens-bezüge, deren lebendiges Gesetz die Idee der Vernunft und deren Subjektdas Absolute ist.

Nun hat auch Fichtes ungeschriebene Lehre eine evidente und vollendeteSystembegründung eingefordert. Das Proömium der W.L. 1804-II gibt dieseAufgabe vor. Die Wahrheit darzustellen verlangt, alles Mannigfaltige auf ab-solute Einheit in die Einfachheit eines Einheitsgrundes zurückzuführen. Daszeichnet den Umriß einer vollendeten Systembildung vor und gibt ein Kri-terium an die Hand, um unfertige Systemkonzeptionen zu widerlegen. »Wonoch irgend die Möglichkeit einer Unterscheidung deutlich, oder still-schweigend eintritt, ist die Aufgabe nicht gelöst. Wer in oder an dem, was einphilosophisches Ssytem als sein Höchstes setzt, irgend eine Distinktion alsmöglich nachweisen kann, der hat dieses System widerlegt« (GA II/8, 8).Und offenkundig geht das Streitgespräch zwischen Fichte und Schelling

1. Abschnitt: Vollendung der Vernunftwissenschaft als System? 111

nicht zuletzt um das Gelingen eines Systemkonzepts. Schon im Brief vom 31.Mai 1801 hat Fichte gegen Schellings Darstellung meines Systems eingewen-det, diese Systemform habe ohne stillschweigende Erläuterung aus der Wis-senschaftslehre keine Evidenz.

Solcher Systemanspruch wird im kritischen Zwielicht der Spätphiloso-phie Schellings umgekehrt. Er erweist sich als das Kriterium einer be-schränkten, von Wirklichkeit und Existenz abgehobenen negativen neuerenPhilosophie, die im Falle Hegel überspannt verunglückt. Eine positive Philo-sophie, welche auf geschichtliche Offenbarungserfahrung setzt, gibt sehen-den Auges den Systemanspruch auf. Und Schellings Hörer in Berlin, SörenKierkegaard, sieht im Eingehen auf die Wirklichkeit des existierenden Geis-tes die Existenz- und Wirklichkeitsvergessenheit der logisches Systemver-mittlung Hegels und dessen phantastischem Prinzip eines Subjekt-Objektsein. Ist das Subjekt gar nicht das unwirkliche Absolute, sondern der ›existie-rende Geist‹, der ›Einzelne‹ unmittelbar vor Gott, dann ist der Systeman-spruch völlig unberechtigt. Vom existierenden Geist und dem Dasein desEinzelnen gibt es kein System für die Stadien auf dem Lebensweg, sondernam Ende allein den Sprung in das ontologische und christologische Para-dox. Und endlich ist das Vertrauen auf die spekulative Wahrheit der Philo-sophie als System und Wissenschaft nihilistischem Mißtrauen gewichen.Nietzsches Credo lautet: »Ich misstraue allen Systematikern und gehe ihnenaus dem Weg. Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit«(Götzendämmerung, Sprüche 26; KSA 6, 63).

Angesichts solcher vielstimmiger Ablehnung der Philosophie als umfas-sende Grundlagenwissenschaft liegt viel daran, den Systemcharakter derHegelschen Dialektik zurechtzurücken. Dabei kann die flache Worterklä-rung geschenkt werden, wonach System die Zusammenstellung von Teilenzu einem von unserem Verstande konstruierten Ganzen bedeutet, welchesdurch Totalität, inneren Zusammenhang und allumschließende Geschlos-senheit ausgezeichnet ist. Systemgrund des vollendeten Idealismus ist ebendas Absolute, das sich dadurch mit sich selbst zusammenstellt, daß es sichins Anderssein als Natur frei entläßt, um in die Einfachheit seines Seins zu-rückzukehren. Mithin gehört zur Geschlossenheit und Totalität eines Sys-tems, dessen Subjekt das Absolute ist, eine Offenheit des Sichhingebens, in-dem sich der Geist ins Anderssein entäußert, so zwar, daß zum Sichöffnendas Beisichbleiben und ein Sich-mit-sich-Zusammenschließen gehört. ImBilde versinnlicht: Die fortgehende Linie des sich öffnenden Geistes schließtsich zu einem Kreis von Kreisen zusammen, da der Fortgang vom Anfang in

112 Teil II: Hegel

eins Rückkehr ist und der unmittelbare Anfang in einem Kreisgange vermit-telt wird. So stellt sich die Idee des Systems an die Stelle der metaphysischenTranszendenzbewegung.1

An solcher Systemforderung also ist Hegels Wissenschaft des absolutenWissens selber zu messen, um die Behauptung zu erwägen, hier vollendesich die abendländische Metaphysik als Wissenschaft. Hegels erste program-matische Abhandlung, das Vorwort zur Phänomenologie des Geistes hat da-für den Grundsatz vorgegeben: Das Wahre ist nur als System wirklich. Die-ser Satz impliziert, daß das Wahre als das Ganze erfaßt und methodisch ver-mittelt dargestellt werden kann, und ferner, daß das Absolute als Geist, d.h.als Substanz auszusprechen ist, die wesentlich Subjekt ist. Wird das bruchlosausgeführt, dann allerdings scheinen alle konkurrierenden Vernunftwissen-schaften als unvollendete Vorstufen in einem endgültig zur Vollendung undstrikter wissenschaftlicher Systematik aufgestiegenen Idealismus aufgeho-ben zu sein.

2. Kapitel: Zweiteiliger Systembau oder dreiteilige Enzyklopädie? Eine Vorfrage

Offensichtlich folgt Hegels Ausarbeitung der Philosophie im Ganzen als sys-temorientierte Wissenschaft einem verändert erscheinenden Vorentwurfund Ziel. Anfangs kündigt sich ein zweiteiliges System der Wissenschaftenan, späterhin wird eine dreiteilige Enzyklopädie der philosophischen Wis-senschaften im Grundriß vorgelegt. Von daher stellt sich, werden die Titelstreng genommen, die Vorfrage nach einer Veränderung im Systemausbauund der Einlösung des Vollendungspostulats. Ist die Vollendung des Deut-schen Idealismus als vollständiger Systembau nun abgeschlossen wordenoder als Enzyklopädie offengeblieben? Ausdrücklich hatte Hegel seine Phä-nomenologieschrift als »System der Wissenschaft. Erster Theil« angekün-digt. Das ließ erwarten, daß das Ganze der Vernunftwissenschaft als einan-

1 J. Hyppolite: Anmerkungen zur Vorrede der Phänomenologie des Geistes, 1969 be-tont das Sichöffnen und Sichhingeben des Absoluten als Subjekt des Systems, zu-mal im Eingehen in die Zeitgeschichte der Weltalter. Sonach sei die Geschlossen-heit des Ganzen und die Sicherheit des Beisichbleibens nur die eine Seite; sie ver-binde sich untrennbar mit Offenheit, einem Abenteuer des Geistes. Das Bild des insich kreisenden Kreises stimme so paradoxerweise mit dem Bilde der fortschrei-tenden Linie zusammen.

1. Abschnitt: Vollendung der Vernunftwissenschaft als System? 113

der ergänzende Zusammenstellung von zwei Teilen zur Darstellung gelangt,in der Verbindung einer einleitenden Wissenschaft vom erscheinendenGeist in seinem Erscheinen mit einer abschließenden Wissenschaft des sichvollbringenden Geistes in seinem Sichbegreifen. Nun aber hat Hegel nichtdieses zweiteilige ›System‹, sondern eine dreiteilige ›Enzyklopädie‹ (zuerst inHeidelberg 1817) ausgearbeitet, bis 1830 in zwei weiteren Auflagen dem Um-fange nach verdoppelt und der Sache nach ergänzt. Das erregt Fragen, zu-mal der vormals reiche Erste Teil des Systems, die Phänomenologie, unterder Rubrik ›Bewußtsein‹ auf wenige Seiten ärmlich reduziert, innerhalb derEnzyklopädie in die Lehre vom subjektiven Geist eingeordnet worden ist.2

Eine das System lockernde Fragestellung ist die: Zeigt der Titel ›Enzyk-lopädie‹ an, daß zwar das Gesamt aller philosophischen Wissenschaftenim Grundriß zusammengestellt ist, der strenge Anspruch eines Systemsaber aufgegeben oder nur annäherungsweise erfüllt und die Wissenschaftdes erscheinenden Geistes als erster Systemteil durchstrichen ist? Oder hatHegel den Systemanspruch niemals aufgegeben, sondern nur in der Dar-stellungsform, etwa in der Form eines Vorlesungskompendiums, variiert?Nun hätte Hegel mit seinem Systemgedanken auch den Wahrheitsan-spruch seines Gesamtwerkes preisgegeben, sofern ein unsystematischesDenken eben wissenschaftlich unfertig und imperfekt ist. Und in der Tat:Die Enzyklopädie stellt die philosophischen Wissenschaften nach dem di-alektischen Gesetz der Idee triplizitär in systematischer Ordnung vor, undsie gibt am Ende die Zusammenschlüsse einer allseitigen Vermittlung an.Daran ist stichworthaft zu erinnern.

Die Enzyklopädie stellt ihre drei Teile Logik – Naturphilosophie – Phi-losophie des Geistes durchaus systematisch triplizitär unter dem Prozeß-gesetz der Idee dar. Die Logik (des Seins – Wesens – Begriff) folgt der Ideean und für sich, die Naturphilosophie (Mechanik – Physik – Organik)folgt der Idee in ihrem Anderssein, die Philosophie des Geistes folgt derIdee in ihrer Rückkehr zu sich selbst, und zwar im Dreischritt des subjekti-

2 Die Abhandlung von K.-H. Volkmann-Schluck: Metaphysik und Geschichte, 1963bedenkt diese Umgestaltung des zweiteiligen Systems zur dreiteiligen Enzyklopädieals Indiz dafür, daß Hegel den strengen Systemanspruch aufgegeben habe. In einerEnzyklopädie komme das System nicht mehr zum Austrag, weil es in ihr keinenOrt für die Phänomenologie im Ganzen gebe. Tiefer gedacht: weil sich die Wahr-heit in ihrem Wesenszug, dem Sichentziehen, dem Denken als Vergewisserung ei-nes unbedingten Sichwissens versagt.

114 Teil II: Hegel

ven Geistes (Seele – Bewußtsein – Geist) über den objektiven Geist (Recht– Moralität – Sittlichkeit) empor zum absoluten Geist (Kunst – Religion –Philosophie).

Am Ende der ausgearbeiteten Enzyklopädie von 1830 (§§ 575-577) findetsich der Systemschlüssel hinterlegt; denn die drei Teile sind nicht für sichbesondert einfach nebeneinandergestellt, sie sind so zusammengeschlossen,daß das Ganze sich in seinen Momenten mit sich vermittelt. Das erwirkt einSchluß von drei Schlüssen, in denen jedes der drei Momente, die Natur, dasLogische, der Geist, zur Mitte wird. So hat der Erste Schluß (§ 575) die Naturals das Mittlere, welche den Geist mit dem Anfangspunkt, dem Logischen,vermittelt und zusammenschließt. Das vermag die Natur ja, sofern sie alsIdee in ihrem Anderssein angesetzt ist. Der Zweite Schluß (§ 576) hat denStandpunkt des erkennenden, sich frei hervorbringenden Geistes zur Mitte,welcher die vorausgesetzte Natur im Erkennen ihrer Gesetzlichkeiten mitdem Allgemein-Logischen zusammenschließt. Der Dritte Schluß (§ 577) hatdas Logische, die an und für sich seiende Idee zur Mitte, die sich ur-teilendin Natur und Geist entzweit, dergestalt, daß es den Geist voraussetzt und mitder Natur, der äußersten Existenz der ewigen Idee, zusammenschließt. Hierzeigt sich die Systematisierung auf der Höhe eines Zusammenschlusses, dasich »die ewig an und für sich seiende Idee sich ewig als absoluter Geist be-tätigt, erzeugt und genießt« (TWA 10, 394).

Offenbar hängt die Systemerfüllung in der Vermittlung der drei Mo-mente im Dritten Schluß von der Integrität des Logische als vermittelndeMitte ab. Die schlüssige Vermittlungskraft des Logischen auf der spekula-tiven Höhe der Hegelschen Logik aber ist von Anfang bis Ende in Fragegestellt worden: in Betreff des Anfangs, dem Übergang von Sein undNichts ins Werden, und in Betreff des Entstandes, des Übergangs der abso-luten Idee ins Anderssein als Natur. Diese Kritik an Anfang und Ende derHegelschen Logik hatte bereits die letzte große Vollendungsgestalt desDeutschen Idealismus, Schellings Spätphilosophie, erhoben. In dieser Per-spektive stellt sich eine äußerste Streitsache ein. Stellt Hegel den End-zustand einer Jahrtausende währenden Systementwicklung vor oder nur,mit Schellings letzten Wort, eine traurige Episode in der Geschichte derabendländischen Philosophie?

2. Abschnitt: Wege zum absoluten Wissen. Ein synoptischer Überblick 115

2. Abschnitt: Wege zum absoluten Wissen. Ein synoptischer Überblick

Art und Höhe spekulativer Systementfaltung hängen von der Art undHöhe derjenigen Wege ab, die zum absoluten Wissen über die Stufen vonReflexion und Selbstgewißheit des Ich hinführen. Dieser Methodos leitetdas natürliche Bewußtsein zwingend an, sich in das spekulative Sehen ein-zuüben, um dialektisch vermittelnd zum philosophischen Bewußtsein auf-zusteigen. Ein philosophisches Bewußtsein im Hegelschen Verstandebricht eben nicht als Ingenium intellektuellen Anschauens des Ewigen un-mittelbar bei Auserwählten auf. Es arbeitet sich auf dem Wege aufzuhe-bender Widersprüche bis zu einem spekulativen Niveau hinauf. Das ist imGeiste absoluten Wissens erreicht. Genau an diesem Punkte aber tritt derWiderstreit zwischen Hegelscher Dialektik des Geistes und Fichtes Wis-senschaft absoluten Wissens zu Tage.

Für eine Kurzanzeige dieses Hinführungsproblems sind lediglich dreiGesichtspunkte einzunehmen: die Erhebung von der sinnlichen Gewiß-heit zur Endgestalt der Geistesphänomenologie, eben dem Wissen in sei-ner Absolutheit, sodann der Einsatz des absoluten Wissens als Element derSelbstverwirklichung der absoluten Idee und schließlich synoptisch einevorläufige Aussicht auf die Differenz zwischen Hegelscher und FichtescherSystembildung auf dem Grund und Boden absoluten Wissens.

1. Kapitel: Der Weg der Erfahrung im Erfassen des absoluten Wissens

Hegel hat als junger, außerordentlicher Professor der seit Fichtes Weggangabgeblühten Jenaer Universität mit einem jährlichen Salär von 100 Talernunter beträchtlichem finanziellen Druck sein Riesenwerk einer Phänomeno-logie des Geistes an jenen Tagen zu Ende gebracht, da er den bewundertenNapoleon, die Weltseele, den Geist, der über die Welt übergreift und sie be-herrscht, zum Rekognoszieren durch die Stadt hinausreiten sah und da –aus Hegels Sicht – in der Schicksalsschlacht Preußens von Jena und Auer-städt die Bildung über die Rohheit, der Geist über die Geistlosigkeit siegte.»Von seiner Wohnung aus sieht Hegel um 11 Uhr nachts auf dem Markt dieFeuer der französischen Bataillone, vor sich das letzte noch übrige Manu-skript der Phänomenologie« (K. Fischer: Hegels Leben, 1897, Bd. 1, 71). Ausdieser biographischen Notlage ist das notdürftig zusammengearbeiteteWerk abgeschätzt worden. Die eigentliche Einleitung und der erste Teil die-

116 Teil II: Hegel

ses Vernunftsystems seien ein geniales Notprodukt mit reichem Inhalt vonGedanken, aber ohne zulängliche systematische Durcharbeitung.3

Solche Oberflächenbetrachtung findet einen gewissen Anhalt in HegelsBrief vom 1. Mai 1807, da er Schelling das Erscheinen des Werkes ankün-digte. »Ich bin neugierig, was Du zur Idee dieses ersten Theils, der eigent-lich die Einleitung ist – denn über das Einleiten hinaus, in mediam rem,bin ich noch nicht gekommen – sagst. Das Hineinarbeiten in das Detailhat, wie ich fühle, dem Ueberblick des Ganzen geschadet; dies aber selbstist, seiner Natur nach, ein so verschränktes Herüber- und Hinübergehen,daß es [...] mich zuviel Zeit kosten würde, bis es klar und fertiger dastün-de. [...] Die größere Unform der letztern Partie [betreffend] halte DeineNachsicht auch dem zugute, daß ich die Redaktion in der Mitternacht vorder Schlacht bei Jena geendigt habe« (Hegel Br. I 161-162).

Hegels Einleitung und Vorentwurf seiner auf systematische Vollendungder Wahrheit abzielenden Vernunftwissenschaft liegt gleichwohl in einemder grandiosesten Werke der philosophischen Weltliteratur vor. DessenTitel und Untertitel kündigen zugleich eine Lehre vom erscheinendenGeist in seinem Erscheinen und den ersten Teil eines Systems der Wissen-schaft an. Die verfolgte Methode bahnt den Weg eines Stufenganges, dervom Bewußtsein über das Selbstbewußtsein zur Höhe der Vernunftaufsteigt. Wie umstritten und vielfach immer noch ungeklärt dieses ge-waltige Frühwerk in seiner Stellung, seiner Entstehungsgeschichte, seinerKomposition im einzelnen auch sei, im Ganzen gesehen ergibt sich einteleologischer Weg philosophischer Erfahrung, da das Bewußtsein auf-steigend erfährt, wie sich alle Gegenstandsverhältnisse in immer konkrete-re, reicher und freier werdende Selbstverhältnisse verwandeln. Daherkommt diese Erfahrung nicht etwa empirisch, sondern dialektisch zustan-de. Das geschieht in einer Prozeßbewegung, welche das Bewußtsein so-wohl an seinem Wissen wie an seinem Gegenstande vollbringt. In diesemnegierend-bewahrend-höherhebenden Prozeß widerlegt sich jede niederePosition selbst, um zu einem stets neuen Gegenstand höherer Wahrheits-

3 Vgl. Th. Haering: Die Entstehungsgeschichte der Phänomenologie des Geistes,1934. – O. Pöggeler: Die Komposition der Phänomenologie, 1966, 334ff. Die ur-sprüngliche Komposition der Phänomenologie sollte bis zum Vernunft-Kapitel ge-hen, die ganze voluminöse zweite Hälfte gehörte nicht zum ursprünglichen Plan ei-ner Einleitung.

2. Abschnitt: Wege zum absoluten Wissen. Ein synoptischer Überblick 117

erfahrung aufzusteigen. Solcher Erfahrungsweg führt von der sinnlichenGewißheit unseres natürlichen Bewußtseins über die Freiheit des Selbst-bewußtseins zur Gewißheit der Vernunft, alle Realität zu sein. Diese Er-scheinungslehre des erscheinenden Geistes übt in die Wahrheit eines abso-luten Wissens ein.

Daß eine einleitende Einübung, ein sich bemühendes Erlernen der philo-sophischen Wissenschaft selbstverständlich sein sollte, verdeutlicht ein Wortaus Hegels Vorrede. »Von allen Wissenschaften, Künsten, Geschicklichkei-ten, Handwerken gilt die Überzeugung, daß, um sie zu besitzen, eine vielfa-che Bemühung des Erlernens und Übens desselben nötig sei. In Ansehungder Philosophie dagegen scheint jetzt das Vorurteil zu herrschen, wenn zwarjeder Augen und Finger hat, und wenn er Leder und Werkzeug bekommt, erdarum nicht im Stande ist Schuhe zu machen, jeder doch unmittelbar zuphilosophieren und die Philosophie zu beurteilen verstehe, weil er denMaßstab an seiner natürlichen Vernunft dazu besitzt – als ob er den Maß-stab eines Schuhes nicht an seinem Fuße ebenfalls besäße« (TWA 3, 62-63).Unzweifelhaft besitzt der Mensch als Vernunftwesen einen Maßstab zu Er-messung der Vernunftwissenschaft, aber eben nur als Anlage seiner meta-physischen, Sein verstehenden Natur. Wie der Handwerker die Begabungder Fingerfertigkeit und das Organ der Hand (das Werkzeuge der Werkzeu-ge) besitzt und gleichwohl eine lange Lehr- und Übungszeit mit zunehmen-der Erfahrung braucht, um sein Metier zu meistern, so muß das natürlichezum philosophischen Bewußtsein in langer Lehrzeit gebildet werden. DieseEinübung, Lehre und Erfahrung beginnt eben damit, unser natürliches Be-wußtsein der sinnlichen Gewißheit, die dogmatische Wahrnehmung von ansich bestehenden Dingen, aufzuheben. Sie endet mit der Erfahrung des ab-soluten Wissens. »Diese letzte Gestalt des Geistes, der Geist, der seinem voll-ständigen und wahren Inhalte zugleich die Form des Selbst gibt und da-durch seinen Begriff ebenso realisiert, als er in dieser Realisierung in seinemBegriffe bleibt, ist das absolute Wissen« (TWA 3, 582). Kommt man nun amEnde der Philosophie in den Stand des absoluten Wissens und bildet diesesdas Element für den Geist, der sich sowohl dem Inhalt wie der Form nachbegreift und realisiert, dann stellt die Phänomenologie des Geistes eine un-umgängliche und adäquate Einleitung in die philosophische Wissenschaftdar.

Hier nun wird der lange, schon in der Hegelschule ausbrechende, inzwi-schen argumentativ wie philologisch subtil ausgetragene Streit über Sinn

118 Teil II: Hegel

und Funktion, über Komposition und Entwicklungsgeschichte der Phäno-menologie nicht thematisch behandelt.4

Es geht hier im Kontext der Vollendungsproblematik eines Systembausvon Einleitung und Grundlegung der Vernunftwissenschaft allein darum,den Endstand der dialektischen Phänomenologie einzuholen und diesesWerden des Wissens von einer Systembegründung abzuheben, »die wie ausder Pistole mit dem absoluten Wissen unmittelbar anfängt« (TWA 3, 31).Um diese Hinführung zur Vollendung der philosophischen Wissenschaftwieder einzuholen, bietet sich der letzte Abschnitt der Phänomenologie an:»Das absolute Wissen« (TWA 3, 575-591). Dabei mag es genügen, wegwei-sende Auskünfte Hegels herauszuheben. Aufgenommen wird die Erfahrungdes absoluten Wissens auf einem Stande, da das religiöse Bewußtsein diegeistige Höhe der offenbaren (christlichen) Religion erreicht hat. Freilich ist,philosophisch betrachtet, zu konstatieren: »Der Geist der offenbaren Religi-on hat sein Bewußtsein als solches noch nicht überwunden, oder, was das-selbe ist, sein wirkliches Selbstbewußtsein ist nicht der Gegenstand seinesBewußtseins; er selbst überhaupt und die in ihm sich unterscheidendenMomente fallen in das Vorstellen und in die Form der Gegenständlichkeit.Der Inhalt des Vorstellens ist der absolute Geist; und es ist allein noch umdas Aufheben dieser bloßen Form zu tun« (TWA 3, 575).

Der Geist der Religion bringt die Gottesidee in die Welt. Es ist die offen-bare Religion, welche die natürliche Religion wie den Kult der Kunstreligionin sich aufgehoben hat. Die Erhebung der offenbaren, christlich geoffenbar-ten Religion bildet dem Inhalte nach die höchste und vollendete Phase inHegels Erscheinungslehre des erscheinenden Geistes. Der Inhalt besteht da-rin, daß Gott als absoluter Geist gewärtig geworden ist. Das ist unüberbiet-bar. Allein die Form dieses Bewußtseins ist philosophisch zu überbieten. Re-ligiöses Bewußtsein nämlich findet seine Form in einem bildlichen Vorstel-

4 Grundlegend für diesen systematisch, philologisch, historisch komplizierten Frage-komplex sind immer noch zwei Untersuchungen, H. F. Fulda: Das Problem einerEinleitung in Hegels Wissenschaft der Logik, 1965, da das Problem einer Einleitungals Grundproblem der Philosophie im Blick auf Funktion und Notwendigkeit einerPhänomenologie wiedergewonnen wird; O. Pöggeler, Die Komposition der Phäno-menologie, 1966, da der Ansatz der Phänomenologie aus der Entwicklung der Jena-er Logik und Metaphysik verständlich gemacht wird, und zwar im Gegenzug gegenjene Zweige der Hegel-Forschung, welche den Weg von den Jugendschriften zurPhänomenologie an der Logik und Metaphysik vorbeilaufen sehen.

2. Abschnitt: Wege zum absoluten Wissen. Ein synoptischer Überblick 119

len, das innerlich bleibt und das Göttliche andächtig in Gestalten vorstellt.Dieser Form eines vorstellenden Bewußtseins fehlt die Vereinigung mit demSelbstbewußtsein in der Klarheit absoluten Wissens. Das ist nun freilichkein Mangel oder Versäumnis der Religion als solcher. Keineswegs ist es Sa-che des religiösen Glaubens, aus einem philosophischen Wissen und Begrei-fen her zu leben. Lange bevor die Vernunftwissenschaft ihre Form desSelbstbewußtseins entwickelt hat, ist Religion in der Weltgeschichte vorhan-den. (Und es wird religiöses Bewußtsein geben, auch dann, wenn nihilisti-sche Weltanschauungen den Gott der Philosophen umbringen.) Philosophi-sche Wissenschaft ist ein Späteres und auf das Erscheinen des Weltgeistes alsReligion angewiesen. Ist es nun allein die Sache der Wissenschaft, den ansich seienden Geist in seinem Fürsichsein, der Form des Sichwissens, zu fas-sen, so gilt: »Ehe daher der Geist nicht an sich, nicht als Weltgeist sich voll-endet, kann er nicht als selbstbewußter Geist seine Vollendung erreichen.Der Inhalt der Religion spricht darum früher in der Zeit als die Wissen-schaft es aus, was der Geist ist; aber diese ist allein sein wahres Wissen vonihm selbst« (TWA 3, 585-586).

In diesem Fundierungsverhältnis erhalten das ›Früher‹ und ›Später‹ ge-schichtlich-geschickhafte Bedeutung. So ist Zeit noch etwas anderes alsdas Maß der Bewegung (des Himmelsumschwungs/Kyklophora) von ei-nem früheren Jetzt (dem Sonnenaufgang) bis zu einem späteren Jetzt(dem Moment, da die Sonne untergeht). Das ist die Zeit der Aristoteli-schen Physik. Und die Zeit ist auch noch etwas anderes als das reine Nach-einander als apriorische Form unserer endlich-sinnlichen Anschauung.Das ist die Zeit gemäß Kants transzendentaler Ästhetik. Aber sie ist letzt-lich auch Ordnungsform des Weltgeistes in seiner Arbeit, die Form seinesWissens von sich als wirkliche Geschichte hervorzubringen. »Die Zeit er-scheint daher als das Schicksal und die Notwendigkeit des Geistes, dernicht in sich vollendet ist« (TWA 3, 588). Vollendet ist der Geist in sich, dersich als absolute Idee in der Sphäre der Ewigkeit vollbracht hat.

Also ist es auch geschichtlich an der Zeit, den Inhalt der offenbar gewor-denen Religion in die wissenschaftliche Form des Erkennens zu bringen.»Der Inhalt des [religiösen] Vorstellens ist der absolute Geist, und es ist al-lein noch um das Aufheben der bloßen Form zu tun« (TWA 3, 575). DemInhalte nach also sind der Geist der offenbaren Religion und der Geist dersich vollendenden philosophischen Wissensschaft gleich. »Sie unterscheidensich beide so voneinander, daß jene diese Versöhnung in der Form des An-sichseins, diese in der Form des Fürsichseins ist« (TWA 3, 579). Zwar wider-

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streiten im Geist der offenbaren Religion die Momente des BewußtseinsGottes und des Selbstbewußtseins einander nicht. Sie sind versöhnt, abereben nur in einem Vorstellen, das Gott in gegenständlicher Gestalt als anihm selbst Seiendes im Bewußtsein hält. Die philosophisch-wissenschaftli-che Versöhnung von Bewußtsein und Selbstbewußtsein auf der Höhe desoffenbaren Geistes gelingt, indem das Bewußtsein aus der Vorstellung vonGestalten des Absoluten in die Bewegung seines Selbstbegreifens überführtwird. Noch tiefer und systematischer bedacht, ist die christliche Religionvon der Vorstellung einer Versöhnung ergriffen, daß durch die gescheheneMenschwerdung des Gottessohnes und seinen Tod das göttliche Wesen mitseinem Dasein versöhnt ist. Auch das sucht Hegels Wissenschaftssystem aufden Begriff zu bringen.

Mithin gleicht das absolute Wissen die noch ungleichen Seiten des Be-wußtseins und der religiösen Offenbarungsinhalte aus. In HegelschenGrundworten festgehalten: Es vereinigt das substantiale Ansichsein mit demsubjektiven Fürsichsein zum Ganzen und Wahren des an und für sich seien-den Geistes. Dabei ist es entscheidend herauszuheben: Zwar kehrt hier dasWissen aus dem gegenständlichen Vorstellen endgültig in die Form desSichselberwissens und Fürsichseins zurück. Aber auch dieses Fürsichsein istnur eine Seite, mithin einseitig und abstrakt; denn im Stande des Selbstbe-wußtseins zieht sich ja der Geist in seine Innerlichkeit zurück. Konkret aberwird das absolute Wissen erst dadurch, daß es sich als Prozeß der totalen Ei-nigung von Bewußtsein und Gegenstand erfahren und vollbracht hat. ImLebenselement des absoluten Wissens »kommt der Geist dazu, sich zu wis-sen, nicht nur, wie er an sich ist oder nach seinem absoluten Inhalte, nochnur, wie er für sich ist nach seiner inhaltlosen Form oder nach der Seite desSelbstbewußtseins, sondern wie er an und für sich ist« (TWA 3, 579).

2. Kapitel: Bedenken des absoluten Wissens als Äther lebendigen Insich-Kreisens

Zum Abschluß dieser Anzeige der einleitenden Hinführung und Ein-übung des natürlichen Bewußtseins in den lebendigen Vernunftstatus ab-soluten Wissens ist noch ein Vorblick auf die folgende Systembegründungzu werfen, nämlich darauf, wohin diese Einführung führt. Das dürfte ei-nen Ausblick darauf eröffnen, wie sich Hegels phänomenologische Einlei-tung von Fichtes späterer Einleitung einer faktisch-historischen Phänome-nologie unterscheidet.

2. Abschnitt: Wege zum absoluten Wissen. Ein synoptischer Überblick 121

Wohin Hegels einleitende Wissenschaft des erscheinenden Geistes hin-leitet, ist der 1807 angekündigte zweite Teil im System der Wissenschaft: dieWissenschaft des seienden und sich als Geist vollendenden Geistes. Im ers-ten Teil kommt es, wie erfahren, zu einem absoluten Wissen, das sich in sei-ner Selbstbewegung als sich wissende Einheit von Bewußtsein und Gegen-stand, von Ansichsein und Fürsichsein, von Substantialität und Subjektivitäterfaßt. Dabei ist festzuhalten: Dieser erste Teil ist nicht als vorwissen-schaftliche Propädeutik annonciert, er ist Wissenschaft des erscheinendenGeistes in seinem Erscheinen und nicht überflüssig und beliebig, sondernnotwendig, um das Bewußtsein auf die Höhe absoluten Wissens zu heben.So erst scheint das philosophische Bewußtsein gerüstet, das seiende Absolu-te systematisch als absolute Idee auszuarbeiten und als sich entäußernderund aus der Entäußerung zu sich zurückkehrender Geist zu verstehen. Nunnämlich erweisen sich die Momente der Bewegung des absoluten Wissensnicht mehr nur als Bewußtseinsformen des erscheinenden Geistes, sondernals Begriffe, die nicht abgezogene Allgemeinvorstellungen sondern Gestal-ten des Absoluten bilden, die sich als Einheit von Gedanke und Realität er-griffen haben. »Indem aber der Geist den Begriff gewonnen, entfaltet er dasDasein und Bewegung in diesem Äther seines Lebens und ist Wissenschaft«(TWA 3, 589). Die Entfaltung dieser sich als Einheit von Gedanke und Reali-tät erfaßten Begriffe ist die Wissenschaft der Logik. Der Äther, in dem sichdas unmittelbare Sein zur absoluten Idee entfaltet und sich als Kreis mit sei-nem Anfang vermittelt, das ist natürlich nicht der Äther als materielles Ele-ment der irdischen und die Lebenskraft der organischen Natur und schongar nicht die Quintessenz, das fünfte Element der siderischen Welt gemäßder Aristotelischen Naturphilosophie, sondern Element und Lebenskraft desabsoluten Geistes. Dessen Element und Äther ist die Einigungs- und Ver-söhnungskraft absoluten Wissens. Der so auf die Höhe des Bewußtseinsle-bens gehobene zweite Teil der Vernunftwissenschaft gestaltet sich als einKreis von Kreisen aus. Die absolute Idee sowohl wie der absolute Geist ge-hen aus eigenem Anfange und Entschluß zu ihrer Vollendung und vollenWirklichkeit, im Anderen bei sich bleibend, fort und zyklisch in ihren An-fang zurück.

Das scheint den Aufwand einer anfänglichen Einleitung überflüssigund sinnlos zu machen. Dafür spricht das Resumee von Hegels Vorrede»Vom wissenschaftlichen Erkennen«. Da erscheinen der Anfang und alleStadien wissenschaftlichen Erkennens vom Ende und Telos, dem erreich-ten Ziel und erfüllten Zweck her, durch eine Rückkehr durchbestimmt.

122 Teil II: Hegel

Die Methode des Geistes auf der Höhe des absoluten Wissens und speku-lativen Begriffs zeichnet sich als Kreisgang ab. »Es ist das Werden seinerselbst, der Kreis, der sein Ende als seinen Zweck voraussetzt und zum An-fange hat und nur durch die Ausführung und sein Ende wirklich ist«(TWA 3, 23). Hat aber so die Wissenschaft ihren Anfang als vorausgesetz-tes Ende dank ihres Kreisganges in sich selbst, dann scheint eine vorange-hende, äußere Einleitung außerwissenschaftlich, bestenfalls als Teil einerphilosophischen Propädeutik, schlimmstenfalls als ein Frühwerk, dasnicht mehr zum in sich vollendeten zyklischen Werk Hegels paßt.

Dazu ist folgendes zu bemerken. Hegels Vorrede hat ihren Ort gar nichtinnerhalb der Phänomenologie als einleitende Wissenschaft der Erfahrungdes Bewußtseins. Sie stellt eine eigenständige Abhandlung dar. Sie wurdespäter, nach glücklichem Abschluß der Phänomenologie, entworfen undbietet einen Vorblick ins Ganze, indem sie den Ertrag der Phänomenologieals Ausgang für den zweiten Teil der Wissenschaft in spekulativen Grundbe-griffen und Grundsätzen bereitstellt. Das nun macht eine Wissenschaft vomerscheinenden Geist in seinem Erscheinen keineswegs überflüssig und sinn-los. Sie wird gebraucht als hinaufleitende Leiter, auf der der Geist über dieStufen Bewußtsein – Selbstbewußtsein – Vernunft bis zur Gipfelhöhe desabsoluten Wissens als vollendete Form des Geistes der offenbaren, ›absolu-ten‹ Religion hinaufsteigt. Ohne diese dialektisch gebaute Leiter wären dasSystem einer spekulativen Logik und der Kreisgang des absoluten Geistesverstiegen. Dem steht nicht entgegen, daß diese Leiter wie jedes Leitergestellbeiseitegestellt werden kann, nachdem sie ihre Funktion erfüllt hat. Hat einephänomenologische Wissenschaft das Bewußtsein auf die Höhen des spe-kulativen Gedankes gebracht, ist sie nicht mehr notwendig. Dabei muß dieWissenschaft dessen eingedenk sein: Ohne die hinleitende Einleitung derPhänomenologie ertönen die Anfangssätze der Logik »wie aus der Pistole«geschossen.5 Der anfängliche Entschluß, rein denken zu wollen, kann den

5 Den teleologisch-zyklischen Kreisgang der Wissenschaft hat die Interpretation derVorrede durch W. Marx: Hegels Phänomenologie des Geistes, 1971 hervorgehoben.– Eine die einschlägigen Grundbegriffe klärende Erläuterung der Vorrede bietetK.-H. Volkmann-Schluck: Hegel. Die Vollendung der abendländischen Metaphysik,1998, 73-89. – Die Herabstufung der Phänomenologie zur bloßen Propädeutik an-gesichts des zyklischen Methodenganges vertritt u.a. H. Glockner: Der Begriff inHegels Philosophie, 1924, da Hegels Enzyklopädie überhaupt zum toten System er-klärt wird.

2. Abschnitt: Wege zum absoluten Wissen. Ein synoptischer Überblick 123

langen, zum konkreten Denken hinführenden Weg von Hegels Phänomeno-logie nicht ersetzen.

3. Kapitel: Vorschau auf die Konfrontation Hegels mit Fichtes Hinführung zum Standpunkte absoluten Wissens

Mit dem Resultat der Hegelschen Phänomenologie, der Erhebung zum ab-soluten Wissen, geht der erste Teil des Systems in den zweiten Teil, derWissenschaft vom alles vermittelnden Geist im Äther der Logik ein. Andiesem Eingangspunkt kreuzen sich die Denkwege Fichtes und Hegels.Das ist vorbereitend für eine ausführlichere Gegenüberstellung anzuzei-gen.

Dabei gilt für Hegels erreichten Standpunkt: Das Wahre ist nur als Sys-tem wirklich. Das aber gründet im absoluten Geist, dessen Substanz wesent-lich Subjekt ist, »der erhabenste Begriff und der der neueren Zeit und ihrerReligion angehört« (TWA 3, 28). Dabei ist der Geist eben erst vollständig be-griffen, wenn seine drei Lebenselemente – Ansichsein/Substantialität, Für-sichsein/Subjektivität und deren Einheit, das Anundfürsichsein/Beisichblei-ben im Anderssein – immanenter Gegenstand des Wissens des Geistes sel-ber sind und nicht etwa nur Gegenstand unseres Wissens in äußerer Refle-xion. Das markiert scharf Hegels Vorbehalt gegen alle äußerlich bleibendenAuffassungen vom absoluten Wissen. Daher erhebt Hegel von der Grunder-fahrung seiner Phänomenologie her Einwände gegen Lehren, welche dasWahre nur als Substanz im Ansichsein und nicht ebenso als Subjekt, alsonur einseitig und äußerlich fassen. Das trifft die Substanzlehre Spinozasebenso wie Schellings Indifferenzsystem. Mitgängig ist aber auch FichtesPosition betroffen. Der so weitreichende Vorbehalt gegen alles unvollendeteAndenken des absoluten und wahren Systemgrundes erhebt sich am Endeder Phänomenologie. »Die Substanz gelte nur insofern als das Absolute alssie als die absolute Einheit gedacht oder angeschaut wäre, und aller Inhaltmüßte nach seiner Verschiedenheit außer ihr in die Reflexion fallen, die ihrnicht angehört, weil sie nicht Subjekt, nicht das über sich und sich in sichReflektierende oder nicht als Geist begriffen wäre« (TWA 3, 587).

Nun ist solche von Hegels Spekulation abgewiesene Position dieGrundstellung von Fichtes ungeschriebener Lehre. Diese stellt das absolu-te Wissen, nicht aber sogleich die Reflexionsform des Ich als vermittelndeMitte auf. Das absolute Wissen sei das einzige Dasein, das außer dem Ab-soluten, außer dem nichts ist, in Wahrheit und Lebendigkeit da ist und die

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Vielheit wie die Fünffachheit der Welterscheinung vermittelt. So gedachtist das absolute Wissen als Äther der lebendigen Selbstentfaltung des anund für sich seienden Absoluten ein hyperbolischer Ungedanke.

Zur kritischen Besinnung auf das absolute Wissen als höchster Tatsa-che des Bewußtseins führen Fichtes Einleitungsvorlesungen von 1810/1811hin. Daher ist Fichte von Hegels Polemik auszunehmen. Die Wissen-schaftslehre gehört nicht zu jenen Gestalten des Idealismus, die obersteGrundsätze und Erste Prinzipien unvermittelt und ohne Einleitung auf-stellten, ergriffen von einer Begeisterung, »die wie aus der Pistole mit demabsoluten Wissen unmittelbar anfängt und mit anderen Standpunkten da-durch schon fertig ist, daß sie keine Notiz davon zu nehmen erklären«(TWA 3, 31). Gleichwohl erklärt Hegels Logik, auf Kants und Fichtes vor-spekulative Wissenschaft zielend, deren Erhebung auf den Standpunkt desreinen Wissens sei unmittelbar gefordert und so nichts weiter als ein bloßsubjektives Postulat. Für solche Auseinandersetzung mit Hegels Verabsolu-tierung des absoluten Wissens sollte eben Fichtes ›faktische Phänomeno-logie‹ herangezogen werden. Diese bringt durchaus einleitend die höchsteTatsache des Bewußtseins ins Reine.

Für eine Überprüfung des vollständigen, dialektisch alles vermitteln-den, enzyklopädischen Systems Hegels ist die Mittlerfunktion der GroßenLogik maßgebend. Sie hat, alle formale und kategoriale Ontologie überbie-tend, die Überform einer Onto-theo-Logik auf der Höhe des absolutenWissens als Resultat einer vollendeten Phänomenologie gewonnen, ihrenAnfangsgrund in immer reicher werdender Selbstentwicklung als absoluteIdee dargestellt und die Systemvermittlung als Selbstentäußerung der gött-lichen Idee proklamiert, die aus dem absoluten Anderssein als Natur undim Dreischritt des subjektiven, objektiven, absoluten Geistes, bei sichselbst bleibend, in sich zurückkehrt.

Das alles wird fragwürdig, wenn Fichtes Vorbehalt Recht behält, wo-nach das absolute Wissen gar nicht der Äther des Absoluten selbst, son-dern das Dasein des an ihm selbst ungreifbaren, in sich geschlossenenSeins und Lebens wäre.

3. Abschnitt: Problematisierung des Anfangs der Onto-theo-Logik

1. Kapitel: Wiederholung des Einsatzes der Logik als Onto-theo-Logik

Hegels Logik ist das therapeutische Unternehmen, dem seltsamen und un-glücklichen Schauspiel eines gebildeten Volkes ohne Metaphysik, das keine

3. Abschnitt: Problematisierung des Anfangs der Onto-theo-Logik 125

Grundfragen von der Art »Was ist das Sein? Was ist das Nichts? Was istWesen? Was ist die Idee? Was ist Geist?« mehr stellt, ein logisches Gebildevollendeter Metaphysik entgegenzustellen. Das schließt systematisch Lo-gik, Ontologie, Theologie sowie die Geschichte der Philosophie in eins zu-sammen. Hegels Logik ist keine formale Lehre rationaler Denkregeln, son-dern Onto-theo-historico-Logik. Das ist vor aller Auseinandersetzungwiedereinzuholen.

Hegels ›Große Logik‹ wie die ›Enzyklopädische Logik‹ stellen sich alsOntologie unter Grundbegriffen der Kategorienlehre auf. Sie durchlaufendie obersten Seinsbestimmungen Qualität, Quantität, Wesen und leiten un-ter dem Titel Qualität die Kategorien Sein, Nichts, Werden, Dasein, Endlich-keit, Unendlichkeit, Grenze, Schranke usf., unter der Kategorie des WesensReflexionsbestimmungen wie Identität, Unterschied, Widerspruch, Grund,Existenz, Wirklichkeit usf. dialektisch fortschreitend zu einem unerhörtenReichtum hin. Während Hegel in Jena noch Logik und Metaphysik trennte,erhebt sich die Wissenschaft der Logik zur Theo-Logik. Sie denkt, indem siedas Absolute ausdenkt, Darstellungen Gottes. Im Deutschen Idealismus sindeben ›das Absolute‹, ›das Unbedingte‹ Namen für den Gott der Philosophen,genauer: für den sich begreifenden Begriff des Gottes, der im offenbaren re-ligiösen Glauben zur Vorstellung gekommen war. So erklärt die Logik derEnzyklopädie gleich anfangs programmatisch: »Das Sein selbst sowie diefolgenden Bestimmungen nicht nur des Seins, sondern die logischen Be-stimmungen überhaupt können als Definitionen des Absoluten, als die me-taphysischen Definitionen Gottes angesehen werden« (§ 83; TWA 8, 181).Freilich reicht dafür eine Definition, welche das nächsthöchste Genus aufzu-suchen und die artbildende Differenz zu treffen hat, nicht zu. Die metaphy-sische Definition ist keine logisch umgrenzende Abgrenzung von etwas ge-gen alles andere, sie ist (die nicht eigens erörterte) definitive Selbstaussagedes durchgeistigten Absoluten. Gott sagt: Ich bin das Sein, ich bin dasNichts, ich bin das Wesen, der Grund, die Identität und der Unterschied, ichbin die Wirklichkeit, der Sinn, ich bin das Leben und die Wahrheit.

Nun entfaltet sich solche Onto-theo-Logik im Element des absolutenWissens, das sich, wie erfahren, als Einheit von Bewußtsein und Gegen-stand, von Gedanke und Realität weiß, überzeitlich im Äther der Ewigkeitund insofern ungeschichtlich. Indessen entspricht dem Fortgang der ›Ge-danken‹ die Geschichte der Philosophie vom ersten kühnen Seinsgedankendes Parmenides bis zur Vollendung des Ideensystems auf der Höhe des ab-soluten Idealismus. Das ist Hegels historico-logische Unterstellung im Glau-

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ben an die Selbstentäußerung der absoluten Idee und an die sich erhebendeKraft des Weltgeistes. Das Erste in der Wissenschaft der Logik muß sichauch historisch als das Erste in der Geschichte der Philosophie zeigen. Soentsprechen der Seinslogik die Grundgedanken der Vorsokratiker, der We-senslogik die Grundgedanken eines Plato und Aristoteles, der Begriffslogikdie Grundsätze der neuzeitlichen Philosophie seit dem großen Aufbruchder Vernunftwissenschaft im Gefolge von Descartes, Spinoza und Kant biseben zum Dreigestirn des Deutschen Idealismus. Also bietet Hegels Logikkein Unterrichtswerk formallogischen Denkens, zumal sie auch die Syllogis-tik, die klassische Lehre vom Schluß, spekulativ umbildet. Damit stellt sie,systematisch wie historisch betrachtet, ein Ärgernis für alles rational unter-scheidende Verstandesdenken und einen anstößigen Anstoß für unser me-taphysikfeindliches, idealismusfernes, materialistisches, gottentfremdetesZeitalter dar.6

Darum ist es ebenso unzeitgemäß wie notwendend, sich überhaupt erstwieder auf ein Andenken des Absoluten einzulassen und das Richtmaß desnatürlichen Bewußtseins für unzuständig zu erklären; denn der Mensch istin seiner Wurzel philosophisches Bewußtsein mit einem Elevationspotenti-al, das über die materiale Welt und animalische Natur hinaus und in einegeistige Welt göttlichen Ursprungs hinaufreicht. Neuzeitlich-idealistisch be-trachtet ist der Mensch ein Anfang in der Natur wie ein Anfang in der Weltdes Geistes. Das ist im Vorblick auf die Scheidung von Hegels und FichtesBestimmung des Menschen zur Anzeige zu bringen, um überhaupt einenEinstieg in die Hegelsche Logik zu rechtfertigen. Der Mensch ist ein Tier,das Selbstbewußtsein hat – und darum kein Tier. Menschliches Selbstbe-wußtsein ist ein Anfang – und kein Ende der Evolution. Es entsteht nichtdurch unfaßlichen Zufall aus der materiellen Natur – es ordnet sich in dieNatur, sie verwandelnd, ein. Die Genesis der Ichheit ist Tat und Tathand-lung, ein schlechthinniges Sichselbstsetzen. Diese Thesen Hegels tragen dieUnterschrift Fichtes.

6 Die Konfrontation des dialektischen Materialismus, der den ›Monismus‹ der Ideeund Hegels Dialektik der Logik zugunsten einer Dialektikkonzeption aufgibt, dieim Programm als Monismus der Materie monistisch, in der Durchführung als Du-alismus von Sein und Denken dualistisch ist, problematisiert die Nachfrage von H.F. Fulda: Dialektik in Konfrontation mit Hegel, 1986.

3. Abschnitt: Problematisierung des Anfangs der Onto-theo-Logik 127

Nun ist die Tat der Selbstsetzung unabtrennlich mit der Handlung derEntgegensetzung verknüpft. Daher ist der Mensch gerade auch in HegelsAugen das Bewußtseinswesen der Entzweiung, das zur Aufhebung derendlichen Zweiheit von Ich und Nichtich in der Einheit des Ich=Ich be-stimmt ist. Diese Bestimmung und Aufgabe des Menschen erfüllt sich ge-schichtlich als Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit, so daß die Unfrei-heit und Unvernunft in der Welt zu Vernunft und Freiheit umgewandeltwerden. Auch darin besteht zwischen Hegels und Fichtes Ansatz keine gra-vierende Differenz.

Die Geister scheiden sich am Kreuzweg der Onto-theo-Logik. NachFichte ist der Mensch bestimmt als Selbstbewußtsein, und sein Selbstbe-wußtsein ist endlich-menschlich bestimmt. Sein Wissen hat allein die Aus-zeichnung, sich als Dasein des Absoluten zu wissen und als das einzige zusein, was außer dem Absoluten wahrhaft und lebendig ist. Nach Hegel-scher Logik dagegen ist der Mensch zwar auch das Wesen, das Selbstbe-wußtsein hat, aber das Selbstbewußtsein ist seinem Ursprung nach nichtmenschlich-endlich, sondern göttlich-vernunfthaft. Indem sich unserSelbstbewußtsein über seine Entzweiungen hinaus zu seinem einfachenUrsprung erhebt, ist es reines Zusehen, wie sich das Absolute selber indem Reichtum seiner Gedanken als absolute Idee ganz begreift. DieserMethodengang ist in seinem ersten Anfang wie in seinem vollendetenEnde seit Schellings rigorosen Einwändungen in Frage gestellt worden.Das ist im Vorblick auf die Auseinandersetzung der drei Vollendungsge-stalten des deutschen Idealismus aufs neue zu überdenken.

2. Kapitel: Durchlaufen des Anfangs der Seinslogik. »Das Werden ist der erste konkrete Gedanke«

Im weitgespannten Systemrahmen der Enzyklopädie von 1830 findet sichim ersten Teil der Logik, in der Lehre vom Sein, ein Zusatz, welcher rechtbesehen die Schlüssel- und Problemthese über den Anfang und Grund desganzen Systembaus ausspricht. »Das Werden ist der erste konkrete Gedan-ke und damit der erste Begriff, wohingegen Sein und Nichts leere Abstrak-tionen sind. Sprechen wir vom Begriff des Seins, so kann derselbe nur dar-in bestehen, Werden zu sein, denn als das Sein ist es das leere Nichts, alsdieses aber das leere Sein. Im Sein also haben wir das Nichts und in die-sem das Sein; dieses Sein aber, welches im Nichts bei sich bleibt, ist dasWerden« (TWA 8, 192). Dieser Schlüsselsatz ist in seiner begrifflichen

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Schlüssigkeit, aber ebenso in seiner angreifbaren Fraglichkeit zu überden-ken.

Dabei kann die Fülle der einfallenden Anmerkungen im einschlägigenAbschnitt der ›Großen Logik‹ – etwa über den metaphysischen Satz »exnihilo nihil fit« oder über Kants Kritik des ontologischen Gottesbeweises»Sein ist kein reales Prädikat« oder auch über das Verhältnis von logischerUrteilsform im Ist-Sagen und spekulativem Inhalt – nicht thematisiert, ge-schweige denn ausgeschöpft werden. Und unberücksichtigt bleibt auch dieAusarbeitung des historico-ontologischen Postulats, der Anfang der Logiksei dasselbe wie der Anfang der eigentlichen Philosophiegeschichte – zu-mal gleich anfangs der Fortgang vom Sein zum Werden als philosophiege-schichtliches Fortschreiten von Parmenides zu Heraklit chronologisch wiesachlich mehr als problematisch ist. Verfolgt wird durchgehend allein dasResultat im Dreischritt des Anfangsgedankens: Das Sein ist das leereNichts, das Nichts ist das leere Sein, das Sein, welches im Nichts bei sichbleibt, ist das Werden. Und das Werden sei der erste konkrete, Weg weisen-de Gedanke.

Wie also kommt die Einsicht zustande, der Gedanke des Seins ist das lee-re Nichts? Das hängt an der These: »Das reine Sein macht den Anfang, weiles sowohl reiner Gedanke als auch das unbestimmte, einfache Unmittelbareist« (TWA 8, 182). Das reine Sein ist reiner Gedanke, d.i. wahre Realität desSeienden, aber nicht etwa das Sein hier und jetzt sinnlich vergewisserterDinge und auch nicht das Sein von etwas Bestimmtem im Verstandesbezugzu einem anderen. Zur Frage steht der Gedanke des Seins als Anfang undGrund der Vernunftwissenschaft, und zwar nicht nur im Rückblick auf denbegeisterten Urgedanken der Eleaten »Nur das Sein ist, und das Nichts istgar nicht«, sondern auch im Vorblick auf den Prinzipienstreit um die Voll-endung des Idealismus, auf den Gedanken des Seins als reine Identität bzw.als reine Indifferenz der Konstruktionen von Fichte und Schelling. »Aber in-dem innerhalb jeder dieser Formen bereits Vermittlung ist, so sind sie nichtwahrhaft die ersten« (TWA 8, 183). Identität und Indifferenz sind zwar reineGedanken, aber nicht als das einfache Unmittelbare, und darum auch nichtals Erstes und voraussetzungslos Unbedingtes. Identität und Indifferenzsind ja als einigende Einheit von Unterschiedenem bzw. Differentem, alsSubjekt-Objekt-Einheit durch das Vorausgesetzte vermittelt, das sie zur ein-fachen, von aller Zweiheit absolvierten Einheit bringen. Kein Vermitteltesaber taugt zum Ersten und ist Anfang und Grund im Stande der Unmittel-

3. Abschnitt: Problematisierung des Anfangs der Onto-theo-Logik 129

barkeit. Also ist die ontotheologische Reinheit der Hegelschen These vomreinen Sein einzuhalten.

Das ist in der vorbereitenden Überlegung »Womit muß der Anfang derWissenschaft gemacht werden?« thematisch abgehandelt (zitiert nach Logik1812, hg. von H.-J. Gawoll, 35-46). Gesucht wird ein Anfang, welcher eben derForderung einfacher Unmittelbarkeit genügt. Dafür bietet sich eben die zurWahrheit gewordene Gewißheit des reinen Wissens an. In ihrer Einheit vonBewußtsein und Gegenstand ist alle Gegenstandsbeziehung und jede Ver-mittlung aufgehoben. Das reine Wissen stellt sich dar als einfache Unmittel-barkeit, und deren waherer Ausdruck ist nicht der Reflexionsausdruck desNicht-Vermitteltseins als Gegensatz zur Vermittlung, sondern das reine Sein.»Sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung.« Da das in der Natur desAnfangs liegt, sind anderweitige Anknüpfungspunkte überflüssig.

Diese Auskunft wendet sich, ohne Namen zu nennen, nicht nur gegenden Anfang der Neuzeit, das sum cogitans Descartes’, sondern näherhin ge-gen die Anfangsgründe bei Schelling und Fichte. Da nehme die philosophi-sche Wissenschaft ihren Anfang beim unvermittelten Willkürakt einer intel-lektuellen Anschauung. »Die intellektuelle Anschauung ist selbst die gewalt-same Zurückweisung des Vermittelns und der beweisenden, äußerlichenReflexion, was sie aber mehr ausspricht als einfache Unmittelbarkeit, ist einKonkretes, ein in sich verschiedene Bestimmungen Enthaltendes« (Logik1812, 43). Das betrifft Schellings Ansatz, da der Gegenstand der intellektuel-len Anschauung das Ewige und Göttliche selber ist, aber auch Fichtes Ausle-gung, da das unmittelbar intellektuell Angeschaute das Tathandeln des Ichist. Indessen, diese Abweisung durch Hegel von 1812 trifft nicht den Anfang,mit dem die ungeschriebene Lehre 1804 begonnen hat: die Unmittelbarkeitdes einfach einen Seins, in dem keine Disjunktion und Vermittlung ist.7 In-dessen bleibt bei Fichte das einfache Sein, in welchem Substantialität undSubjektivität ununterscheidbar in sich aufgegangen sind, verschlossen und

7 Die subtile, sich tiefer auf die philosophische Anfangsfrage einlassende Untersu-chung von L. de Vos: Die Rezeption der Wissenschaftslehre Fichtes in der Versionder Hegelschen Wissenschaft der Logik, 1997 konzentriert sich auf die zweite Fas-sung der Anfangsüberlegung von 1831, da nicht mehr das Ich als unmittelbar zu-gängliche Bestimmung des Absoluten, sondern das Ich selbst so von Hegel disku-tiert werde, daß sich eher eine Übereinstimmung als eine Differenz zwischen Hegelund Fichte herauslesen lasse.

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unbegreiflich, während in Hegels Onto-Logik sich der Anfang des Seins le-bendig-dialektisch in der Reichtum des Begriffs entfaltet.

»Wird Sein als Prädikat des Absoluten aufgefaßt, so gibt dies die ersteDefinition desselben: das Absolute ist das Sein« (TWA 8, 183). Nun ergibtdas, wie gesagt, natürlich keine regelrechte Verstandesdefinition per genusproximum et differentiam specificam; denn vom obersten Sein gibt es keinhöheres Genus, und vom rein Unbestimmten keinen artbestimmenden Un-terschied. Die ›metaphysische Definition‹ ist eine Selbstprädikation des Ab-soluten, die über den Verstand geht: »Ich, das Absolute, bin das Sein.« Darindrückt sich die Wahrheit des Seins auf der Höhe des göttlichen Nous aus.Das formuliert Hegel im Wiederholen des höchsten Standpunktes der Aris-totelischen Theologie – »man kann nichts Tieferes erkennen wollen« – so:»Die gewöhnliche Definition von Wahrheit ist: Wahrheit ist Übereinstim-mung der Vorstellung mit dem Gegenstande. Also ist die Vorstellung selbstnicht nur eine Vorstellung, ich bin mit meiner Vorstellung (ihrem Inhalte)noch gar nicht in Übereinstimmung. Nur im Denken ist wahre Überein-stimmung des Objektiven und Subjektiven vorhanden; das bin ich« (TWA19, 165). Und dieses Ich ist nicht das Ich-denke des reinen menschlichenSelbstbewußtseins, sondern das göttliche Denken, das sich selbst denkt.Dessen definitive Wahrheit spricht sich eben so aus: Ich, das Absolute, binnicht etwas Reales, sondern das Realsein aller Realität. Soweit ist vorgege-ben, inwiefern das reine Sein als reiner Gedanke den Anfang und Anfangs-grund von allem machen könnte.

Es bleibt weiterhin zu verdeutlichen, inwiefern das Sein auch als dasunbestimmte Unmittelbare den Anfang macht. Wird nämlich das Unmit-telbare negativ bloß als das Nicht-Vermittelte verstanden, dann bildet esden Anfang eines Gegenweges (via negationis), aber nicht einen anderesausschließenden Anfangsgrund. Dafür ist zu sehen: Methodisch wie sach-lich ist ›das Unmittelbare‹ gar kein negativer Ausdruck. Unmittelbar zusein besagt nicht dasselbe wie nicht vermittelt zu sein. Und der Sache nachist wohl das Vermittelte ein Nicht-Unmittelbares und so untauglich zumErsten und Weganfang, das Unmittelbare aber schließt exklusiv alle For-men der Vermittlung von sich aus und ist frei von jeglicher Vermittlungs-und Reflexionsbeziehung. Dadurch eignet allein dem Unmittelbaren dieAuszeichnung, ein Erstes, Voraussetzungsloses, Unbedingtes und frei undlosgelöst von Voraussetzungen und Bedingungen zu sein. Ebenso exklusivist die hier anschließende Bestimmung des Unbestimmtseins zu hörenund zuzugestehen, es sei »nur mit sich gleich«. Das Absolute schließt allen

3. Abschnitt: Problematisierung des Anfangs der Onto-theo-Logik 131

Vergleich mit anderem aus. Das, was den Anfang macht, das Unmittelbareund Erste, ist ein Unvergleichliches.

Wie aber kommt es durch Weiterbestimmung dieses Anfangsgedan-kens zur These »Das Sein ist das leere Nichts«? Nun ist es der Grundzugdieser Gedankenbewegung, das, was als Wahres im Prädikat ausgespro-chen ist (»Der Anfang ist das unbestimmte, unmittelbare Sein«), als Sub-jekt weiterzubestimmen. (»Das unbestimmte, unmittelbare Sein ist dasleere Nichts.«) Diese logische Grundoperation bleibt im Dunkel, solangedie metaphysische Definition nicht herausgehoben und vom Subjekt-Prä-dikatsverhältnis eines logischen Wesenssatzes unterschieden wird. Diespekulative Weiterführung, welche das Sein als Vor- und Zugrundeliegen-des aufnimmt, kommt zum definitiven Resultat: Das Sein ist das Nichts.

Das, was schlechthin unbestimmt ist, ist leer an Bestimmungen und dar-um nicht Etwas, das alles andere nicht ist, sondern ein bestimmungsleeresNichts. Und das, was in dieser Bestimmungslosigkeit nur mit sich selbstgleich ist und so weder in sich noch im Vergleich zu anderem Verschieden-heit an sich hat, ist ununterscheidbares Nichts. Damit beginnt die Weiterbe-stimmung des anfänglichen Seins. »Sein, reines – ohne alle weitere Bestim-mung. In seiner unbestimmten Unmittelbarkeit ist es nur sich selbst gleichund auch nicht ungleich gegen Anderes, hat keine Verschiedenheit inner-halb seiner noch nach außen« (TWA 5, 82). Das Nichts ist die Leere. Es istgleichsam mit nichts gefüllt. In ihm ist nichts anzuschauen und nichts zudenken. Es ist nur das leere Anschauen und leere Denken selbst. Dabei läßtsich das leere Anschauen nicht etwa als ein sinnliches Anschauen ohneEmpfindungsgehalte und das leere Denken keineswegs als begrifflichesDenken ohne Gegenstand bestimmen. Und es kommt auch nicht als intel-lektuelles Anschauen im Sinne Fichtes oder Schellings in Betracht. Hegelläßt den hier anfallenden Modus des Seinsverstehens unbestimmt offen,weil das zu Verstehende selbst völlig unbestimmt ist. Gleichwohl tritt derhimmelweite Unterschied zu Fichtes und Schellings Einsetzung der intellek-tuellen Anschauung heraus. Nach Fichte ist sie im Anfange das unmittelbareInnesein von Tathandlung und Sittengesetz, nach Schelling das geistige An-schauen des Ewigen selbst, im Anfang der Hegelschen Logik das unvermit-telte Innewerden des unmittelbaren, leeren, absoluten Nichts.

Dahin führt die Weiterführung des definitiv prädizierten Seinsgedan-kens. »Das Sein, das unbestimmte Unmittelbare, ist in der Tat Nichts undnicht mehr noch weniger als Nichts« (TWA 5, 83). Und es kommt ein dialek-tischer Umschlag zu Tage, »daß das Sein als solches nicht ein Festes und

132 Teil II: Hegel

Letztes, sondern vielmehr als dialektisch in sein Entgegengesetztes um-schlägt, welches, gleichfalls unmittelbar genommen, das Nichts ist« (TWA 8,185). Nun ist wiederum das Prädikat dieses Resultats »Das Sein ist dasNichts« vorzunehmen, um die Antithese ins Klare zubringen »Das Nichts istdas leere Sein«. Und das muß gleichfalls im Element des absoluten Wissensauf der Höhe einer Onto-theo-Logik geschehen. Nur so läßt sich das Nichtsals »die zweite Definition des Absoluten« (TWA 8, 168) verstehen. Es istnicht das leere Nichts im Verhältnis von Denken und Anschauen zum Ge-genstand. Davon hat Kant bekanntlich das Schema einer vierfachen Bedeu-tung des Nichts aufgestellt: als ens rationis, den leeren Begriff ohne Gegen-stand, als nihil privativum, den leeren Gegenstand ohne Begriff, als ens ima-ginarium, die leere Anschauung ohne Gegenstand, als nihil negativum, denleeren Gegenstand ohne Anschauung. Gott oder das Absolute aber sprichtsich definitiv so aus: ich bin das höchste Wesen und sonst nichts. Ich bin»das Unsagbare« (TWA 8, 188). Das ist die Grundstellung aller negativenTheologie. Gott ist das Unaussprechliche, schlechthin Unbegreifliche; denner ist für ein rationales Bestimmen die Leere und Nicht-Bestimmtheit.

Nun hat das Prinzip der Leere und des Nichts nicht nur als Arrheton dernegativen Theologie im Abendland eine lange, wirkmächtige Geschichte biseben in die Spätphilosophie Fichtes hinein. Es wird auch als Nirwana inbuddhistischer Welt lebensbestimmend. Hegels Wissenschaft der Logik hatdas, allerdings mithilfe der abendländischen Grundwörter ›System‹, ›Abso-lutes‹, ›Prinzip‹ formuliert. »In orientalischen Systemen, wesentlich im Bud-dhismus, ist bekanntlich das Nichts, die Leere, das absolute Prinzip« (TWA5, 84). Hegels Enzyklopädie fügt hinzu: »Das Nichts, das die Buddhisten zumPrinzip von allem wie zum letzten Endzweck und Ziel von allem machen,ist dieselbe Abstraktion« (TWA 8, 186), nämlich die Negation und Sichbe-freiung von allen Bezügen und Inhalten endlichen Bewußtseins. Insoweit istdie ›Definition‹ der Buddhisten, Gott sei das Nichts, ebenso berechtigt wiedie negative Theologie, und ihr Endziel menschlichen Strebens, durch erlö-sende Selbstvernichtung zu Gott zu werden, ist konsequent.

Warum aber in aller Welt ist diese so wirkungsvolle und weitverbreiteteRede vom absolut seienden Nichts keine contradictio in adiecto, ein ›hölzer-nes Eisen‹ und so das nihil negativum, ein leerer Gegenstand ohne Begriff?Darum, weil dem leeren Nichts doch ein Seinsprädikat zukommt. Es ist, esexistiert im geistigen Anschauen, im unmittelbaren Aufnehmen der unver-mittelten Leerheit, nicht freilich im eigentlichen Denken und Begreifen, daszur Wesens- und Begriffslogik gehört. Das Sein des Anschauens eines Nichts

3. Abschnitt: Problematisierung des Anfangs der Onto-theo-Logik 133

ist dessen Dasein und Existenz. Das faßt Hegel so zusammen: »So ist (exis-tiert) Nichts in unserem Anschauen oder Denken; oder vielmehr ist es dasleere Anschauen oder Denken selbst und dasselbe leere Anschauen oderDenken als das reine Sein« (TWA 5, 83).

Daraus resultiert nun ein neuer, anstößiger Anfangs- und Grundsatzspekulativer Logik. Das einzige Prädikat, das dem reinen Sein zugespro-chen werden kann, ist das Nichts. Andererseits ist das einzige Prädikat,welches dem Nichts zugesprochen werden kann, das Sein. Das Sein ent-hüllt sich als Nichts, das Nichts als Sein: Sein und Nichts sind dasselbe.

Dieser Grundsatz ist das Härteste, was unserem formallogischen Denkenund gesundem Menschenverstand zugemutet wird. Im streng unterschei-denden Verstande bilden Sein und Nichts äußerste Gegensätze, kontradikto-rische Opposita. Diese schließen einander nicht ein, sie schließen einanderaus. Die Existenz des einen ist die Nichtexistenz des anderen. Und unseremallgemeinen, gesunden, nicht dialektisch verrückten Menschenverstandleuchtet schon gar nicht ein, daß Sein und Nichts dasselbe seien. Ist es das-selbe, um auf Kants berühmtes Beispiel anzuspielen, ob 100 Taler in meinemVermögenszustande sind oder nicht sind? Aber so wie es leicht ist, HegelsBehauptung lächerlich zu machen, ist es ebenso unschwer, die Verstan-desoppostion in Verlegenheit zu bringen. Das kann einfach durch die Auf-forderung geschehen, für Sein und Nichts Unterschiede und eine spezifischeDifferenz beizubringen, was unmöglich sein dürfte, da beide doch völlig leerund beide in gleicher Weise das Unbestimmte sind. Und ebenso unmöglichdürfte es sein, irgendetwas im Himmel und auf Erden vorzuweisen, dasnicht Sein und Nichts in sich enthalte. Zudem sprechen gerade auch »popu-läre, besonders orientalische Sprüche« (TWA 5, 84) für die Einheit von Seinund Nichts eindrucksvoll im Falle von Tod und Leben. Wie die Geburt denKeim des Todes in sich habe, so sei der Tod ein Gang in ein neues Leben.

Entscheidend für diese Auseinandersetzung von Verstandeslogik undVernunftdialektik ist der spekulative Ausgang. Der unterstellte Grundsatzist nicht ein Satz, der für vermittelte Bestimmungen gilt und auf endlichbestimmte Verhältnisse anzuwenden wäre. Er ist onto-theologisch zu hö-ren: Ich, Gott, bin das Sein und das Nichts. Ich bin nicht nur das Positivedes reinen Seins, sondern in eins das Negative, das Hervorbringen des An-deren. Ich bin der Schöpfer von Welt und Natur. Das schlägt einen gedan-kenlosen Pantheismus nieder. Zu Gott gehört die Welt als das andere sei-ner selbst. So bewährt sich der Sinn des spekulativen Satzgefüges: Das rei-ne Sein und das reine Nichts ist dasselbe und in eins nicht-dasselbe.

134 Teil II: Hegel

Dieser Grundsatz nun bedeutet nicht etwa ein Endresultat, sondern einZwischenergebnis für die Klärung der Wahrheit über das reine Sein. Daherist dessen weiterentwickeltes Prädikat »Dasselbe-Sein« von Sein und Nichts,der logischen Grundoperation zufolge, aufzunehmen: Was ist dieses »Das-selbe-Sein«? Nachweislich nicht Identität bzw. Indifferenz, wohl aber einBeisichbleiben im Übergegangensein von Nichts in Sein. Das aber ist dasWerden.

Das Werden ist mithin absolut und perfektisch, im Perfekt des ›Überge-gangenseins‹ zu nehmen. Darum sind alle Vorstellungen endlichen Wer-dens, z.B. das Altwerden eines Menschen, von ihm fernzuhalten. Zum Alt-werden als Übergehen von einem Woher, dem Jungsein, zu einem entge-gengesetzten Wohin, dem Altsein, braucht es ein Substrat, dieser Menschda, ebenso wie eine Phasenfolge des Früher und Später in der Zeit. Das ab-solute Werden und perfektische Übergegangensein dagegen geschiehtohne Zwischenphase zeitlos mit einem Schlag ohne ein Zugrundeliegen-des und ein Beharrendes im Wechsel, sei es die Materie, sei es ein Ich-Sub-jekt.

Aber warum bleibt dieses Werden im Anderssein? Warum sinkt esnicht in der Ununterschiedenheit von Sein und Nichts zusammen? Für dieAuflösung dieser Frage nach der beständigen Lebendigkeit des Geistessind zwei Momente des Werdens dialektisch zusammenzudenken, näm-lich Ununterschiedenheit und Verschiedenheit. Dieses Werden ist die Le-bensweise, wie Sein und Nichts verschieden und ununterschieden zugleichsind, dergestalt, daß dieses absolute Werden nur seiend ist in der ständigenAuflösung des Gegensatzes. Wäre nur der Unterschied konstitutiv, dannbliebe es beim unaufgelösten Gegensatz, wäre kein Unterschied, käme esam Ende zu einem erstarrten Einerlei. Indem aber das Sein in Nichts über-geht, ist in der Bewegung der Unterschied, und indem das Nichts als dashervorkommt, was das Sein selber ist, ist in der Bewegung der Unterschiedaufgelöst. So bewährt sich das Werden als Element der Lebendigkeit desGeistes.

Von hier aus wird Hegels Schlüsselsatz durchsichtiger, das Werden seider erste konkrete Gedanke, wohingegen Sein und Nichts leere Abstrakti-onen seien. Dabei ist festzuhalten: Abstrakt heißt soviel wie einseitig undkonkret soviel wie: zu einem Ganzen, dem Wahren zusammengewachsen.Das reine Sein ist in diesem Sinne abstrakt, weil es einseitig ins leereNichts verschwindet. Das reine Nichts ist, indem es einseitig ins leere Seinverschwindet, ebenso abstrakt. Und beides ist nicht wahrhaft begriffen,

3. Abschnitt: Problematisierung des Anfangs der Onto-theo-Logik 135

sondern nur gemeint; denn Wahrheit kommt nur dem zu, was beständiganwesend bleibt und nicht haltlos weggeht. Das Werden dagegen ist kon-kret. In ihm verschwinden Sein und Nichts so ineinander, daß sie nicht ausdem Gedankenkreis fortgehen, sondern in eins auseinander erscheinen. Soist das Werden wahr und beständig bleibend: die beständige, bleibendeUnruhe des Erscheinens und Verschwindens im gegenteiligen Anderen.Darin spricht sich eine grundlegende Wahrheit erstmals und anfänglichaus. Das Wahre ist das Leben des werdenden Geistes als Beisichbleiben imAnderssein. Dieser tragfähige Anfangssatz lautet, ontotheologisch, d.h. alsVerkündigung Gottes formuliert: Ich bin das Werden, der lebendige Geist,der in seiner Äußerung bei sich selbst bleibt. – Ich bin die Wahrheit unddas Leben.

3. Kapitel: Vorbehalte gegenüber der Logik des Anfangs. Eine Problemskizze

Alles Suchen der philosophischen Wissenschaft im Abendland beginnt alsArche-Forschung, als Aufsuchen des Ersten Ursprunges und beherrschen-den Anfangsgrundes, dem als Ersten nichts vorausgeht, das als autarkes Un-bedingtes nicht durch anderes bedingt ist und das als absoluter Wahrheits-grund von allem Meinen und Scheinen losgelöst ist. Parmenides hat weltge-schichtlich solchen wahren Ursprung bei seinem philosophischen Namengenannt: Sein (on – einai); und er hat die Wege des Seins und des Nichts ge-schieden und gelehrt, daß der Weg des Seins im Vernehmen besteht, daß eseinfachhin ist und nicht nichtsein kann. Hegels Seinslogik nimmt das auf,bemerkenswerterweise in einem Anakoluth: »Sein, reines Sein – ohne alleweitere Bestimmung« (TWA 5, 82). Nun aber ist dieser abstrakte Anfang inden ersten konkreten Gedanken, das Werden, übergegangen. (Philosophie-geschichtlich erinnert: Die Wahrheit des Parmenides sei Heraklit!) Dieserzweifache Anfang weckt Fragen und erregt Vorbehalte: Das Sein sei als Un-mittelbares das Erste, aber es erweist sich als leer, abstrakt, bloß gemeint. DasWerden dagegen bewährt sich konkret und ist das Bleibende und Wahre,aber es ist vermittelt und damit gar nicht das Erste.

Nun war der Anfang der Logik bereits kurz nach Hegels Ableben zurphilosophischen Streitfrage ersten Ranges geworden. Dazu hat nicht nur diescheinbare Einfachheit, lakonische Kürze und archaische Großartigkeit derersten Gedankenschritte eingeladen, sondern vor allem dessen Schwerge-wicht als Initium und Prinzipium des ontologischen Gedankenganges. Wasdamit auf dem Spiel steht, ist die Wahrheit und Verbindlichkeit des abend-

136 Teil II: Hegel

ländischen Idealismus und Seinsverständnisses in seiner spekulativen Voll-endung. Dabei widerstreiten zwei kritische Stellungnahmen einander.Freunde des Verewigten geben den Anfang der Logik preis, um das spekula-tive System zu retten, Hegelfeinde wiederlegen den Anfang, um das spekula-tive System umzustürzen.8

Für die Auflösung der Hegelschen Logik und damit des spekulativenSystems war das Auftreten eines weithin vergessenen Mannes mitverant-wortlich: Adolf Trendelenburg, vorzüglich durch sein 1840 erschienenesHauptwerk Logische Untersuchungen und Die logische Frage in Hegels Sys-tem, 1843. Der Aristoteles-Forscher Trendelenburg war 1833 nach Berlin be-rufen worden. Er hat über eine Generation, auch als Rektor, die philosophi-schen Studien auf der Berliner Universität dirigiert. Dieser Totengräber desspekulativen Geistes hat in seinen anachronistischen, aristotelischen Ein-sprüchen nicht nur in der Hegel-Schule aufmerksame Berücksichtigung ge-funden, seine radikale Hegelkritik ist auch vom Spätidealismus, von Christi-an H. Weiße und Immanuel Hermann Fichte, zustimmend aufgenommenworden. S. Kierkegaard hat Trendelenburgs Einwände gegen den Anfang derWissenschaft der Logik – Kierkegaard hat sich zwischen 1841 und 1845 drei-mal in Berlin aufgehalten – ironisch-humoristisch zugespitzt.9

Exemplarisch für Trendelenburgs robustes Vorgehen ist der Einspruchgegen Hegels Anfangsthese: »Das reine Sein ist nun die reine Abstraktion«(Enz. § 87. – LU I 94f.). Setzt der Begriff der Abstraktion nicht dasjenige vor-aus, wovon abstrahiert wird? Ist nun das reine Sein die äußerste Abstraktionvon der Mannigfaltigkeit des in der Anschauung Gegebenen, dann setzt dasdiese Anschauung voraus. Folglich beginne die Logik gar nicht mit demDenken des reinen Seins. Diesem platten Argument ist entgegenzuhalten:

8 Diese zwei Grundgestalten der Kritik und die drei einzig möglichen Hauptargu-mente hat die Studie von D. Henrich: Anfang und Methode der Logik, 1967 sach-lich und philosophiehistorisch systematisiert und eine These vorgelegt, welche diegesamte Kritik prinzipiell widerlegt: Die Logik des reinen Seins lasse sich nur vianegationis in Unterscheidung von der Logik der Reflexion explizieren.

9 Die Untersuchung von J. Schmidt: Hegels Wissenschaft der Logik und ihre Kritikdurch Adolf Trendelenburg, 1973 verteidigt Hegel, indem die Fehler nachgerechnetwerden, die Trendelenburg selbst beim Aufrechnen der Fehler Hegels begeht, vor-züglich dadurch, daß Trendelenburg für Hegels Logik die formale Logik, die einfa-che Prädikation des Urteils, die empirische Abstraktion wie die sinnliche Anschau-ung, die raum-zeitliche Bewegtheit in Rechnung stellt.

3. Abschnitt: Problematisierung des Anfangs der Onto-theo-Logik 137

Hegelsche Logik bewegt sich im Äther des absoluten Wissens und beginntmit dem Sein als absoluten Gedanken. Der ist von der formalen Allgemein-gültigkeit empirischer Begriffe, die durch Abstraktion des Verstandes vonEinzelanschauungen entstehen, himmelweit unterschieden. Hier geht esnicht um die Entstehung empirischer Begriffe durch comparatio – abstrac-tio – reflexio, sondern um die spekulative Entwicklung des absoluten Be-griffs.

Ähnlich inadäquat hat sich die Hegelkritik am Übergang zum Werdenfestgebissen. Wie kommt die Bewegung des Werdens in die Seinslogik?Warum überhaupt sind Sein und Nichts dasselbe? Was einleuchtet, seidoch allein der Befund, daß man Werden in seiner Gegenbewegung vonEntstehen und Vergehen niemals ohne den Bezug zu Sein und Nichts den-ken kann; denn Entstehen ist immer Übergang aus dem Nichtsein in Seinund Vergehen Übergang von Sein in Nichtsein. Aber müsse man Werdendenken, wenn man ein absolutes Sein denkt, welches dasselbe ist wie dasabsolute, leere Nichts? Wie kommt, gar mit Notwendigkeit, der Gedankeeiner Bewegung auf, wenn man das Nichts als die Leere des Seins rein an-schaut? Beides, das Dasselbesein von Sein und Nichts wie die Bewegungdes wechselseitigen Übergegangensein von Sein und Nichts, erscheinen alsUnerklärliches und nur durch logische Fehlschlüsse demonstriert.

Jedenfalls hat das Trendelenburg von der Gültigkeit der AristotelischenSyllogistik aus vorgeführt. Er schließt Hegels Argumentation in folgendeSchlußfigur zusammen.

1. Prämisse: Sein ist unbestimmte Unmittelbarkeit.2. Prämisse: Nichts ist unbestimmte Unmittelbarkeit.Konklusion: Also sind Sein und Nichts dasselbe.Das aber ist ein Fehlschluß und so, als ob man aus den Vordersätzen »A

ist ein Buchstabe« und »B ist ein Buchstabe« folgerte »A und B sind das-selbe«.

Der Fehler besteht darin, die Regel der Syllogistik über die 2. Figur desAristoteles nicht zu beachten. Sie lautet: Aus positiven Vordersätzen ergibtsich stets nur eine negative Folgerung. Das bedeutet hier die Konklusion:»Sein und Nichts sind nicht ein Vermitteltes.«

Gegen diese Argumentation verschlagen immerhin zwei naheliegendeEntgegnungen nichts. Sie operiere in gewöhnlichen Sätzen (S ist P); die aberseien nach Hegels bekanntem Wort unfähig, die spekulative Wahrheit aus-zudrücken. Gleichwohl hat doch auch das spekulative Satzgefüge die Formgewöhnlicher Sätze an sich. Außerdem: Hegels höhere Logik gehe über die

138 Teil II: Hegel

formale Logik hinaus, insofern es dieser in verstandesmäßiger Unterschei-dung von Inhalt und Form um die folgerichtige Verbindung von Denkfor-men unter Abstraktionen der Inhaltsbestimmungen, einer höheren Logikdagegen zugleich um die apriorischen Inhalte gehe, indem die formalenGlieder (Ober-, Mittel-, Unterbegriff) zu Inhalten des Wissens (Allgemeines– Besonderes – Einzelnes) werden. Gleichwohl setzt diese höhere Logik dietraditionelle Aristotelische Logik und Syllogistik keineswegs außer Kraft.Hegels spekulative wie Kants und Fichtes transzendentale Logik haben kei-ne Regel der formalen Logik widerrufen.10

Auf der anderen Seite aber ist klarzustellen: Der Anfang der Logik ist we-der nach Regeln der formalen Syllogistik noch in der Form eines spekulati-ven Beweises konstruiert. Für dessen Gültigkeit sind doch in jedem Fallewahre Vordersätze und gültige Termini erforderlich. Der Auftakt der Seins-logik »Sein, reines Sein – ohne alle weitere Bestimmung« aber ist überhauptkeine vollständige Prädikation. Die unterstellten Prämissen, nämlich die Be-stimmungen des unbestimmten Seins und Nichts, sind nur gemeint. Dieeinschlägigen Termini, nämlich Sein, Nichts, Dasselbesein, sind nicht voll-gültig, sondern einseitig unvollständig. Mithin kommt die Methode desSchließens und Beweisens für den Ausgang und Fortgang der Onto-Logikgar nicht in Betracht. Folgerichtig sind daher andere methodische Operati-onsverfahren in Vorschlag gebracht worden, etwa der Weg via negationis inVerneinung der Reflexionsbestimmungen oder eine Exhaustionsmethode,die alle Bestimmungssätze eines in Wahrheit Unbestimmbaren in der Formihrer unvermeidlichen Inkonsistenz so ausschöpfen, daß einsichtig wird:Dem Sein kann strenggenommen kein Prädikat zugesprochen werden.11

Ebenso läuft der Einspruch Trendelenburgs ins Leere, der den Kardi-nalfehler im Anfange der Logik darin sieht, daß der Gedanke des Werdenserschlichen wird (LU I 38). Allein in empirischer Anschauung sei es ein-sichtig zu sagen, im Werden schließen sich Sein und Nichts zusammen. Imanbrechenden Werden des Tages ist der Tag einerseits schon da, anderer-seits noch nicht da. Als abstrakter Schluß dagegen komme das Werden als

10 Demgegenüber kommt der sprachanalytische Vorbehalt nicht zum Zuge: Die Posi-tion »das Sein« und die Negation »das Nichts« ließen sich überhaupt nicht als Ein-faches in einer Quasi-Anschauung einführen; sie seien Strukturmomente des Sat-zes als der primären logischen und ontologischen Einheit, hinter die niemand zu-rück könne (vgl. E. Tugendhat: Das Sein und das Nichts, 1970).

11 Vgl. dazu W. Wieland: Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik, 1973.

3. Abschnitt: Problematisierung des Anfangs der Onto-theo-Logik 139

Konklusion von Sein und Nichts nicht zustande; denn das reine Sein unddas reine Nichts seien doch im Stande einer sich selbst gleichen Ruhe. Eindarauf bauender Syllogismus komme nur zur folgenden Konsequenz:

1. Prämisse: Das reine Sein ist sich selbst gleiche Ruhe.2. Prämisse: Das reine Nichts ist sich selbst gleiche Ruhe.Konklusion: Das reine Sein und das reine Nichts sind nichts anderes als

ruhende Einheit.Anders, aus dem Gegensatz von abstraktem Gedanken und konkreter

Anschuung formuliert: »Aus dem reinen Sein, einer zugestandenen Ab-straktion, und aus dem Nichts, ebenfalls einer zugestandenen Abstraktion,kann nicht urplötzlich das Werden entstehen, diese concrete, Leben undTod beherrschende Anschauung« (LU I 38).

Kierkegaard hat 1841 in Berlin nicht nur die Hegels Logik vernichtendeBerufung von Schellings positiver Philosophie auf die ›Wirklichkeit‹ begeis-tert aufgenommen und Hegels Grundlegung einer absoluten Subjekt-Ob-jekt-Einheit in der Gleichung Ich=Ich Existenzvergessenheit attestiert, er hatTrendelenburg das Verdienst zugerechnet, in Hegels Logik die unberechtigteUnterstellung des Werdens und damit aller Mediationsbewegung aufgedecktzu haben. Daher wird Kierkegaard erklären: Hegels Unternehmung, Bewe-gung, Übergang, Vermittlung in die Logik hineinzubringen, ist phantasti-sche Spiegelfechterei. »Die Mediation ist eine Lufterscheinung wie dasIch=Ich. Abstrakt gesehen, ist alles, und es wird nichts. Also kann in der Ab-straktion die Mediation unmöglich ihren Platz finden, da sie Bewegung alsihre Voraussetzung hat« (Unwissenschaftliche Nachschrift I; 16. Abt. 188).Und nadelspitz wird Kiekegaard, ›die Nadel‹, hinzufügen, Hegel habe allesvermittelt außer der Vermittlung selbst.12

Dagegen läßt sich eine apologetische Richtigstellung hören. Solche Fra-gen »Wie kommt Bewegung in das absolute Sein?« seien falsch gestellt. Indas Sein komme gar nicht die Bewegung des Werdens, es stehe umgekehrt.Sein und Nichts kämen überhaupt erst in der Bewegung des Denkes vor. AlsErste Anfangsgründe und wahre Prinzipien sind sie ja entleert und dembloßen Meinen zugewiesen. Sie blieben als einseitig-leere Abstraktionen des

12 Zu Kierkegaards Hegelkritik vgl. N. Thulstrup: Kierkegaards Verhältnis zu Hegelund zum spekulativen Idealismus, 1972. – Vgl. Vf.: Das Phantastische und die Phan-tasie bei Hegel und Fichte im Lichte von Kierkegaards pseudonymen Schriften,1993.

140 Teil II: Hegel

Denkens zurück, dessen Grundgedanke da noch nicht lebendig und konkretsei. Mithin sind Sein und Nichts ihrer Wahrheit nach nur als Momente imBegriff des Werdens analytisch herauszugliedern. Erst im Werden, Entste-hen, Vergehen gewinnen sie Realität und unterscheidbare Bestimmtheit,nämlich im Entstehen als Übergang von Nichts zum Sein, im Vergehen alsÜbergang von Sein zu Nichts. Ihre Ununterschiedenheit tritt hier als Gleich-heit der Gerichtetheit ›Von-Zu‹ heraus.13

Gleichwohl ist das Anfangsdilemma schwerlich zu übersehen. Entwe-der gilt: Das reine Sein kann sich gar nicht als Anfangsgrund bewährenund halten, es muß als Meinung preisgegeben werden; dann beginnt dieLogik nicht mit einem Ersten, dem unbestimmten Unmittelbaren, unddann wird auch die Auskunft nichtssagend, das unmittelbare Sein wirdvom Ende her im Kreisgang spekulativer Logik vermittelt. Ein fälschlichGemeintes ist nicht in die Wahrheit des Ganzen zu heben.

Oder es gilt: Der wahre, konkrete Anfang ist das Werden; dann aber istder Anfang nicht ein Erstes, sondern durch Sein und Nichts vermittelt, insich unterschieden und bestimmt. Jedenfalls kann dieses ontotheologischeDilemma nicht unterschlagen werden. Entweder ist der Anfang das reineSein; dann wäre er zwar unmittelbar und Erster Anfang, aber bloß ge-meint, leer, satzlos und ohne Prädikat. Oder der Anfang ist erst das absolu-te Werden; dann ist er zwar wahr und konkret, aber nicht unmittelbar undkein Erstes.

Freilich dürfte erst der Vollendungsstand der Logik endgültigen Auf-schluß über das Anfangsproblem von Unmittelbarkeit und Vermittlunggeben; denn am Ende erklärt die absolut begriffene, alles vermittelnde, insich aufhebende Idee, methodisch analytisch-synthetisch in das Sein zu-rückzulaufen. Indessen sieht sich auch Hegels Lehre von der absolutenIdee einem noch gravierenderen Vorbehalt ausgesetzt. Wie, wenn der Geistder absoluten Idee gar nicht zum Parmenideischen Sein zurückläuft, son-dern sich, schwer erklärlich, ins Sein als Natur entäußert?

13 Prominenter Anwalt dieser apologetischen Entkräftung des seit Trendelenburg üb-lichen Haupteinwandes gegen den Anfang der Hegelschen Logik, Werden und Be-wegung kämen zu Unrecht in die Logik, ist H.-G. Gadamer: Hegels Dialektik, 1971,59-63.

4. Abschnitt: Fragen nach der End- und Vermittlungsfunktion der Ideenlogik 141

4. Abschnitt: Fragen nach der End- und Vermittlungsfunktion derIdeenlogik

1. Kapitel: Wiederholung des Endstandes der Logik: die absolute Idee

Der erste Abschnitt von Hegels Ausprägung der absoluten Idee in der Wis-senschaft der Logik legt fest: »Die absolute Idee allein ist Sein, unvergängli-ches Leben, sich wissende Wahrheit und ist alle Wahrheit.« »Alles Übrige istIrrtum, Trübheit, Meinung, Streben, Willkür und Vergänglichkeit« (TWA 6,549). Hiermit spricht sich die absolute Idee als ›reine Persönlichkeit‹ un-überhörbar ontotheologisch aus: Ich bin das Sein, die Wahrheit und das Le-ben.

Gleich anfangs also weist die Wissenschaft der Logik der absolutenIdee eine vierfache Hauptstellung zu, sie allein sei Sein, Leben, sich wissen-de Wahrheit und alle Wahrheit. Sie ist Sein: offenkundig nicht mehr imAnfangs-, sondern im Vollendungsstadium. War der Anfang das Sein inder Leere eines unbestimmten Unmittelbaren und ein einseitig-abstrakterGedanke, so ist die Idee Sein im letzten und höchsten Vollendungsstand:konkretes Sein in der Fülle und im Reichtum aller in ihr aufgehobenenSeinsbestimmungen. Die absolute Idee ist somit keine zusätzliche Katego-rie der Onto-Logik, sie ist nichts anderes als die Totalität aller oberstenSeinsbestimmungen. Ihr Inhalt ist das System der Logik selbst. Alle Seins-behauptung außerhalb dieser Konkretion – alle Thesen vom Sein von Par-menides bis Kant, Fichte und Schelling – ist und bleibt einseitig und einabstraktes Meinen. »Alles Übrige ist Meinung.« Unverhüllter ist der Al-leinvertretungsanspruch der Wahrheit kaum auszudrücken.

Die absolute Idee ist unvergängliches Leben. Das meint offenkundignicht das Leben der Natur, da das Naturwüchsige von sich her in sein art-haftes Aussehen, seine Wesensgestalt, die Idee, aufgeht; denn das Naturle-ben kreist in Entstehen und Vergehen und ist vergängliches Leben. Die ab-solute Idee ist Leben im Modus der Unvergänglichkeit. Schon Aristotelesnennt die göttliche Noesis Noeseos ewiges, geistiges Leben (Zoe). Hegelerklärt genauer: Wie die absolute Idee ihrem Inhalte nach konkretes Seinist, so ist sie ihrer Form nach Leben, nämlich die lebendige Methode einerSelbstentwicklung in der Form fortschreitend-zurückkehrenden Vorge-hens, der Dialektik. »Alles Übrige ist Vergänglichkeit« – und gerade auchdas in neuzeitlichen ›Lebensphilosophien‹ behauptete Leben.

Überdies: die absolute Idee ist sich wissende Wahrheit. Sie ist noch ande-res, mehr und umfassender als die Gewißheit des Selbstbewußtseins. Das

142 Teil II: Hegel

Selbstbewußtsein ist für sich selbst dadurch bewußt und seiner gewiß, daßes sich von anderem, dem entgegenstehenden Gegenstand, unterscheidet.Selbstgewißheit des sich wissenden Wissens ist daher ein Moment, abernicht das Ganze der Wahrheit. Auf der Stufe der Vernunft, da das Selbstbe-wußtsein aufgehoben ist, stellt sich die Wahrheit der absoluten Idee als dersich absolut begreifende Begriff dar: »die absolute Idee als der vernünftigeBegriff, der in seiner Realität nur mit sich selbst zusammengeht« (TWA 6,549). Nun ist seit Plato die immerseiende Idee an sich als das vielgültig All-gemeine dialektisch-dihairetisch durch Abgrenzung umgrenzt worden, dasnicht sinnlicher Wahrnehmung, sondern allein der Vernunft zugänglich ist.Noch Kant bestimmt Idee als notwendig regulativen Vernunftbegriff, demkein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann. He-gels Begriff des Begriffs auf der Höchststufe der absoluten, an und für sichseienden Idee ist absolut: ein Denken, das sich als Identität von Denkendemund Gedachtem denkt (Noesis Noeseos im Sinne der Aristotelischen Theo-logie).14 Erst diese Theoria des sich ganz begreifenden Begriffs ist Grund derWahrheit. »Alles Übrige ist Irrtum, Trübheit.«

Und schließlich gebührt es der absoluten Idee allein, alle Wahrheit zusein. Sie hebt nicht nur die Wahrheit der theoretischen, sondern auch dieder praktischen Idee in sich auf. »Die absolute Idee, wie sie sich ergebenhat, ist die Identität der theoretischen und der praktischen, welche jede fürsich noch einseitig, die Idee selbst nur als ein gesuchtes Jenseits und unsi-cheres Ziel in sich hat« (TWA 6, 548-549). So angesehen stellt sich die ab-solute Idee im dreistufigen Gange der abschließenden Ideenlogik als Voll-endung und Konkretion von theoretischer und praktischer Idee auf. Wäh-rend die theoretische Idee in ihrer Tätigkeit das Erkennen des Wahren be-treibt, prägt die praktische Idee das Wollen des wahrhaft Guten. In abs-trakter Einseitigkeit aber hat sowohl die theoretische Erkenntnismetaphy-sik wie die praktische Vernunftwissenschaft die Idee selbst nur als Jenseitsder Erkenntnis bzw. als unerreichbares Ziel des Wollens in sich.

14 K. Düsing: Noesis Noeseos und absoluter Geist in Hegels Bestimmung der Philoso-phie, 2004 hat die Aristotelische mit der Plotinischen Nous-Lehre in Verbindunggesetzt (so daß der göttliche Nous, indem er sich selbst denkt, das Gesamt der Ide-en als seine Momente denkt), und Hegels subjektivitätstheoretische Umformungenaufgezeigt (wonach das absolute Denken zum spontanen Erzeugen des Gedachtenwerde).

4. Abschnitt: Fragen nach der End- und Vermittlungsfunktion der Ideenlogik 143

Die Idee auf ihrer theoretischen Bahn sucht das Wahre als Überein-stimmung und Adäquation von Vorstellung und Ding oder von Subjektund Objekt zu gründlicher Erkenntnis zu bringen. Das Erkennen bleibt imWechsel einseitiger idealistischer Positionen inadäquat und unangemes-sen, wo das Ich-denke nur als Subjekt des Bewußseins und nicht auch alsdas Reale vorkommt. Und in transzendentaler Position, da dem gegen-ständlichen Ding als Erscheinung, das so ist, wie das endlich-menschlicheSubjekt es zur Erscheinung bringt, ein unbekanntes Ding an sich zuge-schrieben wird, ist das Wahre in der Tat als ein absolutes Jenseits für unserErkennen betrachtet. Unausgesprochen hat Hegels historico-logische Be-trachtung der Idee des Wahren im Status der Einseitigkeit eben ihre Spitzegegen Fichtes theoretische Wissenschaftslehre. Da bleibe das Verhältnisdes Gegenstandes in ihrem Anstoß-Charakter zum subjektiven Wissen,das sich weiß als vom Gegenstande bestimmt, unangemessen. Erst der ab-solute Begriff, d.i. die Einheit seiner mit sich selbst in seinem Gegenstandeoder seiner Realität, hebt das abstrakt bleibende Erkennen der theoreti-schen Idee in konkreter Wahrheit auf.

Das Ungenügen der einseitigen theoretischen Idee wie ihrer ungenü-genden Erkenntnismethode macht den Fortgang zur praktischen Idee unddie geläufige Rede vom Primat der praktischen Vernunft verständlich. Istdas Absolute theoretisch nicht als solches adäquat zu erkennen, dann soll-te es eben im Wollen verwirklicht werden; denn das Wollen oder die prak-tische Vernunft stellt etwas als ein zu Verwirklichendes vor. Im Werk derpraktischen Vernunft wird das Subjektive objektiv, freilich nur einseitig alsobjektive Subjekt-Objekt-Einheit. So aber hat die praktische Idee das Ab-solute eben immer nur als unerreichbares Ziel, als eine Synthese des Stre-bens vor sich. Auch das hat seine historico-logische Entsprechung in derpraktischen Wissenschaftslehre Fichtes. Da kommt das Absolute als dasimmerfort Erstrebte des Sollens und als ein niemals ganz Erreichbares vor.Das bleibt Hegels unverrückbare Ansicht von der Logik der FichteschenVernunftwissenschaft. Dieses Ungenügen sei erst in der absoluten Idee ge-tilgt, da das Absolute sagt: Ich bin der Wille, der nicht so ohnmächtig ist,endlos zu streben, sondern der die Macht hat, das Gutsein der Welt durch-gefertigt ins Werk zu setzen. Die Welt, in ihrem Wesen gedacht, ist gut, d.h.von Vernunft ›durchgefertigt‹; das Unvernünftige an ihr ist Oberflächeund Schein. »Alles Übrige ist Streben, Willkür.«

In der absoluten Idee also ist alle Wahrheit, die Wahrheit der theoreti-schen wie der praktischen Vernunftidee, gleichermaßen aufgehoben. Ihre

144 Teil II: Hegel

methodische Tätigkeit vollbringt beides, das Begreifen der Erkenntnis-wahrheit und das Ins-Werk-Setzen des wahren Zwecks des Wollens in einsund in vollkommener Konkretion. Dieses Resultat Hegelscher Logikmacht das vieldiskutierte Theorie-Praxis-Problem hinfällig und zumal dieAuffassung dubios, der Deutsche und zumal der Hegelsche Idealismushabe sich damit begnügt, die Welt theoretisch auszulegen, und es sei nunan der Zeit, sie praktisch zu verändern.

2. Kapitel: Zur Restituierung der freiesten Persönlichkeit Gottes

Nun sind im Überdenken des Endstandes der Logik und im Vorblick aufden Gesamtentwurf des Systems zwei Hegelsche Eingaben im Anfangsab-schnitt der Lehre von der absoluten Idee bedeutungsvoll. Das ist außer derRückkehr des Begriffs zum Leben eine Wiederherstellung des Gottes derPhilosophie als Persönlichkeit und Person. Der einschlägige Passus lautet:»Der Begriff ist nicht nur Seele, sondern freier subjektiver Begriff, der fürsich ist und daher die Persönlichkeit hat, – der praktische, an und für sichbestimmte, objektive Begriff, der als Person undurchdringliche, atome Sub-jektivität ist, der aber ebensosehr nicht ausschließende Einzelheit, sondernfür sich Allgemeinheit und Erkennen ist und in seinem Anderen seine eigeneObjektivität zum Gegenstande hat« (TWA 6, 549). Zuerst ist die Rückkehrzum Leben, sodann die Erörterung der Persönlichkeit hervorzuheben. Nunist ja die absolute Idee ein Begriff, der sich selbst als die unmittelbare, durchnichts außer ihr vermittelte Identität von subjektivem Gedanken und objek-tiver Realität begreift. Das ist durchaus ein Grundzug des Lebens, nämlicheinfach nur mit sich selbst zusammenzusein und in sich aufzugehen. Mithinkommt es dem Begriff der absoluten Idee, sofern er der Form seiner Unmit-telbarkeit innewird, zu, zum Leben zurückzukehren. Dabei bleibt im Vor-blick auf die Vollendung des Systems offen: Vermittelt diese Rückkehr zumLeben das Ende der Logik, die absolute Idee, mit ihrem Anfange, dem nursich selbst gleichen Sein und Werden, oder kündigt sie eine Einkehr in dasLeben der zeit-raumhaften Natur und des geschichtlichen Geisteslebens an,da doch die logische Idee in ihrem Anderen ihre eigene Objektivität zumGegenstande habe?

Zugleich aber ist einzusehen: Die absolute Idee setzt nicht nur dieForm der gegensatzlosen, einfachen Unmittelbarkeit hin, sie hebt dieseebensosehr auf; denn sie hat einen äußersten Gegensatz in sich, nämlichzwischen dem subjektiven Begriff, dem Fürsichsein freier Persönlichkeit,

4. Abschnitt: Fragen nach der End- und Vermittlungsfunktion der Ideenlogik 145

und dem objektiven, an und für sich seienden Begriff, die praktische, auf-gehobene ›atome‹ Person. Danach kommt der absoluten Idee einerseitsPersönlichkeit freien Fürsichseins im Stande ausschließender Einzelheitzu; denn der absolute Begriff ist eben mehr als denkende Seele (anima in-tellectiva, nach Plato und Aristoteles: der Ort möglicher Anwesenheit ansich bestehender Ideen). Er vollzieht die Freiheit des Fürsichseins einessich wissenden und sich wollenden Bewußtseins und besitzt darin Persön-lichkeit, die sagt: Ich und niemand und nichts anderes. Zufolge dieser Be-griffsform ist die absolute Idee als Person undurchdringliche, atome Sub-jektivität. Dem widersetzt sich ein entgegengesetzter Grundzug. Die abso-lute Idee hat auch die Form der praktischen Idee. Die ist nicht nur für sichund sich wissend, sondern an und für sich verwirklicht und real ins Werkgesetzt. Hier verbleibt die Persönlichkeit nicht im Stande ausschließlicherEinzelheit; die praktische Idee nötigt das Ich, sich als Allgemeines zu er-kennen und ermächtigt dazu, die Selbigkeit von Gedanke und Realität ver-nunfthaft zu verwirklichen.

Nun ist die Eingliederung der Persönlichkeit auf der Höhe der absolu-ten Idee eigentlich nicht überraschend. Hegel hat ja des öfteren gegen dieLehre Spinozas vom Absoluten im Stande substantialer All-Einheit auchdas eingewendet: Da fehlen Persönlichkeit und Person des Gottes der phi-losophischen Wissenschaft. Während Fichte im Atheismusstreit eineselbstbewußte Personhaftigkeit göttlichen Seins als Verendlichung undVermenschlichung ausschloß, hält Hegel im Geiste der offenbaren (christ-lichen) Religion an der trinitarischen Personhaftigkeit Gottes fest. Sokommt nicht von ungefähr in der ontotheologischen Darlegung der Ideedas Problem von Persönlichkeit in der Idee Gottes zur Sprache.

Einen Vorverweis auf die geistige Persönlichkeit des einzig-einen Got-tes mag das letzte Wort der Aristotelischen Theologie geben. Es richtetsich zwar nicht gegen den religiösen Polytheismus, sondern gegen die Ide-alzahlenlehre der Akademie (Speusipp), aber es stellt doch mit einem Ho-mer-Zitat (Il. II, 204) die reine Persönlichkeit des Gottes in absoluterGeisttätigkeit heraus. »Nicht gut ist Vielherrschaft – nur Einer sei Herr-scher« (Met. XII 10; 1076a4).

Wie aber steht es nun angesichts dieser Grundbestimmungen, einerRückkehr der Idee zum Leben und dem Walten der personhaften FreiheitGottes, mit der Vollendung der Logik und mit dem Zusammenschluß desganzen Systems? Das Ende der Logik stellt das Reichste und Konkreteste,das Mächtigste und Übergreifendste dar. Und wieder fällt hier der Begriff

146 Teil II: Hegel

der Persönlichkeit in seiner ganzen Reinheit an. »Die höchste, zugeschärf-teste Spitze ist die reine Persönlichkeit, die allein durch die absolute Dialek-tik, die ihre Natur ist, ebensosehr alles in sich befaßt und hält, weil sie sichzum Freiesten macht, – zu Einfachheit, welche die erste Unmittelbarkeit undAllgemeinheit ist« (TWA 6, 570). Die alles in sich vermittelnde absolute Ideealso ist auf ihrem Höhepunkt reine Persönlichkeit. Sie stellt den Reichtumaller Seinsbestimmungen her und kehrt zur ersten Unmittelbarkeit zurück,so daß die Wissenschaft der Logik sich als in sich geschlossener Kreis dar-stellt. So angesehen legt sich die These nahe, die lebendige Begriffsnatur derreinen Persönlichkeit sei absolute Dialektik.

Dialektik meint hier eine Methode der Ideenerfassung, in welcher derFortgang vom Anfang und die Rückkehr zu ihm ebenso dasselbe ist wiebegründender Rückgang und weiterbestimmender Fortgang. Die analyti-sche, schrittweise begründende Vertiefung in den noch unentwickeltenAnfang, in das einfache unbestimmte Sein, ist in sich die vorwärtsgerichte-te, synthetische Erhebung bis zum Ziel, zu einer Idee, die nichts fallen läßt,sondern alles Durchbestimmte verdichtet in sich trägt. Die Einheit deranalytisch rückwärts zergliedernden und synthetisch fortschreitendenMethode ist dialektische Methode. Deren vorzüglichstes Beispiel ist dieganze Logik.

So sollte verständlicher werden: Allein dadurch, daß die Methode abso-luter Dialektik die Natur der reinen Persönlichkeit ist, kehrt diese, alles insich befassend, zum ersten Unmittelbaren und zum ersten allgemeinenGedanken zurück. So macht sich die reine Persönlichkeit der Gottheit,nicht etwa des Menschen, zum Freiesten. Indem sie sich aus sich zum Ein-fachen, nur mit sich selbst Gleichen, zum Unmittelbaren macht, ist sie vonjeder unmittelbaren Voraussetzung und Abhängigkeit frei. Ist es diese Frei-heit, in der sich die absolute Idee frei entschließt, sich frei als Natur zu ent-lassen?

3. Kapitel: Nachfragen zu Hegels Andeutungen eines Übergangs von derIdeenlogik zur Realphilosophie

Die abgerundete ontotheologische Bewahrheitung der absoluten Idee-scheint die weitere Ausführung des Systembaus, den Übergang von der Lo-gik zur Natur- und Realphilosophie, plausibel zu machen. Sie nimmt diePersönlichkeit und Freiheit der absoluten Idee in Anspruch, indem sie an-deutungsweise erklärt: »Die absolute Freiheit der Idee aber ist, daß sie [...] in

4. Abschnitt: Fragen nach der End- und Vermittlungsfunktion der Ideenlogik 147

der absoluten Wahrheit sich entschließt, [...] sich als Natur aus sich zu entlas-sen« (Enz. § 244; TWA 8, 393). Dem ist ein ebenso aufschlußreicher wiezweideutiger Zusatz angehängt. »Wir sind zum Begriff der Idee, mit welcherwir angefangen haben, zurückgekehrt. Zugleich ist diese Rückkehr zum An-fang ein Fortgang. Das, womit wir anfingen, war das Sein, das abstrakte Sein,und numehr haben wir die Idee als Sein: diese seiende Idee aber ist die Na-tur« (TWA 8, 393).

In diesen berühmten, bloß angedeuteten Schluß- und Übergangssätzenist die vollendete Wahrheit der Ideenlogik als vermittelnder Rückgang in dasabstrakte Sein ebenso behauptet wie ihre entschlossene Selbstentäußerungals Natur in deren Ansichsein. Offenbar steht mit diesen Behauptungen derKreisgang der Logik ebenso auf dem Spiel wie der Anfang im Kreisen desabsoluten Geistes. Das ist in Konzentration auf die zitierten Schlüsselstellenzu befragen. Allein es bleibt das Vorbedenken: Kann die Idee überhaupt denGedanken des einseitigen und unmittelbaren Seins in sich aufnehmen,wenn doch alles, was im rückwärts vertiefenden Fortgehen zum Ziel aufge-nommen wird, als Moment der höheren Wahrheit bewahrt (konserviert)und höher gehoben (eleviert) wird? War denn nicht ausdrücklich das abs-trakte, nur sich selbst gleiche Sein als leere Unmittelbarkeit fallengelassenund in die Unwahrheit bloßen Meinens verwiesen worden? Wäre dannnicht die Vermittlung des konkreten Anfangs, des Werdens, die Ermittlungeines schon Vermittelten? Ist dann nicht, mit Kierkegaards Nadelstich for-muliert, im Hegelschen System alles Logische immer schon vermittelt – au-ßer der Vermittlung selber?

Und zweideutig bleibt auch die Tat der Freiheit, der Idee in ihrer reinenPersönlichkeit. Sie steht an der Gelenkstelle des Systems, welches Logik undRealphilosophie vermittelt. Dabei sollte einleuchten: Die Logik der absolu-ten Idee bildet zwar eine Grundlage, aber nicht das Ganze der Vernunftwis-senschaft. »Diese Idee ist noch logisch, sie ist in den reinen Gedanken einge-schlossen, die Wissenschaft nur des göttlichen Begriffs« (TWA 6, 572). DieWissenschaft der Logik ist eben ontologische Theologik. Sie stellt nach demberühmten Einleitungswort Hegels das Reich der reinen Gedanken, der un-verhüllten, an und für sich seienden Wahrheit dar. »Man kann sich deswe-gen ausdrücken, daß dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinemewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist«(TWA 5, 44). Wie aber kommt es vom Reich ewiger göttlicher Gedanken zurgeschaffenen Welt der Natur und zur Welt der Menschen? Weiter gefragt:Wie gelangt das tragende System der Logik als Natur und Geist zum Aus-

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trag, gar so, daß ein absoluter Geist in den modi cogitandi des subjektivenGeistes (Anschauen – Vorstellen – Denken) und objektiv in den Gestaltendes Gemeinschaftsleben, weltgeschichtlich als Weltgeist in Völkern und He-roen offenbar wird? Offenkundig steht so mit dem Übergang von der Logikzu den Wissenschaften der Natur und des Geistes das Gesamtgefüge desHegelschen Systems auf dem Prüfstand.

Das drückende Problem wird in der Frage manifest, wie sich die abso-lute Idee als Natur darstellt und nicht etwa zur materiellen, körperhaften,zerteilten Natur übergeht, in das absolute Anderssein von Raum und Zeitals dem Außereinander des Nebeneinander und Nacheinander. Hegelnimmt das Wort vom Übergang zurück. Es sei weder begrifflich noch zeit-lich haltbar; denn begrifflich bliebe das Übergehende innerhalb der Sphä-re der Gedanken und zeitlich wäre es außerhalb seiner Sphäre des Ewigen.Den wahren Prozeß dieses ›Übergangs‹ hat Hegel nur angedeutet und soselbst gravierenden Bedenken Tür und Tor geöffnet.

Außer Frage steht doch: Die absolute Idee hat sich als das Absolutevollendet ausgesprochen. Am Ende sagt die höchste metaphysische Defini-tion Gottes: Ich bin die Fülle der Seinsrealität im Fürsichsein des reinenBegriffs. Paradoxerweise wird ihr zum Ausklang der Wissenschaft der Lo-gik ein doppeltes Ungenügen attestiert. Die absolute Idee sei trotz ihresVollendungscharakters noch nicht vollendet. Und sie sei trotz ihrer totalenEinheit von Sein und Realität in sich, in die Sphäre des reinen Gedankens,eingeschlossen. »Die systematische Ausführung ist zwar selbst eine Reali-sation, aber innerhalb derselben Sphäre gehalten« (TWA 6, 572). So ange-sehen zeigt sich das Ideen-Absolute von der Sphäre dessen, was sie nichtselber denkt, dem Sein und Leben der Natur als dem anderen ihrer selbst,ausgeschlossen. Dann aber enthüllte sich doch am Ende das Absolute derLogik als ein Nicht-Absolutes. Soll aber das wahre Ganze um Gottes Wil-len nicht dualistisch in zwei Sphären von Geist und Natur disjungiert sein,dann muß die absolute Idee selbst den Übergang in die andere Sphäre alsihre eigene Wirklichkeit vollbringen. Steht es so, bewegt sich dieser Über-gang dann aber nicht nach dem Gebote eines Soll – dann muß? Und, vor-bereitend gefragt: Wendet sich dann nicht Hegels auf Fichte gerichteteWaffe der Sollenskritik gegen ihn selbst?

Das führt zu einer weiteren fraglichen Unterstellung. Soll die absoluteIdee ihre Seinswürde und Totalität, alles in allem zu sein, bewahren und be-währen, dann muß in ihr selbst das Sein der Natur angelegt sein. »Indem dieIdee sich nämlich als absolute Einheit des reinen Begriffs und seiner Realität

4. Abschnitt: Fragen nach der End- und Vermittlungsfunktion der Ideenlogik 149

setzt, somit in die Unmittelbarkeit des Seins zusammennimmt, so ist sie alsdie Totalität in dieser Form – Natur« (TWA 6, 573). Aber ist das haltbar? Ge-wiß ist die absolute Idee Totalität aller Seinsgedanken in der Form des rei-nen Begriffs, aber ist nicht die Natur von dieser Form ausgeschlossen und soin der Einheit der Ideensphäre nirgends enthalten? Und liegt hier nicht einanzukreidender Fehlschluß vor, der aus Maior und Minor der Vordersätze»Die Idee ist lebendige Unmittelbarkeit« – »Die Natur ist lebendige Unmit-telbarkeit« die positive Konklusion folgert: »Also sind Idee und Natur das-selbe«, anstatt richtiger negativ zu schließen: »Also sind beide, Idee und Na-tur, nicht im Stande des Vermitteltseins«? Vor allem aber: So ist das Gesollte,die Differenz und den Abstand der Sphären aufzuheben, nicht vollbracht.Eine Revision der Logik kann nur konstatieren: Die Idee ist wie die Naturlebendige Unmittelbarkeit, aber in der Form des Fürsichseins; die Natur istwie die Idee lebendige Unmittelbarkeit, aber doch in der Form des bloßenAnsichseins. Hegel selbst hat bemerkenswerterweise die Konstruktion einesnotwendigen Übergangs revidiert. »Das Übergehen ist also hier vielmehr sozu fassen, daß die Idee sich selbst frei entläßt, ihrer absolut sicher und in sichruhend« (TWA 6, 573).

Aber gerade auch hier ist nachzufragen. Folgt diese Lösung nicht ebender gerügten Unterstellung eines Soll – dann muß? Soll die absolute Ideeaus ihrem Eingeschlossensein in sich heraustreten und versagt hier dieÜbergangsrelation von Möglichkeit zu Wirklichkeit, dann muß die Ideesich immer schon entschlossen haben, sich aus sich in das Anderssein alsNatur zu entlassen. So würde sich die Idee tatsächlich als das zuhöchstFreie bewähren. Und es war ja doch der Idee eine reine Persönlichkeit undreine Freiheit zugedacht worden, sofern sie die praktische Idee des freienWillens, der das Gute und Vernunfthafte in der Welt immer schon ver-wirklicht, als Moment in ihr aufgehoben hat. Aber hat das nicht aus-schließlich mit der Welt zu tun, wie sie innerhalb der Sphäre der reinenGedanken vernunfthaft ausgeprägt ist? Und tritt der Gott der Freiheit, derdie Idee als Welt walten läßt, nicht eher wie ein Deus ex machina auf, derdas Reich Gottes und die reale Natur und Menschenwelt miteinander ver-söhnt?

Warum denn muß sich überhaupt ein absolut Freies von sich selbst be-freien und aus dem Eingeschlossensein in sich entlassen? Und kann sichdie Idee überhaupt zu einem schlechthinnigen Anderssein entschließen,wo sie doch längst zur Gewißheit der Vernunft gekommen ist, im Anders-sein bei sich selbst zu bleiben? Und zuletzt gefragt: Macht die absolute

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Idee wirklich damit ernst, erst im Durchgang durch Anderssein und Nega-tion wie durch Erschütterungen der Vergänglichkeit – denn erst das Na-turleben bringt Vergänglichkeit und Tod wirklich mit sich – ganz das zuwerden, was sie ist, wenn sie doch ihres unerschütterlichen Bleibens beisich selbst versichert ist?Solches Nachfragen, sollte es nicht ganz abwegig sein, treibt den Vollen-dungsanspruch des Hegelschen Idealismus in die Krise.15 Das Gesamtsystemdroht auseinanderzuklaffen. Die Wissenschaft der Logik und die Wissen-schaften des Geistes finden nicht bruchlos und ohne Sprung zueinander. Er-weist sich der Weg der geistvollsten Systemvollendung am Ende als ungang-barer Irrweg? Bedeuten Hegel wie der orthodoxe Hegelianismus etwa nichtsweiter als eine hybride, existenzvergessene Phantasterei? Ist diese Epocheder Menschheits- und Philosophiegeschichte, die ebenso glänzend wieflüchtig, ebenso wirkmächtig wie wirkungslos, ebenso spekulativ wie unbe-sonnen war, nicht mit Recht versunken und verschwunden? Dieses Urteilder Geschichte kann sich auf Kierkegaards ›unwissenschaftliche‹ Nach-schriften und eben auch auf Schellings vernichtendes Anathema stützen.Einträglicher für die Abschätzung einer Vernunftwissenschaft im Stadiumihrer dreifachen Vollendung aber mag es sein, Hegels Dialektik in ihrem un-ausgetragenen Widerstreit mit dem Stand der ungeschriebenen Wissen-schaftslehre zu betrachten, da diese sich eben auch in reiner und vollendeterGestalt zur Darstellung gebracht hat.

5. Abschnitt: Wege und Wesen der Wahrheit. Bereitstellungen zum Widerstreit

Es ist das Bestreben aller Philosophie, das Wahre selbst zu erkennen und ineins damit vom Unwahren zu scheiden, die Gewißheit zu fundieren und soden schwanken machenden Zweifel stillzustellen. Dazu ist es notwendig,daß unser Wissen den Grund und Quell der Wahrheit erfaßt. Ausdrücklichhat Hegel die Erfassung des Wahren im Wissen als Endabsicht philosophi-

15 Das Auseinanderbrechen von Transzendentalität und Erfahrung in Ausarbeitungdes Anfangs stellt die Untersuchung von K. Schrader-Klebert: Das Problem des An-fangs in Hegels Philosophie, 1969 überscharf heraus. Indem Hegel den Anfang zumSystem aller möglichen, immanent vermittelten Bestimmungen entwickle, reduzie-re er die Wirklichkeit auf Null, so daß der Willkür einer absoluten Apriorität dieUnvermittelbarkeit einer absoluten Aposteriorität entgegenstehe.

5. Abschnitt: Wege und Wesen der Wahrheit. 151

scher Prinzipienforschung ausgemacht. »Die Philosophie beabsichtigt, daszu erkennen, was unvergänglich, ewig, an und für sich ist, ihr Ziel ist dieWahrheit« (TWA 18, 24). Und Fichte, »der Priester der Wahrheit«, hat un-entwegt erklärt, man wisse nichts, wenn man nicht den Grund der Wahrheitkenne. Alle Philosophie, die nicht Skeptizismus sein will und die gegenNichtwissen, Schein und Unwahrheit streitet, muß zu diesem Ziel kommen.Erst eine Philosophie, welche die Wahrheit ergründet, kann es überhauptunternehmen, ein System der Vernunftwissenschaft auf sicherem Grundvollständig und in vollendeter Darstellung aufzustellen. Das ist in der Hoch-zeit des Idealismus eben auf drei Wegen unternommen worden. Daher ist esunumgänglich, Hegels Weg zur Wahrheit sowie deren Grundbegriff zu reka-pitulieren, um Hegels System für den Widerstreit um das Erreichen des Zielsaller Philosophie bereitzustellen.

1. Kapitel: Hegels Wege zur Wahrheit

Hegels Logik nimmt durchaus die Wahrheit der abendländischen Traditiongemäß als Übereinstimmung des Begriffs mit seiner Realität im Erkennender Vernunft auf. Aber sie gibt der Entsprechung von Begriff und Realitätinnerhalb der Selbsterkenntnis der Vernunft auf der Höhe absoluten Wis-sens ein neues Gepräge. Wahrheit sei Übereinstimmung der Gedanken derabsoluten Idee mit ihrer eigenen Wesenswirklichkeit. »Die Vernunft erkenntdie Wahrheit, indem die Wahrheit die Übereinstimmung des Begriffs mitdem Dasein ist, die Bestimmungen der Vernunft aber ebensosehr eigeneGedanken sind als Bestimmungen des Wesens der Dinge« (Logik für dieMittelklasse, 1809 § 33; TWA 4, 85). Auf welchem Wege nun gelangt die Ad-äquationstheorie in die Zuständigkeit einer spekulativen Logik? Offenbarwird die Wahrheitslehre aus der Zuständigkeit der formalen Logik über dietranszendentale Logik der Vernunftkritik hinaus in die wissenschaftlicheKompetenz einer spekulativen, ›objektiven‹ Logik delegiert. Auf diesemWege vertieft sich die Wahrheitsprüfung von den bloß negativen Kriteriendes Satzes vom Widerspruch und des Satzes der Identität über das transzen-dentale Prinzip der synthetischen Einheit des Ich-denke bis in den Ur-sprung der absoluten Subjekt-Objekt-Identität. Solchen Tiefgang hatteschon die Journal-Abhandlung Glauben und Wissen angekündigt. Die Stu-fen, auf denen der Geist bis zur Höhe des absoluten, sich als Einheit von Be-wußtsein und Gegenstand wissenden Wissens aufsteigt, hatte die Phänome-nologie des Geistes durchlaufen. Sie fungiert als Lehre der erscheinenden

152 Teil II: Hegel

Wahrheit in ihrem Erscheinen. Das sich so öffnende Reich der Wahrheit derIdee hat Hegel in seiner Logik, zumal im dritten Teil, der Begriffslogik, be-gründet und ausgebreitet.

Nun stellt die mit Schelling zusammen herausgegebene Abhandlung von1802 Glauben und Wissen die Wahrheitsauffassung der transzendentalen Lo-gik Kants heraus und programmatisch auf einen neuen Grund und Boden:das wahre Ich als absolute, ursprünglich synthetische Identität. Bekanntlichhat Kant die Frage nach der Übereinstimmung von reinen, apriorischenVerstandesbegriffen mit der objektiven Realität des sinnlich in den reinenAnschauungsforman von Raum und Zeit gegebenen Mannigfaltigen alsGrundfrage einer transzendentalen Urteilswahrheit neu und eigenartig ge-stellt: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Diese Frage wurde ge-löst durch Aufstellung der einigenden Einheit des Ich-denke als ursprüng-lich synthetische Identität. Das aber ist vom sich abzeichnenden StandpunktHegels und Schellings her angesehen die absolute Identität des Subjektivenund Objektiven. Der Grund der Wahrheit wäre so eigentlich ein Unbeding-tes, und das Unbedingte ist ein anderer Name für das Absolute. Das Absolu-te ist mithin die ursprüngliche Synthesis, aus der sich erst das Ich als den-kendes Subjekt und das ungleichartige Mannigfaltige ausscheiden. Der da-hin tendierende Schlußsatz lautet: »So hat Kant in Wahrheit seine Frage: wiesind synthetische Urteile a priori möglich? gelöst. Sie sind möglich durchdie ursprünglich absolute Identität von Ungleichartigem, aus welchem alsdem Unbedingten sie selbst [...] erst sich sondern« (TWA 2, 307).

Zwischen den Zeilen dieser Kantauslegung ist eine Wende im Wege zumWesen und Grund der Wahrheit herauszulesen. Das Erste Prinzip der Wahr-heit ist nicht die bedingte Ichheit der transzendentalen Apperzeption, son-dern die unbedingte Identität des Idealen und Realen. Wahrheits- und Ge-wißheitsgrund ist nicht mehr das cogito me cogitare, das Ich-denke, die Tat-handlung des absoluten Subjekts, sondern die Absolutheit der Vernunftidee.Darin steckt eine weittragende Kritik. Kant habe zwar durchaus das Unbe-dingte als Prinzip und Wahrheitsgrund ergriffen, aber nicht festhalten kön-nen und seinen dualistischen Vorgaben zufolge aufgeben müssen.16 Das ist

16 Die problemeröffnende Studie von M. Baum: Wahrheit bei Kant und Hegel, 1981stellt zuerst prägnant Kants Konzeption der absoluten Wahrheit dar, verfolgt so-nach Hegels Kritik daran, um in Hegels eigener Wahrheitskonzeption weiterge-führte Momente transzendentaler Wahrheit nach- und einzutragen.

5. Abschnitt: Wege und Wesen der Wahrheit. 153

Programm. Dessen Durchführung erhält Fülle und Profil auf den Wegenvon Hegels Phänomenologie, als Lehre von der aufsteigend erscheinendenWahrheit gelesen. Dabei entwickelt sich die Wahrheitserfahrung des Be-wußtseins als dialektische Aufwärtsbewegung auf dem Wege einer Selbst-prüfung des Geistes in seinen Wahrheitsansprüchen. So wird auf jeder Stufegeprüft, ob der Begriff dem Gegenstand und umgekehrt, ob der Gegenstanddem Bewußtsein entspricht oder nicht entspricht. In diesem Selbstprü-fungsverfahren heben sich Positionen mit dem Resultat einer Nichtentspre-chung selber auf, bis die volle Entsprechung und damit »das einheimischeReich der Wahrheit« (TWA 3, 138) erreicht ist.17 Was auf dem Wege zu die-sem Ziel hin überstiegen wird, ist dreierlei: die bloß formelle Wahrheit desBewußtseins, die Einschließung der Wahrheit in die Selbstgewißheit des Ichund alle Verendlichung der Wahrheit durch den Verstand. Bloß formellbleibt die Wahrheit, soweit und solange sie in die Beziehung auf das Be-wußtsein gesetzt wird. Auf der Stufe gegenständlichen Bewußtseins herrschtdas rechthaberische Pochen auf Richtigkeiten. Abstrakt bleibt die Wahrheit,wenn der Geist sich mit der Gewißheit seiner selbst auf der Stufe des freienSelbstbewußtseins begnügt und sich nicht zur Einsicht erhebt, die Idee seidie Wahrheit. Gewißheit von sich hat noch keine Wahrheit. Und die Wahr-heit bleibt endlich, wann immer eine als Verstand tätige Vernunft die un-endliche Wahrheit des Begriffs als ein Jenseits fixiert. So verblaßt die Wahr-heit zum nur an sich seienden Ziel. Sie wäre so eben nur das bloß Gesollteund niemals das wirklich Vollbrachte. Hegels Phänomenologie verfolgt da-gegen das Endziel, die abstrakte Gewißheit des Geistes zur konkreten Wahr-heit zu erheben. Das scheint geglückt, wenn die formelle Identität des Sub-jektiven und Objektiven sich zum wirklichen Unterschied fortentwickelt,dergestalt, daß die Subjekt-Objekt-Einheit als Wahrheitsgrund sich zurIdentität ihrer selbst und ihres Unterschieds gemacht hat. Die Wahrheit istnur in der Einheit der Identität mit der Verschiedenheit vollständig.

So erst hebt sich Hegelsche Logik unter dem Titel einer »objektiven Lo-gik« ausdrücklich von der formalen Logik ab, welche das Subjektive desDenkens festhält und untersucht, indem sie von allem Objektiven abstra-hiert. Wahre Logik besitzt das absolute Wissen zum Inhalt und eröffnet

17 Vgl. dazu die einschlägigen Untersuchungen von M. Theunissen: Begriff und Reali-tät, 1978. – R. Aschenbach: Der Wahrheitsbegriff in Hegels Phänomenologie desGeistes, 1976.

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das Reich der reinen Gedanken, welche die wesenhafte Realität an sichselbst sind. Und das hebt Kants Restriktionen total auf, welche die Wahr-heit als Erkennntnis des Ansichseins der Dinge für unzugänglich erklärtund lediglich die Wahrheit der sich sinnlich bekundenden gegenständli-chen Erscheinung zuläßt. Und Hegels Konzept übersteigt auch die JenaerWissenschaftslehre, sofern diese von der unbedingten Tathandlung derSubjektivität her in absoluter Gewißheit die Übereinstimmung von Ichund Nicht-Ich herstellen soll, ohne es je zu einer vollständigen Adäquationzu bringen.

2. Kapitel: Begreifen der Wahrheit auf der Höhe spekulativer Logik

Hegels Onto-theo-Logik bringt die konkret zusammengewachsene Wahr-heit im Äther absoluten Wissens auf den Begriff. So enthüllt sich das durchVerstandesrelationen verhüllte Reich der Wahrheit ganz. »Dieses Reich istdie Wahrheit, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist« (TWA 5, 44). Inspekulativer Logik nämlich gehen die lebendige Realität der Idee und derabsolute, sich mit sich vermittelnde Begriff ineinander auf. Das Schlußstückder subjektiven Logik hebt daher mit der These an: »Die Idee ist der ad-äquate Begriff, das objektive Wahre oder das Wahre als solches« (TWA 6,462). Der vollendete positive Begriff nämlich ist nicht etwa bloß das abs-trakte Allgemeine der Verstandeslogik, welche den Gegensatz von Form undInhalt festhält. Er bildet das Wahre aus der Einheit von Sein und Wesen, in-dem er sich als das schlechthin Konkrete begreift. Das aber schließt die Fülleallen Inhalts so in sich ein, daß es diese zugleich aus sich entläßt. Der so le-bendige Begriff ist das Element des Wahren, und solches Begreifen derWahrheit ist das Endziel der Philosophie. Endet mithin Hegels Logik mitdem absoluten, konkreten Begriff des Wahren, dann ist seine Systembildungin der Tat am Ziel und die Vernunftwissenschaft unüberholbar vollendet.

Das ist ein Korrektiv. Seit alters hat die Philosophie den Grund derWahrheit in das Absolute, in Gott, gesetzt. Aber solcher Wahrheitsgrund istnicht im subjektiven Denken erfaßbar. Vielmehr ist zu erweisen: Grund derWahrheit und Enthüllung des göttlichen Wesens ist erst der spekulative Be-griff. Darum drückt alles Reden von der Unbegreiflichkeit Gottes, sei es vomStandpunkt der Reflexion, sei es vom Standpunkt der Gefühlsphilosophie(Fichte, Jacobi) aus nur einen schlechten Subjektivismus aus. Das Göttlicheist lebendiger Geist und weder jenseitig noch verborgen, schon gar nichtaber das Unerkennbare und Inhaltslose des abstrakten Verstandes. Im spe-

5. Abschnitt: Wege und Wesen der Wahrheit. 155

kulativen Begreifen ist Gott offenbar und in gehöriger Wahrheitslehre zurvollständigen Klarheit gebracht. »Die Lehre der Wahrheit ist ganz nur dieses,Lehre von Gott zu sein und dessen Natur und Geschäfte geoffenbart zu ha-ben« (Vorrede zu Hinrichs Religionsphilosophie, 1822; TWA 11, 49). Wahrheitbesagt demnach vollkommenes Sichoffenbaren des sich dirimierenden undversöhnenden göttlichen Begriffs. Anders, vom Prozeßcharakter der Wahr-heitsoffenbarung her gesagt: Das Wahrheitsgeschehen vollzieht sich im ewi-gen, allgemeinen Vorgang eines Sichunterscheidens und Insichzurückneh-mens des sich offenbarenden Geistes als des schlechthin begreifbaren An-fangsgrundes alles wahrhaft Wirklichen.

So aufgebaut bleibt Hegels Wahrheitskonzeption gegenüber Einsprü-chen unangreifbar, welche sich auf eine vortranszendentale Adäquations-theorie oder moderner auf eine antimetaphysische Kohärenztheorie stüt-zen. Hegel nämlich hat beides, Adäquation und Kohärenz, in seine Wahr-heitslehre integriert. Und unter Niveau sind Angriffe im Namen der Rich-tigkeit, sofern diese allein vom gegenständlichen oder gar vom sinnlichenBewußtsein festgestellt wird. Hegels Phänomenologie des zum Wahrheits-grund aufsteigenden Geistes hat solche Positionen schlagend in denSelbstwiderspruch getrieben und bekanntlich auch die Wahrheit als Ge-wißheit und unmittelbare Evidenz auf der Stufe des Selbstbewußtseins zurSelbstaufgabe gezwungen.

Wo allerdings die aufsteigende, spekulative Transzendenz im idealisti-schen Überstieg zu einem göttlichen Wahrheitsgrund reszendiert und mate-rialistisch vom Himmel auf die Erde zurückgeholt wird, da gerät Hegels Di-alektik ins Zwielicht. So hat die wissenschaftliche Wahrheit des Marxismus-Leninismus eine ›fortschrittliche‹ Rezeption angeboten.18 Einerseits wirdHegel als Schöpfer der Dialektik gefeiert, andererseits als Logiker der abso-luten Idee verdammt. Die absolute Idee Hegels fasse nach Lenins Urteils-spruch alle Widersprüche des Kantischen Idealismus und alle Schwächendes Fichteanismus in sich zusammen (vgl. LW 14, 230). Die Wissenschaft derLogik und ihre dialektische Wahrheit sei höchste Errungenschaft der Hegel-

18 Solche Lösung sei weder vom transzendentalen noch vom absoluten Idealismus zuerwarten. Sie werde erst möglich »vom Standpunkte einer wissenschaftlich-philo-sophischen Weltanschauung, die die großen Errungenschaften der vorhergehendenPhilosophie – den Materialismus und die Dialektik – geerbt und verbunden hat[...]: die Philosophie des Marxismus« (vgl. T. Oisermann: G. W. F. Hegel und dasErbe I. Kants, 1981, 304).

156 Teil II: Hegel

schen Philosophie und eine bloße Voraussetzung des dialektischen Materia-lismus als die ganze, nämlich wissenschaftliche Wahrheit. Indessen dürfteklar sein: Der Marxismus-Leninismus gehört zur nihilistischen, weltweitausgebreiteten Reszendenzbewegung (Nietzsche: »Brüder, bleibt der Erdetreu!«). Da sind alle Organe für Transzendenzprozesse aus dem Leib undLeben der Philosophie herausgeschnitten.

Die Auseinandersetzung mit Hegels Weg und Begriff der Wahrheitkann schlechterdings nicht von Positionen ausgeführt werden, die nochimmer oder schon wieder im dogmatischen Schlummer versunken sind.Grundfragen, ob das absolute Wissen wirklich als das Absolute aufzufas-sen sei oder ob eine Logik des Begriffs, der die Realität in und aus sich bil-det, das konkrete Wahre darstellt, sind nur auf gleichem Niveau transzen-dentaler Transzendenz- und Wahrheitserhebungen zu erörtern. Der Wi-derstreit um die Wahrheit, die alte Riesenschlacht um das Sein, sollte so-mit auf dem Niveau des Deutschen Idealismus selbst im Stadium seinerdreifachen Vollendung ausgetragen werden.

6. Abschnitt: Hegel im Widerstreit

1. Kapitel: Hegels Bloßstellung des unvermittelten, schlechten, leeren und unvollständigen Idealismus (Kant – Fichte)

Für eine restituierende Untersuchung des Deutschen Idealismus, welche diegroßen Ausarbeitungen der Systeme aus dem Widerstreit einer dreifachenGrundstellung mti einem je eigenen Vollendungsanspruch thematisch be-handelt, ist es wohl unumgänglich, Hegels Abschätzungen zu erwägen, mitdenen er die Vernunftkritik Kants wie die frühe Wissenschaftslehre Fichtesin ihren Unzulänglichkeiten bloßstellt. Das sollte den Anstoß geben für eineGegendarstellung im Systemrahmen von Fichtes ungeschriebener Lehre,vorzüglich von 1804 – 1807; sie ist von Hegel ignoriert worden. Dafür ist eineinschlägiger, kurzer, aber prägnant polemischer Abschnitt der Phänomeno-logie des Geistes zu überdenken. Er findet sich da, wo die dritte Hauptstufedes erscheinenden Geistes erreicht ist, im Abschnitt »Gewißheit und Wahr-heit der Vernunft«.19 »Die Vernunft ist die Gewißheit des Bewußtseins, alle

19 Einer der Erträge der phänomenologischen Interpretation der Hegelschen Phänome-nologie des Geistes durch E. Fink: Hegel, 1977 besteht darin, diesen Abschnitt aus-drücklich als Kant- und Fichtekritik herausgestellt zu haben. Freilich liegt die hier

6. Abschnitt: Hegel im Widerstreit 157

Realität zu sein; so spricht der Idealismus ihren Begriff aus« (TWA 3, 179).Dieser sich auf dieser Höhe aussprechende Idealismusbegriff beanspruchtnun, die Grundsätze zu korrigieren und zu überbieten, in denen sich derIdealismus anfangs in Kants Kritik und in Fichtes Jenaer Grundlegung aus-gesprochen hat. Geschichtlich hervorgetreten war der Idealismus eben alsVernunftkritik und Vernunftwissenschaft mit den Grundsätzen »Das Ich-denke muß alle meine Vorstellungen begleiten können« (Kant) und »Ich binIch« (Fichte). Beiden Gestalten des Idealismus spricht Hegel pauschal undunterschiedslos ab, ihre Grundsätze erfüllt und die Vernunftwissenschaftabgeschlossen zu haben. Er rechnet ihnen vielmehr ein fünffaches Defizitvor. Sie treten unvermittelt unmittelbar auf; sie drücken sich in reinen Versi-cherungen aus; sie verfehlen – eine Schmach der Wissenschaft – die ver-nunftgemäße Kategorienlehre; sie fallen in den Empirismus zurück; und sieproklamieren am Ende eine bloß gesollte absolute Vernunfteinheit.

Der erste Einwand lautet: Der unmittelbare Idealismus trete unerwiesen,wie aus der Pistole geschossen, auf. Er erweist und beweist sich nicht in sei-nem Gewordensein auf dem Wege des erscheinenden Geistes. Er hat dienotwendige dialektische Bewegung im Überwinden der in sich wider-sprüchlichen Wahrheitsstufen des Bewußtseins wie des Selbstbewußtseinsnicht vollbracht. Das unvermittelte Bewußtsein von der Wahrheit undSelbstgewißheit des Ich hat diese unerläßliche Vermittlung vergessen. »DasBewußtsein, welches diese Wahrheit ist, hat diesen Weg im Rücken und ver-gessen, indem es unmittelbar als Vernunft auftritt« (TWA 3, 180). – Freilichrechnet Hegel Fichtes berühmte, frühe Einleitungen nicht als Vermittlungenan, und er wird auch Fichtes spätere faktisch-historische Phänomenologieder Tatsachen des Bewußtseins seit 1810 ignorieren.

Aufgrund der Unvermitteltheit folgert Hegel ein zweites Ungenügen. Ihrzufolge ist die These eines solchen Idealismus, alle Realität zu sein (Ich=Al-les), eine bloße Versicherung. Ein bloßes Versichern aber bleibt für sich wiefür andere unbegreiflich, weil es keinerlei Rechenschaft aus Gründen gibt,sondern nur der eigenen Überzeugung Ausdruck verleiht: Das ist so. Einbloßes Versichern aber ist gegen andere, gegensätzliche Versicherungenwehrlos, vor allem für die Behauptung: Es ist anderes für mich. »Mit glei-chem Recht stellen daher neben der Versicherung jener Gewißheit sich auch

aufgenommene Metakritik nicht in der Richtung von Finks denkwürdiger kosmo-ontologischer Betrachtungsweise.

158 Teil II: Hegel

die Versicherungen dieser anderen Gewißheiten« (TWA 3, 187). – Freilich hatHegel in der im Philosophischen Journal 1797 erschienenen Ersten Einlei-tung bei Fichte lesen können: Allein der Dogmatismus, der den Übergangvom Sein zum Vorstellen nicht zu erklären vermag, beläßt es bei ohnmächti-gen Behauptungen und bloßen Versicherungen.

In Einseitigkeiten befangen vergibt der schlechte Idealismus nachHegel die Ausarbeitung einer Kategorienlehre auf der Höhe der Vernunft.Dieser dritte Einwand fällt böse auf Kants transzendentale Logik zurück.Das »ist in der Tat als eine Schmach der Wissenschaft anzusehen« (TWA3, 182). Vergeben werde die Aufstellung kategorialen Seins in Einheit undVielheit. Der schlechte Idealismus verstehe die Kategorien als apriorischeFormen unseres Denkens und nicht als Einheiten von Denkbestimmungund Wirklichkeit. Und er klaubt ihre Vielheit als Fund in der Vielzahl derKategorientafel auf, ohne sie entwickeln zu können. – Freilich hat Fichteseinerseits erklärt: Ein unvollständiger Idealismus etwa im Sinne des Kan-tschülers Siegmund Beck nehme die Kategorien aus ihrer Anwendung aufObjekte und insofern empirisch auf. Ein vollständiger Idealismus entwick-le sie vollständig als Handlungsgesetze der Intelligenz und rechtfertige sieals Seinsgesetze in einer systematischen transzendentalen Deduktion.

Gleichwohl schlägt Hegels Einwand der nicht vollbrachten absolutenEinheit der Vernunft und ihrer Kategorien am Ende auch Fichtes Ver-nunftwissenschaft nieder. Auch diese versichere nur unvermittelt in einemschlechthin unbedingten Grundsatz, alle Realität zu sein, obwohl in ihrdoch durch Beschränkung und »Anstoß« des Nicht-Ich eine Realität ent-stehe, die nicht die Realität der Tathandlung sei. Daher verlege sich dieWissenschaftslehre am Ende auf den Grundsatz »Ich soll = Ich sein«. Sol-chem Vernunftentwurf aber hängt ein Mangel an. Er »bleibt ein unruhigesSuchen, welches in dem Suchen selbst die Befriedigung des Fundes fürschlechthin unmöglich erklärt« (TWA 3, 185).

So spricht sich Hegels Sollenskritik am Ende ausdrücklich gegen den Ab-schluß der Jenaer Wissenschaftslehre aus und macht den da versäumtenÜbergang deutlich, der unumgänglich ist, um den Wahrheitsanspruch derVernunftgewißheit, nämlich alle Realität zu sein, wirklich vollständig zu er-füllen und nicht in den Inkonsequenzen des leeren und schlechten Idealis-mus stecken zu bleiben. »So inkonsequent aber ist die wirkliche Vernunftnicht; sondern nur in der Gewißheit, alle Realität zu sein, ist sie in diesemBegriffe sich bewußt, als Gewißheit, als Ich noch nicht die Realität in Wahr-

6. Abschnitt: Hegel im Widerstreit 159

heit zu sein, und ist getrieben, ihre Gewißheit zur Wahrheit zu erheben unddas leere Meinen zu erfüllen« (TWA 3, 185).

So scheint Fichtes Ausarbeitung von Kants Vernunftkritik zur vollende-ten Vernunftwissenschaft im vorhinein gegenüber dem Aufschwung He-gelschen Denkens zurückzubleiben und eine Vollendung des DeutschenIdealismus allein dem methodischen Aufstieg und dem ontotheologischenAufschluß Hegelscher Dialektik zuzukommen.

2. Kapitel: Herausstellung von Hegels vielseitigem Widerstreit gegen dasPrinzip des Sollens

In Hegels Logik von 1812 findet sich folgende historische Anmerkung zurDialektik von Schranke und Sollen: »Das Sollen hat neuerlich eine großeRolle in der Philosophie, vornehmlich in Beziehung auf Moralität und [1832:metaphysisch] überhaupt auch als der letzte und absolute Begriff von derIdentität der Gleichheit mit sich selbst und der Bestimmtheit [1832: oder derGrenze] gespielt« (Gawoll 1986, 86). Hegels Anmerkung zielt verweisend-widerstreitend auf das neuzeitliche Gepräge der Philosophie seit Kants Pri-mat der praktischen Vernunft, seit Fichtes Gebot absoluter Einheit, aberauch auf Schillers ästhetischen Humanismus. Diese Phase der Neuzeit seigeprägt durch die vielseitige, wachsende Rolle des Sollens als Seinsprinzip:Die Unbedingtheit des Seins ist ein unbedingt Gesolltes.

So hat sich wirkmächtig im Gebiete der moralisch-praktischen Ver-nunft das Sollen als Imperativ Gehör verschafft. Es gebietet das Handelnaus Pflicht. Fichte hat, weniger durchschlagend, das Sollensgebot in derFormel ausgedrückt »Handle wie keiner!«: Du sollst Deiner, ausschließlichDir und keinem anderen als moralische Person und einzigartigem Indivi-duum zukommenden Aufgabe in der Gesamtordnung menschlicher Ver-nunftwesen nachkommen. Dabei geht Fichtes lakonischer Satz »Du kannstdenn Du sollst« von der Vernünftigkeit des Sollensgebotes aus. Das kannder Mensch als Vernunftwesen befolgen, ohne daß es im Endlichen kom-plett erfüllt werden muß. Dem Menschen als Wesen der Vervollkomm-nung kommt das Gesollte eben nicht als ein Gegebenes und immer schonErreichtes zu, sondern als ein Aufgegebenes und in unentwegter Annähe-rung zu Erstrebendes.

Zudem hat das Sollen auch, etwa in Fichtes Naturrechtslehre, eine be-trächtliche Rolle als Vernunftgebot gespielt, das die Rechtssubjekte auffor-dert, unter der Bedingung der Wechselseitigkeit auf der Basis gegenseitiger

160 Teil II: Hegel

Anerkennung ihre äußere Willkür im Gemeinschaftsleben einzuschrän-ken. Sollen Menschen miteinander bestehen können, muß jeder seinerechtliche Freiheit so einschränken, daß auch die Freiheit des anderen le-gitim gewährleistet wird. Rechtssicherheit aber steht unter Bedingungen.Soll sie wirklich Bestand haben, bedarf es eines Zwangssgesetzes, das jederechtswidrige Handlung in das Gegenteil ihres Zwecks verwandelt und sodie Verhinderung von Freiheit verhindert.

Und das Sollen hat schließlich auch den ästhetischen HumanismusSchillers nach Anregungen der Wissenschaftslehre geprägt. Schillers Schlüs-selsatz im 15. Brief Über die ästhetische Erziehung des Menschen lautet: »So-bald sie [die Vernunft] demnach den Ausspruch thut: es soll eine Mensch-heit existieren, so hat sie eben dadurch das Gesetz aufgestellt: es soll eineSchönheit seyn« (NA 20, 356). Soll nicht die Humanität in Barbarei um-schlagen und in Wildheit zurückfallen – wie die Ideale der FranzösischenRevolution im Ausbruch des Terrors –, dann müssen das Schöne und dieKunst einen freien Spielraum für die Erziehung des Menschengeschlechtshaben und dürfen niemals parteilich, ideologisch instrumentalisiert werden.

Und im Jena der Fichtezeit und Revolutionsbegeisterung ist etwa inFichtes öffentlicher Vorlesung Von den Pflichten der Gelehrten ein politisch-gesellschaftliches Sollen proklamiert worden. Die revolutionäre Forderungnach Égalité sei eine zwar unerreichbare, aber ins Unendliche zu erstreben-de Aufgabe des Menschen in der Gesellschaft, »so lange der Mensch nichtaufhören soll, Mensch zu seyn und nicht Gott werden soll« (GA I/3, 40).Also spielt nach dem Urteil Hegels, der ja von 1801 bis 1807 in Jena lehrte,›neuerlich‹ das Sollen in vielgestaltiger Weise eine prägende Rolle in derPhilosophie.20

Im Blick auf die Einheit und Systembildung der Ersten Philosophie aberragt der metaphysische Sinn heraus: die gesollte Identität von Subjekt undObjekt gemäß der Schlußgleichung »Ich soll = Ich sein«. Danach soll die Be-stimmtheit des Endlichen gemäß dem Grundsatz entgrenzt werden, dasEndliche solle in das wahrhaft Unendliche aufgehoben werden. In Hegels

20 Gewicht und Sinn des Sollen-Arguments hat O. Marquardt: Hegel und das Sollen,1982 differenziert aufgezeigt. Allerdings dürfte die Hauptthese, Hegels Kritik treffeangesichts der Weigerung der Transzendentalphilosophie zu, das Sollen an dieWirklichkeit zu halten, indem sie sich nicht an den geschichtlichen Stand der Ver-mittlung halte und die Herrschaftsformen des Rechts und des Politischen überge-he, angesichts der Quellenlage kaum haltbar sein.

6. Abschnitt: Hegel im Widerstreit 161

dialektischem Gehör behalte so das Sollen das letzte Wort in der Systemfra-ge der neuzeitlichen Philosophie, ob und wie eine absolute Einheit erreichtwerden könne. Unter der Ägide des Sollens bleiben das wahre Sein und un-zerteilte Eine ein bloß gesolltes Absolutes. Das aber ist und bleibt das Haupt-argument der Hegelschen Sollenskritik an Fichtes Grundlegungen der ge-samten Wissenschaftslehre. Sie konzentriert sich also auf die metaphysischeRolle des Sollens, sofern es als letztes und zusammenschließendes Prinzipfür die Einheit eines Vernunftsystems beansprucht wird; denn so bleibt daswahre Sein und zerteilte Eine immerfort gesollt. Dem widerspricht HegelsHauptargument: Die Vernunft ist absolute Macht und keineswegs so ohn-mächtig, immer nur wirklich sein zu sollen und niemals ganz wirklich zusein. Dabei erkennt Hegel das Sollen durchaus an, wo es das Wesentliche ge-gen das Nichtige behauptet, und er fordert eine Korrelation von Sollen undSein. Das bloße Sein ohne den Begriff des Seinsollens sei ebenso geistlos wiedas bloße Soll ohne Sein. Allein, das Sollen, das seine Realisierung wirklicherreicht, ist die Wahrheit. Zumal das höhere Sollen, das Sollen der Idee, istdas wahrhaft Realisierbare gemäß der Grundgleichung: Alles Vernünftige istwirklich, und alles in Wahrheit Wirkliche ist vernünftig. Die Angemessen-heit des Seins zum Sollen ist daher Grundlage des Praktischen, und dieSeinsstruktur des Übels besteht in der Diskrepanz von Sollen und Sein.»Das Übel ist nichts anderes als die Unangemessenheit des Seins zu demSollen« (TWA 10, 292). Von daher fällt jede Sollensauffassung, die das Sollenals ein letztlich Unerreichbares und als unerfüllbares Ideal vorstellt, auf dieSeite der Unwahrheit.

Aus solchem Vorgriff heraus durchstreicht Hegel schon früh das an-thropologische, naturgesetzliche, ästhetische Sollen, das ein unerreichbaresZiel vorgibt. Die Einigung zwischen meinem Ich und dem Fremd-Ich (al-ter ego) ist nicht bloß aufgegeben, sie ist im dialektischen Wunder der Lie-be wirklich lebensvoll da. Ein freies Gemeinwesen bleibt nicht ewig uner-reichbar und nur annäherungsweise in wechselseitiger Willkürbeschrän-kung zu erreichen, es wird Wirklichkeit im Stande einer ›schönen Gesell-schaft‹, welche Zwangsgesetze entbehrlich macht. Im Falle Schillers wirdder Makel des Sollens milde toleriert, obwohl Hegel in seinen späterenVorlesungen über Ästhetik vermerkt: Ästhetische Erziehung soll den Ge-gensatz zwischen der Vernunft, die das Gattungsmäßige, und der Natur,welche Mannigfaltigkeit und Individualität erstrebe, vermitteln und ver-söhnen. Sie soll »die Forderung ihrer Vermittlung und Versöhnung ver-wirklichen« (TWA 13, 91) – nach Schillers fichtenaher Vorstellung durch

162 Teil II: Hegel

unendliche Annäherung an ein Unerreichbares im Laufe der Zeit und imFortschreiten der Geschichte.

Auf dem Boden der spekulativen Logik nun heißt der Gegner Fichte, so-fern dieser eben den obersten Grundsatz metaphysischen Sollens verfechte.Das läßt sich schon aus Hegels rudimentärer Jenaer Logik 1804/1805 heraus-lesen. Diese findet bezeichnenderweise in der Erörterung der Grenze (alsNegation der anderen in Beziehung auf sich selbst) ihr eigentümlich dialek-tisches Gefüge. Das stellt in eins den Fichteschen Idealismus in Frage; dennder ist statt der wahren Einheit nur qualitative Einheit, »indem das absoluteEinswerden immer nur ein Sollen bleibe« (Jenaer Logik, 1967, 2). So ziehtHegel die Fichtesche Position auf das Prinzip des Sollens, mithin auf dieForderung, Grenze oder Endlichkeit mit Unendlichkeit zu vereinigen, zu-sammen. In Glauben und Wissen ist diese Sollensforderung schon als Gipfel-satz des Fichteschen Systems herausgestellt. »Die Forderung ist der Kulmi-nationspunkt des Systems: Ich soll = Nicht-Ich sein; aber es ist kein Indiffe-renzpunkt in ihm zu erkennen« (TWA 2, 394).

Hegel erhebt somit von Anfang bis Ende vorzüglich drei Einwände gegendie Haltbarkeit der Wissenschaftslehre. Sie sei Reflexionsphilosophie derSubjektivität und daher abstrakt, d.h. einseitige subjektive Subjekt-Objekt-Einheit; sie sei dogmatisch im unmittelbaren Entgegensetzen eines unver-mittelten Ansich, dem Anstoß, und sie sei bloß formell, leeres Selbstbewußt-sein und daher am Ende empirisch.21 Diese drei tragenden Einwände mün-den in den Einspruch ein, Fichte unternehme den untauglichen Versuch, dieAufgabe der Ersten Philosophie mithilfe der Kategorie des Sollens zu lösen.Daß das Sollen im Fichteschen Sinne als das Höchste und Letzte übrigbleibt,ist nach Hegelscher Logik zwingend; denn ein perennierendes Sollen, wel-ches ja endlich bleibt, weil es das Absolute als unerreichbar immer jenseitsdes Erreichten hat, ist Resultat und Ausdruck des unaufgehobenen Wider-spruchs zwischen einem abstrakten Setzen und einem schlechthinnigenEntgegensetzen. Lapidar erklärt Hegels Fichtekritik in Über Friedrich Hein-rich Jacobis Werke, 1817: Weil dem Fichteschen System der unvermittelte Ge-

21 Hegels penetrante Einreden, die Wissenschaftslehre stelle sich auf den Standpunktder Entzweiung, sie sei subjektivistisch, formal, letztlich empirisch und ende beiPrinzipien des Glaubens und des Sollens, bestimmt das Fichte-Bild bis in die jünge-re Forschung selbst auf dem hohen Niveau eines Nicolai Hartmann, Richard Kro-ner, Martial Gueroult, Jean Vuillemin. Vgl. dazu P. Baumanns: Fichtes ursprüngli-ches System. Sein Standort zwischen Kant und Hegel, 1972.

6. Abschnitt: Hegel im Widerstreit 163

gensatz zugrundeliegt, komme es zu nichts weiter als zu einem einseitigen,mit einem Jenseits behafteten Sollen und Streben. Und am Ende ergänztHegels Logik 1832 die Anmerkung der Logik 1812 über das metaphysischeSollen: »Die Kantische und Fichtesche Philosophie gibt als den höchstenPunkt der Auflösung der Widersprüche der Vernunft das Sollen an, was abervielmehr nur der Standpunkt des Beharrens in der Endlichkeit und damitim Widerspruche ist« (TWA 5, 148).

3. Kapitel: Analyse von Sollen und Schranke als Fichtekritik in HegelsSeinslogik

Hegels Fichtekritik gewinnt in der »Großen Logik« ihre gedankliche Präg-nanz. Angelpunkt ist der Fortgang des Gedankens des Endlichen zur wi-dersprüchlichen Korrelation von Sollen und Schranke. Daran hängt inHegels Sicht auf Fichtes Jenaer Grundlegung das Mißlingen der Anstren-gung, den Widerspruch zwischen der Unendlichkeit des sich schlechthinsetzenden Ich und der Endlichkeit des durch den Anstoß begrenzten Ichaufzulösen. Wird das Sollen zum Prinzip erhoben, die Widersprüche derVernunft aufzulösen, dann bleibt das philosophische Bewußtsein wirklichin dem Standpunkt der Endlichkeit und schlechten Unendlichkeit befan-gen. Folgerichtig wird im Seitenblick auf Fichtes Wissenschaftslehre deraufzuhebende Gedanke der ›schlechten Unendlichkeit‹ auf Fichtes Positi-on bezogen. Sein Sollensprinzip fordere, über die Grenze der Endlichkeitin eine schlechte Unendlichkeit hinauszugehen, so daß das Ziel einer Ver-nunftwissenschaft, vollendete Einheit zu erreichen, ins Unerreichbare undUnwahre verschoben werde. Das fassen Hegels Berliner Vorlesungen überdie Geschichte der Philosophie schlagend zusammen: »Die Forderung,diesen Widerstand aufzulösen, hat nun bei Fichte die Stellung, daß sie nureine geforderte Auflösung ist, daß ich die Schranke immerfort aufzuheben,über die Grenze immer fortzugehen habe ins Unendliche, in die schlechteUnendlichkeit hinaus. Dies ist der Standpunkt Fichtes in Rücksicht desTheoretischen« (TWA 20, 403). Diesen kritischen Durchgängen der He-gelschen Logik ist vor jeder Metakritik nachdenkend nachzugehen.

Eine wenigstens umrißhafte Repetition setzt beim Gedanken der End-lichkeit an. Das führt nun nicht sogleich zu einem Andenken an die Ver-gänglichkeit aller Dinge und an das Ende unseres Daseins in den subjekti-ven Stimmungen von Furcht und Angst, Wehmut und Trauer. Ist der Ge-danke auf der Höhe absoluten Wissens Idee und Wesen der Dinge zumal

164 Teil II: Hegel

und eine Kategorie des Absoluten, so spricht sich hiermit eben der Gottder Philosophen so aus: »Ich bin unvergänglich das Vergehen aller Dinge;was wahrhaft endlich ist, ist Negation, Grenze, Veränderung, Untergangund Tod in einer Trauer, die alles durchstimmt.« Um die Kategorie derEndlichkeit im Durchgang der Hegelschen Seinslogik zu erörtern, sinddiese drei Seinsbestimmungen der Negation (Bestimmtheit), Grenze undVeränderung zu entwickeln.

Der erste Vorschein der Endlichkeit fällt mit dem Gedanken der Negati-on ein. Negation fungiert hier als klassische Kategorie der Qualität, des So-seins und der Bestimmtheit des Daseins; denn alles Bestimmte ist nicht nurals seiend, sondern immer auch als nicht-seiend denkend aufzunehmen.Omnis determinatio est negatio. Nun geht diese Negation zur Andersheitvon etwas Daseiendem über, das so und nicht anders ist. Die Härte des End-lichen aber erscheint erst in der dialektischen Verflechtung von Grenze undVeränderung. Dabei ist hier folgerichtig von der qualitativen Grenze dieRede. Die quantitative Grenze, etwa die Abgrenzung von drei Morgen, be-stimmt ja nicht das Umgrenzte in seinem Sosein. In den Grenzen von dreiMorgen können ein Feld, eine Wiese, ein Wald vorliegen. Die qualitativeGrenze legt zwar auch fest, wo etwas aufhört, aber sie schließt in eins das Ei-gene zu fest bestimmter Einheit zusammen. Darum entgeht jeder, der Um-grenzungen verabscheut, seiner Bestimmung, und verliert sich im Grenzen-losen und Unbestimmten. Erst in der Negation des Aufhörens an ihrerGrenze gewinnen die Dinge festen Bestand als ein sicher Umgrenztes. Aberdas Endliche geht nicht darin auf, sicher Umgrenztes zu sein: es bleibt nicht.Endlich Begrenztes verändert sich und vergeht. In der Macht einer Negati-on, die nichts bleiben läßt, wird Veränderung als Manifestation der Endlich-keit erfahren, am härtesten in der Veränderung, in der etwas zu Ende geht,im Vergehen. »Das Endliche verändert sich nicht nur, wie Etwas überhaupt,es vergeht. [...] Das Sein der endlichen Dinge als solches ist, den Keim desVergehens als ihr Insichsein zu haben; die Stunde ihrer Geburt ist die Stun-de ihres Todes« (TWA 5, 145). Vergehen ist der einzige Charakter der End-lichkeit. Was schlechthin und unaufhaltsam geschieht, ist das zu Ende gehenvon allem, was ist. »Die Bestimmung der endlichen Dinge ist nicht eine wei-tere als ihr Ende« (TWA 5, 140).22

22 Über die existentiale Tiefe und Untiefe der hier angelegten Metaphysik der End-lichkeit vgl. Vf.: Die Trauer des Endlichen, 1992, 83-100.

6. Abschnitt: Hegel im Widerstreit 165

Nun besteht spekulative Logik darauf, das Sein von der Negation undEndlichkeit zur Unendlichkeit und Affirmation fortzuentwickeln. Derfragliche Übergang geschieht durch Einfügung der Kategorie von Schran-ke und Sollen. Bemerkenswerterweise resultieren beide nicht aus dem Wi-derspruch des Endlichseins; denn das Zuendegehen ins Nichts wird leicht-fertig als bloß Gemeintes und Vergangenes beiseitegeschoben. Beide,Schranke und Sollen, folgen aus dem Begrenztsein des Daseienden. DieSchranke macht sich bemerkbar als verschärfte Grenze. An seiner Grenzehört etwas auf. Dieses Aufhören wird gleichsam gebieterisch, sobald eineSchranke dem Überschreiten der Grenze Einhalt gebietet: ›Bis hierher undnicht weiter!‹. Schranke ist demnach die qualitative Grenze mit dem Cha-rakter des Aufhaltens. (Fichte denkt die Endlichkeit der durch den Anstoßaufgehaltenen Tätigkeit und Realität des Ich nicht als Begrenztsein undVergehen, sondern als Schranke unter der Kategorie der Einschränkungoder Limitation.) Hegelscher Logik zufolge tritt in eins das Sollen hervor.Schranken zu haben ist eine Qualität des Daseienden, d.i. des in sich re-flektierten Etwas. Dank dieser Reflexion sucht Daseiendes die Negationseines Beschränktseins zu negieren. Das so erforderliche Negieren derSchranken kraft einer Selbsthaftigkeit und Reflexion heißt Sollen. Schran-ke und Sollen gehen aus dem aufzuhebenden Widerspruch von Begren-zung und Entgrenzung des Daseins hervor und in einen eigenen Wider-spruch von Untrennbarem ein.

Beides ist untrennbar miteinander verbunden. Kein Sollen ohneSchranke, keine Schranke ohne Sollen. Schranken gibt es ja nur als Wider-stand eines Strebens, das über sie hinaus soll, und Sollen gibt es nur alsNötigung, Schranken zu überwinden. Nun widersprechen aber offenkun-dig ihre Tendenzen einander. Gebietet die Schranke Einhalt: Zurück –nicht weiter, so fordert das Sollen: Darüberhinaus! Da nun aber Schrankeund Sollen Aufbaumomente des Endlichen sind, kann dialektische Logikweiterhin erklären: »Das Endliche ist so der Widerspruch seiner in sich; eshebt sich auf, vergeht« (TWA 5, 148).

Wie und wohin aber vergeht denn nun unter dem Druck des Wider-spruchs von Sollen und Schranke das Vergängliche? Unmöglich kann dasVergehen des Begrenzten in die Leere des Nichts zurücksinken; denn dasunbestimmte, unmittelbare Nichts ist längst systematisch wie historisch auf-gehoben und im Werden, dem Übergegangensein von Sein und Nichts, ver-mittelt. Ebensowenig kann das Endliche in den Kreisgang einer Unendlich-keit eingehen, welche die Negation des Endlichen negiert; denn der Über-

166 Teil II: Hegel

gang im Sollen verharrt im Endlichen. Mithin bleibt der gerade Weg insEndlose. Auf ihm geht ein Endliches in ein anderes Endliches fort. Indem esfortschreitend ein anderes wird, vergeht es und bleibt es zugleich. Jedesmalnämlich, wenn das Sollen eine Schranke überwindet, stellt sich ihm eineweitere Schranke entgegen, die, überwunden, wiederum weitere Schrankenvon etwas hervortreten läßt. So erhebt sich aus dem Widerspruch vonSchranke und Sollen die endlose, nie erlahmende Abwechslung von beidem.An diesen systematischen Ort stellt Hegels Logik seit Jena eben die Kanti-sche Philosophie und deren ›Vollendung‹ durch Fichte. Beide bleiben beider Kategorie der Endlichkeit und darum mitten im Widerspruch stehen. InHegels Seinslogik wird die Auflösung von Schranke und Sollen eben so of-fenkundig, daß sie in eins die Kantische und Fichtesche Grundstellung auf-hebt. Versteckter ist die philosophiegeschichtliche Verweisung auf FichtesStandpunkt in Hegels fortentwickelter Dialektik von Endlichkeit und Un-endlichkeit. Um das freizulegen, ist der bisher gewonnene Gedanke der Un-endlichkeit als einer gesollten, erstrebten, ersehnten zu betrachten. Was da-mit eigentlich als Unendliches vorkommt, ist immer nur ein Jenseits dessen,was das Sollen jeweils erreicht, das ja, unerlöst von der Schranke überhaupt,an neue, lediglich erweiterte Schranken stößt. So aber wird das Endlicheniemals mit dem Unendlichen versöhnt und völlig verbunden. Als Jenseiti-ges bleibt das Unendliche vom Endlichen getrennt. Als das Jenseits einesDiesseits wächst es nie zum Wahren, Konkreten zusammen. »Es ist aber da-mit in Wechselbestimmung mit dem Endlichen und ist das abstrakte, einseiti-ge Unendliche« (TWA 5, 149).

Das ergibt die schlechte Unendlichkeit eines regressus in infinitum.Zwar ist das Endliche im jenseitig Unendlichen getilgt, außerhalb unddiesseits des Unendlichen aber bleibt es real bestehen. Damit wird die Un-endlichkeit gerade dadurch, daß sie das Endliche von sich fernhält, ver-endlicht, nämlich durch ein anderes außer ihr begrenzt. Das negierte End-liche tritt so immer wieder an der Unendlichkeit als ihr anderes hervor,solange es nur halbherzig negiert, nämlich einfachhin abgegrenzt, undnicht affirmativ aufgehoben ist. Das ergibt einen progressus in infinitum,in welchem abwechselnd das Unendliche am Endlichen und das Endlicheam Unendlichen hervortritt. Hier erhebt sich der Einwand einer schlech-ten Unendlichkeit, der Fichtes Grundlage unterhöhlt. Er ist daher seinslo-gisch einzuschärfen.

Der Gedanke der Endlichkeit geht, wie gesagt, haltlos über Schrankeund Sollen in ein unendliches Jenseits des Sollens hinaus. Bleibt aber nun

6. Abschnitt: Hegel im Widerstreit 167

das Unendliche als ein Jenseitiges entschieden von Diesseitigen getrenntund abgegrenzt, dann paßt es sich ja wieder in Bestimmtheit, Grenze undSchranke endlichen So-und-nicht-Andersseins ein. Das verendlichte Un-endliche zeigt sich so wieder im Stande von Bestimmtheit und Begrenzt-heit. Es ist so und nicht anders, nämlich un-endlich und das heißt nichtendlich. Damit wiederholt sich der Prozeß abstrakter, einseitiger Ver-unendlichung. Kein Bestimmtes und Begrenztes kann sich halten, es ver-ändert sich und vergeht. Ist nun das Vergehen des Endlichen durch einfa-che Negation ein Entgehen in ein Unendliches, das jenseits des Endlichenist und sich daran begrenzt und so wiederum verendlicht, dann ergibt sichein endloser Progreß. In ihm entflieht das Unendliche in ein immer uner-reichbareres Jenseits. Es entrückt gleichsam in eine geheimnisvolle Ferne,dem das Streben und Sehnen nachgeht. Ontotheologisch gesprochen: Gottentzieht sich in ferne Unbegreiflichkeiten.

Hegel hatte das Wort von der schlechten Unendlichkeit in der Jenaer Lo-gik gefunden.23 Es hat zumal im Lichte der spekulativ begriffenen affirmati-ven Unendlichkeit nicht nur einen pejorativen Beiklang, sondern auch pole-misches Schwergewicht. Die Endlosigkeit eines perennierenden Progressesist schlecht. Sie stellt ein einseitiges, jenseitiges Unendliches in den Trennun-gen und Abgrenzungen vom diesseitig Endlichen vor und erreicht ein Ver-söhnendes nie, sondern drückt immer wieder nur den Widerspruch zwi-schen Endlich- und Unendlichsein und deren absoluter Einheit lediglich alsbloß gesollt aus. »Die schlechte Unendlichkeit ist an sich dasselbe, was dasperennierende Sollen; sie ist zwar die Negation des Endlichen, aber sie ver-mag sich nicht in Wahrheit davon zu befreien« (TWA 5, 155). Dialektischdurchschaut endet der Weg des perennierenden Soll in einer Sackgasse, dieden Weg zur Wahrheit einer affirmativen Unendlichkeit verbaut.

Die Beseitigung des Ungedankens der schlechten, einfach-negativenUnendlichkeit geschieht im Namen der affirmativen Unendlichkeit undim Bilde eines Kreisganges der Negation der Negation. Ihr Gedanke ne-giert jene Negation, die sich im Endlichen als bloßes Zuendegehen und

23 Der Terminus wird zum ersten Mal in den Systementwürfen II eingeführt (Abschnitt»Die Unendlichkeit«), vgl. M. Baum: Die Entstehung der Hegelschen Dialektik, 1986,248ff. Sie habe darin ihr Wesen, der vorhandene Widerspruch zu sein, dergestalt, daßdie Bestimmtheit nicht ist, indem sie ist, und ist, indem sie nicht ist. Dagegen stelltHegel die ›absolute Unendlichkeit‹: die absolute Rückkehr der einfachen Bewegung insich.

168 Teil II: Hegel

Vergehen eingehaust hat. Und er negiert in eins jene Unendlichkeit, diesich im unerreichbaren Jenseits vom Endlichen rein und frei erhält. Wienun im Anfange der Seinslogik Sein und Nichts sich als Momente desWerdens herausstellten, so sind Endliches und Unendliches in Wahrheitnichts Selbständiges, das getrennt gegeneinander besteht, sondern Mo-mente eines einheitlichen Prozesses. In ihm heben beide einander so auf,daß das Werden in sich zurückkehrt und das Sein vollständiger Präsenzund begreifbarer Wahrheit erzeugt. Auf der Höhe affirmativer Unendlich-keit verlautet die frohe Botschaft der spekulativen Vernunft vom Absolu-ten: »Ich bin auch das Endliche, die Vergänglichkeit, der Tod, aber als Ver-gehen der Vergänglichkeit, als Negation der endlichen Negation.« Und:»Ich bin auch das Erstrebenswerte, das Ersehnte, aber als Negation derUnerreichbarkeit und als Aufhebung der Unbegreiflichkeit und des bloßGesollten.« Im Gedanken der affirmativen Unendlichkeit ist seinslogischeine vollendete Wahrheit erreicht und spekulativ zureichend begriffen.

Der Schatten einer schlechten Unendlichkeit im Sinne eines perennie-renden Soll fällt zwar voll auf Anfang und Ende der Jenaer Wissenschafts-lehre, aber auch noch auf Fichtes ›neugebildete Lehre‹. So erscheint der An-fang der Grundlage von 1794 grundsätzlich als ein unendlich schrankenlosesSich-setzen, das an ein unbedingtes Entgegensetzen gebunden und dadurchverendlicht in Schranken gesetzt ist. Und das Ziel, die vollendete Vereini-gung von Unendlichem und Endlichem, ist ein unerreichbares Ziel als Idealdes Strebens und so ein bloß gesolltes Absolutes. Auf diesem Wege aber ver-läuft sich solche Grundlegung in einem infiniten Progreß, der das erstrebteZiel nie erreicht.

Und dieses Verdikt trifft auch die späteren Auslassungen der PhilosophieFichtes, soweit Hegels geringe Kenntnis und spekulatives Interesse darannoch reicht. So findet sich in Glauben und Wissen die Erklärung im Beden-ken des 2. Buches von Fichtes Bestimmung des Menschen: Fichtes Idealismusenthülle sich als das System eines ganz leeren Wissens, das es zuhöchst zurAnerkennung seines Nichts und seines Sollens bringt. »Aber weil es sichnicht wahrhaft aufgibt, ist das Sollen perennierend; es ist ein bleibendesWollen, das nichts kann, als nur bis zur Unendlichkeit und zum Nichts, abernicht durch dasselbe hindurch zur positiven vernünftigen Erkenntnisdurchbrechen« (TWA 2, 406). Und im Blick auf das 3. Buch fällt das Pau-schalurteil: Da in Fichtes System das Endliche (Natur, Sinnenwelt) und dasUnendliche (die Geisterwelt) nicht zusammenstimmten, rücke das Unendli-che als Nichts des Wissens in ein Jenseits des Glaubens, wobei der Glaube

6. Abschnitt: Hegel im Widerstreit 169

die geforderte, aber im Wissen unerreichbare Identität ausdrücke. Und weildie Reinerhaltung des jenseitig Unendlichen dem Übel der Endlichkeit undder Verendlichung des perennierenden Soll anheimgegeben sei, entlarvesich Fichtes Erhebung zum Glauben als fortwährende Flucht in eine trübeFerne.

Nun vermerkt Hegels Abriß von ›Fichtes neugebildeter Lehre‹ wohl,daß nicht mehr das Ich, sondern die göttliche Idee zum obersten Seins-,Lebens- und Einheitsgrund erhoben ist, aber es bleibt bei einer borniertenKritik. Fichte lasse in seiner neuen Lehre den alten Dualismus bestehen.»Diese Philosophie enthält nichts Spekulatives, aber sie fordert das Speku-lative« (TWA 20, 414). »Das Letzte sei nur ein Sollen, Bestreben, Sehnen«(TWA 20, 399).

Hegels ontotheologische Feier der affirmativen Unendlichkeit zieht einAnathema über das Übel der schlechten Unendlichkeit und damit ebenauch über den infiniten Progreß als Herzstück aller Ausbildungen der Wis-senschaftslehre nach sich. Hier erscheint im Gegensatz zur konkreten, affir-mativen Unendlichkeit, welche gegenwärtig da ist, weil sie die Negation ne-giert und so das Negative und die Bestimmtheit überhaupt in sich hat, dasUnendliche als ein Jenseits, das unerreichbar sein soll. »Diese Unerreichbar-keit ist aber nicht seine Hoheit, sondern sein Mangel, welcher seinen letztenGrund darin hat, daß das Endliche als solches als seiend festgehalten wird.Das Unwahre ist das Unerreichbare; und es ist einzusehen, daß solches Un-endliche das Unwahre ist« (TWA 5, 164).

4. Kapitel: Vorblick auf Fichtes Rechtfertigung des Soll – Umkehr des Widerstreits

Hegels Sollenskritik als schärfste Waffe gegen Fichtes Wissenschaftslehrein ihrem Anspruch, vollendete All-Einheitslehre zu sein, orientiert sichvornehmlich an dem Schlußgedanken der Jenaer Grundlage: an dem Ge-bot der nach Absolutheit strebenden Vernunft, die unerreichbare Gleich-setzung von Ich und Nicht-Ich in der absoluten Identität Ich=Ich ins Werkzu setzen, dergestalt, daß das Streben eben die Schranke des Nicht-Ich im-mer weiter entschränken und das Unvernünftige im geschichtlichen Fort-schritt des Lebens aus Freiheit in allen Institutionen – dem Perfektibili-tätsideal der Aufklärung gemäß – immer mehr zur Vernunft bringen soll.

Das hat Fichte in der Tat im Anhang zum ersten Grundsatz ausdrücklichgemacht, und zwar im Rangstreit mit Spinozas Grundsatz vom Absoluten

170 Teil II: Hegel

als der All-Einheit der einzig-einen, unendlichen Substanz. »Seine höchsteEinheit werden wir in der Wissenschaftslehre wieder finden; aber nicht alsetwas, das ist, sondern als etwas, das durch uns hervorgebracht werden soll,aber nicht kann« (GA I/2, 264). Es ist dieses Sollensgebot des transzendenta-len Idealismus unter dem Primat der praktischen Vernunft in ihrem Ein-heitsstreben, gegen das sich die Polemik Hegels zeit seines Lebens gerichtethat. Hegels Widerwille gegen den metaphysischen Anspruch des Sollen-sprinzips spricht im Namen der Vernunftgewißheit. Diese ist sich sicher, dievon Spinoza inaugurierte All-Einheit unter der Losung Hen kai Pan speku-lativ ermittelt und ausgefaltet zu haben, vollständiger als Schelling und hö-herstufiger als Fichte.

Indessen, der eigentliche Prinzipienstreit darüber hat gar nicht stattge-funden. Ein Widerstreit etwa zwischen der Ausarbeitung der Hegelschen Je-naer Logik 1804/1805 mit der Ausarbeitung von Fichtes Berliner Wissen-schaftslehre desselben Jahres ist nicht ausgetragen worden. Die eigentliche,zentrale und vielgestaltige Rolle des Sollens in Fichtes ungeschriebener Leh-re blieb für Hegel im Dunkeln. Dabei kann allein in einem unvoreingenom-menen Blick auf die Darstellung der Wissenschaftslehre 1804-II deutlich ge-nug werden: Das »Soll« formiert das Grundgesetz alles Wissens. »Soll es zudiesen [Vf.: reinen Licht und Leben absoluten Wissens] wirklich kommen,so muß der Begriff gesetzt und vernichtet, und ein an sich unbegriffenesSein gesetzt werden« (GA II/8, 60). Die Formel dieses Grundgesetzes fängtmit einem ernergischen Soll an. Es soll wirklich zu einem wahren Sein undLeben kommen und nicht beim endlosen Streben und Sehnen nach einemUnerreichbaren bleiben. Das verlangt eine notwendige Bedingung der Mög-lichkeit in der Relation Soll – dann muß. Soll das einfach-eine, in sich unun-terscheidbare, unbegreifbare Sein und Leben einleuchten, dann muß der Be-griff sich vernichten. Wohl nirgends klafft die Kluft zu Hegels spekulativemBegriff tiefer auf als in diesem Grundgesetz. Das mag eine vorbereitende Er-läuterung verdeutlichen. Fichte drückt den Begriff des Begriffs in der Wort-art einer substantivierten Präposition aus: Der Begriff ist das Durch. ImSichbegreifen geht das Denken ja durch das Denken des Anderssein, sichvon ihm losreißend und auf sich zurückwendend, hindurch. Die Form einessolchen Hin und Zurück hat den Charakter einer reinen Relation, die sichpräpositional als Durcheinander terminologisch ausdrückt. Was nun jedochdem Begriff in der Form des Durch eignet, ist allein die Anlage, das Schemades Durcheinandergehens, nicht aber der aktuose Vollzug, das (verbale) We-sen und Leben. Lebt somit das Durch nicht aus sich selbst, dann muß es, soll

6. Abschnitt: Hegel im Widerstreit 171

es zu diesem Leben kommen, ein Leben als Wirklichkeitsgrund vorausset-zen, das nicht im Begriff, sondern in einem unbegreiflich Absoluten grün-det. Fichtes transzendentale Lebenslehre versteht somit das Ich nicht mehrals das sich selbst Setzende, sondern als ein sich notwendig Übersteigendes,eben unter dem Gebot des Sollens.24

Dieser Grundzug des Sollens kann das ›aletheuische Soll‹ genannt wer-den. Es überbietet mithin jenes Sollen, welches das Vernunftstreben auf-fordert, alle Gegensätze approximativ aufzuheben. Das aletheuische Sollbringt die notwendige Bedingung für die Lichtung der Wahrheit (Ale-theia) und für das Dasein absoluten Lebens auf, nämlich die Selbstver-nichtung und Absetzung von Begriffs- und Ichform wie die Voraussetzungeines in sich geschlossenen (inkludenten) Singulum von Sein und Leben,den unbegreiflichen und unsagbaren Gott.

Das kehrt die Stärken in der ›Gigantomachie‹ um die Wahrheit desSeins um. Hegels spekulativer Begriff im Begreifen der ganzen Wahrheitdes Absoluten stellt die gesamte, große Tradition der negativen Theologieauf die Seite der Unwahrheit. So hat sich z.B. der Proklos-Kenner Hegelschon gegen die negative Theologie eines Proklos im Namen der Negationder Negation gewendet. Im Namen des aletheuischen Soll und in Besin-nung auf die Endlichkeit des begreifenden Wissens aber mußte dem An-fang der Hegelschen Logik kritisch nachgegangen werden. Und es konntegezeigt werden, wie eine Spekulation, welche zum Absoluten und Göttli-chen aufsteigt, indem es das Selbstbewußtsein eleviert, sich versteigt. Un-möglich kann das Absolute im Bewußtsein konstruiert werden. Nochschärfer gesagt: Solche Vernunftgewißheit ist blind und taub, weil sie dasEinleuchten der sich lichtend-verbergenden Aletheia nicht sieht und nichtauf das Gesetz höchster transzendentaler Besinnung hört, nämlich auf dasSollensgebot einer Selbstvernichtung des durchkonstruierenden, alles ver-mittelnden Begriffs. Diese Frontstellung wendet den Widerstreit gegenHegel um. Wie also steht es mit dem Rangstreit der Vernunftsysteme,wenn die Berliner Neufassung der Wissenschaftslehre Hegels Selbstentfal-

24 Die Studie von A. Sell: Aspekte des Lebens. Fichtes Wissenschaftslehre von 1804 undHegels Phänomenologie des Geistes von 1807, 1997 stellt die Lebensbegriffe Fichtesund Hegels gegenüber und will in dieser Gegenüberstellung anregen, unterschiedli-che Deutungs- und Denkmöglichkeiten des Lebensbegriffs in eine offene Diskussioneinzubringen.

172 Teil II: Hegel

tung der absoluten Idee zur Illusion macht und eine eigene Wahrheits-und Erscheinungslehre nach Gesetzen des Sollens entwickelt?

Teil III: Fichte

1. Hauptstück: Fichte im Widerstreit

1. Abschnitt: Beiträge zum Streit über die veränderte, ungeschriebene Lehre und die populärenSchriften

1. Kapitel: Stellungnahme zur Diskussion über die ›veränderte Lehre‹

In seinem Programm-Brief an »seinen geliebten Freund« Schelling vom 27.Dezember 1800 kündigt Fichte an: Wozu das Zeitbedürfnis uns dringendauffordere, sei »eine noch weitere Ausbildung der TransscendentalPhiloso-phie selbst in ihren Principien« (GA III/4, 406). Das ist dreifach im Vorblickauf Umfang, Prinzip und Grundsätze ernstzunehmen. Demzufolge dehntsich die Wissenschaftslehre auf die Religionslehre und Gottesfrage aus. Inihrer Ursprungsuche vertieft sie sich vom Ich zum Wir der Interpersonalität,von der Theorie des Selbstbewußtseins geht sie zur Besinnung auf den Ur-sprung der Geisterwelt als einem unendlichen Willen, einer lebendigenOrdnung (ordo ordinans), der Liebe Gottes weiter. Und das System der ge-samten theoretischen, praktischen, religiösen Wissenschaftslehre stellt sichnicht mehr auf die drei unbedingten Grundsätze des Ich, sondern aufGrundsätze über das Licht und Leben des Absoluten im Dasein absolutenWissens. Im nämlichen Brief fährt Fichte fort: »Ich habe diese ausgedehnte-ren Principien noch nicht wissenschaftlich bearbeiten können; die deut-lichsten Winke darüber finden sich im dritten Buche meiner Bestimmungdes Menschen. [...] Mit einem Worte: es fehlt noch an einem transscendenta-len Systeme der intelligiblen Welt« (GA I/4, 406). Indessen sind die wissen-schaftlichen Ausarbeitungen in den nicht veröffentlichten Berliner Vorträ-gen unbekannt geblieben und die Winke in der populären Bestimmung desMenschen verkannt worden. Gerade das dritte Buch ist weithin und langevon Mißdeutungen überdeckt: als ein mystischer Theismus, der die Willens-freiheit aufhebt, als religiöser Determinismus, als Annäherung an einen ver-worrenen Spinozismus, als Flucht aus dem leeren Reflexionswissen (des

174 Teil III: Fichte

2. Buches) in den Glauben, der in wissenschaftlichen Beweisgängen nichtszu suchen habe. Dabei hätten Winke aufgefangen werden können, die aufeine Ausarbeitung der Ersten Philosophie in ihrer Fundierung als Lebens-und Lichtmetaphysik hinzeigen, nämlich auf ein tiefer angelegtes Verhältnisvon erscheinendem Leben und göttlichem Licht, von dem sich wissendenund sich wollenden Wissen und göttlichem Sein. »Es ist sein Licht, durchwelches wir das Licht und alles, was in seinem Licht uns erscheint, erblicken.[...] Alles unser Leben ist Sein Leben« (GA I/6, 296).

Nun hat Fichte fünf Jahre lang in äußerster, stiller Konzentration und mitstaunenswerter Arbeitskraft an einer neuen Darstellung der Wissen-schaftslehre gearbeitet. Das hat nun nicht nur den prinzipiellen Gehalt derWissenschaftslehre ausgedehnt, sondern auch die methodische Form erwei-tert. Dieser Befund sollte dem alten Streit um ›die veränderte Lehre‹ – nochheute eine Gretchenfrage der Fichte-Forschung – eine neue Richtung geben.Das sei programmatisch angekündigt. In den Stellungnahmen zu dieser Fra-ge gibt es klassische Gegenpositionen: die These von der Methodenkonstanzbei veränderter Weltanschauung (Windelband-Rickert-Schule) – die Anti-these von der bloß formalen Veränderung bei gleichem Inhalt (Fischer-Wundt-Schule). Beide können durch Selbstauslegungen Fichtes ebenso be-festigt wie ins Wanken gebracht werden. Die Aussagen Fichtes in dieser Sa-che scheinen widersprüchlich und sich einmal für die Unveränderlichkeitund Unverrückbarkeit der Wissenschaftslehre seit ihrem großen Jenaer An-fang, ein andermal für eine Veränderung, Ausdehnung und Vertiefung aus-zusprechen. Für die Beibehaltung der Grundlage ist stets Fichtes Erklärungin der Vorrede zur Anweisung zum seligen Leben herangezogen worden. Eineunablässige Selbstbildung habe zwar manches an ihm, Fichte, selbst, dieGrundansicht der Jenaer Wissenschaftslehre in keinem Stück geändert(GA I/9, 87). Und der Bericht über den Begriff der Wissenschaftslehre undbisherige Schicksale derselben hat erklärt: Der Charakter der ehemaligenWissenschaftslehre finde sich in den ferneren Fassungen unverändert wie-der (GA II/10, 29). Andererseits hat Fichte eben gegenüber Schelling von ei-ner weiteren Ausbildung und Ausdehnung seiner Transzendentalphiloso-phie nicht nur in der Methode, sondern auch in den Prinzipien seines Seins-und Weltverständnisses gesprochen, eine Erklärung, die Schelling mit derBemerkung quittiert: »Dieß verändert die ganze Sache Ihrer Philosophie umein Beträchtliches« (GA III/9, 83).

Tiefer als der Streit um die veränderte Lehre geht ein andersgerichteter,an dieser Stelle aufbrechender Widerstreit, nämlich der um Vollendung

1. Abschnitt: Beiträge zum Streit 175

oder Scheitern bzw. Abbruch der anfänglichen Systemkonzeption. Nun be-sagt die hier verfolgte Leitthese, Fichtes Weg des Denkens gehe von An-fang an auf eine vollendete, d.i. systematisch umfassende Darstellung desWissens der Wahrheit und des Wahrheitsgrundes, der absoluten Einheitund des Einheitsgrundes des lebendigen Seins und des Seins- und Lebens-grundes aus, und zwar im unverrückbaren Geiste transzendentaler Beson-nenheit. Dieser Denkweg gelangt um 1800 in ein Stadium, da der trans-zendentale Gedanke auf der Höhenstufe einer absoluten Reflexion ins Zielund zur Vollendung kommt: im Sichbesinnen auf sich im Begreifen desAbsoluten als eines Unbegreiflichen, des in sich geschlossenen Singulumvon Sein und Leben.

Das ergibt keine nachträgliche Zusammenstückung der frühen Ich-Phi-losophie in ihrer Theorie des reinen Selbstbewußtseins mit einer Wissen-schaft vom absoluten Wissen als Dasein des Absoluten, gar in der mangel-haften Form einer Synthesis post factum. Und es kommt auch nicht zu ei-nem unauflösbaren, im Wesen Fichtes wurzelnden Zwiespalt seines Den-kens.1 Vielmehr kommt es zur reinen und kohärenten Darstellung in einerWissenschaft aus einem Guß, welche der gesamten theoretischen, prakti-schen, naturrechtlichen, sittlichen und religionsphilosophischen Wissen-schaft einheitlich und vollständig im Lichte genetischer Evidenz den Grundlegt.

2. Kapitel: Wiederentdeckung von Fichtes ›ungeschriebener Lehre‹

Dieser Anspruch auf Vollendung des Vernunftsystems in erweiternden Fort-bildungen des Anfangs entsteht geistesgeschichtlich in und durch einen Wi-derstreit mit Konkurrenten in der Hochzeit der philosophischen Spekulati-on wie Reinhold, Bardili oder nicht zuletzt Jacobi. Im Kontext der dreifa-chen Vollendung des Deutschen Idealismus wird lediglich auf das RingenFichtes mit Schelling genauer eingegangen. Schellings vernichtendes Urteil

1 Im Blick auf die veränderte Lehre konstatiert W. Weischedel: Der Zwiespalt imDenken Fichtes, 1962, es gebe einen Zwiespalt zwischen der frühen radikalen Philo-sophie des absoluten Ich unter der Idee der Selbstmächtigkeit des Subjekts und derspäteren Philosophie des Absoluten im Sichversenken in Gott als dem Urgrundvon Selbstmächtigkeit und Freiheit, und dieser Zwiespalt wurzele im Wesen Fich-tes, in seiner Zwiespältigkeit zwischen dem Drang nach Gestaltung der Welt undder Sehnsucht nach Stille im Sichversenken des Geistes.

176 Teil III: Fichte

lautet eben: Fichtes seit 1800 »verbesserte Lehre« ist nichts als eine Ver-schlimmbesserung. Dieser vollendete Eklektizismus ist ein einziges Stück-werk, das an seiner inneren Widersprüchlichkeit scheitert.2

Nun leidet Schellings Angriff an einer unverschuldeten Schwäche. Ergreift Fichtes vertiefte Grundsätze lediglich in ihrem Zusammenhang mitder Trias der populären Schriften dieser Zeit an. Hier aber sind sie aus-drücklich lediglich historisch-faktisch, nicht aber spekulativ-wissenschaft-lich und mit der Klarheit genetischer Evidenz vorgetragen. Von den mo-numentalen Vortragszyklen der Wissenschaftslehre, etwa von den Fassun-gen des Jahres 1804, hat Schelling keine Kenntnis genommen. Und Hegelhat Fichte so gut wie ausschließlich als Schöpfer der Jenaer Wissenschafts-lehre gewürdigt und ›aufgehoben‹. Die späteren Auslassungen Fichtes ha-ben für ihn nach oberflächlichster Kenntnisnahme der populären Schrif-ten keinerlei spekulativen Wert. Das hat einen äußeren Grund. Die vertief-te Wissenschaftslehre hat Fichte nicht in die Form der Schriftlichkeit gege-ben und publiziert, sondern allein mündlich mit dazwischengeschaltetenKolloquien öffentlich gemacht. Fichtes ›ungeschriebene Lehre‹ ist allzulange wissenschaftlich inediert und unerforscht geblieben. Erst die mit derVollendung der Akademieausgabe rapide fortschreitende Erforschung desGesamtwerkes macht es möglich, den Widerstreit um die systematischeVollendung des Vernunftsystems vom unverkürzten und einem wieder-entdeckten Standpunkt der Wissenschaftslehre auszutragen. Das hat phi-losophiegeschichtlich für den Prioritätsanspruch des Hegelschen Systemswie für das Schlußwort der Spätphilosophie Schellings Bedeutung. Es hatauch wirkungsgeschichtliches Gewicht für ein bis heute andauerndes me-taphysikfeindliches Zeitalter, das Fichte als Geschichtszeit der vollendetenSündhaftigkeit gebrandmarkt hat.

Nun gehört die ungeschriebene Lehre zur ›mittleren Periode‹ als Mit-tel- und Höhepunkt auf dem Wege zur Vollendung der Vernunftwissen-schaft. Das mag jene Einschätzungen entkräften, welche die geistige Ent-

2 Das Scheitern der Systemkonzeption verfolgt P. Baumanns: J. G. Fichte. KritischeGesamtdarstellung seiner Philosophie, 1990. – Das Scheitern von Fichtes philoso-phisch-theologischen Denken sieht W. Weischedel: Der Gott der Philosophen, 1971darin, daß Fichte Gott am Ende nur noch in der Existenz des religiösen Menschenverwurzelt. – Eine Auseinandersetzung mit diesen drei Thesen des Scheiterns(Schelling, Baumanns, Weischedel) findet sich bei P. L. Oesterreich/H. Traub: Derganze Fichte, 2006, 115ff.

1. Abschnitt: Beiträge zum Streit 177

wicklung Fichtes in der mittleren Periode als Abfall vom Kritizismus undÜbergang zum Mystizismus schildern, wonach Fichte nach dem ›Glau-bensdurchbruch‹ um 1800 und in der ›johanneischen Periode‹ nach 1804zu einem transzendenten Dogmatismus übergeht und das Entspringenvon Leben und Wissen in ein mystisches Dunkel hüllt, das philosophi-scher Aufklärung nicht mehr zugänglich ist und weder der spekulativenLogik noch dem gesunden Menschenverstand standhält.

Nun hat Fichte im Lauf des Jahres 1804 die Grundlagen der Ersten Phi-losophie wie die Prinzipien der Natur-, Rechts-, Sitten- und Religionslehremehrmals in jeweils erneuerter Durchklärung 1805 in Erlangen, 1807 inKönigsberg vorgetragen. Eine Veröffentlichung dieser fundamentalen Ge-dankengänge in der Form endgültiger Schriftlichkeit hat er zurückgehal-ten. Das geschah wohl, um nicht noch diese Vollendungsgestalt der Ver-nunftwissenschaft dem allgemeinen Mißverstehen preiszugeben, mögli-cherweise auch, um sich vor Intrigen des Nicolai-Kreises zu schützen.Fichte hat sich auf mündliche Mitteilungen beschränkt, weil in zwischen-geschalteten Kolloquien aufkommende Mißverständnisse auf der Stellebehoben werden konnten, was die Schriftlichkeit ja nicht zuläßt. Das Lese-publikum, des Selbstdenkens entwöhnt, ist nach Fichtes Einschätzungweitgehend unfähig, das geistige Licht der Wissenschaftslehre im gegen-wärtigen »Zeitalter der absoluten Verwesung aller Ideen« unverstellt auf-zunehmen (vgl. den Brief vom 31. März 1804 an seinen »sehr verehrtenFreund« Friedrich Heinrich Jacobi; GA III/5, 236). So hat Fichte in jenemPro-Memoria vom 3. Januar 1804, da er die vollendete Klarheit der bislangdunkel gebliebenen Wissenschaft vermeldete, von sich, dem Erfinder desvollendeten Vernunftsystems, die Erklärung abgegeben: »Der Erfinder,durch seine vieljährige Beobachtung des sogenannten literarischen Publi-kum sattsam überzeugt, daß durch die bisherige Weise des Studiums dieBedingungen des Verständnißes eines solchen Systems größtentheils ver-lohren gegangen, auch daß gerade jetzo eine größere Menge Irrungsstoffsich im allgemeinen Umlauf befinde, als vielleicht je – ist nicht gesonnen,seine Entdeckung in ihrer dermaligen Form durch den Druck dem allge-meinen Mißverständniß und Verdrehung Preiß zu geben. Er will sich aufmündliche Mittheilung beschränken, indem hiebei das Mißverständnißauf der Stelle erscheinen und gehoben werden kann« (GA III/5, 223). DieseArgumentation Fichtes ist derjenigen nicht unähnlich, die für Platos ›un-geschriebene Lehre‹ in Anschlag gebracht wurde. Tatsächlich aber hat sichFichtes Hoffnung, durch mündliche Mitteilung unverfälschter Ideen eine

178 Teil III: Fichte

blühende Schule zu gründen und dem dogmatisch verkommenen Schul-streit siegreich ein Ende zu bereiten, nicht erfüllt. Seine ungeschriebeneLehre ist, skandalös in Königsberg 1807, nicht mal zu Ende gehört, ansons-ten verdrängt und verschwiegen worden.

Zumal im harschen Ringen der sich vollendenden Vernunftsysteme istFichtes stilles Jahrzehnt mit seinen epochalen, grundlegenden, aber ebennicht publizierten Vorträgen als peinliches Schweigen ausgelegt worden.In diesem Schweigen drücke sich das Unvermögen des Wissenschaftsleh-rers aus, die weithin anerkannte Naturphilosophie und die Identitätssyste-me auf der Höhe des Absoluten zu überbieten. Diese historische Weiter-und Höherentwicklung der Wissenschaft habe Fichte nach Schellings iro-nischer Einschätzung während seiner Berliner Klausur wohl verschlafen:»Hat denn Hr. Fichte die vier oder fünf Jahre, die er nicht geschrieben,durchgeschlafen, daß er so gar nicht wissen will, was um ihn herum vorge-gangen?« (W III 629 = SW VII 35). Und sachnäher erklärt Schelling zuAnfang seiner öffentlichen Streitschrift von 1806: Fichtes alte Grundsätze,das Göttliche könne nur geglaubt, nicht erkannt werden, die Natur sei we-sentlich vernunftlos, unheilig und tot, müßten mit dem Fortschritt derWahrheit im Identitätssystem entweder als Irrtum ausgeräumt oder be-weiskräftig vorgeführt werden. »Das Letzte konnte, das Erste wollte ernicht. – Es blieb aber nur das Schweigen« (W III 616 = SW VII 22). Jeden-falls habe Fichte seine angekündigte neue Darstellung nicht durchgeführt.Das nun sei weder Ausdruck »edler Verachtung aller Mißdeutungen«noch eine fruchtbare und furchtbare Gewitterstille, sondern Konsequenzeiner verzweifelten Einsicht. Die verschlimmbesserte Lehre verfange sichheillos in Widersprüche. »Es hatte also bei dem Schweigen sein Bewen-den« (W III 617 = SW VII 23).

So ist die ungeheure Arbeit des Begriffs in der ungeschriebenen Lehrefast bis auf den heutigen Tag verdeckt geblieben. Ihre Entdeckung ist an derTagesordnung, nicht nur als Revision der Philosophiegeschichte des Deut-schen Idealismus, sondern auch als Restituierung der Wahrheit in unseremZeitalter positivistischer Wissenschaftsgläubigkeit und nihilistischer Meta-physikfeindlichkeit. Diese Arbeit, unser Zeitalter wieder in Gedanken tief-ster transzendentaler Besonnenheit zu fassen, ermöglicht eben das fast be-endete Jahrhundertwerk der Bayerischen Akademie-Ausgabe. Darin findensich die einschlägigen Berliner, Erlanger, Königsberger Vorlesungen erstmalsmustergültig ediert. Zudem hat sich die Fortschrittsdebatte inzwischen welt-weit den Grundstellungen, Hauptproblemen, Entfaltungsbezügen und An-

1. Abschnitt: Beiträge zum Streit 179

wendungsdisziplinen der Wissenschaftslehre seit 1801 zugewendet und dieHegelschen und Schellingschen Abblendungen der epochalen BedeutungFichtes durchbrochen.3

3. Kapitel: Die ungeschriebene Lehre im Spiegel der populären Schriften.Eine Erklärung von Schellings und Hegels Abschätzungen

Im Horizont der neuen Grundlegung und in der Phase derselben Schaffens-zeit sind drei vielbeachtete populäre Schriften – Die Grundzüge des gegen-wärtigen Zeitalters, Über das Wesen des Gelehrten, Die Anweisung zum seli-gen Leben – erschienen. Schelling hat sie nach Dantes Divina Commediageistreich ironisch »die Hölle, das Fegefeuer, das Paradies der FichteschenPhilosophie« genannt (W III 681 = SW VII 87). Ihnen sind Resultate der un-geschriebenen Lehre als philosophische Grundstellungen vorangestellt, andenen sich eine Auseinandersetzung mit Fichtes ›verbesserter Lehre‹ orien-tieren konnte.4

Um deren Tragweite zu verdeutlichen, ist es förderlich, vorab den Cha-rakter von Fichtes populären Schriften hervorzuheben und zu allererst dieTrennlinie anzugeben, die Fichte schon in Jena gegenüber »den verrufenenPopular-Philosophen« (GA I/2, 396) gezogen hatte. So ist Fichte bekanntlichzeit seines Lebens gegen Friedrich Nicolai und dessen Organ, die Neue All-gemeine Bibliothek, als dem »Mittelpunkt der Seichtigkeit, der Popularität,des leeren Geschwätzes, einer flachen breiten Schreiberei« (GA I/7, 453), sar-

3 Über den Stand der Fichte-Forschung in den letzten Jahrzehnten unterrichten dieSammelbände und Tagungsberichte: K. Hammacher (Hg.): Der transzendentaleGedanke, 1981. – A. Mues (Hg.): Transzendentalphilosophie als System, 1989. – E.Fuchs, M. Ivaldo, G. Moretto (Hgg.): Der transzendentale Zugang zur Wirklichkeit.Beiträge zur aktuellen Fichte-Forschung, 2001. – K. Hammacher, R. Schottky, W. H.Schrader (Hgg.): Fichte-Studien, 1990 ff. (bisher 31 Bde.), darunter die Tagungsbe-richte der Kongresse in Rammenau: Realität und Gewißheit (Bd. 6); in Jena: 200Jahre Wissenschaftslehre (Bde. 9-13); in Schulpforta: Die Spätphilosophie Fichtes(Bde. 17-18); in Berlin (Bde. 19-24); in München: Das Gesamtwerk 1810 – 1814 unddas Lebenswerk (Bde. 28-31).

4 Es ist ein fruchtbarer Ansatz der Untersuchung von H. Traub: Johann GottliebFichtes Populärphilosophie 1804 – 1806, 1992, diese Triade nicht einfach wie üblichauf die Gebiete der Geschichts-, Erziehungs- und Religionslehre aufzuteilen, son-dern erstmalig in ihrer systematischen Konzeption und wissenschaftlichen Trag-weite erörtert zu haben.

180 Teil III: Fichte

kastisch zu Felde gezogen. Solche Popularphilosophie sei mit Recht verru-fen, eben als der Fall seichten, oberflächlichen Denkens. Fichtes Neuformie-rung einer Popularphilosophie geht auch über die herkömmliche Diskussi-on, die um die Auseinandersetzung Kant – Christian Garve kreist und sichin Beiträgen Über Popularität in der Philosophie von August Wilhelm Hül-sen wie von Johann Christoph Greiling in Fichtes und Niethammers Philo-sophischem Journal 1797 und 1798 niederschlägt, dadurch hinaus, daß erWissenschaft und Popularität, Philosophie und Leben aufeinander bezieht.Das verlangt, die philosophisch geklärten Grundlagen für ein allgemeines,natürliches Verständnis lebensnah einzubringen.5

Nun hat solche Popularisierung eine vielfache didaktische, methodi-sche, appellative und applikative Intention. Didaktisch sollen einem größe-ren Publikum Resultate philosophischer Deduktionen allgemein faßlichnahegebracht werden; dabei wird methodisch keineswegs unwissenschaft-lich simplifiziert, sondern einführend vorgegangen, nämlich historisch be-schreibend, faktische Evidenz erzeugend, auf genetische Evidenz verwei-send. Zugleich geht diese Popularisierung auf historisch-geschichtlicheBedingungen des gegenwärtigen Zeitalters ein, um vom Hintergrund einerapriorischen Geschichtsphilosophie das Zwielicht geistiger, moralischer,religiöser Verdunklungen aufzuklären. Zudem haben die populärenSchriften eine systembildende Bedeutung. Sie leiten eigentlich nicht wieFichtes berühmte Einleitung in die Wissenschaftslehre in Einstellungendes philosophischen Bewußtseins ein, sie stellen vielmehr Resultate derPrinzipienwissenschaften für Gebiete zur Verfügung, welche zum Gesamt-system der Vernunftwissenschaften gehören: die philosophische Natur-,Geschichts-, Rechts-, Sitten- und Religionslehre. So kommen apriorischePrinzipien und Grundsätze der absoluten All-Einheit applikativ in Seins-bereichen wie der Natur oder Historie zur Sprache – mit dem kritischen

5 Ch. Asmuth: Begreifen des Unbegreiflichen, 1999, 48-67 hat Fichtes Programm ge-genüber der herkömmlichen Diskussion über Popularität in der Philosophie ver-deutlicht. Bemerkenswert ist der Hinweis, daß die W.L. 1804-II eigens den Unter-schied wie den Zusammenhang von gewöhnlichem und transzendentalem Wissenbegründet. Fraglich ist die These, wonach Fichtes populäre Philosophie von der na-türlichen Wahrheit und vom Leben ausgeht, um zur Wissenschaft zu kommen –und nicht von der philosophischen Besinnung auf das Leben und das Sein des Ab-soluten. Zugespitzt ist wohl die Einschätzung, die populären Vorträge stellten denbündigsten Ausdruck von Fichtes Philosophie dar.

1. Abschnitt: Beiträge zum Streit 181

Vorbehalt, alles empirisch Faktische lediglich empirisch ermitteln, aberniemals a priori deduzieren zu können. Und offenkundig hat die populäreDarstellungsart bei Fichte unüberhörbar einen appellativen, ja rhetorischpersuasiven Grundzug, zumal in der Religionslehre. Diese wird als Anwei-sung zu einem Handeln empfohlen, durch das sich die je eigene Bestim-mung des Menschen in seinem individuellen Existenzentwurf, gelingen-dem Leben und in erfüllender Liebe erfüllt.

Für den Rangstreit des Zeitalters um die wahre Philosophie und um dasvollendete, allumfassende System der Vernunftwissenschaften aber wurdenauch wirkungsgeschichtlich jene apriorischen Prinzipien und Grundsätzevon Bedeutung, welche den Vorträgen Über das Wesen des Gelehrten undDie Anweisung zum seligen Leben voraus- und zugrundegelegt waren. Nurhier traten Resultate der ungeschriebenen Lehre in geschriebener Form andie Öffentlichkeit. So vermochte Schelling als weithin anerkante Koryphäeeiner apriorischen Naturphilosophie und eines umgreifenden Identitätssys-tems auf dem Grund und Boden des Absoluten, der indifferenten Einheitdes Realen und Idealen, Fichtes Grundsätze der ›verbesserten Lehre‹ zwar inBetracht zu ziehen, aber nur als Vorspann der populären Schriften. Das hatzu verheerenden Mißverständnissen geführt. Die Wurzel dieser Mißver-ständnisse besteht eben darin, daß Fichtes ausdrücklicher Vorbehalt, die inden populären Schriften vorgestellten Grundsätze seien lediglich Resultateund von bloß faktischer Evidenz, ignoriert wurde. Daß sehr wohl eine deut-liche Differenz zwischen den faktisch-evidenten Voraussetzungen der popu-lären Schriften und den wissenschaftlich durchdringenden Erhebungen derGrundlagen-Darstellung ersichtlich war, bezeugt das Urteil von HeinrichLuden in seiner Rezension der populären Schrift Über das Wesen des Ge-lehrten: »Die neue Darstellung der Wissenschaftslehre, die Hr. Fichte vorlanger Zeit selber ankündigte ist, zum Bedauern aller Denker nicht erschie-nen und diese Vorlesungen, die für jenen Verlust nicht entschädigen kön-nen, werden dieß Bedauern nicht vermindern« (GA I/8, 42 Anm.). Schellingbleiben die gewaltigen Denkleistungen der ungeschriebenen Lehre nichtnur unbekannt, ihr Ertrag erscheint ihm zeitlebens als unzusammenhän-gender und widersprüchlicher Synkretismus.6

6 Darauf macht die Studie von W. G. Jacobs: Fichtes Wissenschaftslehre in SchellingsSpätphilosophie, 2006 aufmerksam. Die Crux der populären Schriften sei auchheute noch, daß man sie kaum versteht, wenn man nicht die zeitgleichen Wissen-

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Die Verdeckung der Spätphilosophie Fichtes hat Schelling in allenWandlungen seiner eigenen Systementfaltungen durchgehalten. Noch dieletzte Fassung seiner Einleitung in Die Philosophie der Offenbarung sprichteine solche Verkennung aus. »In noch späteren Schriften suchte er gewisseihm anfänglich fremde Ideen mit seinen ursprünglichen in Verbindung zusetzen. Aber wie war es möglich, mit dem absoluten göttlichen Seyn, vondem er jetzt lehrte, es sei das einzig Reale, noch jenen Idealismus in Verbin-dung zu bringen, dessen Grundlage vielmehr gewesen war, eines jeden Ichsey die einzige Substanz? Fichte hätte in der That besser gethan, sein Erselbst zu bleiben, da mit jenem Synkretismus seine Philosophie nur ins Un-bestimmte, aus dem Charaktervollen, wodurch sie zuerst ausgezeichnet war,nur ins Charakterlose sich verlor« (W XII 53-54). Solche Charakterlosigkeitzeige sich auch darin, daß Fichte den Kampf um die Wahrheit hinterrücksgeführt habe. »Wir haben im ehrlichen offenen Kampfe gegen ihn gestan-den, mit wissenschaftlichen Waffen und in wissenschaftlicher Form, im An-gesicht der denkenden Männer unserer Nation. Er – führt seine Streiche ge-gen uns vor Berliner Weibern, Kabinettsräthen, Kaufleuten und dergl.; erstreut im Dunkel einer Privatvorlesung Verleumdungen gegen die aus, diesich nicht verantworten können, bis ihm – ich weiß nicht was – den Muthgibt, auch öffentlich mit ihnen hervorzutreten« (W III 719). In Wahrheit wares ein öffentliches Großereignis, daß der in Jena Amtsenthobene die Reprä-sentanten des preußischen Staates, Diplomaten, Gelehrte, Künstler, bedeu-tende Frauen in privaten Vorlesungen an sich zog.7

Parallel zu solch prinzipieller Degradierung wie persönlicher Denunzie-rung hat Hegel Fichtes spätere Gedankenarbeit nicht nur aufgehoben, son-dern annihiliert. An G. E. A. Mehmel, den Redakteur der Erlanger Littera-tur-Zeitung, schreibt er anläßlich einer gewünschten Mitarbeit schon An-

schaftslehren kennt; verständlicherweise habe Schelling sie nicht verstanden. So-greife er, lediglich Fichtes erste Idee einer vollkommenen apriorischen Wissen-schaft anerkennend, auf zwei Thesen Kants zurück: auf die Lehren vom transzen-dentalen Ideal und von der Freiheit als unzeitlicher Tat.

7 Vgl. R. Lauth: Über Fichtes Lehrtätigkeit in Berlin 1799 bis Anfang 1805 und seineZuhörerschaft, 1990, 224. »Es ist meines Wissens ein einmalige Ereignis der Weltge-schichte, daß ein Philosoph in seinen privaten Vorlesungen einen Prinzen, siebenMinister, sechs zukünftige Minister und fünf Gesandte neben zahlreichen Wissen-schaftlern, Schriftstellern und Künstlern zu seinen Hörern hatte« (vergleichbar amehesten wohl mit Plotins Lehrtätigkeit im kaiserlichen Rom).

1. Abschnitt: Beiträge zum Streit 183

fang August 1801: Fichtes Sachen seien im Unterschied zu Schellings Schrif-ten wissenschaftlich eigentlich völlig uninteressant geworden; so sei seinSonnenklarer Bericht ein unseliger subjektiver Versuch, die Spekulation zupopularisieren (FG III 69). Späterhin hat Hegel Fichtes ungeschriebene Leh-re überhaupt nicht und die »neuverbesserte Lehre« allein im Lichte vonSchellings ›Anti-Fichte‹ zur Kenntnis genommen. Als Schelling ihm die sar-kastische Streitschrift über die »verbesserte Lehre« Fichtes zusandte, hat erdie persönliche Abwehr von Fichtes »Niederträchtigkeiten« und Eigendün-kel als Alleinbesitzer der Wahrheit ebenso begrüßt wie die philosophischePolemik gegen dessen »Synkretismus der alten Härte und der neuen Liebe«,die widerspruchsvolle Vermischung der alten Prinzipien der Pflichterfüllungmit der neuen, aufgelesenen Rede von der Liebe Gottes. Das spielt auf Schel-lings Unvereinbarkeitsformel an (vgl. W III 622 = SW VII 28). Hegel selbsträumt ein, lediglich »eine der Popularitäten«, die Grundzüge des gegenwärti-gen Zeitalters angelesen und darin Lächerlichkeiten populärer Kundgebun-gen zuhauf gefunden zu haben. Am 3. Juni 1807 schreibt er aus Jena an denentfernten Freund: »Daß ich mich an Deiner Auseinandersetzung des neu-erlichen Fichte’schen Synkretismus ›der alten Härte mit dieser neuen Liebe‹und seiner steifsinnigen Originalität mit dem stillschweigenden Auflesenneuer Ideen, recht ergötzt habe, brauche ich Dir nicht zu sagen. [...] Dennwenigstens das Eine der Popularitäten, der Geist der Zeiten, das ich alleingesehen, enthält Lächerlichkeiten genug, die eine ebenso populäre Handha-bung zulassen und fast dazu einladen. Dergleichen Zeug mit solchem Ei-gendünkel vorzubringen, – ohne ihn aber würde es ganz unmöglich sein, –kann allein durch sein Publikum begreiflich sein, das wie sonst aus Leutenbestand, die noch gar nicht orientiert waren, so jetzt aus solchen, die ganzdesorientiert sind und alle Substanz verloren haben« (FG IV 15-16).

In seinen einflußreichen Berliner Vorlesungen über die Geschichte derPhilosophie, die Hegel ab Sommer 1819 immer wieder abhält und die 1833im Druck erscheinen, hat der Geistesfürst in einem ebenso kenntnislosenwie niederträchtigen Abschnitt, Schellings Perspektiven folgend, »Fichtesneugebildetes System« diskreditiert. Das gilt für die angebliche rhetorischewie spekulative Popularisierung eines philosophischen Systembaus unddessen Grundlegung. »In seinen späteren, populären Schriften hat FichteGlaube, Liebe, Hoffnung, Religion aufgestellt, ohne philosophisches Inter-esse, für ein allgemeines Publikum, eine Philosophie für aufgeklärte Judenund Jüdinnen, Staatsräte, Kotzebue« (TWA 20, 413). Es folgt die verdek-kende Mißdeutung der obersten Grundsätze, welche Fichte ausdrücklich

184 Teil III: Fichte

als Resultat einer tieferen, nicht der Schriftlichkeit preisgegebenen Unter-suchung vorgetragen hatte: hier sei alles populär gesagt. »Nicht das endli-che Ich ist, sondern die göttliche Idee ist der Grund aller Philosophie; alles,was der Mensch aus sich selbst tut, ist nichtig. Alles Sein ist lebendig undin sich selbst tätig, und es gibt kein anderes Leben als das Sein und keinanderes Sein als Gott; Gott ist also absolutes Sein und Leben. Das göttlicheWesen tritt aus sich hervor, offenbart und äußert sich, – die Welt. DiesePhilosophie enthält nichts Spekulatives« (TWA 20, 414).

4. Kapitel: Ein Vorbericht über die Polemik gegen Fichtes Rede vom absoluten Sein und göttlichen Leben (Schellings Rezension von Über das Wesen des Gelehrten)

Fichtes Erlanger Erneuerung seiner Vorlesung Über das Wesen des Gelehrtenund seine Erscheinungen im Gebiete der Freiheit wendet Grundsätze der phi-losophischen Wissenschaft auf das Leben im Zuge der Pädagogik als An-wendungswissenschaft an. Sie ist im Sommerhalbjahr 1805 und im Februar1806 publiziert worden. Schelling hat diese Schrift nach der Besprechungdurch Heinrich Luden als zweiter Rezensent in der Jenaer Allgemeinen Lit-teratur-Zeitung einer voreilig vernichtenden Kritik im Kampf um die wahrePhilosophie unterzogen. Dabei hält er sich thematisch konzentriert an jeneobersten Grundsätze, die Fichte in der Zweiten Vorlesung auf- und vorange-stellt hatte. In dieser Grundstellung begrüßt Schelling mit Recht einen Nie-derschlag von spekulativen Erträgen, welche das fünfjährige SchweigenFichtes über seine neue Darstellung der prima philosophia erbracht haben.»Die gegenwärtige Schrift hat außer ihrem allgemeinen Interesse noch dasbesondere der spekulativen Aeußerungen, durch welche Fichte ein mehrjäh-riges Stillschweigen über seine philosophischen Ansichten unterbricht« (WIII 598 = SW VII 4). In ihnen trete das Bleibende und Wesentliche der Philo-sophie ans Licht.

Mit dieser zunächst freundlich zustimmenden Zuwendung trennt sichSchelling ausdrücklich von jener Aufnahme der Fichteschen neuenGrundstellung durch den Zeitgeist. Der Zeitgeist unterstellt, das oberstePrinzip der Philosophie sei im Ich-Subjekt gefunden, und er hört nun be-fremdet von Fichte, dem Heros der Tathandlung, nicht das Ich, sonderndie göttliche Idee, das Absolute, der Gott der Philosophen und des Johan-nes-Prologs sei der Grund aller Wahrheit und Realität. So der Zeitgeist.»Wir im Gegentheil wollen mit aufrichtiger Freude die ersten Grundsätze

1. Abschnitt: Beiträge zum Streit 185

hinnehmen, welche Fichte in der Zweiten Vorlesung hinstellt.« Diese sindin der Nachzählung Schellings: »Alles Seyn ist lebendig und in sich thätigund es gibt kein anderes Seyn als das Leben. 2) Das Absolute oder Gott istdas Leben selbst, und umgekehrt, das Leben selbst ist das Absolute. 3) Die-ses göttliche Leben ist an und für sich rein in sich selber verborgen, es hatseinen Sitz in sich selbst und bleibt in sich selber, rein aufgehend in sichselbst, zugänglich nur sich selbst. Es ist alles Seyn und außer ihm ist keinSeyn« (W III 600 = SW VII 6).

Darin begrüßt nun Schelling eine Enttabuisierung des Seinsgedankens.Die Auffassung von Sein erschöpft sich nicht mehr im negativen Sinn desNichttätigseins, wie in der Reduktion des Gegenständlichseins des Nicht-Ich als reine Negation des Tätigseins des Ich. ›Sein‹ bedeutet nun das le-bendige Tätigsein des Absoluten (die reine Energeia/actus purus Gottes),außer dem es kein wahres und lebendiges Sein gibt. Mit solchen Grund-sätzen dieser Vorlesung sei Fichte in den ernsthaften Streit um Sein undNichtsein des Absoluten eingetreten.

So hoch Schelling mithin diese drei verlautbarten Grundsätze einerveränderten Lehre Fichtes einschätzt, so tief stürzt er ihre leichtfertige,dogmatische Aufstellung als Systemgrund hinab. Sie zeige mit keinemWort wirklich verbindlich auf, »wie in oder aus diesem göttlichen Lebenund Allseyn zumal das besondere Seyn erkannt wird« (W III 601 = SWVII 7). Und sie verwickle sich zuletzt da in Widersprüche, wo die soge-nannte Natur als starres und totes Dasein, als bloße Schranke zum Zweckeihrer Überwindung – gegen den Geist einer lebensvollen Naturphiloso-phie – seinsmäßig herabgesetzt wird. Was Schellings ganze polemischeKraft und Wucht aufrüttelt, ist der öffentliche Aufruf Fichtes, sich nichtvon einer Naturphilosophie in die Irre führen zu lassen, welche sich an-maßt, die Wissenschaftslehre dadurch zu übertreffen, daß sie die Naturverabsolutiere und vergöttliche. Konfrontiert mit dieser wiederholtenKampfansage Fichtes erklärt Schelling, es gebe gar nicht eine bessere Phi-losophie, welche die schlechtere übertreffe. »Es gibt nur eine wahre, und esgibt nichtwahre, diese werde von jener nicht übertroffen, denn sie stehenicht auf der gleichen Linie mit ihr« (W VI 606 = SW VII 12). Das ver-schärft das Ringen um die wahre Philosophie zur kontradiktorischen Ge-genstellung. Ist die veränderte Wissenschaftslehre in ihren Grundsätzenund Folgerungen wahr, dann ist die Naturphilosophie auf dem Grund undBoden eines Identitätssystems nicht wahr und umgekehrt. Schellings Re-zension ist darauf aus, nachzuweisen, die neue Wissenschaftslehre ist

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grundfalsch. Aus den drei obersten Grundsätzen folgen unzusammenhän-gend unbewiesene, ja widersprüchliche Thesen. Die vorangestellten Prin-zipien entwähren sich. Sie sind fremdartige Prämissen.

Schelling zeigt hauptsächlich zwei Hauptwidersprüche an. Zunächst:im Grundsatz gehe das göttliche Leben rein in sich selbst auf – im Folge-satz äußere es sich, indem es unmittelbar und ohne Beweis als Dasein undäußere Existenz der Welt heraustrete und sich in ein unendliches Zeitle-ben entwickle. »Fichte hat die Subjekt-Objektivierung des Absoluten auf-genommen als Selbstdarstellung, unmittelbar gleich mit dem Mißverstandeines Hinausgehens aus sich selbst behaftet« (W III 609 = SW VII 15). Zu-dem: Im Grundsatz sei alles Sein lebendig, und es gebe kein anderes Seinals das Leben – die Folgesätze erklärten das Sein der Natur für tot und er-starrt, als an ihm selbst nichtig und nur als absolute Schranke der Freiheitzu denken. »Nach diesem Princip ist auch alles, was in der Natur Seyn ist,und soweit es nur Seyn ist, alles Positive mit Einem Worte, gleich dem Le-ben Gottes. Von dem Nichtseyn aber in ihr, das Fichte allein kennt, kanngar nicht die Rede sein, eben weil es ein völliges Nichtseyn ist« (W III606-607 = SW VII 13).

Schellings Kritik ist voreilig und taub. Sie ist voreilig, weil sie eine ausge-reifte Darstellung von Fichtes neuer Grundlegung nicht abwartet, von derfür Schelling fraglich sei, ob sie überhaupt noch erscheine und tiefere An-sichten erbringe. Und Schelling stellt sich taub, weil er von den inzwischenausgebreiteten, großen Berliner und Erlanger Vortragszyklen nichts hörenwill.8 So überhört Schelling einfach den ausdrücklichen Vorbehalt der Zwei-ten Vorlesung über die Hypothesis der göttlichen Idee. Fichte hat ausdrück-lich erklärt: »Wir stellen folgende Sätze auf, welche für uns zwar Resultateeiner angestellten tiefern Untersuchung, und vollkommen erweislich sind,die wir aber Ihnen hier nur historisch mittheilen können; höchstens rech-nend auf Ihr eignes Wahrheitsgefühl, das uns auch ohne Einsicht in die

8 Dagegen hat der erste Rezensent Heinrich Luden, ab 1806 Professor der Geschichtein Jena und profunder Kenner der idealistischen Systembildungen, richtiggestellt:Die fragliche Schrift Fichtes stelle eben keineswegs die seit Jahren erwartete neueSystemgestalt selbst, sondern allein deren abgerissene Resultate dar. Luden – er warErzieher im Hause Hufelands, eines der Mittelpunkte des geistigen Berlins – hatteFichtes wissenschaftliche Vorträge mit ihren Klarstellungen genetischer Evidenzvon 1804 bis 1805 gehört (FG III 210). Schelling hätte von ihm Auskunft darübereinholen können.

1. Abschnitt: Beiträge zum Streit 187

Gründe bestimme« (GA I/8, 71). Mithin bleibt es hier im Vorspann der po-pulären Schrift einer angewandten Wissenschaft bei bloß historischen Vor-gaben der obersten Grundsätze in faktischer, nicht aber in zureichender ge-netischer Evidenz. Den Hörern wird lediglich das Faktum zugemutet, daß essich so mit dem absoluten Sein verhält, nicht aber, wie und nach welchen in-einandergreifenden Gesetzen des Wissens dieses Sein in höchster kritischerBesonnenheit zum Bewußtsein kommt.

Nun ist es an der Stelle dieses Vorberichts nicht der Ort, die Fichtekri-tik Schellings Punkt für Punkt mit den ingeniösen Grundlegungen derBerliner Wissenschaftslehren zu konfrontieren. Immerhin sollte folgendeszugebilligt werden. In den Berliner Vorträgen hat Fichte mit intensivenDenkanstrengungen (und keinesfalls leichthin) mit genetischer Evidenz(und keineswegs bloß historisch-faktisch) im Lichte der intellektuellenAnschauung die Gesetze und Schematismen der Ichform lebendigen ab-soluten Wissens als dem einzig wahren Dasein und Existieren des in sichgeschlossenen Absoluten entwickelt, demzufolge evidentermaßen und er-wiesen alles Mannigfaltige und die unendliche Vielheit der Welterschei-nungen auf absolute Einheit zurückgeführt und auch wieder methodischhergeleitet werden. Und das erhellt mit demselben Schlag auch die Prinzi-pien der Sonderung der zusammenhängenden fünffachen Welteinstellungder menschlichen Vernunft in Recht, Sittlichkeit, höherer Moralität, Religi-on und Wissenschaft. Das klärt auch die Sinngebung der an ihr selbstsinnlosen Natur unter Bedingungen des Sollens auf. Diese vertiefteGrundlegung ist in den öffentlichen Auseinandersetzungen um den Be-griff des Absoluten, um Sein und Sinn der Natur, um das Band der göttli-chen Liebe kenntnislos übergangen worden.

2. Abschnitt: Richtigstellungen. Fichtes populäre Grundsätze über die Natur und das Göttliche unter Anklage

1. Kapitel. Austragen des Grundkonflikts. Fichtes und Schellings Auffassung der Natur

Es gibt ein untrügliches Kriterium, das die »entlehnten«, verbessertenGrundsätze vom Absoluten in Fichtes neuer Lehre auf ihre Tragfähigkeitund Systemtauglichkeit hin überprüft: die ontologische Auffassung vonSein oder Nichtsein der Natur und die Einordnung einer kohärenten Na-turphilosophie ins Ganze des systematischen Vernunftwissenschaft. DieserPrüfstein zeigt der Scheidekraft Schellings an: Fichtes Sinngebung der Na-

188 Teil III: Fichte

tur sei ein schreiender Widerspruch; seine Naturerklärung bleibe bloß me-chanisch und äußerlich teleologisch.

Tatsächlich hat eine ›romantische‹ Naturphilosophie auf dem Stande derSchellingzeit, etwa die Erklärungen der beseelten Materie im Ermessen vonRepulsion und Attraktion, von Schwere und Licht oder die Ergründung desdynamischen Lebens aus magnetischen, elektrischen, chemischen Prozes-sen, schließlich die Darstellung des organischen Lebens durch Reprodukti-on, Irritabilität, Sensibilität, wie sie Schellings einschlägige Untersuchungenvon 1803-1807 befruchtend anregten, in Fichtes Gedankenwelt keinen Platz.Jedenfalls findet sich im Gesamtwerk Fichtes, wie wir es heute überblickenkönnen, keine geschlossene Abhandlung einer Naturphilosophie nach Prin-zipien der Wissenschaftslehre. Und Fichte hat selbst seine mangelndenKenntnisse und auch ein fehlendes Interesse an den Problemen einer spezi-ellen Naturphilosophie bekundet. Das schließt freilich nicht aus, daß Fichteeine allgemeine Naturphilosophie von erstaunlicher Konsequenz und Ge-schlossenheit innerhalb seines Gesamtwerkes ausgearbeitet hat, welche dasGrundgerüst der Natur aus transzendentalen Prinzipien a priori errichteteund zugleich den Freiraum anzeigte, in welchem die Induktion ihre For-schungsarbeit zu verrichten hat. So schränkt Fichte einen Apriorismus, derEinsichten in die Realentwicklung der Natur vorgibt, besonnen ein. Freilichkommt dabei der Widerstreit zutage. Während nach Schelling die Verfas-sung der Natur die lebendige Vernunft erzeugt, erzeugt nach transzenden-tal-kritischer Einsicht die Vernunft die Verfassung der Natur.9 Dabei ist fürden Stand dieser Auseinandersetzung zu konstatieren: Beide Kontrahentengehen über Kant hinaus. Für Kant ist Natur Gegenstand der mathematisier-ten Wissenschaft auf dem Forschungsstand der Newtonschen Physik, derge-stalt, daß die speziellen Gesetze unter generelle Naturgesetze einzuordnensind, als ob ein göttlicher Verstand sie den Bedingungen unseres Erkennt-nisvermögens gemäß eingerichtet habe. In Kantischem Respekt ist der Be-griff Gottes regulatives Prinzip der Natureinheit. Nun ist es, trotz der überKant hinausgehenden Gemeinsamkeit, ein polemischer Angriff Schellings,der das Fehlen einer speziellen Naturphilosophie bei Fichte dafür haftbar

9 Vgl. die klärende und informative Untersuchung von R. Lauth: Die transzendentaleNaturlehre Fichtes nach Prinzipien der Wissenschaftslehre, 1984. – Dazu der pro-grammatische Bericht: ders.: Fichtes Wissenschaftslehre – Veränderungen in derFichte-Rezeption und im Fichte-Bild, 1984, 135-151.

2. Abschnitt: Richtigstellungen. Fichtes populäre Grundsätze 189

macht, daß der Systemaufbau der Wissenschaftslehre unvollständig und lü-ckenhaft geblieben ist.

Schärfer noch notiert Schellings ›Anti-Fichte‹ von 1806 die Differenz inder geistigen Auffassung der Natur überhaupt. Für den wahren Naturfor-scher sei die Natur ein lebendiges, organisches, produktives Ganzes. Da istdie Scheindifferenz zwischen Organischem und Anorganischem aufgeho-ben. Natur enthüllt sich einem religiösen Sinn ›als ewiges, lebendiges All-hier‹, als göttliches All. Davon spricht Schelling in feierlich erhabener Spra-che. »Was ist der wahre Geist des Naturforschers? – Er ist Andacht, Fröm-migkeit gegen die Natur, Religion, unbedingte Unterwerfung unter dieWirklichkeit und die Wahrheit, wie sie in der Natur ausgesprochen und mitder Natur selbst eins ist« (W III 703 = SW VII 109). Solcher religiös demüti-ger, spekulativ Gott geöffneter Ansicht der Natur enthüllt sich im All dasgöttliche, lebensvolle Band. Daher ist diese Betrachtungsweise erfüllt vonder Erhabenheit der Natur. Solche Erhabenheit war in »älteren Systemen«,welche den Urzweck der Natur in der Offenbarung von Güte, Weisheit undMacht des ewigen Wesens ansahen, noch (physiko-teleologisch) erhalten.»Im Fichteschen System hat sie den letzten Rest von Erhabenheit verloren,und ihr ganzes Daseyn läuft auf den Zweck ihrer Bearbeitung und Bewirth-schaftung für den Menschen hinaus« (W III 704 = SW VII 110). In Fichtesökonomisch-technisch-ästhetischer und teleologischer Ansicht der Natursind die Naturkräfte da, um durch den Menschen unterworfen, gezähmtund nutzbar gemacht zu werden. Naturstoffe wie Erz und Gehölz haben da-rin ihren Zweck, als Werkzeuge oder Hausgeräte uns zur Hand zu gehen.Und die landschaftliche Umgebung gewinnt Wert durch Umwandlungender Wildnis in annehmliche Gärten, kultivierte Landgüter, schöne Woh-nung. Romantisch andachtsvolle Naturverklärung fragt rhetorisch: »Was istdem ächten Naturforscher in innigster Seele widriger als die teleologischeAnsicht und Betrachtung der Dinge?« (W III 104 = SW VII 110). Vom Ge-sichtspunkt einer spekulativen Naturandacht verbirgt sich in einer Auffas-sung, welche der Natur, dem Nicht-Ich, reales Sein und positiven Sinn alleindurch Beziehungen auf das Ich in seinem wirtschaftlich zweckmäßigen,technisch und moralisch praktischem Handeln zubilligt, blinde Nichtach-tung und feindseliger Naturhaß. Solcher Haß schwärzt eine tiefergehendeNaturauffassung als Schwärmerei und falsche Vergöttlichung an. In der Tathat Fichte in der 8. Vorlesung seiner Grundzüge des gegenwärtigen Zeitaltersdie Schwärmerei der Naturphilosophen von der echten Spekulation auchdadurch unterschieden, »daß sie niemals Moral- oder Religionsphilosophie

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ist, welche beide sie vielmehr in ihrer wahren Gestalt inniglich hasset: wassie Religion nennt, ist allemal eine Vergöttlichung der Natur« (GA I/8, 289).Dabei erliegt Fichtes verbesserte Lehre in ihrer Naturauffassung nach Schel-lings Abschätzungen einem dreifachen pantheistischen, ontologischen, reli-giösen Widerspruch.

Was die verschlimmbesserte Lehre annektiert hat, ist das Axiom desHen kai Pan. Allein das Absolute ist, und außer ihm ist nichts. Wovor siezurückschreckt, sind die Konsequenzen. »Ist also Philosophie Wissen-schaft des Göttlichen als des allein=Positiven, so ist sie Wissenschaft desGöttlichen als des allein=Wirklichen in der wirklichen oder Natur=Welt,d.h. sie ist wesentlich Naturphilosophie« (W III 624 = SW VII 30). In Fich-teschem Verstande dagegen bleibt die Natur philosophisch eine vom Gött-lichen entleerte und Gott entfremdete Reflexionswelt – im Widerspruchzum angeeigneten Grundsatz des Hen kai Pan.

Außer diesem pantheistischen Widerspruch hat der zweite Teil derSchelling-Rezension über die populäre Erlanger Schrift auch schon einenontologischen Widerspruch konstatiert. Die negative Seite der FichteschenSpekulation handle »von dem, was da nicht ist aber doch daseyn muß, vonder Natur« (W III 603 = SW VII 9). Das rekurriert auf den von Fichte ver-kündeten Grundsatz: Allein das menschliche Geschlecht ist da und leben-dig. Steht es so, dann wäre alles andere, das Universum der Natur, nicht daund nicht lebendig. Folglich ist die Natur, an ihr selbst genommen, tot undstarr. Darin besteht ein niemals völlig aufzuhebender Gegensatz zum gött-lichen Leben. Das Leben der Natur sei bestimmt durch das Sein derSchranke; es sei beschränkt und darum noch nicht zum Leben durchge-drungen und insoweit tot. Tatsächlich hat sich Fichte eindringlich an seineSchelling nahen Hörer in Erlangen gewandt: »Sie haben an dem soebenaufgestellten Begriff der Schranken, wenn Sie denselben recht scharf insAuge fassen und erwägen, den Begriff der objektiven und materiellenWelt; oder der sogenannten Natur. Diese ist nicht lebendig, sondern todt,ein starres und in sich beschlossenes Daseyn« (GA I/8, 73). Und anzüglichmahnend fährt Fichte fort: »Lassen Sie sich darum nicht blenden oder irremachen durch eine Philosophie, die sich selbst den Namen derNatur=Philosophie beilegt, und wohl alle bisherige Philosophie dadurchzu übertreffen glaubt, daß sie die Natur zum Absoluten zu machen, undsie zu vergöttern strebt« (GA I/8, 73).

Nach Grundsätzen zumal der praktischen Wissenschaftlehre ist die Na-tur seins- und sinnlos. Gleichwohl erklärt Fichte die Natur für etwas Sei-

2. Abschnitt: Richtigstellungen. Fichtes populäre Grundsätze 191

endes, nämlich als Schranke für ein Fortschreiten der Weltkultivierung, alsMittel für menschliche wirtschaftliche Zwecke, schließlich als »Materialder Pflichterfüllung«. Ist nun aber schon ein »totes Dasein« eine contra-dictio in adiecto, so ist eine Schranke ohne Realität ein Begriff von garnichts. Damit fällt offenkundig in den Augen Schellings auch der Ein-spruch Fichtes dahin, die Naturphilosophie vergöttliche, dem Irrlicht desDogmatismus von einer an sich seinenden Natur folgend, die an ihr selbstnichtige Natur. Wäre sie überhaupt seinslos, dann könne sie auch nicht et-was Ungöttliches sein. »Ohne ein Ungöttliches gibt es wohl keine Vergött-lichung« (W III 606 = SW VII 12). Und gegen eine Position, welche dasSein im Sinne der Natur an das absolute Ich-Bewußtsein bindet, schleu-dert Schelling das Verdammungsurteil: »Wenn es Religion ist, alles, in Gottund somit gleich dem Leben Gottes zu schauen, so ist das absolute Be-wußtseyn das wahre Princip der Irreligion, alles Argen und Ungöttlichenim Menschen« (W III 625 = SW VII 88).

2. Kapitel: Versuch einer Schlichtung im Grundsatzstreit um Sein und Sinn der Natur

Es ist wohl längst an der Zeit, das Hin und Her einer wahren Ansicht derNatur, den Streit um deren Wesen und Unwesen, deren Sinn und Sinnlosig-keit, deren objektive Erstarrung und göttliche Lebendigkeit, der um 1806 in-mitten der Hochzeit des Deutschen Idealismus so unversöhnlich ausgebro-chen war, zurechtzurücken und den Versuch zu unternehmen, solche Ge-genpositionen widerspruchsfrei zu vereinigen. Das mag auch darum gebo-ten sein, weil jede von beiden Auffassungen die anderslautende als Aus-druck des Zeitalters vollendeter Sündhaftigkeit charakterisiert und weil wirheute noch immer in dieser von Fichte phänomenologisch beschriebenenVerfalls- und Krisenzeit stecken. Für solche Korrektur wird hier ausdrück-lich nicht auf die fünf deduzierten Vernunftansichten in ihren prinzipiellenEinstellungen zur Wirklichkeit (als Natur, Recht, höhere Moralität, Religionund philosophische Wissenschaft) eingegangen, welche jeweils eine ihneneigentümliche Naturauffassung enthalten (Natur etwa als Material der bür-gerlichen Industrie, als Sphäre pflichtgemäßen Handelns, als Hülle göttli-chen Lebens).10 Hier wird lediglich die Kompatibilität von Auffassungen

10 So hat die Untersuchung von H. Girndt: Die fünffache Sicht der Natur im Denken

192 Teil III: Fichte

darzulegen versucht, die in eine praktisch-technische und religiös-spekulati-ve Grundansicht unverträglich auseinandergebrochen scheinen.

Einzugehen ist auf eine Tatsache des Bewußtseins. Die Natur erscheintuns zugleich als das Unheilvolle und das Ungeheure, das uns bedrohlichherausfordert, wie als Ausdruck oder Hülle des Heiligen und Göttlichen,das uns zur andächtigen Selbstbesinnung bewegt. Beides geht uns zu-gleich, aber nicht widersprüchlich in derselben, sondern in unterschiedli-cher Seinsbeziehung an. In Bezug auf unser religiös-numinoses Daseinenthüllt sich unversehrbares Leben aus der Hülle der Natur, in Bezug aufunser leibhaftes Sein in einer gegenständlichen Welt fordert die physischübermächtige Natur unser technisches Vermögen sowie unsere moralischeKraft heraus.

Nun hat Schelling wie übrigens auch Hegel Fichte angekreidet, die Naturals etwas Häßliches, Unreines, Unheiliges anzusehen, das einen Haß erregt,der die Natur vernichten will. So sieht es Schelling noch im Blick auf dieGrundzüge des gegenwärtigen Zeitalters: »Noch immer will sich bei Hrn.Fichte keine umfassendere Kenntnis der Natur verrathen als die nun schonoft gezeigte: daß annoch mehrere Striche des Erdbodens mit faulendenMorästen in undurchdringlichen Waldungen bedeckt liegen, deren kalteund dumpfe Atmosphäre giftige Insekte erzeugt und verheerende Seuchenaushaucht« (W III 697 = SW VII 103). Das nährt in religiös-andächtiger For-schungsperspektive eine Entheiligung und Verhäßlichung der einheitslosenNatur ohne göttliches Band und Leben. »Allgemein aber war die Natur et-was absolut Häßliches und Unheiliges, ohne einwohnende Einheit: etwas,das nicht seyn sollte und nur war, damit es nicht wäre, nämlich damit es auf-gehoben werden könnte« (W III 686 = SW VII 92). Diese Ansicht verratenicht nur die Befindlichkeit eines Naturgefühls, das sich an der Unheimlich-keit der ungeheuren Natur weide, es dokumentiere den Hochmut, ja denwahnsinnigen Dünkel, in welchem sich der Mensch über die göttliche Naturerhebe, um sich deren Kräfte zu unterwerfen und sie menschlichen Zwek-ken dienstbar zu machen. Hegel, der die Charakterisierung der Natur im 3.

Fichtes, 1990 im Blick auf die 28. Vorlesung der W.L. 1804-II und die einschlägigenPassus der Religionslehre die scheinbaren Widersprüche der Naturauffassung auf-gelöst und das vorherrschende Bild einer einseitigen teleologischen Bewertung derNatur durch Fichtes Transzendentalphilosophie auf dem Stande der Berliner Vorle-sungen korrigiert.

2. Abschnitt: Richtigstellungen. Fichtes populäre Grundsätze 193

Buch von Fichtes Bestimmung des Menschen als populäre Litanei über dasÜbel der Welt schurigelt (vgl. TWA II, 417-422), stimmt in Schellings Ab-schätzung ein. Fichte erkläre die Natur als ein zu Vernichtendes, an dem derVernunftzweck ewig erst zu realisieren sei. Solche Natur sei »von Wahrheitentblößt, das Gesetz der Häßlichkeit und Vernunftwidrigkeit an sich tra-gend« (TWA II, 420).

Das ist im Durchgang auf die existentiale Verfassung des Daseins richtig-zustellen. Dabei ist primär nicht das Leiden der unschuldigen Natur an dersie verunstaltenden, entfremdenden, entgötternden modernen Maschinen-technik in den Blick zu fassen. Ausgangspunkt ist vielmehr das Leiden desMenschengeschlechts durch die Natur in ihrer elementaren Gewalt und ih-ren unberechenbaren Ausbrüchen. Dieser Angang einer unbändigen Natur-gewalt ist conditio humana, auch heute noch im Zeitalter des ›Gestells‹ mo-derner Technik.11 Auch für äußerst präzisierte mathematisch-technische Be-rechnungen bleibt die Natur in ihrem katastrophalen Übermaß und tödli-chem Entzug unberechenbar. Oder sind etwa Fichtes Schilderungen einerLänder verheerenden, Seuchen erregenden, Hunger, Zerstörung, Chaos undTod verbreitenden Naturgewalt anachronistisch? Um solchem Doppelan-griff der Natur, ihrem Überfluß in Überflutungen und Orkanen wie ihremEntzug in verdorrender Dürre und wachsenden Wüsten, zu entkommen, tutes not, »den feindseeligen Dunstkreis der ewigen Wälder, der Wüsten undSümpfe« aufzuheben, das Unwirtliche bewohnbar zu machen, Katastrophendurch Maßnahmen der Technik und Wissenschaft einzudämmen. Offen-kundig ist das selbstbewußter Geist vom Geiste eines Francis Bacon: »Diemenschliche Gewalt über die Körperwelt beruht einzig auf Kunst und Wis-senschaft« (Novum Organum Nr. 129). Aber letztes Ziel ist es, ein freies Ver-hältnis zur Macht der Technik wie zur Gewalt der Natur zu gewinnen. Zwarist und bleibt die Abwehr der wilden, zerstörerischen Naturkräfte ein

11 Die kennntnisreiche, die Entwicklung der Beziehung Fichte – Schelling insgesamtumfassende Untersuchung von W. Schmied-Kowarzik: Das Problem der Natur.Nähe und Differenz Fichtes und Schellings, 1997 hat ihren Schwerpunkt im ge-schichtsphilosophischen Aspekt der Naturphilosophie. Sie trägt die paradoxe Thesevor, Fichte werde mit seiner Auffassung der Natur als Mittel und Material fürmenschliche Zwecksetzungen mitsamt ihren verheerenden technisch-industriellenFolgen zum Wortführer des immer noch gegenwärtigen Zeitalters vollendeterSündhaftigkeit, während Schellings Freiheitsschrift das Böse gerade im Zerschnei-den unseres kreatürlichen Zusammenhangs mit der lebendigen Natur aufdeckt.

194 Teil III: Fichte

Kampf, aber dabei soll die Natur überhaupt nicht verknechtet und ausbeute-risch entstellt werden. Als Wohnstatt eines ihrer Krise entwachsenden Men-schentums, das alle seine Verhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft ein-richtet, kommt die Natur in ihr Eigenes, als frei und schön gestaltete Umweltin befriedeter Mitwelt. Fichte hat eben die Unterwerfung der zu kultivieren-den Natur an die Prinzipien der Anwendbarkeit von Vernunft, Freiheit undSittlichkeit gebunden und am Ende der Sichtbarmachung göttlichen Da-Seins anheimgegeben.

Mithin widerstreiten die entgegengesetzten technisch-wirtschaftlichenund religiös-andächtigen Bezüge zum Walten der Natur einander nicht.Für den teleologisch-ökonomischen Umgang ist der Wald primär Gehölzund so Stoff zum Bauen oder Beheizen menschlicher Wohngebäude sowieMaterial zur Herstellung von Werkzeug und industriellem Gerät. Für denreligiösen Sinn ist und bleibt der Wald heiliger Hain, da ein Göttliches ver-ehrungswürdig anwest. Nun löst sich die Gleichzeitigkeit dieser Zweiheitin präzisierter Welteinstellung freilich weitgehend auf, so daß der heiligeHain zum vielfach verwendbaren Gehölz wird. Aber sie ist in rechter Be-sinnung sowohl auf die Naturauffassung Schellings wie auf den NatursinnFichtes zu restituieren.

Daß Fichte eine religiöse Ansicht von der Natur weder ausklammertnoch problemisch als Naturvergötzung desavouiert, belegt seine populäreReligionslehre. Danach gibt es einen Weg, die transzendentale Verhüllungder Natur als objektivierte Welt im Status des Nicht-Ich aufzuheben. Erhebtsich nämlich das absolute Wissen wirklich auf den Standpunkt der Religion,dann vergeht die gegenständliche Natur-Welt in ihrem toten Prinzip. DieWahrheit und das Leben sind nicht mehr verhüllt als anorganisches, vegeta-tives, animalisches Naturding – »als Stein, Kraut, Thier« – vor Augen. An-dernfalls bliebe Gott, der hinter all diesen Gestalten lebt, unsichtbar undverborgen. Geht aber religiöse Lebenshaltung in das göttliche Leben unddiese ins religiöse Existieren ein, dann ist die reflexive Naturerfassung alsverhüllende Objektivation enthüllt. Schelling hat solche Anweisung zum se-ligen Leben in seinem ›Anti-Fichte‹ zitiert. Die erlösende Anweisung lautet:»Erhebe dich nur in den Standpunkt der Religion, und alle Hüllen schwin-den, die Welt vergeht dir mit ihrem todten Princip und die Gottheit selbsttritt wieder ein, in ihrer ersten ursprünglichen Form, als Leben, als dein ei-genes Leben, das du leben sollst und leben wirst« (W III 679 = SW VII 85).

Also gehen in Fichtes deduzierter Abstufung unserer Weltansichten bei-de strittigen Naturauffassungen widerspruchslos zusammen. Die bedrohli-

2. Abschnitt: Richtigstellungen. Fichtes populäre Grundsätze 195

che, menschlichen Zwecken zu unterwerfende Gewalt der Natur geht uns inunserem alles theoretisch objektivierenden und praktisch projektierendenDasein an. Die als Gott zu enthüllende Erhabenheit der Natur trifft unserelebendige, religiös numinose Existenz. Und es ließe sich hinzufügen: DieHerrlichkeit, wunderbare Schönheit, der aufstrahlende Glanz des Kosmoswird uns aufgetan im Stande einer »höheren Moralität« – aufgrund der my-thisch-poetischen Existenz menschlichen Geistes.12

3. Kapitel: Revision von Schellings Anklage und Aburteilung der Grundsätzein Fichtes Die Anweisung zum seligen Leben

Nun sitzt der naturphilosophische Grundkonflikt sicherlich wie ein tiefsit-zender Stachel fest. Die eigentliche Auseinandersetzung aber dreht sich umjene Grundsätze, welche das ganze System tragen. Da Schelling die unge-schriebene Lehre unbekannt blieb, sind jene Formulierungen in Betracht zuziehen, die Fichte seinen populären Schriften voranstellte und gegen die sichSchellings Einreden wenden. Dabei nimmt die im April 1806 erschieneneSchrift Die Anweisung zum seeligen Leben, oder auch die Religionslehre eineSchlüsselstellung ein. Denn Schelling hat die Grundlagen dieser Religions-philosophie nach Prinzipien der Wissenschaftslehre einer vernichtendenKritik unterzogen. Der sarkastische Ton – ein Stil, den Fichte zuletzt auchgegenüber Schellings Naturphilosophie pflegte – täuscht. Es geht in vollemErnst um die Stimmigkeit eines philosophischen Systems im Lichte derWahrheit. So stehen ausführliche Grundsätze der prima philosophia aufdem Prüfstand. Darum kann der seichte Spott gegenüber dem Titel (Wil-helm Traugott Krug, Professor der Philosophie in Königsberg: »Anweisungzum seligen Leben – für einen Friedrichsd’or – Neidenswerthe Berliner!«)ebenso beiseite bleiben wie die Parodie von J. Fries, seit 1805 Professor inHeidelberg: Fichtes und Schellings neueste Lehre von Gott und Welt, 1807.Dem polemischen Vorblick entsprechend konzentriert sich Schellings Kritik

12 Die Durchsicht von Naturinterpretationen durch Kant, Fichte und Schelling vomProblem des Dinges an sich aus bei K. Gloy: Die Naturauffassung bei Kant, Fichteund Schelling, 1994 hat zum Resultat, keines der drei Paradigmen sei einwandsim-mun, alle drei scheiterten an ihrer Einseitigkeit. Das lege ein Programm nahe, einAnsichsein der Natur als Ermöglichungsgrund von drei konfliktfreien Naturkon-zeptionen anzunehmen, nämlich der wissenschaftlichen, mythischen und theologi-schen Ansicht des Kosmos.

196 Teil III: Fichte

an Fichtes Religionsphilosophie eben auf jene philosophischen Grundlagen,die Fichtes ungeschriebener Lehre entnommen sind.13 Das Ziel dieser Un-tersuchung besteht allein darin, jene strittigen Problemfelder zu eröffnen,auf denen sich der Wahrheitsanspruch der Vernunftwissenschaft im Stadi-um ihrer dreifachen Vollendung entscheiden wird.

Schelling sah Hauptthesen und Vordersätze der Anweisung, zumal der 3.und 4. wie der 8. und 10. Vorlesung als gebrechliche, zusammenhangloseund illegitime Stützen von Fichtes verschlimmbesserter Lehre an. Von die-sem Vorurteil her sind zuerst die Anklage, danach das Urteil und schließlichdie Urteilsbegründung Schellings zu hören. Die Anklage ist bekannt. Sie lau-tet: Fichte erfülle den Tatbestand des geistigen Diebstahls. Er habe sich un-rechtmäßig eine höhere Ansicht der Philosophie angeeignet, nämlich denBlickpunkt einer vollendeten Wissenschaft des Absoluten und eine Betrach-tung der Welt aus solchem Standpunkt des Göttlichen. Das war durch dieNaturphilosophie auf dem Grunde des Identitätssystems ausgebildet undvom Geiste des Zeitalters aufgenommen worden. Fichte nehme von einemTeil des neuen Reiches der Wahrheit Besitz und spiegele vor, als erster diesesaufbrechende Licht der Wahrheit begrüßt zu haben. Der Vorwurf geistigenDiebstahls ist eine fixe Idee Schellings, die sich am Ende auch gegen Hegelkehrt. Fichte bringe die höhere Ansicht der religiösen Idee an sich, soweit erdazu fähig sei, um sie volkstümlich mitzuteilen. In der Jenaer Grundlage je-denfalls finde sich nicht die geringste Erwähnung von Gott und den göttli-chen Dingen. »Nunmehr aber soll alles Philosophiren beginnen von dergöttlichen Idee, und die Liebe, der Grund und Anfang seyn aller Wissen-schaft« (W III 619 = SW VII 25). Und hinweisend auf die Gottesliebe alsQuelle aller Realität und auf die behauptete Übereinstimmung mit der Lo-

13 Zur Gesamtdeutung vgl. H. Verweyen: Fichtes Religionsphilosophie – Versuch ei-nes Gesamtüberblicks, 1995. – Ch. Asmuth, Wissenschaft und Religion. Perspektivi-tät und Absolutes in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes, 1995. – Ders.: Das Be-greifen des Unbegreiflichen. Philosophie und Religion bei Johann Gottlieb Fichte.1800-1806, 1999, 67-122. – H. Traub: Johann Gottlieb Fichtes Populärphilosophie1804-1806, 1992, 163-287. – Zur zeitgenössischen Rezeption in der Fichtezeit vgl. dieRezensionen des Geistlichen Rates Thanner 1806 (mit dem Resümee: in der An-weisung sei das Wahre nicht neu und das Neue nicht wahr), von Jacob Salat, katho-lischer Moral- und Pastoraltheologe in München, von Friedrich Schlegel und vonSchleiermacher. Eine ausführliche Dokumentation dieser Rezeptionslage bietet dasVorwort zu GA I/9, 3-44.

2. Abschnitt: Richtigstellungen. Fichtes populäre Grundsätze 197

gos-Verkündigung des Johannesevangeliums: »Jetzt spricht er von Liebeund dem Apostel Johannes, und die in Gott sich selbst vernichtende Reflexi-on ist das höchste« (W III 620 = SW VII 26).

Theologisch strittig diskutiert wird dabei Fichtes These, seine Religions-philosophie und Gotteslehre nach Prinzipien der Wissenschaftslehre stim-me mit der echtesten Urkunde des Christentums, dem Johannesevangelium,völlig überein. Hier steht Schleiermachers Abwehr im Hintergrund. Fichtebestätige mit seiner Berufung auf den Johannesprolog nichts als den Allge-meinbegriff einer religiösen Gesinnung; er schwäche das paulinische Chris-tentum, während er doch paulinisch vom Leben, Wirken und Sein in Gottspreche. Die katholische Seite tadelt, daß Fichte den Standpunkt der Ver-nunftwissenschaft über den der Religion stelle. Und psychologisch wirdFichte unterstellt, sich nach dem Atheismusverdacht als philosophischerApostel der christlichen Botschaft salvieren zu wollen.14

Jedenfalls liege nach Schelling ein Bruch mit dem früheren Lehrstandvor. Erst vertrat Fichte einen moral-theologischen Standpunkt, wonachder Glaube an ein Göttliches im Grunde Glaube an eine moralische Welt-ordnung bedeute; jetzt habe er sich einen heterogenen Standpunkt ange-eignet, welcher die Moral und Sittlichkeit tief unter die Grundstellung derReligion stelle, so daß die Religion nicht mehr in der Moral fundiert wer-den könne.

Das Urteil Schellings unterscheidet kritisch. Die von Fichte wider-rechtlich angeeigneten Grundsätze von der göttlichen Idee, vom seligenLeben und dem Urquell der Liebe sind nicht unwahr. Sie legen, wenigstensäußerlich, Zeugnis für die Kraft einer Wahrheit ab, welche das Götzenbildder Subjektivität und die moralische Säule bloßer Pflichtmäßigkeit um-stürzt. Fichte gestehe damit eine Wahrheit zu, die er vorher verwarf. Aberer vermag sie nicht vollständig und konsequent zu durchdringen. Letztlichnehme er die höhere Wahrheit an, um die Mängel der eigenen Systembil-dung zu verdecken. Das sei eine Schmach der philosophischen Wissen-schaft Fichtes, »daß die Liebe, das selige Leben und alles Himmlische, das

14 Zur tieferen Durchdringung vgl. Ch. Danz: Im Anfang war das Wort. Zur Interpre-tation des Johannesprologs bei Schelling und Fichte, 1995. Diese Untersuchungdurchdenkt die strittige Interpretation des Johannesprologs von den miteinanderunvereinbaren Grundentscheidungen ihrer Theoriegestalten her, wobei sich Schel-lings Interpretation als kritische Korrektur von Fichtes auf dem Hintergrund derWissenschaftslehre 1804=II zu rekonstruierenden Auslegung erweisen lasse.

198 Teil III: Fichte

er sich aneignet, nur die Larve seyn sollen, den Grundfehler, die ursprüng-liche Mißgestalt seines Systems zu verbergen« (W III 622 = SW VII 28).

Schellings Urteilsbegründung geht eben auf jene philosophischenGrundlagen der Religionslehre ein, die Fichte als Resultate seiner mündli-chen neuen Darstellungen der Wissenschaftslehre mit der Einschränkungbloß faktischer Evidenz hier zur Anwendung bringt, die von Schelling alsMißgestalten geschmäht und verurteilt werden. Das betrifft alle Hauptthe-oreme Fichtes. Ein Vorbericht über diese prinzipielle Auseinandersetzungsoll lediglich einen Problemaufriß geben.

Für Schelling ist der klarste Punkt, der das Irrlicht der neuen FichteschenSeinsthese erkennen läßt, die Formel: »Das Bewußtseyn des Seyns ist dieeinzig mögliche Form oder Weise des Daseyns des Seyns« (W III 659 = SWVII 65). Das ist für Fichte Resultat transzendentaler Besonnenheit, fürSchelling eine Ungereimtheit. Hier sei unsinnigerweise eben von zwei Abso-luta die Rede, einem Sein als dem Absoluten, von dem Wissen negiert ist,und einem Wissen als Absolutem, von dem das Sein negiert ist. In Wahrheitaber sei doch das lebendige Sein nichts anderes als absolutes Wissen in derForm der Selbstbejahung. Und das Sichfassen und Sichbejahen sei nach-weisbar überall da, wo wirkliches Sein ein wahres Sein ist. Hier scheidensich die Geister.

Dabei erklärt Fichtes Wissenschaftslehre als Wissenschaft vom absolu-ten Wissen: Die Bewußtseinsform des absoluten Wissens sei das einzigmögliche Dasein des Absoluten, populär ausgedrückt: Allein das mensch-liche Geschlecht ist da. Der ontologische Rang von Dasein, Existenz, aktu-al-realer Wirklichkeit kommt allein dem menschlichen Vernunftwesen zu.Existenz ist kein universalontologischer Seinsmodus mehr – eine Ent-scheidung, die auch Schellings Grund-Existenz-Ontologie fällen wird. Da-mit hat das Identitätssystem Schellings gründlich gebrochen. Ein Selbst-Bejahen lebt im ganzen Universum. Das Wissen in beschränkter Reflexi-onsform sei nichts anderes als eine besondere Potenz dieser Selbstbeja-hung mit einem quantitativen Übergewicht der Idealität.

Zudem erklärt Fichtes Religionslehre zum Entsetzen der Naturphiloso-phen die Begriffsform des absoluten Wissens zum Schöpfer der Sinnen-und Erscheinungswelt, die uns eben so erscheint, wie wir sie in unserenWissensformen und Vorstellungsgesetzen zur Erscheinung bringen. Dabeiwird grundsätzlich behauptet: Das Prinzip der Spaltung in die Mannigfal-tigkeit, in eine Fünffachheit und unendliche Vielheit der Erscheinung istder Begriff. Diese These, das Begreifen des absoluten Ich verwandle das le-

2. Abschnitt: Richtigstellungen. Fichtes populäre Grundsätze 199

bendige, urreale Sein in Gegenständlichkeit und erschaffe so den Anblickder Sinnenwelt und Natur, fordert Schellings inquisitorische Anklage her-aus. »Wenn das an sich lebendige Seyn nur durch den todten Blick destodten Beschauens in Tod verkehrt wird, so ist ja das absolute Ich derGrund alles Todes und selbst todt; es ist daher das wahre böse Princip imUniversum, der Gott dieser Welt, aber nicht der wahre Gott; der böseWeltschöpfer der Gnostiker, nicht der Welterlöser und Sohn Gottes« (WIII 682 = SW VII 88).

Überhaupt erklärt Schelling Fichtes Frage nach der Vielheit als solcherzum Scheinproblem. Fichtes Vorstellung einer Spaltung der ursprüngli-chen Einheit folgte der Meinung, daß die Vielheit und Mannigfaltigkeit alssolche wirklich seiend sei. Das ist ein Irrtum. In Wahrheit bleibt mit derVielheit immer auch Einheit. Nichts ist wirklich gespalten, »welches ebenden wesentlichen Unterschied macht von allen Reflexionstheorien, die dasProblem so fassen, als hätten sie eine Spaltung zu erklären, da es doch garkeine solche gibt, und mit der Vielheit immer die Einheit besteht« (W III652 = SW VII 58). Und noch bedenklicher ist aus Schellings Sicht folgendeKonsequenz: Gesetzt, die Formen der Vielheit sind Schemata des sich in-tuierenden und reflektierenden absoluten Wissens, dieses aber sei das Da-sein des Göttlichen und Absoluten, dann beginge Fichtes Deduktion derMannigfaltigkeit eine metabasis eis allo genos, ein fehlerhaftes Übertragenaus dem Herkunftsbereich der Reflexion in den des Göttlichen; denn sol-ches, was doch bloß Beschaffenheit der endlichen individuellen Reflexionist, wird so in Gott hinübergetragen und zu dessen Daseinsform gemacht.

Wie aber, wenn es vom Standpunkt der ungeschriebenen Lehre aus ge-rade umgekehrt steht, wenn eine unbesonnene Rede vom Absoluten jeneFormen und Gesetze, welche zum Wissen gehören und die Sinnenweltkonstituieren, fehlerhaft ins Absolute hinüberträgt? An diesem Streitpunktsind die Denkwege am weitesten voneinander entfernt.

Im Vorbeigehen setzt Schellings Anklage auch jenes Grundgesetz außerKraft, das in der ungeschriebenen Lehre eine bedeutende Übergangsfunk-tion sichert, das Gesetz der Sichvernichtung des Wissens, d.h. die Abset-zung des absoluten Ich-Subjekts als oberstes Prinzip von Erkennen undSein. Einen solchen Prozeß, in welchem sich das Wissen zum Bild des Ab-soluten herabsetzt, kann es laut Schellings Urteilsbegründung nicht geben.Entweder nämlich werde dadurch das Bild eines Seins im Sinne des vor-und entgegengestellten Gegen-Standes, des Objekts, erzeugt, dann ist die-ses Wissen nicht Dasein des Absoluten, sondern die untergeordnetste und

200 Teil III: Fichte

gemeinste Reflexion. Oder diese Reflexion ist Gottes ewige Form und Da-sein; dann bedeutete deren Vernichtung die Nichtung göttlichen Daseins.»Gott würde daher, wenn etwa diese Reflexion niemals aufgehoben würde,oder, wie Hr. Fichte späterhin angibt, sich selbst vernichtete, gefahrlaufen,auf einmal gar nicht mehr dazusein« (W III 662 = SW VII 68).

Die Urteilsbegründung von Schellings Anklage zieht die Haupt- undGrundsätze von Fichtes Religionsschrift Die Anweisung zum seligen Lebenalso in den Dreisatz zusammen: »Das Seyn ist gleich dem Daseyn; das Da-seyn ist gleich dem Wissen oder absolutem Bewußtseyn; dieses ist das, dasgöttliche Leben, in das todte, vernunftlose Verwandelnde« (W III 262 = SWVII 88).

3. Abschnitt: Ausblicke auf die strittige Über-, Unter- und Gleichordnung der Gottesliebe (Amor Dei intellectualis)

Fichtes Religionslehre in der Form einer Anweisung zum Leben wurdedurch popularisierte Prinzipien der ungeschriebenen Lehre unterbaut undentwickelt. Ihr Gipfelsatz ist in den Strudel eines gezielten, aber auch einesunthematisierten Widerstreites geraten. Der strittige Satz lautet: »Die Liebedaher ist höher, denn alle Vernunft, und sie ist selbst die Quelle der Vernunftund die Wurzel der Realität und die einzige Schöpferin des Lebens« (GA I/9,167). Dieser philosophisch-religiöse Schlußsatz ist von Schelling einer ironi-schen Kritik unterzogen worden. Bemerkenswerterweise aber hat SchellingsFreiheitsschrift 1809 eine konkurrierende These aufgestellt. Sie lautet: »Auchder Geist ist noch nicht das Höchste; er ist nur der Geist, oder der Hauchder Liebe. Die Liebe aber ist das Höchste« (W IV 297 = SW VII 405). Undein davon abzuhebender Grundsatz der Gottesliebe auf dem Boden einerdialektischen Phänomenologie Hegels lautet: »Das wahrhafte Wesen derLiebe besteht darin, das Bewußtsein seiner selbst aufzugeben, sich in einemanderen Selbst zu vergessen, doch in diesem Vergehen und Vergessen sicherst selber zu haben und zu besitzen. Diese Vermittlung des Geistes mit sichund Erfüllung seiner zur Totalität ist das Absolute« (TWA 14, 155). In Rück-sicht auf diese drei Grundsätze kann man mit philosophiegeschichtlicherVorsicht konstatieren: Hier geht es um einen Wider- und Wettstreit, in wel-chem um die Vollendung jener Proposition gerungen wird, die Spinoza aufdem Boden einer absoluten Substanzmetaphysik am Ende seiner Ethik alsBasis menschlicher Freiheit aufgestellt hat. »Mentis erga Deum Amor intel-

3. Abschnitt: Ausblicke auf die strittige Über-, Unter- und Gleichordnung 201

lectualis pars est infiniti amoris, quo Deus se ipsum amat« – Fichte naheübersetzt: Die Liebe des menschlich-endlichen Gemüts auf der Stufe höchs-ten adäquaten Wissens ist Teil der unendlichen Liebe, in der Gott sich selbstliebt in uns (Eth. V prop. 36). Nun hat Fichte seinen gleich klingendenGrundsatz vom Amor Dei nirgends mit Spinozas Schlußsatz konfrontiert.Und ein Jacobi erklärt in seinem Vorbericht 1819: Eine Freiheit im Gefühlder Gottesliebe, d.h. der Liebe zur allein wahrhaft seienden Substanz in ihrergedankenlosen Aktuosität, widerspricht nicht nur dem Spinozistischen Fata-lismus, sie vernichtet das wesenhafte Sein im Menschen – »eine Wahrheit,welche ihn tödtet, kann der Mensch weder suchen noch leben« (JW IV/1, 17;vgl. JW IV/1, 71).

Vorzüglich der ›romantische Spinozismus‹ der deutschen Frühromantik(Schleiermacher, Friedrich Schlegel, Novalis) vollzieht im Zeitraum von1793-1800 eine Wende: weg vom substanzmetaphysischen Ausgang einerAll-Einheit mit der Folge des Fatalismus und hin zum Beschluß der Spino-zistischen Liebesphilosophie mit der Folge einer selbstlosen menschlichenFreiheit. Formelhaft ausgedrückt: weg von der Losung Deus sive natura, hinzum Gegenwort Amor sive libertas.15 Und Schellings Streitschrift Philoso-phie und Religion von 1804 wird sich in ihrer Lehre von Abfall und Versöh-nung auf Spinozas Satz berufen. »Mit dieser Ansicht vollendet sich das Bildjener Indifferenz oder Neidlosigkeit des Absoluten gegen das Gegenbild,welches Spinoza trefflich in dem Satz ausdrückt: Daß Gott sich selbst in in-tellektueller Liebe unendlich liebt« (W IV 53 = SW VI 63).

1. Kapitel: Schellings Angriff auf den Gipfelsatz von Fichtes Religionslehre»Die Liebe ist höher denn alle Vernunft«

Im Kontext von Widerstreit und Konkurrenz um das höchste Prinzip einervollendeten Religions- und Vernunftphilosophie sei zunächst die KritikSchellings an Fichtes Satz vom Amor Dei vorgenommen, um sodann den

15 Die Wirkungsgeschichte des Spinozismus im Kreise der Romantik bildete langeeine Forschungslücke. Sie ist durch die Studien von H. Timm ausgefüllt worden:Amor Dei intellectualis. Die teleologische Systemidee des romantischen Spinozis-mus, 1977. – Ders.: Gott und die Freiheit. Bd. 1: Die Spinoza-Renaissance, 1974. –Zur dreifachen, konkurrierenden Aufnahme der Amor-Dei-These in der Hochzeitdes Deutschen Idealismus vgl. Vf.: Amor Dei intellectualis. Vernunft und Gotteslie-be in Gipfelsätzen neuzeitlicher Systembildungen, 1994.

202 Teil III: Fichte

Wettstreit um die drei Entwürde der Gottesliebe zu skizzieren. Schellingstreitet wider den »hellsten Lichtpunkt und Gipfel Fichtischer Verklärung«im Aufbau der populären Die Anweisung zum seligen Leben. Deren An-spruch geht dahin, die offene Frage nach dem Zusammenhang von Sein(Gott) und dem Dasein des Seins (dem absoluten Wissen) zu klären. Das istunzweifelhaft ebenso dringlich wie schwierig, da beides nicht dasselbe, aberauch nicht voneinander getrennt ist. Fichtes Bescheid in der 10. Vorlesunghat Schelling zitiert: »Es gibt schlechthin ein solches Band, welches höher istdenn alle Reflexion, aus keiner Reflexion quellend und keiner ReflexionRichterstuhl anerkennend.« – »Diese Band ist die Liebe; in dieser Liebe istGott und der Mensch eins und völlig verschmolzen« (W III 666 = SW VII72. – GA I/9, 166). So ist die Gottesliebe weder genetisch noch faktisch, we-der als Tatsache noch als Gesetz des Bewußtseins evident zu machen, son-dern allein in der Liebe zum göttlichen Sein selig zu leben; denn dieseGrundbefindlichkeit übersteigt alle Reflexion und treibt sie an, sich selbst zuvernichten, d.h. als höchste ursprünglich einigende Synthesis zu erniedrigen.Schelling erklärt diese Aufgipfelung für inkonsequent und eklektisch. Sie seiinkonsequent; folgerichtig hätte Fichte diesen höchsten und hellsten Grund-satz als oberstes Prinzip an den Anfang seiner Vernunftwissenschaft stellenmüssen; dann wäre das Wissen wirklich in die absolute Identität von Wesenund Form, von Realität und Idealität eingegangen. Daß das inkonsequenter-weise unterblieb und dieser oberste Grundsatz gleichsam nachträglich ange-hängt wurde, erkläre sich aus der eklektischen Zusammenstellung der ge-samten verbesserten Lehre. Fichtes Grundsatz der Gottesliebe klärt zwar dieIdentität von Sein und Da-Sein, er löst aber unmittelbar und mit demselbenSchlag keineswegs das Problem von Sein und Vielheit des Endlichen unddessen Zusammenhang und innige Verbindung mit dem Unendlichen. Da-für setzt die Wissenschaftslehre eben die vermittelnde Mittlerfunktion derReflexion ein. So aber gerät der propagierte Anfangsgrund als bloßer Zusatzans Ende. »Nachdem die endliche Welt erklärt und herbeigeschafft ist, magjene immerhin in den Flammen der göttlichen Liebe versengen und ver-brennen; solange, bis man diese hinter sich hat, muß sie in Ehren erhaltenwerden« (W III 667 = SW VII 73). Dieser Befund zeigt den Mangel an syste-matischem Zusammenhang und die halbherzige Aneignung von Grundsät-zen der fatalen Naturphilosophie im vermeintlichen System eines vollende-ten Eklektizismus an. »Jener organische Einheitspunkt der Spekulation, inwelchem die fatale Naturphilosophie sich gleich vornherein festsetzt, ist in

3. Abschnitt: Ausblicke auf die strittige Über-, Unter- und Gleichordnung 203

der bei weitem reineren und besonneneren Fichteschen Lehre nur eklektischvereinigt« (W III 667 = SW VII 73).

Der Widerstreit um das wahre Band der Liebe verstärkt sich in Schel-lings Bestimmung der ›wesentlichen Liebe‹. Schellings Einlassung lautet:»Dieses ewige Band der Selbstoffenbarung Gottes, dadurch das Unendli-che in das Endliche, und hinwiederum dieses in jenem aufgelöst ist, ist dasWunder aller Wunder, nämlich das Wunder der wesentlichen Liebe (wel-che allein durch den Gegensatz zur Einheit mit sich selbst dringt), oderdas Wunder der Lebendigkeit und Wirklichkeit Gottes« (W III 653 = SWVII 59). Grundsätzlich dreht es sich hier um die Doppelfrage: Wie steht esmit der Selbstoffenbarung Gottes, insofern er unverhüllt in der Natur exis-tiert? Und worin besteht das ewige Band zwischen dem Unendlichen unddem Endlichen? Schellings Bescheid verweist auf das Wunder der wesent-lichen Liebe. Wesentlich ist eine Liebe im Gegensatz zur nicht wesentli-chen, die ewig und göttlich, nicht bloß zeitlich begrenzt und kontingent-endlich ist. Wesentliche Liebe ist das ewige Wunder aller Wunder. DasWunderbare der Liebe überhaupt besteht in einem für den trennendenVerstand unfaßlichen Vorgang, worin der Liebende dadurch zur wahrenExistenz durchdringt, daß er sich durch den Gegensatz, die liebende Hin-gabe an einen Anderen, zur umfassenden Einheit mit sich selbst erhebt.Die wesentliche Liebe nun ist das Ereignis, in welchem Gott oder das Ab-solute im Anderssein der Natur lebt, offenbar wird und so als das All-Einezur Wirklichkeit kommt.

Das löst die von Leibniz erneuerte Grundfrage auf, welche das Staunenund Sichverwundern der Philosophen umtreibt: Warum ist überhaupt Sei-endes und nicht Nichts? »Sie erstaunen recht eigentlich darüber, daß nichtnichts ist« (W III 653 = SW VII 59). Das Wunder der wesentlichen Liebeist das Wunder der Wirklichkeit Gottes. Es löst das staunende Nichtbegrei-fen in taghelle, sonnenklare Evidenz auf; denn es macht klar, wie Gott we-sentlich das All ist.

Zu dieser Klarheit bringt es eine Reflexionsphilosophie niemals. Darumist auch Fichtes eklektischer Gipfelsatz und Lichtpunkt der Gottesliebe dun-kel. Reflexionsphilosophen bleiben blind gegenüber der vollendeten Gottes-liebe im System einer All-Einheit. »Da meinen sie dann, weil sie nicht be-greifen können, wie Gott das All begreife und selbst wesentlich das All sey,ihn zu ehren dadurch, daß sie alle Existenz von ihm hinwegnehmen, ihn zurreinen Einheit läutern, in der ja kein Gegensatz seyn darf, weil Gott sichetwa nicht dagegen retten könnte und getrübt werden möchte; und halten es

204 Teil III: Fichte

für Philosophie und Frömmigkeit, wenn sie ihm nachher mühselig zur Exis-tenz verhelfen, und ihn aus seiner traurigen Einförmigkeit durch ihre Refle-xion oder ihr absolutes Bewußtsein heraustreten lassen« (W III 653 = SWVII 59).

Es ist Schellings Ansatz der Selbstoffenbarung göttlicher All-Einheit,der zu einer vertieften Fundierung von Grund und Existenz und zur Er-höhung des Ungrundes der Liebe über den Geist in der Freiheitsschriftvon 1809 geführt hat. Dem zuvor aber war Fichtes ›populärer‹ Gipfelsatzder Liebe im Umkreis der Frühromantik in Grund und Boden rezensiertworden.

2. Kapitel: Exkurs. Friedrich Schlegels Kritik an Fichtes Prinzip der Liebe(Heidelberger Jahrbücher für Litteratur 1808)

Friedrich Schlegels thesen- und geistesgeschichtlich aufschlußreiche Re-zension von Fichtes drei populären Hauptwerken des Jahres 1806 geht amEnde auf die wichtigste und reichhaltigste Schrift über das selige Lebenein und greift deren religionsphilosophischen Höhepunkt an: die Aufstel-lung der Liebe als erstes und höchstes Prinzip auf der höchsten der fünfunterschiedenen Weltansichten. Allein daran ist hier in einem Ausblick aufGegenstellungen der Frühromantik zu erinnern (SSA III 109-125).

Fichtes Konstruktion der Liebe als oberster Anfangsgrund und innig-stes Verknüpfungsband von Sein und Dasein evoziert die Anfrage: Was isteigentlich diese Liebe selbst? Die mögliche Antwort kann offenbar nurlauten: entweder eine Form des Daseins oder das Sein selbst. Beides ist un-möglich. Als Form des Daseins wäre die Liebe zwar ein Vermögen, welchesim unmittelbaren Begreifen der Identität dasjenige, was die Reflexiontrennt, wieder zu vereinigen vermöchte. Aber das kann nicht sein, wennanders es außer dem Sein nur eine Form des Daseins gibt, nämlich das re-flektierend-trennende Bewußtsein. Kann Liebe mithin nicht Daseinsformsein, so müßte es das Sein selbst sein, wenn anders außer dem absolutenSein nichts sei außer dem Dasein, dessen Form die Liebe nicht ist. Aberauch das hat seine Schwierigkeiten und Widersprüche. Abgesehen davon,daß sonach die Liebe Identität von Identität (Sein) und Nicht-Identität(Bewußtsein) wäre und somit mit jenem System übereinkäme, von demsich die Wissenschaftslehre doch gerade unterscheiden will, und abgese-hen davon, daß Fichtes Beweisweg vom reinen Wissen ausgehe und nichtvon der Liebe als dem Ersten und Höchsten, entscheidend sei das Einge-

3. Abschnitt: Ausblicke auf die strittige Über-, Unter- und Gleichordnung 205

ständnis: Von einer Liebe über aller Vernunft und jenseits aller Reflexionkönne es kein Wissen geben. »Das ist es, worauf es eigentlich ankommt,und woran wir uns halten. Kam denn Fichte auf dem Wege des Wissens zuder Grundidee seines Systems? Gewiß nicht, seinen eigenen deutlichenÄußerungen zufolge; und so wird es ihm auch in Ewigkeit nicht gelingen,was nicht auf diesem Wege gefunden war, in der Form des Wissens an an-dere zu bringen« (SSA III 124). Also konnte es Fichte all seiner Argumen-tationskunst zum Trotz nicht glücken, das innere Prinzip seiner Denkartzu vermitteln, so daß lediglich äußere Resultate eines leeren Vernunftsys-tems das Zeitalter erreichen.

In den Augen Friedrich Schlegels ließ sich eben auch Fichtes Transzen-dentalismus von der verhängnisvollen Tendenz des Zeitalters der Neuzeitfortreißen, den Geist der Philosophie in falscher, mißleitender Analogiezur Mathematik als strenge Wissenschaft mit mathematischer Evidenzund dialektisch-geometrischen Ableitungen einzurichten. Jegliche mathe-matisch-dialektische Durchformung aber habe den spekulativen Geistmehr niedergedrückt als beflügelt, mehr verarmt als bereichert.

Am Schluß stellt Schlegels Rezension Fichtes Verkündigung der Liebe,die in der Frage »Was ist die Liebe selbst?« in ein Dilemma gerät, vor dieAlternative, entweder in Skeptizismus zu enden oder zu einer Darstellungüberzugehen, die jenseits der Vernunftwissenschaft und deren Methodikliegt. Gibt es nämlich überhaupt kein Wissen von der Liebe selbst, dannsiegt die Skepsis. Philosophische Wissenschaft könne dieses Phänomen alsoberstes Prinzip weder bejahen noch verneinen, sie müßte sich des Urteilsdarüber enthalten. Gibt es dagegen doch Wissen davon, dann darf es keinemathematisch-dialektische Einsicht ermitteln. Es muß eine höhere Evi-denz eröffnen. »Dies wird gewiß der Fall sein müssen, wenn uns imhöchsten Wissen nicht bloß die Geschichte von der Selbstvernichtung derReflexion als dem Prinzip der Spaltung und Trennung vorkonstruiert,sondern die Liebe selbst, als Schöpferin des Lebens und ›Quelle der Ver-nunft‹ wirklich dargestellt werden soll« (SSA III 125). – Das erregt freilichdie Gegenfrage: Hat nicht Fichte genau diese Forderung in seinen unge-schriebenen Neufassungen der Grundlegung aller, auch der religiösenWissenschaftslehre erfüllt? Schlegel hat sie nicht gekannt. Er hätte sie auchkaum anerkannt.

Im ganzen verfährt diese kritische Erörterung der Fichteschen Philoso-phie in der Phase von 1806 ebenso schonend wie verletzend. Sie verschontdie Wissenschaftslehre mit dem Bannspruch, auch in diesem Stadium der

206 Teil III: Fichte

populären Religionslehre im Grunde Atheismus zu sein. Sie erklärt gleich-wohl radikal verurteilend Fichtes Spekulation für ein leeres Formelwissen.Das alles sei metaphysische Verirrung, ergehe sich in dialektischem Leerlaufund führe zur gemeinsamen Quelle der neueren Vernunftwissenschaft desAbsoluten zurück, dem ewig leeren Nichts.16

3. Kapitel: »Auch der Geist ist noch nichts das Höchste – die Liebe aber istdas Höchste«. Zur Überhöhung der Liebe in Schellings Freiheitsschrift1809

Geistesgeschichtlich ist der widerstreitende Einspruch gegen die Tragfähig-keit und gegen die wissenschaftliche Erklärung von Fichtes Grundsatz derGottesliebe in einen Wettstreit um die dreifache Vollendung des DeutschenIdealismus übergangen. Das bringt ein kaum beachtetes Ringen um dieWahrheit eines Systems des Geistes an den Tag. Für solche Überprüfung ei-ner dreifach fortgeführten Amor-Dei-Spekulation auf den Gipfeln desDeutschen Idealismus ist vorzüglich Schellings Freiheitsschrift heranzuzie-hen. Dafür mag es genügen, an die eigentümliche ontologische Zweiteilungvon Grund und Existenz und an deren einigendes Band, den Ungrund derLiebe, zu erinnern, um die kreuzenden Denkwege von Hegels Phänomeno-logie der Liebe wie von Fichtes transzendentalem Weg zum religiösenQuellgrund der Liebe in ihren Einordnungen abzuschätzen. Nicht verfolgtwird eine Perspektive, in welcher die Freiheitsschrift nicht zuletzt das Inter-esse der gegenwärtigen Philosophie geweckt hatte: die Vorwegnahme vonExistenz, Faktizität, Geschichtlichkeit, abgründiger Freiheit des Menschen.Beiseite bleiben auch die Geschichte der Willensmetaphysik und die Leit-these von Heideggers Kommentar Schellings Abhandlung über das Wesender menschlichen Freiheit, 1971: Die Freiheitsschrift erschüttere das idealisti-sche System und vertiefe es in das Ursein absoluten Wissens.

Was aber bedeuten hier Grund und Existenz? Grund meint nicht eineArt Ursprung mit dem Prädikat des Sichäußerns, sondern ›Basis‹ mit demGrundzug des Insichgeschlossenseins. Existenz dagegen meint dem Wort

16 Diese Gemeinsamkeit in der grundsätzlichen Tendenz der Philosophien Fichtes,Schellings und Hegels aus der Sicht Friedrich Schlegels hat die Forschungsarbeitvon E. Jaeschke, welche über den durch O. Rothermel repräsentierten Forschungs-stand: Friedrich Schlegel und Fichte, 1934 hinausgeht, deutlich herausgestellt: Diehohle Nuß der Subjektivität, 1989.

3. Abschnitt: Ausblicke auf die strittige Über-, Unter- und Gleichordnung 207

und der Sache nach ein Herausgehen ins Offene im Stande des Sichoffen-barmachens. Was sich in dieser außergewöhnlichen Unterscheidung vonWesen und Existenz entzweit, ist das Ursein. Und Ursein, ausgezeichnetdurch die vier Prädikate Grundlosigkeit, Ewigkeit, Unabhängigkeit vonder Zeit, Selbstbjahung, ist Wille. Das Ursein des Willens liegt mithin derZweiheit von Grund und Existenz zuvor und geht in diese ein. Existenz er-scheint als Wille zur Selbstoffenbarung, so daß allein Gott und derMensch existieren. Grund dagegen bestimmt sich als das Vonwoher derOffenbarkeit in der Form eines sich verschließenden Willens. Damit ver-doppelt sich das Ursein wesenhaft in einen blinden Willen (Grund) undeinen sich wissen wollenden Willen (Existenz). Ist nun das absolute Seinwillenhaft, dann kann die ontologische Differenzierung in die Zweiheitvon Grund und Existenz nur ein wesensnotwendig Gewolltes sein. Die alteFrage, wozu sich das schlechthin Eine in Zweiheit zerteile, nimmt die Ge-stalt an: Warum will der absolute Wille gerade diese Aufspaltung?

Die Antwort weist auf den Willen der Liebe als unvordenkliches Ein-heits- und Spaltungsprinzip. Er waltet als Urgund, genauer: als ›Ungrund‹,vor aller Trennung. Schellings Satz vom Ungrund der Liebe ist ein Gipfelsatzseiner Grund-Existenz-Ontologie sowie ein Schlüsselsatz, der das Problemdes Bösen und der menschlichen Freiheit aufschließt. Er lautet: »Die Liebeaber ist das Höchste. Sie ist das, was da war, ehe denn der Grund und ehedas Existierende (als getrennte) waren, aber noch nicht war als Liebe – [...]wie können wir es anders nennen als den Urgrund oder vielmehr Ungrund«(W IV 298 = SW VII 406). Ungrund nennt mithin die unvordenkliche, nochnicht als solche gedachte Ununterschiedenheit der Gegensätze von ver-schlossener Basis und dem sich offenbarenden Existierenden. Es ist wie dasLicht, das noch nicht als Aufhellendes ist, im Zusammenfall mit einem Dun-kel, das noch nicht als Verschließendes wirkt. So steht es mit der absolutenLiebe, da sie noch nicht als das Scheidende und noch nicht als das Einendewaltet. Darum ist der Ungrund weder als Indifferenz noch als Identität vonGrund und Existenz des absoluten Geistes aufzustellen. Der Ungrund ist alsabsolute Liebe, als alles durchstimmendes ›Wohlwollen‹ (Eunoia) voran undüber den Geist zu stellen. »Über dem Geist ist der anfängliche Ungrund, dernicht mehr Indifferenz (Gleichgültigkeit) ist, und doch nicht Identität beiderPrincipien, sondern die allgemeine, gegen alles gleiche und doch von nichtsergriffene Einheit, das von allem freie und doch alles durchwirkende Wohl-wollen, mit einem Worte die Liebe, die Alles in Allem ist« (W IV 300 = SWVII 408).

208 Teil III: Fichte

Daraus nun kann der Sinn des Ur-Teilens geschöpft werden. »Der Un-grund theilt sich aber in die zwei ewig gleichen Anfänge, und damit diezwei, die in ihm, dem Ungrund, nicht zugleich oder Eines seyn konnten,durch Liebe eins werden, d.h. er theilt sich nur, damit Leben und Liebensey« (W IV 300 = SW VII 408). Das sollte evident sein. Ist der Wille alsWirken nach Begriffen wirklich im Modus der Wirksamkeit, so ist auchder Wille der Liebe erst dann wirklich, wenn er in seiner einigenden undbindenden Kraft wirkt. Das kann er aber nur, wenn es Entgegengesetztesgibt, das für sich sein könnte, aber doch ohne das andere nicht ganz zusein vermag. Ohne solche Zertrenntheit gäbe es das Wunder der Liebe inWirklichkeit nicht wirklich. So enthüllt sich deren Geheimnis. »Dieß istdas Geheimniß der Liebe, daß sie solches verbindet, deren jedes für sichseyn könnte und doch nicht ist, und nicht seyn kann ohne das andere. Da-rum so wie im Ungrund die Dualität wird, wird auch die Liebe, welche dasExistierende (Ideale) mit dem Grund zur Existenz verbindet« (W IV 300= SW VII 408). Also will der Wille der Liebe nicht einfach vorhandeneEinheit, sondern zuerst die Scheidung in Entgegengesetztes als Sphäre, inwelcher die einigende Kraft der Liebe wirken und so wirklich dasein kann.Schärfer zugespitzt: Die Liebe will, daß die Verschiedenen, die für sich seinkönnten, auch verschieden sind und sich sogar radikal gegeneinanderwenden; denn erst da, wo die Entgegensetzung ins Äußerste kommt, er-scheint auch die bindende und einigende Liebe in ihrer höchsten Kraft.

Der abgründige Tiefsinn dieser Überhöhung der Liebeskraft über dieKlarheit des willenhaften Geistes und dessen Selbstoffenbarung tritt daheraus, wo die Zweiheit von Grund und Existenz sich zum Bösen verkehrt.Das Böse nämlich ist Geist. Der will, daß der Wille des Grundes (der Ei-gen- und Partikularwille) über den Willen des Verstandes (den Universal-und Zentralwillen) Oberhand gewinnt. Das Böse findet seinen gefährli-chen Spielraum im Freiheitsvermögen des Menschen. Gott ist vom Bösenfrei; denn in Gott sind ja Grund und Existenz unzertrennbar und dahernicht ins Böse verkehrbar. Das Wesen menschlicher Freiheit dagegen istein Vermögen zum Guten und Bösen. Da kann es geschehen, daß Partiku-larwille und Universalwille sich verkehren. Durch unsere Freiheit entfes-selt, bringt das Böse den Geist der Aufruhr und des Zwiespaltes in dasGanze der Welt. Und in der Versöhnung des Aufruhrs bezeugen sich derUngrund, der Wille der Liebe und das alles durchdringende Wohlwollenwirklich. Also ist die Liebe höher als der Geist; denn auch das Böse istGeist in seiner ganzen Gefährlichkeit, der Geist der Entzweiung und der

3. Abschnitt: Ausblicke auf die strittige Über-, Unter- und Gleichordnung 209

Verkehrung des Ganzen. Ein Geist versöhnender Einheit weht eben nurda, wo der Wille der Liebe wahrhaftig und wirklich ist. So erhebt Schel-lings Freiheitsschrift auf dem Grund und Boden einer neuen Ontologie,das Identitätssystem überbietend, die Liebe zum höchsten Prinzip. »Auchder Geist ist noch nicht das Höchste; er ist nur der Geist, oder der Hauchder Liebe. Die Liebe aber ist das Höchste« (W IV 297-298 = SW VII 406).

Nach Fichtes transzendentalphilosophischer Methodenregel unaufheb-barer und unübergehbarer Besonnenheit ist Schellings Spekulation unbe-rechtigt. Sie überfliegt die Besinnung einer absoluten Reflexion, die sichim Sagen und Denken des Absoluten und der göttlichen Liebe auf ihr ei-genes, endlich beschränktes Denken und Sagen besinnt. Nun widersprichtaber doch in Schellings Spekulation das Sagen des Ungrundes dem Seindes Gesagten; denn ausgesagt wird von ihm ein Weder-Noch, indem ge-sagt ist: Im Ungrunde der Liebe habe weder der Grund als sich verschlie-ßendes Band noch die Existenz als sich offenbarendes Heraustreten Wirk-lichkeit. Indessen: Kommt diese Aussage wirklich dem unsagbaren Abso-luten oder doch eher unserer Einsicht vom Absoluten als solchem zu? Voneinem Wirken der Liebe als Ungrund zu sprechen, bleibt für ein triftigesSichbesinnen ein Unaussprechliches.

4. Kapitel: Hegels dialektische Unterordnung des Wunders der Liebe imSystem der Vernunftwissenschaft

Hegel hat seine dialektischen Einsichten in die Struktur lebendigen Geis-tes am Phänomen der Liebe gewonnen. Das Wunder der Liebe erhellt sichihm als ein dialektischer Prozeß, den er auf den Vorgang der Selbstoffen-barung des Absoluten überträgt. Aber er beharrt für alle Stufen der Liebe,auch im Falle religiöser Gottesliebe, auf dem sinnlichen Empfindungsmo-dus des innigen Liebesgefühls. Darum kehrt sich in seiner SeinsordnungSchellings Gipfelsatz um: Der Geist der Vernunft und Wissenschaft ist hö-her als die andächtige Gottesliebe der Religion.

Hegels dialektischer Leitsatz schließt zuvor das Wunder der Liebe, dieSelbstvermittlung des Geistes und die Erfüllung des Absoluten zusammen.»Das wahrhafte Wesen der Liebe besteht darin, das Bewußtsein seiner selbstaufzugeben, sich in einem anderen Selbst zu vergessen, doch in diesem Ver-gehen und Vergessen sich selbst zu haben und zu besitzen. Diese Vermitt-lung des Geistes mit sich und Erfüllung seiner zur Totalität ist das Absolute«(TWA 14, 155). Von dem für den Verstand unbegreiflichen Wunder der Liebe

210 Teil III: Fichte

sprechen schon Hegels Entwürfe über Religion und Liebe 1797/1798. »DerGeliebte ist uns nicht entgegengesetzt, er ist eins mit unserem Wesen; wir se-hen immer uns in ihm, und dann ist er doch wieder nicht wir – ein Wunder,das wir nicht zu fassen vermögen« (TWA 1, 244). Für unseren Verstand, dereben im Element des Unterscheidens und eines einfachen Negierens seineAufklärungen betreibt, ist das ein unaufhebbarer Widerspruch. Für den spe-kulativen Geist dagegen vertieft sich die Liebe zur Lebensmacht und zumdialektischen Lebensprinzip des aufzuhebenden Widerspruchs. Er verstehtdiese Koinzidenz von Sichverlieren und Sichgewinnen des Einen im Ande-ren als den »ungeheuersten Widerspruch, den der Verstand nicht lösenkann« (TWA 7, 308). Hegels ›Theologische Jugendschriften‹ erklären dieForm des Bewußtseins, die höher ist denn alle Verstandesrefexion, alsGrundgefühl religiöser Gottesliebe. Dabei meint Liebe nicht eine Weise desGefühls neben und außer anderen, sondern jene Grundempfindung undGrundbefindlichkeit, in welcher das Leben im geglückten Lebensgefühl zusich selber findet. »In ihr findet sich das Leben selbst, als eine Verdopplungseiner selbst, und Einigkeit desselben« (TWA 1, 246). Ist Leben ein anderesGrundwort für wahres Sein und nennt Leben die absolute Lebendigkeit undgeistige Wirklichkeit Gottes, dann kommt im Gefühl der Liebe das Göttlichezur Vorstellung. »Diese Liebe, von der Einbildungskraft zum Wesen ge-macht, ist die Gottheit« (TWA 1, 242).

Nun erklärt Hegels Gipfelsatz seiner Amor-Dei-Lehre den dialekti-schen Prozeß der Liebe, die sich im anderen verliert und eben dadurch er-füllend gewinnt, als jene Vermittlung, durch welche das Absolute sich mitsich selbst vermittelt und so Totalität des All-Einen erfüllt. Spekulativ ent-faltet hat die Liebe Aufbaumomente zum Inhalt, welche die Methode unddas Leben der absoluten Idee konstituieren, nämlich »die versöhnte Rück-kehr aus einem anderen zu sich selbst« (TWA 14, 155). Das Beisichbleibenim absoluten Anderssein während der Dialektik eines Lebensprozesses, inwelchem ein Selbständiges zu sich selbst zu kommen trachtet (Thesis),sich aus Freiheit ganz ins Anderssein entäußert (Antithesis) und geradedadurch bewährt zu sich selbst findet (Synthesis), hat und behält einenfundamentalen Ausweis im Urphänomen der Liebe.

Wie aber steht es mit Eigenart und Rang religiöser Gottesliebe? Darübergibt jener Passus von Hegels Religionsphilosophie Auskunft, der Liebe undSeligkeit als Hauptformen religiösen Bewußtseins durchmustert. »Die höhe-re Einigkeit meines Selbstbewußtseins überhaupt mit dem Allgemeinen, dieGewißheit, Sicherheit und das Gefühl dieser Identität ist Liebe, Seligkeit«

3. Abschnitt: Ausblicke auf die strittige Über-, Unter- und Gleichordnung 211

(TWA 16, 127). Seligkeit macht ein Erlösungsgefühl aus, das die Schmerzender Reue und den Schrecken vor dem numinosen Tremendum abgestreifthat. Darin fühlt sich mein vereinzeltes Selbstbewußtsein zu einer höherenEinigkeit erhoben. Selige Liebe überwindet religiösen Zweifel und ungläubi-ge Ungewißheiten. Reine Gottesliebe macht die Seligkeit, in die HeiligkeitGottes aufgehoben zu sein, fühlbar und die Identität mit dem ›Ganz-Ande-ren‹ gewiß. Liebe schließt eine äußerste Gewißheit über die Identität meinergeistigen Existenz mit dem göttlichen Geist auf.

Indessen, religiöse Gewißheit bedeutet nicht schon absolute Wahrheit.Und die dem Schein der Sinnlichkeit verhaftete Innigkeit der Liebesemp-findung ist nicht höher als die Klarheit des göttlichen Begriffs. Selbstver-ständlich sind Gottesliebe, Gottesfurcht, Reue, Dankbarkeit gegenüber ei-ner rettenden, soteriologischen Macht echte Gefühle, und notwendig sollReligion in das Herz des Menschen einkehren. Als bloße Form der Gewiß-heit aber ist auch das religiöse Gefühl neutral gegen den Inhalt. Entgegen-gesetztes, Gott als das Furchtbarste wie das Gnadenvollste, aber auch Zu-fälliges, Partikulares können in dieselbe Form gefühlshafter Überzeugungeintreten. Im Gottesgefühl, zuhöchst in der Seligkeit und Freude religiöserLiebesempfindung, ist der Inhalt eben bloß zuständlich, aber nicht gegen-ständlich. Dessen wahrer Sachverhalt wird erst durch den Geist vermittelt.Erst der Geist bildet den wahren und vollen Gottesgedanken. Also ist dieLiebe in ihrer seligen Gewißheit zwar höher als alle Reflexion des unter-scheidenden und trennenden Verstandes. Aber der Geist ist höher als dieLiebe. Das reine Wunder der Liebe ist der Dialektik des göttlichen Begriffsan Klarheit, Reichweite und Tiefgang unterlegen. Zugespitzt kann dasEnde der Religion – analog zum Ende der Kunst – vermeldet werden. Mitder Religion und der Seligkeit der Gottesliebe ist es nach der Seite ihrerhöchsten Bestimmung als Gipfel der Spekulation zu Ende. Wir brauchensie nicht mehr – wir haben die Wissenschaft des absoluten Geistes.

5. Kapitel: Bewährung von Fichtes religions-philosophischer Gleichordnungder Liebe als Quellgrund und Band im Widerstreit

Fichtes Religionslehre ist nicht nur von einer orthodoxen Theologie undDogmatik angegriffen und öffentlich verrufen worden. Sie konkurriertauch im unausgetragenen Widerstreit mit Schellings später Aufgipfelungund Hegels früher Subordination der Liebe. Nun aber läßt sich Fichtes Re-ligionsphilosophie und ihr Quellgrund der Liebe gegenüber dieser großar-

212 Teil III: Fichte

tigen Konkurrenz abgrenzen und rechtfertigen. Dabei kommt gegenüberSchelling das besonnene Schauen der Gottesliebe in der religiösen Emp-findung zum Zuge. Und gegenüber Hegel kommt eine Gleichordnung vonReligion und Philosophie zum Austrag. Dabei wird die religiöse Liebes-empfindung gegenüber der schauenden Vernunfterkenntnis weder über-noch untergeordnet, sondern gleichgeordnet in eins gesehen.

In diesem Respekt bewährt sich Fichtes Schlußsatz von der Liebe alsQuelle aller Gewißheit, Wahrheit und Realität nach Vordersätzen der un-geschriebenen Lehre auch im Widerstreit mit Schellings und Hegels Erhe-bungen des Amor Dei. Es mag für einen komparativen Überblick genügen,Stellung und Tragweite des Fichteschen Satzes als Bescheid auf philoso-phische Fragen herauszustellen. Die Grundfrage problematisiert eben denZusammenhang von Sein und Dasein, von allrealem Inhalt und reflexiverForm absoluten Wissens. »Wie hängt denn nun das, in die Form schlecht-hin nicht rein eintretende Seyn dennoch mit der Form zusammen?« (GAI/9, 166). Diese Frage erwächst aus dem Befund jenes Widerspruchs, inden sich die obersten Grundsätze über Sein und Reflexion heillos zu ver-wickeln scheinen. Der Satz vom Dasein des Seins besagt ja: Das in sich ge-schlossene, absolute, schlechthin einfache und unzerteilte Sein, außer demnichts ist, ist einzig und allein da in der Lebendigkeit absoluten Wissensaußer dem Absoluten. Der Satz der Reflexion besagt: Das Sein ist da in derForm der Reflexion und erscheint damit unter jenen Spaltungsgesetzen,mit denen unser reines Bewußtsein die Welt und Natur zur Erscheinungbringt. Beides stößt auf einen Widerspruch. Einerseits tritt das Sein in dieForm reflexiven Wissens ein, sonst würde das Wissen als leere Selbstbe-spiegelung ins Nichts versinken. Andererseits tritt das Sein zugleich nichtin die Form der Reflexion ein; denn dann wäre das einfach Eine an ihmselbst in die Entzweiung dieser Bewußtseinsform und die unendliche Viel-heit seiner Erscheinungen in Raum und Zeit zersplittert. Sind also zweiBedeutungen von Sein und der Widerspruch von zwei Absoluta ohne in-neren Zusammenhang unterstellt? »Antwort: Setze nur statt Wie ein blo-ßes Daß. Sie hängt schlechthin zusammen: es giebt schlechthin ein solchesBand, welches, höher denn alle Reflexion, aus keiner Reflexion quellend,und keiner Reflexion Richterstuhl anerkennend« (GA I/9, 166).

Daß es ein Band gibt, welches absolutes Sein und reine Wissensformverbindet, ist faktisch evident. Wie, nach welchem Gesetz dieses Band ei-ner Verbindung mit dem eintretenden Absoluten entsteht, das ist gene-tisch unbegreiflich. Wohl aber läßt es sich in seinem Verhältnis zur Refle-

3. Abschnitt: Ausblicke auf die strittige Über-, Unter- und Gleichordnung 213

xion bestimmen. Weil das faktisch evidente Band die Reflexionsform desWeltbewußtseins allererst mit dem Lebensursprung reinen Wissens ver-bindet, überragt es die Reflexion dem Seinsrange und Ursprunge nach.Weil es die Reflexionsform allererst dazu befähigt, sich auf reales Wissenund Sein zu beziehen, untersteht es nicht dem Richterstuhl der Reflexion.Was aber ist das für eine Bewußtseinsart, die Tieferes erschließt als dieVerstandesform und die mit dieser mitgeht, ohne deren Spaltungen undEntzweiungen zu unterliegen? Fichtes komprimierte Antwort lautet: »Indieser Begleitung der Reflexion ist dieses Band – Empfindung: und, da esein Band ist, Liebe, und, da es das Band des reinen Seyns ist und der Refle-xion, die Liebe Gottes« (GA I/9, 166). Empfindung meint in diesem Kon-text nicht etwa das sinnliche Gefühl empfundener Sinnesdaten, wie etwadie Rotempfindung unseres Augensinnes. Es handelt sich nicht um eineästhetische, sondern um die Grundbefindlichkeit religiöser Empfindung.Deren Tiefe reicht in die innigste Bindung menschlichen Daseins, ins gött-liche Sein als Amor Dei, einer Liebe, mit der Gott sich selbst liebt in uns.»Die Liebe daher ist höher denn alle Vernunft und sie ist selbst die Quelleder Vernunft, und die Wurzel der Realität und die einzige Schöpferin desLebens, und der Zeit; und ich habe dadurch, E.V. [Ehrwürdige Versamm-lung] den höchsten realen Gesichtspunkt einer Seyns- und Lebens- undSeligkeitslehre, d.i. der wahren Spekulation, zu welchem wir bis jetzt hin-aufstiegen, endlich klar ausgesprochen« (GA I/9, 167-168).

Das hat Hegel nicht abgehalten zu verbreiten, der spätere Fichte habepopulär über Religion und Liebe geredet ohne jeden spekulativen Wert.Und Schelling ist bei seinem Vorurteil geblieben, Mittelpunkt der Religi-onslehre Fichtes sei das absolute Bewußtsein, welche den Menschen zumSchöpfer der Welt und Natur macht – Ausdruck des Irreligiösen, alles Ar-gen und Ungöttlichen im Menschen.

Unparteiisch angesehen kehrt Fichtes verrufene und böse angeklagte Re-ligionslehre die Anklage um. Das ergibt sich aus der Grundstellung undGleichordnung von religiöser und philosophischer Wahrheit angesichts sei-nes Gipfelsatzes vom Amor Dei. Hegel ordnet das religiöse Gefühl innigerGottesliebe und Gottesfurcht der geistigen Helle spekulativer Wissenschaftunter. Schelling setzt den Geist und Hauch der Liebe über den Grund unddie Existenz der Vernunftfreiheit. Beide sind vor dem Urteil Fichtes irrigeAnordnungen. Vielmehr gilt es, eine Gleichordnung auszumachen. Der Un-terschied ist lediglich der: Im Standpunkt religiöser Liebe wird das Wahre,die innige Einheit von Gott und menschlichem Dasein, gelebt, im Stand-

214 Teil III: Fichte

punkt der Wissenschaft ist diese Wahrheit in den notwendigen Bedingun-gen ihrer Möglichkeit formal erschaut. Die Wissenschaft steht nicht über derReligion. Sie klärt lediglich den von der Religion auch weltgeschichtlich vor-gegebenen göttlichen Wahrheits- und Lebensgrund auf.

4. Abschnitt: Apologien zu zwei verrufenen populären Schriften in ihrem Zusammenhang

Schellings vernichtendes Urteil über Fichtes verbesserte Lehre als Vorspiege-lung verworrener Grundbegriffe, demagogischer Rhetorik, künstlicher Vor-stellungen und einer halbherzigen Religion schlägt auch staatspolitisch undzeitgeschichtlich durch. Fichtes philosophische Ansichten erniedrigten diedeutsche Nation und förderten den verheerenden Zustand, welcher derdeutschen Nation mit hoher Wahrscheinlichkeit bevorstünde. In einemBrief vom November 1806 aus dem von Kriegsnot verschonten und mit Na-poleon verbündeten Bayern schrieb Schelling an Josef Hieronymus Win-dischmann (1775-1834), Arzt und Professor der Philosophie und Geschichtein Aschaffenburg: »Fichtesche Philosophie, Staatsansicht und halbherzigeReligionslehre wäre der Weg zur vollkommenen Niedrigkeit der deutschenNation in den Zustand, der ihr wahrscheinlich bevorstehe. Was wollte manwohl mit solchen Begriffen und verworrenen künstlichen Vorstellungennoch ausrichten und wirken?« (FG IV 2). Und am 11. Juni 1807 berichtetSchelling an Hegel von seinem Plan, einen zweiten Anti-Fichte zu verfassen,und zwar über die Fichteschen Ansichten vom Leben wie vom Staat. »Dennman kann sagen, daß sein blindes Wehren gegen das Zeitalter der Instinktist, der ihm selbst sage, daß er demselben ganz gleich und homogen ist« (FGIV 17). Schon der erste Anti-Fichte hatte Fichtes weltgeschichtliche Diagnosedes Zeitalters der vollendeten Sündhaftigkeit gegen ihn selbst verkehrt. »Wirhatten ihm nachgewiesen, daß er das eigentliche Princip der Sünde, die Ich-heit, zum Princip der Philosophie gemacht [...]; nun erklärt er eben diesesZeitalter für das Zeitalter der vollendeten Sündhaftigkeit« (W III 620 = SWVII 20).

Das bezieht sich auf Fichtes geschichtsphilosophische Schrift Grundzügedes gegenwärtigen Zeitalters, vorgetragen im Winter 1804/1805, und erstrecktsich letztlich auch auf die politischen Reden an die deutsche Nation, die erst1808 veröffentlicht wurden. Die philosophiegeschichtlichen Grundzügenämlich stellen die politische und historische Analyse unseres Zeitalters inihre Voraussetzungen, die Epochengliederung eines apriorischen Weltplans,

4. Abschnitt: Apologien zu zwei verrufenen populären Schriften 215

ein. Darum konnten Fichtes Reden, sofern und soweit sie isoliert beurteiltund verurteilt wurden, verkannt und mißverstanden werden. Das wiegt dar-um schwer, weil sowohl die Geschichtslehre der epochalen Grundzügeebenso wie die politischen Anweisungen der Reden an die Nation Anwen-dungsdisziplinen sind, in denen der philosophische Geist und seine Freiheitauf das geschichtliche Leben und politische Handeln zur Anwendung kom-men. So liegt viel daran, die Wahrheitsansprüche auch dieser populärenSchriften im Widerstreit gegen ungerechte Anklagen und gegen verheeren-de Mißbräuche zu verteidigen.

1. Kapitel: Korrigierender Bericht über die Wirkungsgeschichte der Reden an die deutsche Nation 1807/1808

Eine Apologie Fichteschen Geistes hat vor allem diese politischen Redengegen vielfältige Anklagen und schändliche Denuntiationen in Schutz zunehmen. Im Laufe einer verfehlten Wirkungsgeschichte wurde Fichte alsTheoretiker des preußischen Nationalismus herausgestellt, als Heros einerWeltkriegsphilosophie im Jahre 1914 ausgerufen, als Vorläufer des völki-schen Nationalismus gleichgeschaltet und am Ende als fanatischer Antise-mit, der den Holocaust vorgeplant habe, an den Pranger gestellt. SolcheEntstellungen sind immer noch im Schwange. Mithin sind vorzüglich jeneangezeigten vier Vorurteile zu untersuchen, welche den Redner an diedeutsche Nation zum großpreußischen Chauvinisten machten, als geisti-gen Führer der Weltkriegsbegeisterung anläßlich seines 100. Todestages1914 beschworen, zum Vorläufer des Nationalsozialismus abstempeltenund als radikalen Antisemiten denunzierten, der den Mord an allen Judenin einer Nacht in Vorschlag brachte. Träfe das wirklich zu, dann wäre derUngeist der Fichteschen Philosophie in seinen Untaten entlarvt, da er hiereben in seiner Anwendung auf die geschichtliche Zeit und auf das poli-tisch-nationale Leben zur Rede steht.

Revidiert werden kann zuerst das eingebürgerte, hartnäckige Pauschal-urteil, welches die vierzehn Reden, mit denen Fichte im französisch besetz-ten Berlin unerschrocken die deutsche Nation aufruft, sich durch eine geis-tige Reform in Besinnung auf ureigene Kräfte vom machtbesessenen Napo-leonischen Ungeist zu befreien, als preußisch-nationalistische Proklamationversteht, welche das Ideal des politischen Universalismus ins Deutsch-Nati-onale ummünzt, die Staatsform der Republik aufgibt und den großpreußi-schen Nationalismus des Kaiserreiches hervorruft. Dagegen spricht allein

216 Teil III: Fichte

schon die Stellungnahme einer Zentraluntersuchungskommission zu Mainzaus dem Jahr 1825 im Zuge der Restauration: In den Reden an die deutscheNation finde ein Hinstreben zur Republik als dem vollkommensten StandeAusdruck; daher sei sie in die Liste von Schriften und Personen aufzuneh-men, die verdächtig seien, demagogische Umtriebe zu befördern.17 Darauf-hin ist in Berlin der Neudruck dieser Reden verboten worden. – Von Wil-helm II. ist das markige kaiserliche Wort überliefert: »In meinem Reiche istfür Kerle wie Hegel oder Fichte kein Platz.« Unstreitig wurde Fichte ande-rerseits als Theoretiker des preußischen Nationalstaates gepriesen, etwadurch Heinrich von Treitschke, dessen Traktat Fichte und die nationale Idee,1865 zwar rhetorisch glanzvoll, philosophisch aber ahnungslos ist. Genauerzugesehen und quellenmäßig belegbar war Fichte niemals Preuße als reinerPreuße. In Der Patriotismus und sein Gegentheil, 1806 hat er niedergelegt,daß jener »dunkle und verworrene Begriff eines besonderen PreußischenPatriotismus eine Ausgeburt der Lüge [...] sey« (GA II/9, 404).18

Fichte zufolge ist Patriotismus überhaupt der Wille, der den Zweck desDaseins des Menschengeschlechts über das ganze Geschlecht verbreitet,ohne daß dadurch die Begriffe ›Nation‹ und ›Vaterland‹ entleert und weg-geworfen werden. Zudem hat Fichte, was übersehen zu werden pflegt, dieIdee ›Europa‹ – anders als Novalis – vorgedacht. Das wahre Vaterland derDeutschen sei das gemeinsame Europa (nicht etwa ein pangermanischesGroßdeutschland). Das christliche Europa sei in seinem Wesen ein ge-meinsamer Kulturstaat von Recht und Freiheit, »da die christlichen Euro-päer im Wesen, alle nur Ein Volk sind, das gemeinsame Europa für dasEine wahre Vaterland anerkennen [...]. Sie suchen persönliche Freiheit,Recht und Gesetz, das allen gleich sey [...]. Sie suchen die Freiheit, nach ih-ren religiösen und wissenschaftlichen Principien zu denken« (Grundzüge14. Vortrag; GA I/8, 358).

Ferner gehört zur unglückseligen Überlieferungsgeschichte auch, daßund wie Fichte beim Ausbruch des Weltkrieges im August 1914, dem100jährigen Todesjahr des Redners an die deutsche Nation, als Weltkriegs-

17 Zu diesem Komplex vgl. H. Lübbe: Politische Philosophie in Deutschland, 1974. –W. H. Schrader: Nation, Weltbürgertum und Synthesis der Geisterwelt, 1990.

18 Vgl. R. Lauth: Der letzte Grund von Fichtes Reden an die deutsche Nation, 1992. –E. Fuchs: Spuren Fichteschen Denkens in der Deutschen Nationalbewegung 1813-1871, 1996.

4. Abschnitt: Apologien zu zwei verrufenen populären Schriften 217

philosoph im Klima bildungsbürgerlicher, kaiserlicher Nationalbegeisterunggefeiert und für den deutschen Opfer- und Siegeswillen beschworen wurde.So tönte die Rostocker Universitätsrede des Historikers Hermann Reincke-Bloch Fichte und der deutsche Geist von 1914: In diesem Kriege, dem Ringenum die Weltkultur, herrsche der deutsche Geist Fichtes, ein Geist der Opfer-bereitschaft, ein Geist zu siegen und zu sterben für die Gesittung derMenschheit. Der Pädagoge und verirrte Philosoph Ernst Bergmann erklärtein Der Erzieher zum Deutschtum, 1915: Das Deutschtum sei nach Fichte alseinziger Stamm der verwahrlosten Menschheit zur Veredelung der Bildungund zur Organisation schöpferischer Kräfte fähig; so werde das »bestorgani-sierte Volke der Erde« das heilige Ringen wider eine Welt von Feinden be-stehen und als unerschütterliche Macht über den Europäischen Frieden undFortschritt walten. Selbst ein Paul Natorp schließt sich als Kulturkriegsideo-loge in Der Tag der Deutschen, 1915 an Fichtes angeblichen Gedanken vomKampf des deutschen Volkes für das Ganze der Menschheit in einem Geistean, sich für ein Unsichtbares aufzuopfern. Schließlich hängt sich auch Wer-ner Sombart in seinem Pamphlet Händler und Helden, 1915 für das heldischeDeutsche gegen das händlerisch Englische an Fichte, der die reinigende underhebende Wirkung des Krieges als Opfergang für Volk und Staat erkannthabe.

Und diese nationalistische Fichte-Verfälschung von 1914 konnte nichtnur auf die Vorkriegsrezeption im Geiste der Kaiser-Einheits-Nationalbewe-gung, etwa im Aufruf von Rudolf Eucken Sammlung der Geister, 1913 zu-rückgreifen, sie wirkte auch weiter, etwa durch die weitflächig organisierteFichte-Gesellschaft von 1914, die in die Zeit nach 1918 hineinwirkte und sichin Schlagworten wie ›Volksgemeinschaft‹, ›positive Auslese der Besten desVolkes‹, ›Primat der Tat‹, ›Volkserziehung‹ und ›Gesinnungsgemeinschaft‹,aber auch ›völkische Arbeit der Deutschkämpfer‹ oder ›Weltführung derDeutschen‹ niederschlug: »Fichte unser Führer!«19

19 Belege für diese Quellen sind in den lehr- und perspektivenreichen Abhandlungenzu finden: J. Nordalm: Fichte und der ›Geist von 1914‹, 1999. – K.-M. Kodalle: DerStellenwert der Historiographie in Fichtes Geschichtsdenken, 1997.

218 Teil III: Fichte

2. Kapitel: Exkurs. Verteidigungen gegen die Anklagen des Antisemitismus und des Judenmordes

Noch unerträglicher ist die schreckliche Simplifizierung, welche den RednerFichte, insofern er doch den Glauben an den völkischen Geist zur Neuge-staltung des deutschen Volkes propagiere, zum Vorgänger des fanatischenDemagogen Hitler stilisierte (so Paul Menzer 1934). Und noch immer zähltman Fichte zu den Vordenkern des Nationalsozialismus, welcher die Ideevon Blut, Boden und Rasse ins allgemeine Bewußtsein einpflanzte.20 Dage-gen spricht deutlich genug Fichtes 4. Rede. Diese stellt rassische Reinheit alsunwichtiges Moment ausdrücklich beiseite und entzieht sich einem biologi-schen Rassismus vollständig, indem sie ein Volk als Sprachnation zu definie-ren sucht. Es ist diese Stunde der Reden vom 3. Januar 1808, welche die geist-volle Jüdin Rahel Levin als »meinen einzigen Trost, meine Hoffnung, kurzmeinen Reichthum« aufgenommen hat (FG IV 102). Und Hannah Arendtstellt in ihrer berühmten Untersuchung über die Ursprünge totalitärer Herr-schaft klar: Im Werke Fichtes sei von völkischen Vorstellungen im Sinnespezifischer Rassenelemente nichts zu finden; Fichte sei zu Unrecht so viel-fach für die Entstehung der Rassenideologie verantwortlich gemacht wor-den.21

Gleichwohl hat sich bis heute die Denunziation durchgehalten, der An-tisemit Fichte habe zum Judenmord aufgerufen. Da verweist man aufFichtes im Gedenken an den Holocaust wirklich fürchterlich klingendenSatz: »Den Juden Bürgerrecht zu geben, dazu sehe ich wenigstens keinMittel als das, in einer Nacht ihnen allen die Köpfe abzuschneiden und an-dere aufzusetzen, in denen auch nicht eine jüdische Idee sei« (GA I/1, 293).Das ist, aus dem Argumentationszusammenhang gerissen, als Dokumentdafür ausgestellt worden, daß die staatspolitische Philosophie Fichtes radi-kal antisemitische Züge trägt, mehr noch, daß sich der völkische Rednerals Vorläufer der Nazigreuel, einer ›Nacht der langen Messer‹ und alsWortführer für die Vertilgung und Vertreibung der Juden entlarvt.

20 Vgl. P. Menzer: Deutsche Philosophie als Ausdruck der deutschen Seele, 1934. –Und neuerdings D. Mendlewitsch: Volk und Heil. Vordenker des National-sozialismus, 1988.

21 H. Arendt: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, 1962, 256. – R. Pesch: Diepolitische Philosophie Fichtes und ihre Rezeption im Nationalsozialismus, 1982; dieseStudie geht der nationalsozialistischen Umdeutung Fichtes im einzelnen nach.

4. Abschnitt: Apologien zu zwei verrufenen populären Schriften 219

Dagegen ist vieles einzuwenden und alles richtigzustellen. Zum einen:dieser verrufene Satz resultiert nicht aus Prinzipien der Wissenschaftslehre,er steht in Fichtes Beytrag zur Berechtigung der Urteile über die FranzösischeRevolution. Diese ist im Winter 1792/93 vor der Aufstellung des philosophi-schen Systems niedergeschrieben worden. Nun deduziert Fichte in seinenfrühen Revolutionsschriften bekanntlich, von der idealen Sache der franzö-sischen Freiheitsbewegung bewegt, das unveräußerliche Recht auf Denkfrei-heit und deren rechtmäßige Frucht, die Revolution, und zwar unter demGesichtspunkt von Staatsordnung und Sittengesetz. In diesem Zusammen-hang stellt sich die zeitgenössische ›Judenfrage‹ als Problem eines Staates imStaate. Das betrifft jegliche sich aussondernde Gemeinschaft, etwa auch denAdel oder das Militär, aber auch andere Religionsgemeinschaften. Wie schiefFichte hierbei auch »das auserwählte Volk«, den falschen Gott der »zumKleinhandel verdammten« Juden charakterisiert, er erblickt in ihrer Heraus-sonderung eben einen Staat im Staate. Dessen Mitgliedern komme keinBürgerrecht zu, wohl aber alle Menschenrechte; denn sie sind Menschen. Soist die erschreckende Rede vom Abschneiden und Auswechseln der Köpfekeine Anstiftung zur Ausrottung einer Rasse, sondern eine drastische Meta-pher für die völlige Umwendung der Ideen des Bewußtseins zum Bürger-sinn und allgemeinen Menschenrechten. Dazu gehören in diesem KontextFichtes Vordersätze: »Menschenrechte müssen sie haben [...]. Zwinge keinenJuden wider seinen Willen und leide nicht, daß es geschehe, wo du dernächste bist, der es hindern kann; das bist du ihm schlechterdings schuldig«(GA I/1, 293).

Zum anderen: daß Fichte in seinem Leben und Handeln selbst diese Ma-xime befolgt hat, bezeugen etwa seine »grenzenlose Achtung« gegen den jü-dischen Philosophen Salomon Maimon (vgl. GA III/2, 282), seinen geistigenKontakt mit bedeutenden Juden in Berlin, sein rückhaltloses Eintreten fürden mißhandelten jüdischen Medizinstudenten Joseph Leyser Brogi alsRektor gegen den Senat der Universität oder die Trauer von Rahel Levinüber Fichtes Tod: »Deutschland hat sein eines Auge zugethan [...]. Nun kannjeder Unverstand, Lüge, Irrthum auf den ganzen Grund und Boden derErde umherwuchern [...]; keiner rottet es mehr aus« (An Varnhagen, 14. Fe-bruar 1914).22

22 Vgl. dazu die aufklärenden, neues Material beibringenden Studien von E. Fuchs:Fichtes Stellung zum Judentum, 1990. – H.-J. Becker: Fichtes Idee der Nation und

220 Teil III: Fichte

Also sind die fortlaufenden Vereinseitigungen und Verdächtigungen vonFichtes Reden maß- und bodenlos. Sie entbehren jeder historischen wie ge-danklichen Grundlage. Opportunistisch ausgeschlachtet werden bestimmteSätze quellenmäßig isoliert, aus ihren geistigen Zusammenhängen und sys-tematischen Fundierungen herausgerissen. Nicht zuletzt ignorieren dieschroffen Anklagen und böswilligen Schmähungen den Umstand, daß Fich-te seine Reden über die politisch-militärisch-geistige Situation einer Kriseder deutschen Nation als Fortsetzung der vorangegangenen Grundzüge desgegenwärtigen Zeitalters, der unter großem Beifall aufgenommenen Vorträgevom 4. November 1804 bis 17. März 1805, angekündigt hat. Demnach sinddie Reden in den Horizont einer eigenen Geschichtsphilosophie einzuord-nen und sogar, was noch weniger bedacht wird, in einen religionsphiloso-phischen Kontext zu stellen.

Fichtes geschichtsphilosophische Konstruktion eines ›Weltplans‹ sieht janicht die Weltherrschaft eines Volkes über alle anderen Völker vor. Vielmehrerklärt Fichte: Jede Nation sei Hülle des Göttlichen und stehe unter einembesonderen Gesetz der Entwicklung. Es sei dieses nie ganz zu enthüllendeGesetz, welches den Nationalcharakter bestimmt. »Jenes Gesetz bestimmtdurchaus und vollendet das, was man den Nationalcharakter eines Volkesgenannt hat; jenes Gesetz der Entwicklung des ursprünglichen und göttli-chen« (GA I/10, 201). Daher ist es ein Widerspruch, die Republik von Völ-kern, die einen Nationalcharakter haben, auf die deutsche Nation zu redu-zieren; denn alle sind ein Widerschein des Göttlichen.23

3. Kapitel: Epochale Kennzeichnung unserer Krisenzeit durch den Weltalterentwurf. Vorgaben der Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters 1804-1805

Um die weltgeschichtliche Stunde der deutschen Sprachnation, von der dieReden an die deutsche Nation handeln, nicht zu mißdeuten, ist es also un-umgänglich, sie in die geschichtsphilosophische Perspektive zurückzustel-

des Judentums, 2000. – H. Traub: J.G. Fichte, der König der Juden spekulativer Ver-nunft, 2003.

23 I. Radrizzani: Ist Fichtes Modell des Kosmopolitismus pluralistisch?, 1990. Unter-sucht wird die Tragfähigkeit der Synthese von Nationalismus und Kosmopolitis-mus, von Patriotismus und Weltbürgertum, und es wird nachgewiesen, daß Fichtespluralistisches Modell des Kosmopolitismus eine religiöse Grundlage besitzt.

4. Abschnitt: Apologien zu zwei verrufenen populären Schriften 221

len, welche Fichtes Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters in den Winter-vorträgen 1804 bis 1805 eröffnet hatten. Diese spezielle Aufgabe kann sichdarauf konzentrieren, die politischen Reden in einer Zeit der Not und Un-freiheit von Einsichten in den Geist und Ungeist des gegenwärtigen Zeital-ters her zu beleuchten. Hierbei bleibt die relativ spät einsetzende Entwick-lung des Fichteschen Geschichtsdenkens – von den Berliner Logen-Vorträ-gen, den sogenannten Briefen an Konstant von 1799/1800 bis zur Grundfra-ge »Was ist Geschichte überhaupt?« als Grundlage für eine Deduktion desGegenstandes der Menschheitsgeschichte im 9.-15. Vortrag der Staatslehre1813 – abgeblendet.24 Ebenfalls beiseite bleibt auch der kontroverse Zusam-menhang von geschichtsphilosophischer und religionsgeschichtlicher Deu-tung des berühmt-berüchtigten ›Weltplans‹, insbesondere das problemati-sche und in der Forschung umstrittene Verhältnis der Konstruktion vonfünf Zeitaltern in fünf Geschichtsperioden und einem anderen Schema vonzwei Hauptepochen, nämlich der Alten und der Neuen Welt, deren Zeiten-wende Jesus bildet, durch welchen die wahre Religion in die Geschichte ein-tritt.25

Wohl aber verdienen die transzendentale Reflexion auf die apriorischenGrundmomente der Geschichtserkenntnis wie eine kritische Besinnung aufdie Grenze philosophischer Geschichtskonstruktion Beachtung. Dadurchsollten Einwände, welche Fichtes Geschichtsauffassung als heillose Vermi-schung von Spekulation und Empirie abtun, etwa Schleiermachers Rezensi-onen dieser Schrift, in sich zusammenfallen. Kritisch zugesehen, hat die Ge-schichtserkenntnis eine apriorische Struktur und ein empirisches Feld. DerGeschichtsschreiber und Historiker ist autonom, sofern und soweit er zeit-geschichtliche Fakten aufsucht, sicherstellt und in ihren Zusammenhängenund Aufeinanderfolgen verständlich macht. Aber er nimmt, sei es thema-tisch oder unthematisch, Bezug auf Grundfragen der Art »Was ist Geschich-te? Was ist ihr Anfang und was ist ihr Ziel? Gibt es Vernunft, Einheit, Vollen-dung in der fortfließenden geschichtlichen Zeitreihe?« Mithin ist es das Ge-

24 Vgl. dazu die grundlegenden Studien von K. Hammacher: Comment Fichte accèdeà l’histoire, 1962. – R. Lauth: Der Begriff der Geschichte nach Fichte, 1965.

25 Ein Konkurrenzverhältnis von zwei Schemata in Fichtes Geschichtskonzeption hatW. Metz: Die Weltgeschichte beim späten Fichte, 1990 herausgestellt. – Gegen dieseThese einer doppelten Geschichtskonzeption hat J. Heinrichs ausgleichend argu-mentiert: Die Mitte der Zeit als Tiefpunkt einer Parabel. Fichtes Geschichtskonst-ruktion und Gründzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 2003.

222 Teil III: Fichte

schäft des Historikers, empirisch faktisch die Umstände, Orte, Datierungen,Anlässe und Hintergründe, Täter und Opfer des jeweiligen Geschehnissesfest- und zusammenzustellen. Beruf des philosophischen Gelehrten ist es,Sinn und Ziel der Menschheitsgeschichte und von da die Grundzüge auchunseres Zeitalters apriori einsichtig zu machen. Von dieser Vorklärung ausist der apriorische Entwurf des Weltplans und damit die Konstellation desgegenwärtigen Zeitalters in Rücksicht auf die geschichtliche Situation vonFichtes Aufruf an die deutsche Nation zu beachten. Niemand kann dieGrundzüge eines besonderen Zeitalters erfassen, der nicht einen Einheitsbe-griff der Geschichte besitzt, aus dem sich die Vielheit der Epochen herleitenläßt. Dieser Einheitsbegriff beruht auf Fichtes vielzitiertem Grundsatz: »DerZweck des Erdenlebens der Menschen ist der, daß sie in demselben alle ihreVerhältnisse mit Freiheit nach der Vernunft einrichten« (GA I/8, 198).26

Dieser Satz der Weltgeschichte aus Prinzipien einer Vernunftwissen-schaft betrifft die Menschheit in ihrem Gattungsleben, dergestalt, daß diepersönliche Geschichte jedes Individuums sich mit der Geschichte alleranderen zur Gemeinsamkeit einer Aufgabe verknüpft. Die Menschheitinsgesamt also – und erst dadurch vermittelt die Völker, Nationen undweltgeschichtlichen Individuen – fungiert als Subjekt der Weltgeschichte.Nun fächert sich nach Prinzipien der ungeschriebenen Lehre die materialeKorrelation alles menschlichen Bewußtseins vernunftgemäß fünffach auf,nämlich in die Relation zur Natur (einschließlich der Verhältnisse vonTechnik und Kultur), in die bürgerlichen Verhältnisse des Rechts und desStaates (einschließlich der von Not- und Vernunftstaat), in die sittlichenVerhältnisse (einschließlich der Abstufung in niedere und höhere Morali-

26 M. Ivaldo: Zur Geschichtserkenntnis der Transzendentalphilosophie, 1994 hat diebegrifflichen Mittel, mithilfe derer die Geschichtserkenntnis im Rahmen der trans-zendentalen Geschichtslehre erfaßt werden kann, ebenso deutlich gemacht wie dieunterschiedlichen Bahnen, auf denen empirische und philosophische Geschichts-erkennntnis verlaufen. Zudem ist die Mittelstellung Fichtes erhärtet, die sich so-wohl gegen eine historisierende Reduktion des philosophischen Geschichtswissensals auch gegen eine spekulative Übermächtigung der empirischen Geschichtswis-senschaft wendet. – Die Thesen von K.-M. Kodalle: Der Stellenwert der Historio-graphie im Kontext des Fichteschen Geschichtsdenkens, 1997 stellen solche Ver-mittlung in Frage. Fichte mute dem Apriorismus zuviel zu, mit der Folge, daß diekonkrete, unberechenbare geschichtliche Freiheit des Individuums abhanden kom-me. Daher könne Fichte eine überzeugende Aufgabenverteilung zwischen Ge-schichtsphilosophie und Historiographie nicht liefern.

4. Abschnitt: Apologien zu zwei verrufenen populären Schriften 223

tät), in die religiösen und kirchlichen Verhältnisse und schließlich in dieder Wissenschaft (einschließlich aller Erziehungseinrichtungen). Wie allediese Verhältnisse nun eingerichtet sind, daran bemessen sich Zustand,Verfall und Fortschritt der menschlichen Gattung in den geschichtlichenZeitläufen des Erdenlebens.

Dabei sollen die Menschen alle diese Verhältnisse mit Freiheit einrichten.In Fichtes Vernunftsystem ist auch die Geschichtsphilosophie Analyse derFreiheit. Das schließt jede Art von Geschichtsdeterminismus und Prädeter-mination ebenso aus wie den Gedanken einer organischen Entfaltung, alswäre die Weltgeschichte eine große Pflanze, welche duch die zeitlich-konti-nuierliche Entwicklung von selber blühe und welke. Geschichte ist eine Rei-he konkreter Freiheitsmöglichkeiten und eine Kette von Aufgaben in der ge-sellschaftlichen Mitwelt als Auswirkung von Freiheitszentren mit einer sozi-alen Dimension.27 Mithin ist die Konkretisierung des apriorischen Welt-plans der Freiheit anheimgegeben. Die vernunftbestimmte Erscheinung dergeschichtlichen Wirklichkeit ist Sache einer Selbstbestimmung unter demGebot eines ›historiologischen Soll‹: Soll die Vernunftidee in allen zwischen-menschlichen Verhältnissen faktisch historisch wirklich werden, dann mußunsere unableitbare Freiheit zur Tat schreiten.

Dabei ist auf Neufassungen der ungeschriebenen Lehre zu achten. Frei-heit kommt nicht mehr schlechthin als absoluter, aus sich selbst lebenderSelbstvollzug autarken menschlichen Willens zu Wort, der sich in autono-mem Handeln auswirkt, alle Widerstände sukzessive überwindet und allesin gesellschaftlich-geschichtlicher Welt unter das Gesetz seiner freienSelbstbestimmung stellt. Freiheit ist, tiefer gesehen, die Entsprechung zueinem geschichtlich auffordernden Soll. Das Ich und ›Wir‹ sollen sichselbst zu dem machen, was wir sind, nämlich Bild und Ausdruck göttli-chen Vernunftlebens. Solches Sichmachen als Manifestation und Äuße-rung ursprünglicher Freiheit gewinnt eine geschichtliche Dimension,wenn das Zurückkommen auf sich auf solches zurückkommt, was schonaus Freiheit gesetzt und entworfen war. Mithin kann und soll der absolute

27 Zur Erschließung des Zusammenschlusses von gesellschaftlicher Welt und Ge-schichte vgl. H. Heimsoeth: J. G. Fichtes Aufschließung der gesellschafts-geschichtlichen Welt, 1962. – Zur transzendentalen Herleitung von Zeitlichkeit, Ge-schichtlichkeit, Interpersonalität in gehöriger Abhebung gegen die Historie und dasHistorische vgl. R. Lauth: Der Begriff der Geschichte nach Fichte, 1964/65.

224 Teil III: Fichte

Vernunftgehalt der Geschichte in die Freiheitsform treten. Unter den An-spruch dieses Soll stellt Fichte den Anspruch der Menschheitsgeschichte.»Diese Freiheit soll in dem Gesammtbewußtseyn der Gattung erscheinen«(GA I/8, 198).

Auf diesen Grundzügen beruht die Fünffachheit des Weltplans imSchema eines historiologischen Soll. Soll eine humane Welt aus Freiheit alsAusdruck ewiger Vernunftwerdung im Erdenleben des Menschenge-schlechts eingerichtet werden, dann muß es fünf Geschichtsepochen ge-ben können. Notwendig zu denken ist zuerst eine Hauptepoche, in wel-cher die Vernunft noch ohne emanzipierte Freiheit herrscht. Und soll es zusolcher Emanzipation kommen, dann muß sich die erste Epoche überzwei Perioden ausdehnen. Anfangs nämlich erscheint die Vernunft im Be-wußtsein unseres schlichten Gefühls für das Wahre und Rechte. Der para-diesische status naturalis aber ist für Fichte – gegen Rousseaus Auffassung– Welt der Dunkelheit im Schatten der Selbstlosigkeit. Darauf muß einePeriode folgen, in welcher die Vernunft als äußere Autorität erscheint undauf Völker und Menschen Zwang ausübt. Dem erst folgt das Weltalter derKlarheit und Freiheit. Aber auch hier heben sich zwei Perioden voneinan-der ab. Zuerst blüht die Vernunftwissenschaft auf, und zwar mit dem Ein-setzen der Vernunftkritik im Anfange der Neuzeit. Diese Epoche war undist der Welttag der Philosophie. Erst wenn sich diese wahre Aufklärungeinmal durchgesetzt haben sollte, kann das vollendete Ende der Geschich-te anfangen. Da kehrt die Menschheit mit Freiheit in ihren integren An-fang zurück. Das wäre das Zeitalter einer Vernunftkunst, d.i. einer Wissen-schaft weltumschaffender Praxis. Durch sie werden alle sozialen, rechtlich-staatlichen, sittlichen und religiösen Verhältnisse im Zurückdrängen vonBarbarei und Diktatur menschenwürdig nach der Vernunft von Men-schenrechten und Menschenpflichten eingerichtet sein. Solches Zeitalterim Durchringen der Freiheit wird nach Fichtes Überzeugung heraufkom-men, und mag das Jahrtausende dauern.

Nach bisheriger Deduktion folgen vier Epochen im Weltplan einerapriorischen Vernunftgeschichte aufeinander: die Epochen des Vernunft-instinktes, der Vernunftautorität, der Vernunftwissenschaft und der Ver-nunftkunst. Aber es muß ein fünftes Weltalter geben, eine Zwischen- undKrisenzeit, welche die einander ausschließenden Epochen der Nichtfrei-heit und Freiheit miteinander verbindet. Da lebt die Freiheit aus dem Pa-thos einer Erhebung gegen Zwangsherrschaften. Aber dieser Befreiungs-wille ist zweideutig. Unmittelbar reißt sich die Menschheit einer halben

4. Abschnitt: Apologien zu zwei verrufenen populären Schriften 225

Aufklärung vom blinden Gehorsam gegenüber repressiven Autoritäten los.Mittelbar aber weigert sie sich, fortan überhaupt zu gehorchen, d.h. über-haupt noch auf die Stimme des ›autoritären‹ Vernunftgebotes zu hören.Was so zur Vorherrschaft kommt, ist die formale Freiheit der sich selbstauslassenden Willkür. Der Zeitgeist dieser dritten Mittelperiode sprichtsich in der Maxime aus, »durchaus nichts als seyend und bindend geltenzu lassen, als dasjenige, was man verstehe und klärlich begreife« (GA I/8,209). Auch diese Maxime ist zweideutig. Einerseits klingt sie wie der Wahl-spruch der Aufklärung im Aufbruch der Vernunftwissenschaft. Sie scheintKants Übersetzung des Horazschen ›sapere aude‹: Habe Mut, dich deineseigenen Verstandes zu bedienen! zu folgen. Andererseits führt sie gar nichtaus der selbstverschuldeten Unmündigkeit heraus. Das Richtmaß dessen,was ›man‹ begreift und was ›man‹ sein und gelten läßt, setzt der ›gesunde‹,der nivellierende Menschenverstand fest. Der platte Menschenverstandaber hält alles Übersinnliche, ›Metaphysische‹ seinsmäßig für abstrakt undleer, theoretisch für unausweisbar, praktisch für unerreichbar und sprach-lich für sinnlos. Folgerichtig führt auf dem Markte der Meinung ein rück-sichtsloser Individualismus das Wort, da ja alles Allgemein-Ideenhaftepseudokritisch verrufen und beseitigt ist. Es ist diese zweideutige Geistes-haltung, in welcher die eigentliche Not des gegenwärtigen Zeitalters wur-zelt und welche Fichtes Reden im Vorblick auf die anbrechenden Epocheder freiheitlich wirkenden Vernunft unter den Leitungen einer Vernunft-wissenschaft und Vernunftkunst wenden will.

4. Kapitel: Die Reden an die deutsche Nation in ihrer geschichtlichen Zeit.Zur Diagnose und Therapie unserer Epoche »vollendeter Sündhaftigkeit«

Der Weltplan Fichtes gibt einen Blick auf den epochalen Charakter des ge-genwärtigen Zeitalters frei. Das sei der Krisenzustand »vollendeter Sündhaf-tigkeit«, beseelt von einer radikalisierten Aufklärung, welche auf die Kraftder Kritik schwört, die sich zu Recht gegen eine durch äußerliche Gewaltaufgezwungene despotische Autorität auflehnt. Das ist heilsgeschichtlich ge-sprochen sündhaft, sofern es sich auf das Prinzip individueller Selbstsuchtund Selbstverwirklichung unter den Maßstab persönlichen Wohlstandes alsdem höchsten Gut stellt. Dabei hat solch kümmerliche Weltsicht einer fla-chen Aufklärung und bornierten Rationalität eine irrationale Rückseite, eineutopische Schwärmerei als Flucht ins Unklare. Aus dieser Farbenmischungvon rationaler Aufklärung und irrationalem Utopismus hat Fichte das Ge-

226 Teil III: Fichte

mälde unserer Mitwelt ausgemalt. In ihm sind Züge der Gedankenlosigkeit,einer uneigentlichen Langeweile, des bösen Spottes und eines schalen Wit-zes, der denkfaulen Lesegier, der schrankenlosen Meinungsfreiheit, die einerwahren Denkfreiheit spottet, eingezeichnet. Liegt es etwa angesichts vonHeideggers Phänomenologie unseres in Gerede und Öffentlichkeit, Neugierund Zerstreuung, Zweideutigkeit und Betriebsamkeit, Verfallen und Ent-fremdung, Einebnung und Abständigkeit aufgehenden, modernen, selbst-süchtig nivellierten, ins Man führenden, uneigentlichen Dasein (Sein undZeit §§ 35-38) nicht nahe, unsere Zeit immer noch als Weltalter vollendeterSündhaftigkeit zu verstehen?

Von hier aus kann eine Besinnung auf Fichtes Geschichtsauffassung alsFortschreiten im Bewußtsein der Freiheit durch die Krisenzeit der in Zwei-deutigkeiten verfallenen Vernunftaufklärung hindurch den Beweggrundvon Fichtes Reden an die deutsche Nation in geschichtlicher Krisenzeit be-leuchten. Ihr Grund und Zweck liegt nicht darin, in pathetischem, demago-gischem Aufruf den preußischen Nationalismus zu erwecken oder völkischUrkräfte des deutschen ›Urvolkes‹ zu verherrlichen und schon gar nicht ineiner antisemitischen Hetze, allen Juden in einer Nacht die Köpfe abzu-schneiden. Die eigentlich tragende Absicht dieser Reden besteht darin, Ein-sicht in die tieferen Ursachen der Niederlage und des Niedergangs einesVolkes zu geben, um das Menschengeschlecht überhaupt vor Herabwürdi-gung zu wahren, zugleich aber auch, um auf Bedingungen für eine ge-schichtliche Zukunft hinzuweisen, in welcher die Nöte äußersten Verfallensüberwunden sein werden.

Der letzte Grund für den Ruin eines Volkes ist eben die Heraufkunftdes Ungeistes totaler Selbstsucht des egoistischen Individuums, das gegendie Zwecke der Menschheit gleichgültig geworden ist und im Zuge antiau-toritärer Aufklärung einzig und allein um das je eigene Wohlsein besorgtist. Die sittliche Verderbtheit einer ganzen Nation an Haupt und Gliedernalso ist der tiefere Grund ihres geschichtlichen Unterganges. Im selbenAtemzug aber wird auch eingedenk des Krisencharakters unserer Über-gangsepoche darauf hingewiesen: Dieses Reich der Selbstsucht ist zerstört,da die deutsche Nation unter das Joch einer fremden Gewaltherrschaft ge-raten ist, die es nicht zuläßt, daß überhaupt noch eigene Zwecke eigen-mächtig gefaßt und verfolgt werden können, so daß der Geist der Solidari-tät stark wird. Darin waltet gleichsam eine ›List der Vernunft‹.

Damit ist eine Aussicht eröffnet, wahre Freiheit wiederherzustellen unddem Weltplan zufolge in das Zeitalter beginnender Rechtfertigung einzu-

4. Abschnitt: Apologien zu zwei verrufenen populären Schriften 227

treten. Wenn die eigentliche Ursache für den gesellschaftlich-politischenUntergang die sittliche Verderbtheit im Zwielicht einer zweideutigen Auf-klärung ist, so ist das sicherste Heilmittel einer nationalen und mensch-heitlichen Wiedergeburt eine sittliche Erneuerung auf dem Grund undBoden der vollendeten Vernunftwissenschaft und angewendeten Ver-nunftkunst. Das aber ist die spezifische, weltgeschichtliche Bestimmungder deutschen Nation im Zeitalter der seit Kant vielfältig zur systemati-schen Vollendung strebenden Philosophie, die Kräfte der Wahrheit zu ent-wickeln und dadurch die Menschheit umzubilden.

Darum erklärt Fichte Erziehung und Bildung zum besten Instrument derpolitisch-geschichtlichen Wiedergeburt, und dafür ist es bitter nötig, die Bil-dungsinstitutionen aus Freiheit nach philosophischer Vernunft einzurich-ten, dergestalt, daß die Paideia die gänzliche Umschaffung des Menschenge-schlechts, mit Plato gesprochen: die Umwendung der ganzen Seele zur Sichtder Ideen aus Vernunft, verwirklicht. Da solche Menschenbildung immernur als nationale Bildung zu verwirklichen ist, hat die einzurichtende natio-nale Erziehung immer die Menschenbildung zu ihrem Endzweck. Freilichsind Fichtes Anweisungen auch in Betracht der Bildung und Erziehung indie Grauzone pathetisch-rhetorischer Ausschweifungen verwiesen worden.Seine Erziehungsmaximen beseitigten wahre Freiheit in jedem sinnvollenVerstande und beanspruchten Erziehung als terroristisches Zwangssystem.28

Vorurteilsfrei gesehen, proklamiert Fichte ein Erziehungskonzept, welcheseindeutig zum Ziel hat, das lebendige Gefühl der Liebe zu einer sittlichenWeltordnung einzupflanzen, da die Selbstsucht wie welkes Laub abfalle undder Egoismus des Individuums ausgewurzelt werde.

Freilich bleiben bei solcher Einbeziehung der geschichtsphilosophischenund religionsphilosophischen Zusammenhänge andere, vielleicht bedenkli-che Züge abgeblendet. Das betrifft insbesondere den sprachphilosophischenund rhetorischen Problemkomplex des ›völkischen‹ SendungsbewußtseinsFichtes. Dabei sollte apologetisch wenigstens angemerkt werden: Daß diedeutsche Sprachnation als Urvolk Mittel- und Westeuropas mit einer leben-digen, unversehrten Sprache, einer Ursprache wie das Griechische ohneBruch seiner geistigen Sinn- und Anschauungstradition im Unterschied zufremden Zivilisationen mit einer toten (neulateinischen) Sprache und einer

28 Diese Kritik hat B. Willms: Die totale Freiheit. Politische Philosophie, 1967, 155 vor-getragen.

228 Teil III: Fichte

entfremdeten Bildung existiert, hat wohl eine Spitze gegen das von Frank-reich beanspruchte Kulturmonopol, aber es dient nicht als Argument zurNiederdrückung unterlegener Kulturen. Es weist vielmehr allein auf eineweltgeschichtliche Stunde und den historischen Auftrag des deutschen phi-losophischen Geistes hin. So denunziert Fichte auch nicht etwa die Fremd-wörter ›Humanität‹, ›Liberalität‹, ›Popularität‹ in ihrem Wesensgehalt, erverwahrt ihren Sinn vielmehr gegen eine Aushöhlung, Entleerung, Entwür-digung, und zwar aus weltbürgerlicher Verantwortung.29 Der polemischenThese, in den politischen Reden gehe Fichtes Kosmopolitismus und Patrio-tismus in eine Vergötzung des Deutschtums bei Abschätzung der romani-schen Kulturwelt über, steht die schon von Friedrich Meinecke vertreteneAntithese gegenüber, Fichtes Patriotismus sei stets weltbürgerlich fundiertund die von ihm geforderte Nationalbildung ziele auf eine höchste Men-schenbildung überhaupt. So vereinigt der wahre Patriotismus Vaterlandslie-be und Weltbürgersinn unter völligem Ausschluß eines jeglichen fanati-schen Rassismus. Vom wahren Patrioten wird erklärt: »Vaterlandsliebe istseine That, Weltbürgertum ist sein Gedanke; die erste die Erscheinung, diezweite der innere Geist dieser Erscheinung, das Unsichtbare in dem Sichtba-ren« (Briefe an Konstant; GA I/8, 450).

Werden nun solche Korrekturen der immer noch vereinseitigenden undentstellenden Auslegungen von Fichtes Reden an die deutsche Nation zurKenntnis genommen, dann sollte sich die Frage stellen, ob eine solche Rück-besinnung nicht auch für unser krisengeschütteltes Zeitalter notwendendsei. Ist nicht unsere Welteinstellung entschieden dogmatisch-wissenschafts-gläubig, utilitaristisch-pragmatistisch, individualistisch-eudämonistisch,

29 Zu diesem Problemkomplex vgl. vorzüglich P. Oesterreich: Politische Philosophieund Demagogie, 1990; hier wird Fichtes Rhetorikkonzept als Versuch angesehen,die Niederlage der spekulativen deutschen Philosophie mit der politisch-militäri-schen Katastrophe Preußens zu verbinden und in einen gemeinsamen geistigenund sprachlich-kulturellen Sieg zu verwandeln. Dabei bewegten sich die Reden imHell-Dunkel genialer Philosophie und unheilvoller Demagogie. – J. Heinrichs: Na-tionalsprache und Sprachnation. Zur Gegenwartsbedeutung von Fichtes Reden andie deutsche Nation, 1990; hier wird der Begriff der Nationalsprache in seiner Be-gründungsfunktion für den sozialphilosophischen Begriff der Sprachnation unter-sucht, gerade auch in seiner Relevanz für unser gegenwärtiges Zeitalter der Sprach-zerstörung durch unnötigen Fremdwörtergebrauch und ein substanzloses, pseudo-geistreiches Gerede, das nicht harmlos, sondern denk- und lebenszerstörerisch ist.

4. Abschnitt: Apologien zu zwei verrufenen populären Schriften 229

skeptisch-nihilistisch geprägt? Herrschen nicht weithin Überzeugungen ei-ner Naturvergötzung, des Immoralismus, der Rechtsbeugung, der Religions-abkehr und einer empiristisch-flachen Metaphysikfeindlichkeit vor? Tätemithin nicht eine Besinnung not, welche die fünffache Einheit unseres Ver-hältnisses zu Natur, Recht, Sittlichkeit, Religion und Wissenschaft nach Ge-setzen und Grundsätzen einer vollendeten Vernunft- und Freiheitswissen-schaft im Ringen um die wahre ›Weltanschauung‹ ins Offene zu bringen.30

Steht es so, dann zeichnet sich die Bedeutung der Fichteschen Philosophiegerade im Stadium ihrer systematischen Vollendung ab. Sie vermag es, ei-nem entfremdeten Zeitalter wieder Halt und Orientierung zu geben, gesetzt,ihre Grundlegung, Entfaltung und Anwendbarkeit sei haltbar, in sich stim-mig und geeignet, die Welt ins Rechte zu verändern.

2. Hauptstück Das vollendete System der Wissenschaftslehre:Einleitung – Grundlegung – Ausfaltung. Nachkonstruktionder ungeschriebenen Lehre

Die Wahrheit philosophischer Prinzipienforschung im konkurrierendenWiderstreit des Hochidealismus hat sich am Kriterium einer vollständigumfassenden, tragfähigen Systemgründung und Systementfaltung zu er-weisen. Fichte hat für deren Demonstration einen dreifachen Vorlesungs-zyklus vorgesehen und entwickelt. Er beginnt mit Einleitungen, welche zueiner gründlichen philosophischen Ansicht der Dinge hinführen und zuderen Selbstkonstruktion anleiten. Das hat methodisch zum Ziel, unsernatürliches Bewußtsein zu einem philosophischen umzuschaffen. Und esnimmt historisch zum Anlaß, philosophisch vorgebildete, aber unzurei-chende Vorstellungen in den wahren Standpunkt einer Vernunftwissen-schaft einzuüben. Erst wenn dieser Zugang gebahnt und der wahre Begriff

30 Vgl. dazu R. Lauth: Die Bedeutung der Fichteschen Philosophie für die Gegenwart,1963. Unsere Gegenwart sei gezeichnet durch eine Krise der Einzelwissenschaften,die Untiefe ›wissenschaftlicher‹ Weltbilder, den Rückfall in Dogmatismus bei Auf-kündigung des Systemanspruchs. Verwirrt sei unser persönliches, gesellschaftlichesund religiöses Leben in einem Jahrhundert, das eine geistige Orientierung verlorenhabe. Von Kommunismus, Nationalismus, Positivismus überflutet, taumle es in im-mer neue politische Umwälzungen und Katastrophen hinein.

230 Teil III: Fichte

der Philosophie als Wissenschaft reinen Wissens gewonnen ist, kann eineGrundlegung zur Einsicht gebracht werden. Diese soll das Fundament fürein System legen, das die gesamte Vernunftwissenschaft trägt. Das erfor-dert eine Forschung, die immer reiner und klarer in den Ersten Ursprungund Anfangsgrund des reinen Wissens, in das Leben und Licht der absolu-ten Subjektivität, eindringt und immer subtiler und kohärenter die Folgeder Gesetze entwickelt, unter welchen das Wissen in den Formen undSchemata des Ich theoretisch die Sinnenwelt objektiviert und praktisch dieübersinnliche Welt projiziert. Und das System ist vollständig ausgefaltet,wenn sich einheitlich alle speziellen Vernunftwissenschaften, eben die phi-losophische Lehre der Natur, des Rechts, der Sittlichkeit, der Religion undder Wissenschaft als integrale Teile der gesamten Wissenschaftslehre ingenere erweisen.

Solche Dreiteilung von Einleitung, Grundlegung und Ausfaltung hat sichin allen Perioden der Systemdarstellung durchgehalten. Sie kann auf derHöhe der ungeschriebenen Lehre in ihrer reifsten Form nachkonstruiertwerden. Dafür sind für die beiden Aufgaben einer methodischen Hinfüh-rung zwei Fassungen der oftmals vorgetragenen Tatsachen des Bewußtseinsvon 1810/1811 und von 1813 heranzuziehen, die in gewisser Weise mit HegelsPhänomenologie des Geistes konkurrieren. Für die historische Anknüpfungbietet sich hier Spinozas All-Einheitslehre und nicht mehr ausschließlichKants Vernunftkritik an. Solche Anknüpfung tragen die Einleitungsvorle-sungen der Königsberger Wissenschaftslehre 1807 sowie der Wissenschafts-lehre 1812 vor.

Die Aufgabe einer Grundlegung sodann wird in einem Aufsteigen zumPrinzip der Wahrheit auf der vierstufigen Leiter idealistischer und realisti-scher Standpunkte durchgeführt und in einem Absteigen dargestellt, wel-ches die fünffache Unendlichkeit der Erscheinungswelt und unserer Welt-ansichten schrittweise einsichtig macht. Solcher Aufbau einer Wahrheits-und Erscheinungslehre ist wohl am konsequentesten im zweiten Vortrags-zyklus von 1804 ausgearbeitet worden. Deren Abschluß eröffnet die Aus-sicht auf eine einheitliche Ausfaltung der speziellen Vernunftwissenschaf-ten in der Fünffachheit ihrer Teilgebiete. Das Gesetz ihrer Durchordnunghat Fichte in seiner Gottes-, Sitten- und Rechtslehre von 1805 entdeckt undin einer Teleologie des Sollens expliziert.

Diese Restituierung der Gesamtkonzeption von Fichtes ungeschriebenerLehre in ihrer Systemerfüllung kann nicht den Anspruch erheben, der To-talansicht der Fichteschen Philosophie und dem ›ganzen Fichte‹ voll gerecht

4. Abschnitt: Apologien zu zwei verrufenen populären Schriften 231

zu werden. Zur Gesamtkonzeption und Zielvorstellung seines philosophi-schen Wirkens gehört unübersehbar und ganz entscheidend der Kreisgang,der vom Leben zur Philosophie übergeht, um am Ende von der Philosophiemithilfe von Anwendungswissenschaften zum Leben zurückzukehren. DieseProgramm erfüllt die Wissenschaftslehre als ›angewandte Philosophie‹. Sowird nicht zuletzt der philosophische Begriff der Geschichtlichkeit auf dieFaktizität des geschichtlich lebenden Menschengeschlechts angewendet,oder es wird der apriorische Rechtsbegriff zur Anwendung auf positivesRecht und positive Rechtszustände gebracht. Nicht zuletzt erfüllt sich solcheVermittlung und Applikation von philosophischem Wissen und Leben inder pädagogischen Anwendung auf die Praxis der Bildung und Erziehung.Darum sind Fragen nach dem Wesen und den Obliegenheiten des Gelehr-ten ein Schlüsselthema für die Gesamtkonzeption der Fichteschen Philoso-phie.31 Hier dagegen stehen vorerst die drei Teile der Einleitung, Grundle-gung und ausfaltenden Durchordnung im System der Vernunftwissenschaftauf dem Prüfstand, und zwar in der Phase der ungeschriebenen Lehre imBlick auf die Konkurrenz mit den wirkungsgeschichtlich erfolgreicherenKonstruktionen Schellings und Hegels. Wie es mit der geschichtlichen Ap-plikation auf die faktische geistige Situation unseres Zeitalters bestellt ist,mag sich am Ende herausstellen.

1. Abschnitt: Einleitende Hinführungenfaktische Phänomenologie – genetische Prolegomena

Die immer weiter zur Vollendung gebrachte und rein abgeschlossene Dar-stellung der Philosophie als Wissenschaftslehre umfaßt also drei integraleBestandteile, außer der Grundlegung und Explikation der Prinzipien auch

31 Den Begriff der ›angewandten Wissenschaftslehre‹ hat R. Lauth: Zur Idee der Tran-szendentalphilosophie, 1965, Teil 3, 73-124 für Fichtes Gesamtidee der Philosophiezum Einsatz gebracht und programmatisch ausgeführt. – Ähnlich umfassend istdas kühne, zur Diskussion herausfordernde Projekt einer Gesamteinsicht, welcheneben der Welterschließung des transzendentalen Systems eine neu zu entdecken-de, gleichberechtigte Dimension der Popularphilosophie zur Geltung bringt sowieeine Metaphilosophie, welche Idee und Kunst der Philosophie reflektiert – mit demSchwergewicht auf einer rhetorischen Rekonstruktion von Fichtes angewandterPhilosophie: P. L. Oesterreich/H. Traub: Der ganze Fichte. Die populäre, wissen-schaftliche und metaphilosophische Erschließung der Welt, 2006.

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232 Teil III: Fichte

gehörige Einleitungen. Daher sind zuerst im Hinblick auf die von Fichteausgeprägten Einleitungen in die Philosophie und in die rechte Einstel-lung unseres philosophischen Bewußtseins zwei Gattungen zu unterschei-den. Es gibt selbständige Einleitungen der Spätzeit, welche in die Tatsa-chen des Bewußtseins einführen, mit dem Vorbehalt einer bloß faktischenErscheinungslehre. Das sind eben Einübungen, welche ein vorphilosophi-sches Bewußtsein für die philosophische Aufgabe einer Wahrheitslehrevorschulen. Dagegen führen Einleitungen innerhalb der Systementfaltungweiter. Sie bringen das Wissen nicht nur zur faktischen Evidenz von derArt: Das Sehen des Sehens habe ich vollzogen, die Unwandelbarkeit desreinen absoluten Wissens sehe ich ein – das ist mir unmittelbar einleuch-tend und evident und damit gut. Eine genetisierende Einleitung führt, wei-ter auffordernd, dazu, solch faktische zur genetischen Evidenz zu vertiefen.Das soll die Sicht unseres geistigen Auges verändern. Das blickt jetzt nichtmehr bloß auf das Daßsein einer evidenten Bewußtseinstatsache, sondernwendet sich dem Wassein, dem Entstehungsgrund und Wissensgesetz deraufgefundenen Tatsache zu.

Und darin liegt nach den lichtvollen Prolegomena der zentralen Fassungder W.L. 1804=II die Differenz der Wissenschaftslehre zu allen anderen Phi-losophien, welche ihrerseits darauf aus sind, Wahrheit zu ergründen. »Unddadurch haben wir den tiefsten charakteristischen Unterschied der W.L. vonallen anderen Philosophien, und insbesondere auch von iher nächsten, derKantischen, angegeben« (3. Vortrag; GA II/8, 42). – »Kants Evidenz ist fak-tisch, wir selber stehen dermalen gleichfalls noch in der Fakticität, und, setzeich hinzu, es ist überall in der Welt der Wissenschaften, ausser in der W.L.,gar keine andere Evidenz anzutreffen, als die faktische; nämlich in den ers-ten Principien« (GA II/8, 46). Die ersten Prinzipien sind nun nicht mehrunmittelbar eingeführt als Triade der obersten Grundsätze des schlechthinsetzenden, entgegensetzenden, in sich zusammensetzenden Ich. Sie legenden Grund und Boden des sich als Dasein des Absoluten wissenden absolu-ten Wissens. Darum führt der Denkweg einer wahren Prizipienlehre nichtmehr von Kant zu Hegel, sondern von Spinoza zu Fichte. Mithin dienen dieneuen Einleitungen dazu, tiefer in die Prinzipienforschung einzudringen alsalle Philosophie von Plato bis Kant, von dem Verschlimmbesser der Trans-zendentalphilosophie und Wissenschaftslehre nicht zu reden.

1. Abschnitt: Einleitende Hinführungen 233

1. Kapitel: Zur methodischen Funktion von Fichtes historisch-faktischerPhänomenologie des Geistes (Die Tatsachen des Bewußtseins)

Es gibt wohl kein Werk Fichtes, das Hegels Phänomenologie des Geistes sonahe ist wie der erste der Vortragszyklen Die Tatsachen des Bewußtseins alsLehre von den Erscheinungen des absoluten Wissens zur Einleitung undEinübung in die philosophische Wissenschaft. Er wurde im Winterhalbjahr1810/1811 vorgetragen und 1817 bei Cotta gedruckt, drei Jahre nach FichtesTod. Dieser Sachverhalt widerlegt die geläufige Ansicht, Fichtes Wissen-schaftlehre fange unmittelbar mit einer intellektuellen Anschauung an, wäh-rend allein Hegels Phänomenologie den Nachweis liefere, daß und wie eineErhebung vom vorwissenschaftlichen Bewußtsein zum absoluten Wissenmöglich und dialektisch notwendig sei. Das sei – gegenüber der isoliertenStellung, welche Fichte und Schelling der Philosophie angewiesen hätten –das Verdienst von Hegels Phänomenologie. Diese enthalte daher nicht nureine Einleitung in die Philosophie oder eine psychologische Begründungderselben, sie zeige, daß und wie das Bewußtsein des Einzelnen und derGeist der Menschheit durch die Stufen des bloßen Bewußtseins, des Selbst-bewußtseins, der Vernunft, des sittlichen Geistes und der Religion hin-durchgehen müssen, um sich auf den Standpunkt des absoluten Wissens zuerheben.32

Freilich bezieht sich Fichtes Erscheinungslehre mit keinem Wort auf He-gels gewaltiges Frühwerk von 1806. Seine polemische Gegenstellung ist ge-gen andere gerichtet. Namentlich, wenn auch beiläufig, behandelt Fichte dreiMißdeutungen des erscheinenden Wissens in seinem Erscheinen, nämlichden Bewußtseinsstand eines dogmatischen Materialismus, eines egoistisch-individualistischen Idealismus und natürlich den Mißstand der Naturphilo-sophen. Zumal die Reduktion der Wissenschaftslehre auf ein Reflektiersy-stem durch die Naturphilosophie Schellingscher Prägung wird abgewiesen.»Ihr Eifer entbrennt eigentlich dagegen, daß, da wir die Natur nicht als Ab-solutes wollen gelten lassen, wir drum das Ich zu demselben machten; darinaber irren sie sich« (TB, 5. Kap.; GA II/12, 81). Obwohl also die Konkurrenzvon Hegels Phänomenologie nicht im Visier steht, sollte ein unscheinbarerUmstand doch vermerkt werden. Name und Sache einer Phänomenologie

32 Vgl. J. E. Erdmann: Versuch einer wissenschaftlichen Darstellung der Geschichteder neueren Philosophie, 1834-1853, Bd. 7, 413ff.

234 Teil III: Fichte

des reinen Wissens sind von Fichte vor dem Erscheinen von Hegels hyper-troph ausgewachsener Einleitung geprägt worden. Es ist die W.L. 1804-II,welche den zweiten Teil der Vernunftwissenschaft als »Phänomenologie« inden Gesamtbau der Wahrheits- und Erscheinungslehre einordnet (13. Vorl.;GA II/8, 206). Nun aber ist bei Fichtes Einrichtung einer Phänomenologiedes Bewußtseins eine gravierende, gleichwohl aber zumeist übersehene Dif-ferenz zu beachten. Fichte stellt eine Phänomenologie des geistigen Lebenszweifach dar, einmal als Wissenschaftslehre in specie, das andere Mal als his-torische Phänomenologie, eben als Einleitung und Propädeutik der Wissen-schaft. Sie macht historisch-faktisch mit jenen feststehenden Tatsachen desBewußtseins bekannt, welche die Wissenschaft genetisch herzuleiten hat.33

Fichte hat die bloß hinführende Funktion seiner historischen Phäno-menologie deutlich genug kenntlich gemacht. Sie ist Phänomenologie der-gestalt, daß das Phänomen, das sie beschreibt, beobachtet und diskutiert,nichts anderes als das lebendige, energisch tätige Bewußtsein ist. Dabeikommt mit Hegels Phänomenologie die Aufgabe überein, den Gesamtpro-zeß des erscheinenden Wissens zu durchlaufen und methodisch vor Au-gen zu stellen. Das lehrt, das gesamte Bewußtseinsphänomen zu sehen, in-dem nicht einzelne Erkenntnisvermögen und Handlungskräfte unverbun-den nebeneinander aufgeführt, sondern in ihrem sich notwendig entwi-ckelnden, tatsächlichen Zusammenhang dargestellt werden. Daher lautetihre Methodenregel: »Das Bewußtseyn nicht fassen als eine Sammlung ab-gerissener Phänomene, sondern als Ein in sich selbst zusammenhängen-des Phänomen« (GA II/12, 89).

Demzufolge gibt es für die formale Darstellung des Phänomenzusam-menhanges eine gewisse Vollendung der Phänomenologie als methodi-sches Kunstwerk. Aber das bleibt vorwissenschaftlich, eben bloß histo-risch-faktisch. »In diesem faktischen Wissen ist es Thatsache, daß das Wis-sen ist; es ist, denn ich weiß es eben, daß es ist und damit gut« (TB 1813;NW I 404). Ich weiß eben unzweifelhaft, daß ich die sich sinnlich bekun-denden Dinge als außer mir bestehend wahrnehme. Ich weiß ebenso si-cher, daß ich als leiblich organisiertes Individuum mich zur Natur und zu

33 Den besten Überblick über die Tatsachen des Bewußtseins in einem System, das aus-gehend vom Leben zur Vernunftwissenschaft hinleitet, um in Anwendung der Wis-senschaft auf das Leben zum Leben zurückzukehren, bietet H. G. von Manz: DieFunktion der ›Tatsachen des Bewußtseins‹ im Blick auf die Wissenschaftlehre, 2001.

1. Abschnitt: Einleitende Hinführungen 235

anderen Individuen verhalte. Ich bin mir als freies Vernunftwesen des Fak-tums bewußt, vom Sittengesetz genötigt zu sein, auch wenn ich die Funk-tion der intellektuellen Anschauung für die Entstehung eines solchen Be-wußtseins nicht einsehe. Auf dem Stande bloßer Faktizität bleibt die voll-ständige Synthesis des Bewußtseinsphänomens, so gut geordnet, so scharfund genau die Beobachtung und Beschreibung auch sei, lediglich Einlei-tung, Vorübung, Werkzeug und Organon für den Aufbau der eigentlichenWissenschaft. Diese erst liefert die genetische Durchklärung des ganzenWissenszusammenhanges von seinem Einheits- und Disjunktionsprinzipaus. Also steht eine faktische Phänomenologie unter dem Vorbehalt, nütz-liche, aber nicht unerläßliche Hinführung zu sein; denn sie verfährt ebennicht genetisch, sondern historisch. Dabei meint ›historisch‹ nicht: be-zeugt durch geschichtliche Zeugnisse und verwertbare Quellen, sondernbezeugt durch das Zeugnis des Bewußtseins. Daher geht Fichtes histori-sche Phänomenologie auch nicht auf geschichtliche Bewußtseinspositio-nen ein wie Hegels geistesgeschichtlich ausladende Phänomenologie, dieauf der Stufe des Selbstbewußtseins zum Exempel Stoizismus und Skepti-zismus, auf der Stufe des Geistes den Kampf der Aufklärung mit demAberglauben heranzieht.

Fichtes faktische Phänomenologie ist nicht mehr und nicht weniger alsEinübung des natürlichen Bewußtseins in die philosophische Grundstellungder tranzendentalen Reflexion. Zumal die Einleitung von 1810/1811 hat diesedidaktische Absicht. Wie die Erste Einleitung von 1797 rechnet sie mit keinerphilosophischen Vorbildung des Hörerkreises, sondern geht vom dogmati-schen Seinsverständnis unseres durchschnittlichen Bewußtseins aus. Darumbeginnt sie beim untersten Faktum, der sinnlichen Wahrnehmung äußererDinge. So beginnt ja auch Hegels Phänomenologie mit der Selbstwiderle-gung unserer sinnlichen Gewißheiten, in welcher Hegel freilich voreilig daszeithafte Jetzt und das räumliche Hier einmischt. Zugleich aber ist eine dif-ferenzierte Einübung der Bewußtseinstatsachen in Fichtes Einleitungennicht zu übersehen. In der einleitenden Tatsachen-Phänomenologie von1813 nämlich ist die didaktische Ausgangssituation anders. Da rechnet derWissenschaftslehrer wie bei der Zweiten Einleitung 1797 mit einem Hörer-kreis, der durch die vorangegangenen Vorträge der Transzendentalen Logikschon philosophisch eingestellt worden ist, nämlich eingeübt in ein Sehendes Sehens, ins Sichverstehen des Verstandes. Diese Vorlesungen Fichtesüber das Verhältnis der Logik zur Philosopie bieten eigentlich keine thema-tische Behandlung oder Vertiefung der traditionellen, formalen Logik als

236 Teil III: Fichte

Regellehre von Begriff, Urteil und Schluß. Sie schärfen eine Kritik der dog-matischen Voraussetzungen des Denkens als Vermögen der Begriffe ein.Fichtes Logik ist daher nicht wie Hegels Onto-Theologie Fundament desSystems, sondern eine eigene Vorbereitung und Einleitung in das Systemder Vernunftwissenschaft. Darum beginnt die Einleitung von 1813 mit derTatsache eines Sichverstehens der Erscheinung, und sie beobachtet diesesPhänomen als Darstellung des Absoluten wie als Sichverstehen im Begriff,um von da faktisch die Spaltung in die niedere Erkenntnis (eines Systemsder Iche in ihrer Vereinigung in der Sinnenwelt) und einer höheren Er-kenntnis (der sittlichen Welt und des göttlichen Lebensgrundes) beschrei-bend bekanntzumachen. Die Phänomenologie von 1810/1811 dagegen beob-achtet und deskribiert das Bewußtseinsleben fortschreitend von der Gebun-denheit äußerer Wahrnehmung zum Bewußtsein sittlicher Freiheit, von derEinbildungskraft der Dinge zum intelligierten Bild Gottes, vom leibhaftenEinzel-Ich zum System der Iche, vom untersten, dogmatischen bis zumhöchsten, transzendentalen Verstehen von Sein.

2. Kapitel: Feststellung von Hauptphänomenen absoluten Wissens in Fichtes faktischer Phänomenologie (Tatsachen des Bewußtseins 1810/1811 3. Hauptabschnitt 4. Kapitel)

Wie es faktisch phänomenologisch mit absolutem Sein und absolutem Wis-sen steht, kommt auf der höchsten Stufe der vorbereitenden Feststellungund Ordnung der Bewußtseinstatsachen zur Sprache. Und an diesem Punktwird auch die endgültige Differenz von Fichtes und Hegels Systemaufbaunoch einmal deutlich. Sicherlich wirkt Fichtes Phänomenologie gegenüberHegels überreich entwickelter und mit einer Fülle geschichtlicher Entwick-lungsphasen des Geistes versehener Erscheinungslehre des Geistes strengund nüchtern (vgl. W. Wundt), wodurch diese sich freilich ein zweideutigesAussehen gibt. Bis zur Stufe der Vernunft bietet sie eine Analyse des Be-wußtseins und einen transzendentalen Beweis des sich bildenden Wissens,danach liefert sie Deutungen geschichtlicher Gestalten als Belege, welche dieHeraufkunft des absoluten Wissens historisch rechtfertigen (vgl. R. Haym).Fichte dagegen stellt vieles von dem, was Hegel ebenso geistvoll wie konfus

1. Abschnitt: Einleitende Hinführungen 237

in seine Phänomenologie einordnet, in seinen Ausfaltungen von Recht, Mo-ralität und Religion dar.34 Hegels methodischem Anspruch vergleichbaraber steigt auch Fichtes Phänomenologie nicht beliebig, sondern zwangsläu-fig bis zum höchsten Punkt auf; denn die Beobachtung und Aufklärung ei-nes früheren Faktums führt unausweichlich zur Annahme eines späteren,höheren, reineren Bewußtseinsphänomens. Der Durchgang unseres ener-gisch tätigen Bewußtseins, unseres Lebens, zum höchsten Seins- und Selbst-verständnis verläuft in drei Hauptphasen. Auf der untersten und ersten Stufewird unser theoretisches Bewußtsein der Sinnenwelt (im Wahrnehmen derDinge, Einbilden des Bildes und im Zeitbilden des Erinnerns) zusammen-hängend deskribiert. Auf der zweiten, höheren Stufe werden die Tatsachenunseres praktischen Triebbewußtseins in objektiver Weltvorstellung (in dreiHauptstücken als ein System von Ichen, als ein System von organisiertenTrieben und als die Eine Sinnenwelt) zusammenhängend beschrieben. Aufder dritten und höchsten Stufe ist die Selbsterfahrung des Bewußtseins zumPhänomenbereich der moralisch-religiösen Anschauung der sittlichen Weltund zum intelligiblen Bild Gottes aufgestiegen. Dieser Stufe ist die Verfas-sung des absoluten Wissens als Resultat eines phänomenologischen Auf-stiegs zu entnehmen.

Aufschluß darüber gibt der Schlußabschnitt. Er erörtert den Endpunktdieser eigentümlichen Erfahrung unseres Bewußtseins, den wir immernoch faktisch in uns selbst finden. Er wird im 3. Hauptabschnitt erörtertund trägt die Überschrift »Die Anschauung Gottes als Princip des Sitten-gesetzes oder des Endzwecks, und dieser als Äußerung des erstern« (GAII/12, 128-133). Diese letzte Feststellung geht von einer eingesehenen Tatsa-che des Bewußtseins, nämlich vom Sittengesetz als Endzweck des Lebensauf der Stufe des moralischen Nexus der individuellen Iche aus. »Wir ha-ben gesehen, das Leben, der Form nach, d.i. als bloße innere Selbstbestim-mung und Selbstthätigkeit, sey keinesweges absolut, sondern es sey um ei-nes andern willen, damit nemlich der Endzweck angeschaut werde« (GAII/12, 128). Leben ist hier immer der Name für die Form des Bewußtseins,die, absolviert vom Bewußtseinsinhalt, unmittelbarer, in sich selbstständi-ger geistiger Lebensvollzug ist. Unter die Erscheinungsformen des EinenLebens gehört das individuelle Ich im Zustand unbegrenzter Freiheit und

34 Vgl. M. Wundt: Die Wissenschaftslehre als Phänomenologie des Geistes. In: ders.,Fichte-Forschungen 1929, 226-235. – R. Haym: Hegel und seine Zeit, 1857.

238 Teil III: Fichte

Selbstbestimmung. Die schrankenlose Selbstbestimmung und rücksichts-lose Selbstverwirklichung des eigenen, individuellen Selbst gilt in der Pha-se eines bindungslosen Immoralismus als absolut. Sie wird um ihrer selbstund nicht um eines anderen willen ausgelebt. Aber bereits eine faktischePhänomenologie kommt zu höheren Einsichten. Als individuelles Ich be-finde ich mich ja nicht isoliert und auch nicht bloß in einem physischen,sondern in einem moralischen Nexus zu anderen individuierten Ichen.Dieser Nexus, die Verbindung zwischen der Sichbestimmung des einen in-dividuellen Ich und der Bestimmung eines anderen kommt als Ansprucheines Sollens zum Bewußtsein. Jeder Einzelne soll seine schrankenloseFreiheit im Bewußtsein der Freiheit des anderen beschränken. »Er soll zu-folge jenes Bewußtseins seine ohne allen Zweifel vorhandene Freiheitdurch eigene Freiheit beschränken« (GA II/12, 96). Faktisch kommt dasBewußtsein auf, daß jeder Einzelne Glied einer sittlichen Weltordnung istund seine Individualität und Einzigartigkeit gar nicht in körperhaft-mate-riellen Eigenheiten (der Aristotelischen materia signata) und selbst nichtim unvertretbaren Standpunkt der eigenen theoretischen Weltansicht(Leibniz’ point de vue), sondern darin besteht, inmitten einer moralischenWeltordnung seine ganz bestimmte, keinem anderen zukommende Aufga-be sittlichen und gesellschaftlichen Handelns zu haben.

So eingesehen ist das Leben der Form nach nicht ziel- und sinnlos. Eshat einen Endzweck, nämlich die Erfüllung des Sittengesetzes »Handle wiekeiner!«. Daraus folgt Entscheidendes. »Ist das Leben nicht um sein selbstwillen da, so ist es auch nicht durch sich selbst da, d.h. es hat nicht in sichden Grund seines Daseyns, sondern es hat ihn in einem anderen, eben injenem Endzwecke« (GA II/12, 111). Und es ist einzusehen: Das äußerste,was unsere individuelle Freiheit und Selbsttätigkeit dabei vermag, ist, diebornierte egoistische Selbstverwirklichung als Endzweck zu vernichten.Tatsächlich nämlich schwebt unser Freiheitsbewußtsein zwischen demNaturtrieb und unserer sittlichen Bestimmung. Aus Freiheit können wiruns von der sinnlichen zur geistigen Weltordnung erheben. Das glückt,wenn sich die egoistische Willkür in einem Willen aufgibt, der danachstrebt, den Endzweck, das Sittengesetz, zu verwirklichen.

Auf diesem Stande phänomenologischer Einsicht kommt die anschlie-ßende Fragestellung zur thematischen Behandlung. »Gehen wir drum andie Untersuchung, ob der Endzweck absolut seyn möge, oder, falls er esnicht sey, was ihm zu Grunde liegen, und in ihm sichtbar werden möge?«(GA II/12, 129). Diese Fragestellung zielt auf die Anschauung Gottes, d.h. auf

1. Abschnitt: Einleitende Hinführungen 239

das Dasein des absoluten Seins und auf das Faktum von Sittengesetz undEndzweck im Bewußtsein als Äußerung absoluten Lebens. Daher geht Fich-tes Phänomenologie am Ende auf die Seinsfrage ein.35 Dabei erklärt Fichtesein Verständnis von Sein zunächst aus dem Gegensatz zum Werden undinnerhalb der Vereinigung mit ihm. Danach bewährt sich das Sein als dasBestand und Endzweck Gebende im unbeständigen Werden und unaufhör-lichen Wandel des Bewußtseinsstromes. In eins bewährt sich das Wollen desEndzwecks als Äußerung des sichtbar in Erscheinung tretenden Seins.»Seyend nenne ich dasjenige, was durchaus nicht wird und nie geworden ist,und von dem man eben schlechtweg nichts anderes sagen kann denn, es ist«(GA II/12, 129). Das faßt den Begriff des Seins mit geradezu parmenidei-scher Strenge auf. Sein ist das vom Werden absolvierte Unentstandene, vondem lediglich gesagt werden kann, das ständig anwesende Sein ist andau-ernd anwesend, es ist nicht wandelbar, es ist nicht veränderlich.

Nun beschränkt Fichtes Phänomenologie das Sein und unveränderlichEine aber hier nicht in der kühnen Abstraktion des Parmenides und er-klärt es nicht als Selbigkeit von Noein und Einai oder als Anfang der He-gelschen Logik. Er beachtet es als Tatsache des menschlichen Bewußt-seinslebens. »Nun rede ich hier von dem Seyn des Lebens, d.i. eines abso-luten Werdens [...]. Das Seyn in ihm ist drum das Eine und durchaus Eins-bleibende im Wandel« (GA II/12, 129). Aufgrund der Form unseres Lebens,d.i. der unaufhörlichen Tätigkeit unseres Bewußtseins, erfahren wir einfortwährendes Werden, nämlich als Übergehen von einer Vorstellung zuranderen ohne Halt und Bestand und ohne dauerndes Anwesen bis zumTode, da unser Bewußtseinsleben und Vorstellungsstrom erlischt. Gleich-wohl erfahren wir die im endlosen Bewußtseinsstrom abfließende Vorstel-lung selbst als dauerhaft anwesend: als seiend. Das verdankt sich der Verei-nigung des Werdens im Sinne eines unaufhörlichen Werdens und Anders-werdens mit dem Sein als dem Einen, das unwandelbar einfachhin im

35 In seiner kenntnis- und beziehungsreichen Untersuchung geht W. G. Jacobs: DerGottesbegriff in den ›Tatsachen des Bewußtseins‹ von 1810/11 als Übergang zurWissenschaftslehre in specie, 2006 auf Kants berühmtes Argument »Sein ist keinreales Prädikat« zurück. Indessen sieht Kants These vom Sein die Modalkategorievon Wirklichsein und Existenz als reine Form des Verstandes. Fichtes These vomSein dagegen besinnt sich auf das Sein des Absoluten, das »parmenideisch« nichtwird und nicht entsteht und das »spinozistisch« das Hen kai Pan ist, außer demnichts ist als das Wissen davon.

240 Teil III: Fichte

Wandel bleibt. Das ist nun weit entfernt vom Sein der Hegelschen Logikim Vollendungsstadium als absolute Idee, die auch im absoluten Anders-sein, im zeit-räumlichen Wandel der Natur bei sich selbst (bei der Ver-nunfthaftigkeit der Naturgesetze) bleibt.

Fichtes Phänomenologie zeigt, daß unser Bewußtseinsleben faktischohne die Einheit des sich selbst gleichbleibenden Seins nicht zu denken ist.Ohne Einheit und Halt des Seins würde es in nichts zerfließen. Ohne Zu-sammenhang ergäbe sich nicht das eine, sondern unendliche, verschiede-ne Leben. Ohne dies käme es nie zu einer Anschauung, zu einem vollkom-menen Bild des Bewußtseinsphänomens. Mithin läßt sich das Sein als not-wendige Bedingung dafür feststellen, daß Leben überhaupt gedacht undangeschaut werden kann. »Resultat: Die Voraussetzung eines Seynsschlechtweg im Leben, wie dieses Seyn so eben beschrieben worden, istBedingung der Anschaubarkeit des Lebens« (GA II/12, 129-130).

Nun legt sich eine höhere Erfahrung unseres Bewußtseinslebens nahe.Diese sieht ein, daß das so beschriebene Sein mit dem schon beobachtetenEndzweck eins ist. Bewußtseinsleben ist allenthalbem ein Seiend-Werden,keineswegs ein sinnloses Zerfließen ins Nichts. Jede Äußerung der Bewußt-seinsäußerung ist Seinsordnung; und diese ist tatsächlich als Absicht undEndzweck wirklich. »Resultat: Der Endzweck ist also durchaus die Aeuße-rung des Seyns im Werden, um dieses Seyn sichtbar zu machen, also mittel-bar Sichtbarkeit des Seyns des Lebens« (GA II/12, 130). Damit ist die Ankün-digung näher geklärt. Das Sittengesetz als Endzweck ist nicht oberstes Prin-zip. Es ist da als Mittel, um das Sein oder das Absolute und Gott zur An-schauung und zur Erscheinung zu bringen.

Wegweisend für die Grundstellung einer Vernunftwissenschaft im Wi-derstreit ihrer Vollendung sind nun die ferneren Beobachtungen des Ur-sprungsverhältnisses von Leben, Sein und absolutem Wissen. Sie heben anmit der Frage: »Was ist dieses Seyn des Lebens, läßt es sich weiter bestim-men?« (GA II/12, 130). Es läßt sich weiter bestimmen, nämlich als Bild.Grund nämlich für das Sein als beständiges Anwesen der Bewußtseinsfol-gen ist die Form des Bildseins. Ein Bild bietet ja zunächst eine feste, in sichgeschlossene Erscheinungsform. Es ist absolviert und losgelöst vom endlosunabschließbaren Werden des Bewußtseinslebens. »Das bis jezt als Lebenbetrachtete ist seinem absoluten Seyn nach Anschauung, Bild, Erschei-nung« (GA II/12, 131). Nun aber ist das Bild als solches nicht selbst dasSein, das in ihm und seiner Form gebildet und zur Sichtbarkeit gebrachtwird. Indem diesem Verhältnis nachgefragt wird, wird die Seinsfrage zur

1. Abschnitt: Einleitende Hinführungen 241

Ursprungsfrage. »Was ist das für ein Seyn?« (GA II/12, 131). Es ist nicht dasSein des Lebens, das ja als Bildsein beschrieben war. Jenseits des Bewußt-seinslebens ist ein erster Ursprung, welcher nicht durch ein anderes, son-dern schlechthin von sich seiend ist. »Jenes Seyn aber, das zu der absolutenAnschauung das Seyn ist, ist schlechtweg aus sich, von sich, durch sich. Esist Gott« (GA II/12, 131).

Damit findet sich eine Theorie des absoluten Wissens an einen Kreuz-weg gestellt. Was ist von diesem absoluten Sein, von Gott oder dem Abso-luten, jenseits der Bilder unseres Bewußtseins zu sagen und zu begreifen?Die Antwort schon der Fichteschen Phänomenologie lautet: »Weiter nun,als daß es sey das absolute, und daß es nicht sei Anschauung [...], läßt sichvon demselben in diesem seinem bloßen Begriffe nichts aussagen« (GA II/12, 131). Das hat zur Konsequenz: Die Vernunftwissenschaft kann nur Leh-re vom absoluten Wissen, nicht vom absoluten Sein, vom Gott der Philo-sophen, werden. »Die Theorie des Begreiflichen kann daher, da Gott unbe-greiflich ist, durchaus nur seyn die Theorie des Wissens oder die Wissen-schaftslehre, in dem es außer Gott nichts giebt denn das Wissen« (GAII/12, 132). Dafür hat eine faktische Beobachtung ins Klare gebracht: DasGrundphänomen des lebendigen, tätigen Wissens ist nicht eine leere, insNichts zerfließende Reflexion, es ist Wissen des absoluten Seins in der Ge-stalt des Bildes, welches das Sein darstellt, ohne es selber zu sein. »Und sohaben wir denn den letzten und vollkommenen Aufschluß erhalten überden Gegenstand unserer Untersuchung, das Leben oder auch das Wissen«(GA II/12, 132).

Diese Vollendung der Phänomenologie ist ein Weg des Bewußtseins, dendie Vernunftwissenschaft Fichtes nicht, wie Hegel tadelt, im Rücken undVergessen, sondern vor sich und vergegenwärtigt hat. Darum kann die Wis-senschaftslehre 1812 mitten in der Sache beginnen. »Also – ausser dem abso-luten ist da, weil es nun einmal da ist, sein Bild. Ist der absolut bejahendeSatz der W.L., von dem sie ausgeht: ihre eigentl. Seele« (GA II/13, 58). Undder 1. Vortrag der W.L. 1813 beginnt scheinbar unvermittelt mit der Schei-dung von Seins- und Erscheinungslehre, welche Fichtes Phänomenologieder Bewußtseinstatsachen einführend beschrieben hatte. Das Sein im Über-schwang einer Substanzlehre Spinozas ist nicht Thema einer Vernunftwis-senschaft. »Mit diesem also hat es die W.L. nicht zu thun, sie ist nicht Seins-lehre [...]. Die berühmteste unter den Seinslehren, diejenige, welche wenig-stens den Begriff des Seins richtig auffaßt, ist die des Spinoza. Aber auch er

242 Teil III: Fichte

hat sich nicht besonnen auf das Bild des Seins, auf sein Denken desselben«(NW II, 3).

3. Kapitel: Genetische Phänomenologie. Ermittlung des Grundgesetzes allenWissens in den Prolegomena der W.L. 1804-II

Die faktisch-historische Phänomenologie der zur philosophischen Wis-senschaft vom reinen Wissen einleitenden Bewußtseinstatsachen wird ab-gelöst und überboten durch eine genetische Phänomenologie als Prolego-menon auf der Höhe und im Systemaufbau der prima philosophia selbst.Sie findet sich prägnant dargestellt in der zweiten Vortragsreihe von 1804.Zumal der 4. Vortrag am 20. April vor erlauchten Repräsentanten des geis-tigen Berlins bietet die dichteste und wahrhaft lichtvolle Einführung ineine zur äußersten Besinnung gebrachten Ersten Philosophie. Dieses Pro-legomenon ermittelt methodisch vorbereitend den Mittelpunkt einerGrundlegung, welcher einer vollendeten Wahrheits- und Erscheinungsleh-re den Boden bereitet. Eine Genetisierung des lebendigen Bewußtseins-phänomens begnügt sich nun nicht mehr damit, dessen Zusammenhangfaktisch-historisch zu beschreiben und lediglich zu konstatieren, daß es soist, wie es sich zeigt. Sie sieht darauf, nach welchem Gesetz dieser Bewußt-seinsstand erreicht ist.

So ist der Methodengang der Wissenschaft vom Wissen 1804 vordemon-striert worden. Ausgang ist stets der Vorgang, wonach eine Einsicht so voll-zogen wird, daß wir unmittelbar in der Evidenz dieser Einsicht aufgehen. Soist vom Anfänger in der philosophischen Wissenschaft eben die Einsicht indie Unwandelbarkeit des reinen, von jeder Subjekt- und Objektrelation ab-solvierten Wissens zu vollbringen. Das aber »ist doch noch Faktizität« (GAII/8, 76). Nun sind wir in diesem Akt der Konstruktion zweifellos von einemVernunftgesetz geleitet, das aber unreflektiert lediglich mechanisch in unstätig ist. Folglich hat eine Wissenschaft, welche auf die Entstehungsgesetzedes Wissens abzielt, dieses Gesetz selber zu erforschen. Das gelingt, wenndas unmittelbar faktisch in seinem Sosein Eingesehene in seinem Wodurchund Wodurchsein, in seiner Genesis, dem Entstehungsgesetz entdeckt wird.Damit zeichnet sich ein Aufstieg von faktischen zu immer höheren geneti-schen Gliedern ab, sofern und solange jedes genetische Glied der absolutenWissenseinheit noch faktische Momente an sich hat und eine weitere Gene-tisierung erforderlich macht. Das Ziel ist eine absolute Genesis. Da leuchtetdas Entstehungsgesetz unseres absoluten Wissens im Lichte wissenschaftli-

1. Abschnitt: Einleitende Hinführungen 243

cher Evidenz ein. »Auf diese Weise nun werden wir von faktischen Gliedernaufsteigen zu genetischem; welches Genetische denn doch wieder in einerandern Ansicht faktisch sein kann, wo wir daher gedrungen sein werden,wieder zu dem, in Beziehung auf diese Facticität, Genetischen aufzusteigen,so lange, bis wir zur absoluten Genesis, zur Genesis der W.L. hinaufkom-men« (GA II/8, 76).

Die methodische Vorerörterung dieses Aufstiegs kommt zum wahrenStandpunkt der Wissenschaftslehre hinauf und führt in den Mittelpunkteiner Evidenz ein, wenn die Genesis von Einheit und Mannigfaltigkeit miteinem Schlage einleuchtet. Das Resultat solcher Genetisierung läßt sich ineinem Grundgesetz allen Wissens zusammenfassen. »Der Mittelpunkt vonallem war das reine Licht. Soll es zu diesem wirklich kommen, so muß derBegriff gesetzt und vernichtet, und ein an sich unbegreifliches Seyn ge-setzt werden« (GA II/8, 61). Realer Ausgangspunkt für das Einleuchtendieser reinen Evidenz ist die Einsicht, daß das absolute Wissen (A) denCharakter ungesonderter Einheit in sich hat. Dafür ist dieses primäre, ab-solute Wissen deutlich vom sekundären, relativen Wissen oder vom Be-wußtsein abzuheben. Das Bewußtsein ist intentional und relativ. In ihmbezieht sich ein vorstellendes Subjekt auf ein vorgestelltes Objekt im Sche-ma: Ich stelle etwas vor. Nun ist diese Form reinen Wissens wandelbar, in-sofern sie sich auf wandelbare Gegenstände bezieht. Das absolute Wissendagegen bleibt unwandelbar und immer sich selbst gleich, sofern es daseine und selbe Wissen in jeglichem Wissen von etwas ist. So verschieden,mannigfaltig und wandelbar relatives Wissen auch ist, eines ist unwandel-bar, nämlich daß das alles Wissen ist. Und dieses eine und selbe Wissenentsteht und vergeht nicht mit dem gegenständlich Wißbaren in den man-nigfaltigen Modi des Vorstellens. Es ruht unveränderlich in sich. Und of-fenkundig läßt sich diese Einsicht nicht auf dem Wege der Erfahrung fin-den; denn es ist doch wohl unmöglich, die endlose Vielheit unseres gegen-ständlichen Wissens in den mannigfaltigen modi cogitandi zu durchlau-fen, um die darin unwandelbare Selbigkeit reinen Wissens zu erproben.Das bringt schon der 3. Vortrag dem Auditorium nahe. »Schlechthin apri-ori, leuchtet dieses Wissen durch sich selber ein, als unabhängig von allerSubjektivität und Objektivität, für sich bestehend und sich selber gleich«(GA II/8, 38).

Allein dieser Ausgang sollte es verbieten, Fichtes Wissenschaftslehre alseinseitiges System der Subjektivität und als leeres Reflektiersystem zu de-gradieren. Aber dieser genetisierte Ausgang verweigert sich auch der An-

244 Teil III: Fichte

maßung, Systembildung des Absoluten im Äther eines spekulativen Wis-sens zu sein. Solche Hybris hält Fichtes Wissenschaft des Wissens (= A)von Anfang an fern. »A für sich ist objektiv und darum innerlich todt«(GA II/8, 52). Es ist objektiv, d.h. nur faktisch als Tatsache von uns hinge-stellt. Es ist innerlich tot, d.h. ohne Lebendigkeit, ohne Wandel, ohne dieäußere Aufspaltung des Mannigfaltigen in Denken und Sein in sinnlicheWelt und übersinnliche Welten. Also muß das unwandelbare Wissen als le-bendiges Prinzip der Einheit so konstruiert werden, daß in eins das sekun-däre, relative Wissen mitkonstruiert wird. Und das darf nicht in einer Syn-thesis post factum, welche zwei faktisch vorfindliche Glieder nachträglichzusammenbindet, geschehen. Es bedarf einer ›organischen‹ Synthesis. Indieser geht mit der Einsicht in die Unwandelbarkeit des reinen Wissenszugleich und unabtrennlich die Einsicht in die Wandelbarkeit des Bewußt-seins auf, und mit der Einsicht in das Prinzip der Sonderung leuchtet ineins und untrennbar die Einsicht in das Prinzip der Einheit ein.

So kommt es zur Evidenz. Die von der Ersten Philosophie immer schongesuchte ursprüngliche Einheit von Einheit und Mannigfaltigkeit ist die or-ganische Vereinigung des unwandelbaren, primären Wissens als Einheits-grund mit dem wandelbaren Wissen oder dem Bewußtsein als Vielheits-grund. Auch damit kommt eine spezifische Differenz zu anderen Systembil-dungen zur Sprache. »So ist der Standpunkt der bei Besinnung bleibendenW.L. durchaus keine Synthesis post factum, sondern eine Synthesis apriori:weder Sonderung noch Einheit findend, sondern beide erzeugend in dem-selben Schlage« (GA II/8, 56). Systembildungen dagegen, die sich nicht aufsolche organische Einheit und auf die Vermittlungskraft des ›Plötzlichen‹(Plato: exaiphnes) und des ›mit einem Schlag‹ (Leibniz: tout d’un coup) be-sinnen, konstruieren ein Unkonstruierbares. Das ist die nachträgliche Verei-nigung der Zweiheit von Subjektivität und Objektivität, von Denken undSein, von Natur und Geist mit dem Defizit einer Synthesis post factum.

Fichtes 4. Vortrag fordert zur Besinnung auf. Wie und wodurch ist unsdie Evidenz dieser organischen Einheit mit einem Schlage aufgegangen?Schärfer gefragt: hat uns diese Evidenz ergriffen, oder haben wir sie unsbegreiflich gemacht? Die Antwort läßt sich in einer vorläufigen Formelfassen. »Soll das absolut Unbegreifliche, als allein für sich bestehend, ein-leuchten, so muß der Begriff vernichtet, und damit er vernichtet werdenkönne, gesetzt werden; denn nur an der Vernichtung des Begriffs leuchtetdas Unbegreifliche ein« (GA II/8, 56). Nun ist das Begreifen seit PlatosEntdeckung des Begriffs ein dihairetisches Umgrenzen dessen, was und

1. Abschnitt: Einleitende Hinführungen 245

wodurch etwas ist, durch Abgrenzen von allem, was es nicht ist. So wirddas wandellose, reine Wissen begreifbar durch Abstrahieren von allemwandelbaren Bewußtsein. Mithin verfährt unser Begreifen mittelbar alsErfassen des Einen vermittels des entgegengesetzten Anderen. Hier nunkommt ein absolutes Begreifen zum Austrag, das begreift, daß das Absolu-te in seiner organischen, unmittelbaren Einheit nicht durch abgrenzendesUmgrenzen zu begreifen und lediglich als Unbegreifliches nachzukonstru-ieren ist.

Damit kommt ein aufschlußreiches Entstehungsgesetz ins Klare. Ist dieorganisch-lebendige Einheit des Wandellosen (des reinen Wissens) unddes Wandelbaren (in seinem genetischen Ursprunge) organisch, untrenn-bar, mit einem Schlage da, dann ist deren durchgehendes, begriffliches Be-schreiben lediglich Nachkonstruktion einer Vorkonstruktion, verbundenmit der Einsicht, ein Unbegreifliches als solches zu begreifen.

Was so für das absolute Wissen evident ist, gilt auch für das sekundäreWissen oder das Bewußtsein im Hinblick auf die Sonderungen von Denkenund Sein wie von sinnlicher Welt und intelligibler Welt. Diese Spaltungenins Mannigfaltige erfolgen organisch, mit einem Schlage. Auch sie sind nurnachzukonstruieren. Und diese Disjunktion des Bewußtseins ist organischmit der Erleuchtung absoluter Einheit verbunden; »ausserdem würde es jabei der Einheit bleiben, und wir nie zu einem Wandel hinauskommen. (Diesist, daß ich es im Vorbeigehen bemerke, ein wichtiger Charakterzug der W.L.und unterscheidet sie z.B. von Spinoza’s System)« (GA II/8, 54).

Systematisch erwogen bringt diese Evidenz eine weittragende Einsichtin die notwendige Bedingung für die Möglichkeit des reinen Wissensle-bens mit sich. Soll die organische Einheit des Absoluten als Unbegreifli-ches einleuchten, dann muß der absolute Begriff vernichtet werden, unddamit er vernichtet werden kann, soll er gesetzt werden. Dabei bedeutet»vernichten« nicht etwa Auslöschung des Bewußtseins und Begreifens, ummystisch im Absoluten zu versinken, sondern: als absoluten Anfangsgrundabsetzen und als abgeleitetes Moment einsetzen. »Nur an der Vernichtungdes Begriffs leuchtet das Unbegreifliche ein« (GA II/8, 56).

Das versperrt eben evidenterweise den Weg der Spekulation zu einemBegreifen des Absoluten, da sich das Absolute selbst begreift. Natürlich istauch da der spekulative Begriff des Begriffs nicht bloß Vorstellung eines All-gemeinen als die Form eines Gedachten. Nach Hegel hat der absolute Be-griff selbst die Form des Absoluten, insofern das sich denkende Denken (dasSubjektive) zugleich die einigende Einheit seiner und des Objektiven be-

246 Teil III: Fichte

greift. Dadurch erst sind beide, Subjekt und Objekt, überhaupt das, was siesind. Fichtes Prolegomena 1804 führen indessen den absoluten Begriff alsKonzept ein, welches die Vereinigung des Begriffs mit dem Unbegreiflichenin der Gesetzmäßigkeit eines »Soll – dann muß« erfaßt. Damit verschließtsich der Weg, das Absolute spekulativ in der Selbstkonstruktion einer Ge-dankenentwicklung vom Sein bis zur absoluten Idee zu explizieren. Dieserabsoluten Einheit kommt eben lediglich das Merkmal der Unbegreiflichkeitzu, das es wiederum allein dem sich vernichtenden Begriff verdankt. Wirdvon dieser Relation abstrahiert, »bleibt Nichts von der Einheit übrig, als dieAbsolutheit, oder das reine Bestehen für sich« (GA II/8, 58). Das eröffnetden Weg zu einer negativen Theologie im Stadium transzendental besonne-ner Vollendung; denn das Absolute ist nur in Negation seiner Begreiflichkeitund Sagbarkeit als das Unbegreifbare und Unsägliche sagbar. Und selbstdieses Prädikat der Unbegreiflichkeit und Unsagbarkeit ist dem Absoluten,Gott, streng gedacht, abzusprechen. »Es, das Absolute, ist nicht an sich unbe-greiflich; denn dies hat keinen Sinn; es ist nur unbegreiflich, wenn der Be-griff an ihm sich versucht« (GA II/5, 58). Darum sind alle positiven Redenund begriffliche Spekulationen vom Absoluten zu verabschieden.

Mit solchen Besinnungen auf notwendige Bedingungen für die Möglich-keit der wahren Einheit von Einheit (des absoluten Wissens) und Mannig-faltigkeit (des reinen Bewußtseins) kommt das Licht einer Evidenz auf, diewir nicht konstruieren, sondern die uns ergreift und erleuchtet. Diese Lichterhellt den Mittelpunkt allen Wissens. Solche Helle (lumen) und solcherAufstrahl (lux) dieses Lichts bringt eben plötzlich und mit einem Schlagbeides, das Prinzip reiner Einheit und das Prinzip der Sonderung, ins Klare.Damit haben die Prolegomena von 1804 ein Gesetz vorgegeben, das für diesystematische Ausarbeitung der Grundlage wegweisend werden soll. »DerMittelpunkt von allem war das reine Licht. Soll es zu diesem wirklich kom-men, so muß der Begriff gesetzt und vernichtet, und ein an sich unbegreifli-ches Seyn gesetzt werden; gesetzt, das Licht solle seyn, so ist durch diesenSatz alles das Gesagte gesetzt. Das haben wir nun eingesehen. Es ist wahrund drückt das Grundgesetz alles Wissens aus; und als solches können wires uns merken« (GA II/8, 61). Dieses Grundgesetz macht ein Prinzip derAll-Einheit evident. Das mag verständlich machen, warum Fichtes späteSystembegründungen ihren klassischen Ausgangspunkt beim KritizismusKants verlassen, um an die Einheitsmetaphysik Spinozas anzuknüpfen.

2. Abschnitt: Markierung des veränderten historischen Anknüpfungspunktes 247

2. Abschnitt: Markierung des veränderten historischenAnknüpfungspunktes

1. Kapitel: »Bester Anknüpfungspunkt: das System des Spinoza« (W.L. 1812).Bemerkungen über den Rückgang vom kritischen Kant zum ›heiligenSpinoza‹

Die Wissenschaftslehre 1812 wird mit einer zweiteiligen Einleitung in elfVorlesungen vom 6. bis 20. Januar eröffnet. Der erste Teil bringt den genau-en Begriff der Wissenschaftslehre, der »zum Theil ganz unbekannt« ist, insKlare, um »die Mißverständnisse und falschen Ansichten« darüber auszu-räumen (GA II/13, 43). »Die W-L ist das schlechthin sich selbst machendeaporiorische Bild des Wissens in seiner absoluten Einheit und Gesetzmäs-sigkeit: mithin auch Eins« (GA II/13, 47). Nur dieser Vorbegriff einer Ver-nunftwissenschaft könne es zur systematischen Vollendung in Darstellungs-form und Prinzipienklarheit bringen, nämlich »ein vollkommenes Systemdes Mannigfaltigen« aufzubauen, das aus der allgemeinen Gesetzmäßigkeitreinen Wissens resultiert. Die Vollendung dieser Aufgabe vollende die ganzeSichtbarkeit des Systems. Der Vortrag des zweiten, historischen Teils derEinleitung beginnt am 13. Januar. Er knüpft philosophiegeschichtlich an dieGrundfrage nach der Einheit von Einheit und Vielheit, von Sein und Den-ken, Wissen und Welt an, die im Grundbuch der Ethik Spinozas (De Deo)eine epochale Ausgangslage gefunden hat. »Bester Anknüpfungspunkt: dasSystem des Spinoza« (GA II/13, 51).36

Dieser philosophiegeschichtliche Ausgang bedeutet eine Traditionser-weiterung. Noch das Prolegomenon der Wissenschaftslehre 1804 hatte ein-drücklich und ausschließlich einen anderen aussichtsreichen und förderli-chen Ausgangspunkt für die Systemvollendung des Idealismus namhaft ge-macht, nämlich Kants Darstellung der drei Vernunftkritiken nach dem

36 Führend in den neueren Untersuchungen zu Fichtes Spinozabild sind die Studienvon R. Lauth: Fichtes Sicht der Philosophie Spinozas, 1989. – K. Hammacher: Fichteund Spinoza, 1992. – M. Ivaldo: Transzendentalphilosophie und ›realistische Meta-physik‹. Das Fichtesche Spinoza-Verständnis, 1992. – G. Zöller: Fichte als Spinoza,Spinoza als Fichte. Jacobi über den Spinozismus der Wissenschaftslehre, 2004. –Das schließt nicht aus, die in der W.L. 1812 aufgenommene Seinsfrage bis auf dasLehrgedicht des Parmenides und die problematische Scheidung von Sein undNichtsein, von Existenz und Bild zurückzuführen. Vgl. A. A. Ivanenko: Der zwei-deutige Begriff des Seins im Vortrag der Wissenschaftslehre 1812, 2006.

248 Teil III: Fichte

Grundsatz von der einigenden Einheit der transzendentalen Apperzeption.Dieses transzendentale Prinzip ist nicht identisch mit dem intentionalen Be-wußtsein von etwas. Es steht weder auf der Seite des Denkens (D) noch aufder Seite des dinghaften Seins (S), es bildet das rein für sich bestehendeBand (A) von beidem (D-S). Zudem eröffnen die drei Kritiken der reinentheoretischen, der reinen praktischen Vernunft und der Urteilskraft denWeg, den Zusammenhang von sinnlicher und übersinnlicher Welt von ei-nem Ursprung her zu erfassen; denn die Kritik der reinen theoretischenVernunft hatte die Erfahrung der sinnlichen Welt (x), die Kritik der reinenpraktischen Vernunft die moralische Welt (z) als Absoluta angesetzt und dieschwierige Einleitung von Kants Kritik der Urteilskraft hatte ein drittes Ab-solutes (y), die unerforschliche Wurzel beider Welten, in Anschlag gebracht.Das aber bildet keine abgeschlossene Vorgabe, sondern die zu vollendendeAufgabe einer philosophischen Systembildung. Diese Aufgabe prägt die Ei-genart und den Vorzug der Wissenschaftslehre. »Daß ich nun die W.L. andiesem historischen Punkte, von welchem denn auch meine von Kant ganzunabhängige Spekulation ehemals ausgegangen, charakterisire – eben in derfür Kant unerforschlichen Wurzel, in welcher die sinnliche und die über-sinnliche Welt zusammenhängen, denn in der wirklichen und begreiflichenAbleitung beider Welten aus Einem Princip besteht ihr Wesen« (GA II/8,32). Dafür muß sich eine wahrhaft systembildende Transzendentalphiloso-phie auf ein Einheits- und Disjunktionsprinzip besinnen, das sich mit Ei-nem Schlag in Sein und Denken wie in sinnliche und übersinnliche Welt(mundus sensibilis – mundus intelligibilis) spaltet. »So viel zur historischenCharakteristik der W.-L., ihrem einzigen Nächsten gegenüber, dem sie un-mittelbar entgegengesetzt, und daran charakterisirt werden kann, der Kanti-schen Philosophie« (GA II/8, 34). Offenkundig hat nun die Wissenschafts-lehre auf dem Stande der Berliner Vorlesungen, indem sie das von Kant le-diglich angedeutete, aber nicht bewiesene und nicht zur Darstellung ge-brachte Einheitssystem des Vernunftwissens auf eigenen Wegen ausarbeitet,einen anderen historischen Anknüpfungspunkt gefunden: das System Spi-nozas. Das kündigt sich schon im 4. Vortrag (GA II/8, 54) an. Spinozas Sys-tem wolle auch absolute Einheit, komme aber weder von der Einheit zurMannigfaltigkeit noch von der Mannigfaltigkeit zur Einheit.

Nun ist es unübersehbar, daß die dreifache Vollendung des DeutschenIdealismus maßgeblich einer je eigenen Spinoza-Rezeption geschuldet war.Daher ist wenigstens ein kurzer Rückblick auf den geistesgeschichtlichenWandel des Spinozabildes kein Abweg, sondern ein aufschlußreicher Zu-

2. Abschnitt: Markierung des veränderten historischen Anknüpfungspunktes 249

gang. In der Herder- und Goethezeit redet man von Spinoza nicht mehr –nach dem von Jacobi überlieferten Lessingwort – »wie von einem totenHunde« (JW IV/1, 68). Lange waren ja die Schriften Spinozas verschrieen,zumal der 1670 erschienene Tractatus Theologico-politicus entfachte eineneuropäischen Skandal. Er wurde als das unerhörteste Buch der Gottlosigkeitangeklagt, das es seit dem Beginn der Welt gegeben habe, und als Werk derAtheisterei und Religionsverachtung gebrandmarkt. Das ergab das verzerrteBild Spinozas als Judaeus und Atheista. Und selbst Mendelssohn und Jacobi,welche einen achtungsvolleren Ton im so folgenreichen Streit über die LehreSpinozas anschlugen, wollten beileibe keine Spinozisten sein. Aber mansprach nun ehrfurchtsvoll vom »heiligen Spinoza«, vom »gottestrunkenenDenker« und segnete gar den »den großen, ja heiligen Benedictus«, der inder Liebe des höchsten Wesens lebte.37

Philosophisch kann Schelling auf seinem Wege zum Unbedingten un-befangen erklären: Keiner könne hoffen, zum Wahren und Vollendeten inder Philosophie fortzugehen, der sich nicht einmal in den Abgrund desSpinozismus versetzt habe. Und Hegel formuliert analog: Wenn man an-fange zu philosophieren, müsse man zuerst Spinozist sein; denn die großeAnschauung der Spinozistischen Substanz befreie vom endlichen Fürsich-sein. Herausfordernd formuliert Hegel: Entweder Spinozismus oder garkeine Philosophie. So betrachtet ist es durchaus nicht eigenwillig, sonderngehört zum Zuge einer dreifachen Vollendung eines All-Einheitssystems,daß Fichte seinen Ausgang nicht mehr nur bei den Vernunftkritiken Kantsnimmt, sondern an den »heiligen Spinoza« anknüpft. Worin aber geht ermit Spinoza einig, und wodurch geht er über ihn hinaus?

2. Kapitel: Ein Zwischenschritt. Der zweideutige historische Rückgang zuSpinoza in der Einleitung zur Königsberger Wissenschaftslehre 1807

Wie Spinozas System historisch zum besten, fruchtbarsten und anstößigs-ten Ausgangs- und Anknüpfungspunkt geworden ist, zeigt schon die Ein-leitung der Königsberger Wissenschaftslehre von 1807. Diese zweideutigeAnknüpfung war indessen hier noch dadurch belastet, daß Spinozas und

37 Zur Umwendung von der Verfluchung zur Verehrung Spinozas seit Herder undGoethe vgl. D. Baumgardt: Spinoza und der deutsche Spinozismus, 1927. – Zum Er-eignis von Jacobis Spinoza-Schrift vgl. H. Timm: Die Bedeutung der SpinozabriefeJacobis für die Entwicklung der idealistischen Religionsphilosophie, 1971.

250 Teil III: Fichte

Schellings Konstruktion des Absoluten zusammengebündelt wurden. Je-denfalls provozierte Fichte in seiner 1. Vorlesung am 5. Januar 1807 das em-pört scharrende Auditorium, das durch den fichtefeindlichen Kantnach-folger Traugott Krug kantianisch geprägt war, mit der philosophiege-schichtlichen Diagnose: »Historisch. Bis auf Kant [Vf.: von Plato an bisKant einschließlich] war alles Philosophiren ein blindes Tappen: der kon-sequenteste unter den blinden Tappern war Spinoza, u. so wie von der Ei-nen Seite in der Form der beste, in Rücksicht der Wahrheit des Gehaltesder schlimmste« (GA II/10, 113). Das negative Urteil überwiegt. DemWahrheitsgehalte nach hätten Spinoza und die Spinozisten der Zeit(Schelling und seine Anhänger) das Zeitalter in tiefste Finsternis gestoßen,die erst die zur höchsten Klarheit gebrachte Wissenschaftslehre zu er-leuchten verspreche. »Aus der Finsterniß zum Lichte. Aus der absoluten:dem Seyn im Spinozismus« (GA II/10, 116). Eine wissenschaftliche Ansichtvom Absoluten, wonach das wahre Sein, Leben, Licht Gottes nicht in sichgeschlossen bleibe, sondern zu einem mannigfaltigen, veränderlichen Seinmodifiziert werde, verunstalte die Wahrheit. »(Modifikation). Spinoza«(GA II/10, 167). Spinoza lasse das Eine, das Unveränderliche widersprüch-licherweise in die Veränderlichkeit der Welt mit hinabsteigen, so daß dasUnveränderliche veränderlich werde und die große Seins- und Einheitsan-schauung dem Widerspruch verfällt.

Solche Verdunkelung des Lichtes der Wahrheit betreiben »auch die Spi-nozisten unter unseren Zeitgenossen«; sie lassen »das göttliche Seyn selbst indie Erscheinung der Welt, u. mit ihr in das Mannigfaltige eintreten« (GAII/10, 189). Das zielt auf Schellings Identitätssystem ab, das sonach dieschlimme Seite des Spinozismus an sich habe. In seinem letzten Brief anSchelling vom 15. Januar 1802 hat Fichte dieses Defizit von Spinozas Lehreauf Schelling übertragen. »Wie das Eine zu Allem und das All zu Einemwerde – den Uebergangs-Wende- und realen Identitätspunkt desselbenkann er [Spinoza] uns nicht angeben, daher hat er das Eine verlohren, wenner aus dem All greift, und das All, wenn er das Eine faßt. Darum stellt erauch die beiden GrundFormen des Absoluten, Seyn, und Denken eben ohneweiteren Beweiß hin, wie Sie eben auch« (GA II/5, 112).

Nach Seiten der Form einer Systembildung dagegen spricht Fichte demWerk Spinozas einen Vorrang gegenüber allen früheren Systemversuchenzu. Spinozas Philosophie dringe auf einen einheitlichen Aufbau von Wissenund Sein aus einem Stück. Das sollte die Gestalt einer All-Einheit garantie-ren und allen Dualismus von Gott und Welt, Geist und Natur, Denken und

2. Abschnitt: Markierung des veränderten historischen Anknüpfungspunktes 251

Ausdehnung, unendlicher und endlicher Substanz überwinden. So behaupteder Spinozismus (fälschlicherweise), den Dualismus aus der Welt gebrachtzu haben. »Der Sp. will Einheit, und glaubt er habe sie; der Dualismus thutVerzicht auf dieselbe u. läßt sich die Zweiheit gefallen« (GA II/10, 122). Diegewollte, wenn auch nicht erreichte Überwindung des Dualismus in derSystembegründung der Einheit unter der Losung Hen kai Pan ist wie fürHölderlin, Schelling, Hegel so auch für Fichte der Anknüpfungs- und Aus-gangspunkt, seinen Denkweg zu vollenden. Das wägt die Wissenschaftslehre1812 einleitend deutlicher ab.

3. Kapitel: »So Spinoza, so wir – So wir. Anders Spinoza«. Genaue Markierung des philosophiegeschichtlichen Ausgangs in derWissenschaftslehre 1812

Fichtes Anknüpfung an Spinozas Vorgaben im Buche De Deo in der Wissen-schaftslehre 1812 ist kritisch. Wahre Kritik scheidet und macht durch Unter-scheidung etwas sichtbar. (Das griechische Wort krisis bedeutet Scheidungund Erprobung.) So zermalmt Fichtes Spinozakritik nicht eine dogmatischeSubstanzmetaphysik, sie macht unterscheidend klar, was die Wissenschafts-lehre mit Spinoza gemeinsam hat (»So Spinoza, so wir«) und was sie vonSpinoza trennt (»So wir. Anders Spinoza«). Die zustimmende Rezeption isthier vorangestellt: »Seyn: Charakter absolute Negation des Werdens. In ihm,dem Einen, alles, in ihm keins. – Selbstständigkeit, eine Negation. Wandello-sigkeit gleichfals: hieraus Einheit, u. die anderen Sätze. So Spinoza, so wir«(GA II/13, 51). Aufgenommen wird Spinozas großer Gedanke vom absolu-ten, göttlichen Sein. Das Absolute ist im Stande der Selbständigkeit, d.i. dereinzig-einen Substanz (substantia unica qua causa sui) als reines Bestehenvon und durch sich selbst, begreifbar in der Negation, nicht von anderenund durch ein anderes außer ihm verursacht zu sein. Und das absolute Seinnegiert schlechtin das Werden. Es kann unmöglich nicht sein und existiertewig, losgelöst von Zeit und Dauer, von Entstehen und Vergehen, von Wer-den und Wandel. Außer Gott gibt es keine anderes, wahres, von sich, durchsich, in sich bestehendes, aus sich existierendes Sein. Das substantiale, sichselbst vorstellende Ich (substantia cogitans) ebenso wie das substantiale,ausgedehnte Naturwesen (substantia extensa) sind als Attribute der substan-tia unica aufgehoben. Was in Wirklichkeit und Wahrheit ist, ist der Sub-stanzozean Gottes, eine absolute All-Einheit: Deus sive natura – Hen kaiPan. »In ihm, dem Einen, alles.«

252 Teil III: Fichte

Somit knüpft diese historische Einleitung nicht mehr wie der Eingangder Jenaer Grundlegung an das logische (Leibnizsche) Prinzip der forma-len Identität A=A an. Sie geht auch nicht wie die Prolegomena 1804 vomtranszendentalen Prinzip der drei Vernunftkritiken Kants aus, sie geht aufSpinozas Definition allrealer Einheit des Eins=Alles zurück. »PraeterDeum nulla dari neque cogitari potest substantia« – außer Gott kann einvon sich bestehendes Sein weder gegeben sein noch gedacht werden (Eth.I prop. XIV). »Quicquid est, a Deo est, et nihil sine Deo esse neque concipipotest« – was auch ist, ist seiend durch Gott, und nichts kann ohne Gottsein und gedacht werden (Eth. I prop. XV).

Dieselbe Losung, welche die Tübinger Hegel und Schelling auf die Bahnihres Denkens rief, bildet den Initialsatz einer vertieften historischen Einlei-tung bei Fichte. »Eins u. Alles daßelbe. hen kai pan. Alles in dem Einen, allesEins« (GA II/13, 60). Das nimmt Fichte als unverrückbares Fundament auf.»Eins ist, ausser diesem nichts. – Alles andere ist nicht, stehe unveränderlich,u. ewig fest« (GA II/13, 56). Die Hallesche Kolleg-Nachschrift notiert:»Nennt man das Absolute Gott, so sagt die Wissenschaftslehre: Nur Gott istund ausser ihm kann nichts sein; denn Er hat alles Seyn in sich. Alles Seynbleibt ewig bei ihm. Diesem Satz soll nie widersprochen werden« (GA IV/4,269). »So Spinoza, so wir.«

Aber dieser Generalhypothese folgt die kritische Auseinandersetzung aufdem Fuße. »So wir. Anders Spinoza« (GA II/13, 52). Hier kommt eine tran-szendentale, absolute Reflexion, das Sichbesinnen auf sich im Gedanken desAbsoluten, zum Einsatz, welche die Rede vom Nihilismus der Wissen-schaftslehre widerlegt. Sie folgt der Maxime, unsere Reflexion nicht willkür-lich abzubrechen, sondern zu Ende reflektieren. »Die Reflexion; als vernich-tend die Realität trägt in sich ihr Heilmittel. Die Realität des Wissens ebenselbst« (GA II/13, 51). Zu Ende reflektieren heißt eben, sich auf die faktischeRealität des Denkens zu besinnen, welches das Absolute denkt.38 In eins wi-derlegt diese absolute Reflexion die Systembildungen Spinozas und Schel-

38 B. Sandkaulen: Spinoza zur Einführung. Fichtes Wissenschaftslehre 1812, 2006 hebtdieses Korrektiv heraus. Fichte gebrauche die Anknüpfung an Spinoza, um die Po-lemik Jacobis und Schellings zu entkräften, die Wissenschaftslehre sei der Nihilis-mus eines leeren Reflektiersystems, das eine Welt aus sich heraus spinne: ein Nichtsan Realität. Die daran orientierte Richtigstellung durch Fichte aber wird im SinneJacobis problematisiert. Sie löse weder den wiederaufbrechenden Dualismus vonSein und Wissen noch entlaste sie von Spinozistischem Fatalismus.

2. Abschnitt: Markierung des veränderten historischen Anknüpfungspunktes 253

lings, unausgesprochen auch die Hegels. Sie zeigten sich als Irrwege derNichtbesinnung. Nur das ist hier im Kontext des dreifachen Anlaufs zurVollendung der Vernunftwissenschaft in Anknüpfung an Spinozas großenGedanken vom Absoluten herauszustellen. Was Spinozas These vom Seinfehle, sei die Besonnenheit absoluter Reflexion. »Spinoza hat sich nicht be-sonnen und hat das Seyn; wir reflectiren [...]. Außer dem Seyn ist nichts unddoch ist der Begriff außer dem Seyn, das Sagen von dem Seyn« (NachschriftHalle; GA IV/4, 263). Um den Folgen solcher philosophischer Unbesonnen-heit zu entgehen, hat sich eine Grundlegung eben auf diesen Widersprucheinzulassen: Außer dem Absoluten ist kein Sein – außer dem Sagen undDenken des Seins. »Indem gesagt wird: es sey nichts ausser ihm, ist etwas,eben dieses Sagen ausser ihm« (GA II/13, 52). Es ist unerläßliche Aufgabe,diesen Widerspruch zu lösen, um nicht zwei Absolute stehenzulassen. »DiePhilosophie, die ihn wirklich löst, ist die wahre« (GA II/13, 53). Spinoza habedas nicht lösen können, weil es für ihn das Denken als Glied des Gegensat-zes nicht gibt, Schelling nicht, weil er im unmittelbaren Anschauen des ab-soluten und ewigen Selbst aller Reflexion widerstreite.

Das hatte Fichte ja schon in der Jenaer Grundlegung gegen das Ver-schwinden des Ich-Subjekts eingewendet. Spinoza verfehle das Urphäno-men des sich denkenden Denkens, indem er einerseits das Prinzip der Ich-heit zum finiten Modus des empirischen Ich herabsetzt, andererseits zumreinen Bewußtsein der göttlichen Substanz übersteigert, die aber zufolge ih-rer schrankenlosen Unendlichkeit ohne Selbstbewußtsein ist, sofern zumreinen Selbstbewußtsein die Reflexion als Rückkehr zu sich an der Schrankeseiner Endlichkeit gehört. »Er trennt das reine und das empirische Bewußt-seyn. Das erstere sezt er in Gott, der seiner nie bewußt wird, da das reine Be-wußtseyn nie zu Bewußtseyn gelangt; das lezte in die besonderen Modifica-tionen der Gottheit« (GA I/2, 263).39 Dagegen hat wiederum Schelling Ein-spruch erhoben: Spinoza habe reines und empirisches Bewußtsein durchausungetrennt im absoluten Bewußtsein vereinigt gesetzt. Und grundsätzlichhabe Spinoza darin Recht. Das Bewußtsein sei in das Absolute und Unbe-

39 Diese Spinozakritik Fichtes hat J. Brachtendorf: Substanz, Subjekt, Sein – Die Spi-noza-Rezeption der frühen und späten Wissenschaftslehre, 2006 in ihrer subjekti-vitätstheoretischen Bedeutung herausgestellt und mit Schellings Gegenargumentkonfrontiert.

254 Teil III: Fichte

dingte hineinzuziehen und nicht in ein beschränktes Ich-Subjekt zu verset-zen.

Transzendentale Besonnenheit aber achtet in kritischem Unterscheidenauf das Faktum, daß das Absolute von unserem Wissen gedacht ist, das au-ßer dem Absoluten da und nicht in dessen Abgrund versunken ist. Und sieschickt sich an, diesen Widerspruch zwischen dem absoluten Sein, außerdem nichts ist, und dem Wissen des Seins, das außer dem Absoluten ist, zulösen, dergestalt, daß sich auch der zweite Widerspruch löst, der SpinozasEinheitsdemonstration anhängt. Dieser entsteht aus den Gegensätzen: Au-ßer dem Absoluten ist nichts – außer dem Absoluten ist wahrnehmbar dieWelt. »Nichts ausser dem Einen, wie dann also eine Welt?« (GA II/13, 53).Das ist ein weites Feld. So hat Hegels Auskunft bekanntlich Spinoza einenAkosmisten genannt, sofern in der Einheit Gottes, der starren Substanz,welcher die Rückkehr in sich selbst fehlt, Welt und Natur verschwundensind.

Hier nun sind einleitend allein die Lösungen einzuholen, die Fichte alsKorrektiv der All-Einheitslehre historisch-kritisch vorgetragen hat. Läßtman die Widersprüche ungelöst, so breitet sich eine irrationale Welteinstel-lung aus, die Fichtes ›veränderter Lehre‹ nach dem ›Glaubensdurchbruch‹nach 1800 attestiert worden ist: eine Mystifizierung im Abfall vom Kritizis-mus. Gegen solche Fehletikettierung genügt es, Fichtes Einschätzung desMystizismus zu zitieren: »Mysticismus: Alles in Gott. Nur er ist. Haben vielegesagt. Giebt ein andächtiges Schwärmen« (GA II/13, 54).40

Fichtes kritische Auflösung des ersten Widerspruchs läßt den Grundsatzgelten: »Eins ist, und außer diesem Einen ist schlechthin nichts« (GA II/13,56). Der Gegensatz »Außer dem Einen ist etwas« wird negiert und seinsmä-ßig modifiziert. Zwar gibt es etwas, was faktisch außer dem Absoluten da ist,nämlich das Denken, was den Gedanken des Absoluten denkt, aber solchesDenken hat nicht den Seinsmodus des wahren, von sich seienden und aussich lebenden Seins. Ihm kommt die formale Bedeutung zu, Bild, Schema,Erscheinung des Seins zu sein, das sich unmittelbar als Bild des Bildes intel-ligiert und zur Darstellung bringt. Wahre Philosophie steht in diesem Refle-xionsstand, da sich das absolute Wissen auf sich als Dasein, Bild und Sche-ma des absoluten, in sich geschlossenen Seins und Lebens besinnt.

40 Vgl. Vf.: Religion und Mystik. Fichtes Abwehr des Mystizismus, 1993.

2. Abschnitt: Markierung des veränderten historischen Anknüpfungspunktes 255

Daraus resultiert in eins die Auflösung des Widerspruchs zwischenGott und Welt, zwischen der wandellosen Einheit des Seins und der Man-nigfaltigkeit und Vielheit der sich wandelnden Welt. Transzendental zuEnde reflektiert, spaltet sich gar nicht die einfache, ununterscheidbare Ein-heit göttlichen Seins und Lebens auf, indem sie selbst zerteilt und verviel-fältigt wird. Das Sein bleibt ewig in sich verborgen, und ohne alle Bezie-hung mit dem Wandel. Das Da-Sein aber ist »nicht etwa das absoluteselbst [...]. Nur sein Bild« (GA II/13, 58). Mithin betrifft alle Sonderung,Disjunktion, Aufspaltung in die Mannigfaltigkeit und Vielheit der gegen-ständlichen Welt nicht das Sein selbst, sondern die Erscheinung des Seins,das absolute Wissen, das sich intelligierende Dasein als Bild, da die Welt inihren apriorischen Formen der Mannigfaltigkeit zur Erscheinung gebrachtwird.

Das legt den Finger in den wunden Punkt des Spinozismus und dessenspekulative, unbesonnene Rezeption durch Schelling und Hegel. Im Nicht-besinnen des absoluten Wissens auf sich konstruieren dogmatische Syste-me die Entfaltung des Einen ins Viele innerhalb des absoluten Seins, an-statt sie innerhalb der Erscheinung im Schematismus des Wissens durch-sichtig und vollständig abzuleiten. Die historische Einleitung der Wissen-schaftslehre 1812 nimmt also Spinozas Grundgedanken auf, um ihn kri-tisch besonnen zu transformieren: »In diesem Sinne sind nun auch in derW.L. wahr und passen Sätze des Sp. Systems: Die wahre Parallele. Eins u.alles daßelbe. Hen kai Pan. Alles in dem Einen, alles Eins. – Allerdings,nemlich in der Einen Erscheinung. – In ihm leben, weben, sind wir: ja, inseiner Erscheinung: nimmer in seinem absoluten Seyn« (GA II/13, 60).

Werden diese kritische Scheidung der Bedeutungen von Sein und dieFunktion der absoluten Reflexion und Sich-Besinnung in Fichtes Ausgangvon Spinoza im Auge behalten, dann werden Einwendungen fraglich, wel-che diese letzte vollkommene Fassung der W.L. 1812 in ihrem Gesamtaufbauin Frage stellen. Das gilt für den Einspruch gegen die Struktur einer dreifa-chen Hierarchie von Gott, Erscheinung (Ich) und Gegenstandswelt, derFichte eine Vermischung der metaphysischen Bedeutung von Sein, demEinssein des höchsten und eigentlich Seienden (Gott) mit dem ontologi-schen Sinn von Sein, der das Sein alles existierend vorfindlichen Seiendenbedeutet, unterstellt (J. Brachtendorf). Und das dürfte mit dem Einspruchstreiten, die W.L. 1812 leide darunter, daß sie Fichtes Wissenschaftslehre alsTheorie des Selbstbewußtseins übergehe und die Problematik einer reinen

256 Teil III: Fichte

sich wissenden Selbstbeziehung verkürze (P. Falk).41 Da aber nun die Tragfä-higkeit der W.L. 1812 auf jenen Grundlagen des Verständnisses von Sein undDasein, von absolutem Wissen und Selbstbewußtsein aufruht, die in derWahrheits- und Erscheinungslehre von 1804 aufgerichtet worden waren, sei-en vorerst diese Fassungen der ungeschriebenen Lehre auf ihre Haltbarkeithin untersucht.

3. Abschnitt: Grundlegung der aufsteigenden Einheits- undVernunftlehre. Eine Durchsicht (W.L: 1804-II, 10.-15. Vortrag)

1. Kapitel: Überblick über den Aufstieg zum Ursprung wahrer Einheit.Vorbemerkungen zur Abstufung von Idealismus und Realismus

Die Grundlegung eines Systems der gesamten, d.i. der theoretischen, prak-tischen und religiösen Wissenschaft ist Aufgabe der Ersten Philosophie alsPrinzipienforschung seit Plato. Sie war in der Jenaer Grundlegung epochalund wirkungsgeschichtlich blitzartig einschlagend angelegt worden. Undsie erreicht im 2. Vortragszyklus der Berliner Vorträge der ungeschriebe-nen Lehre einen Höhepunkt. Diese reife Fassung übernimmt in transzen-dentaler Besonnenheit die alte Aufgabe, die metaphysische Frage nach derEinheit von Einheit und Vielheit des Seins zu lösen. Dafür bahnt sie auf-steigend einen Weg zur absoluten Einheit, auf dem alles Mannigfaltige aufeinen schlechthinnigen Einheits- und Seinsgrund zurückgeführt werdenkann. Das eröffnet zugleich den Weg zur Wahrheit, die von allem täu-schenden Schein, aber auch von der Mannigfaltigkeit gegenständlicher Er-scheinung geschieden ist.

Dieser Gedankengang geht über die Fassung der Wissenschaftslehre1801-02 hinaus. Diese hatte eine Wissenschaft vom reinen Wissen, das inintellektueller Anschauung das Wie ihrer Hervorbringung zur Einsichtbringt, entfaltet. Jetzt aber reicht die Grundlegung tiefer. Das geschieht da-durch, daß reines, absolutes Wissen als Erscheinung des in seiner Genesisundurchdringlichen Absoluten begriffen wird. Das setzt ein absolutes Seinvoraus, das seinem eigenen Da-Sein als Wissen einleuchtet. Und es läßtsich zeigen: Die ausgereifte zweite Berliner Vortragsreihe liegt noch der

41 Vgl. J. Brachtendorf: Fichtes Lehre vom Sein, 1995. – P. Falk: Fichtes späte Wissen-schaftslehre, 2006.

3. Abschnitt: Grundlegung der aufsteigenden Einheits- und Vernunftlehre. 257

letzten durchformulierten Fassung der Wissenschaftslehre von 1812grundlegend voraus. Dieses nun freilich nicht leicht zugängliche, wiewohlebenso folgerichtig wie komplex durchkomponierte Werk der philosophi-schen Weltliteratur ist inzwischen in neuerer Forschung gründlich er-schlossen und diskutiert worden (vgl. M. Gueroult 1930. – Vf. 1966, 1970,1993. – L. Siep 1970. – G. Meckenstock 1973. – J. Widmann 1977. – M. Brüg-gen 1979. – U. Schlösser 2000 u.a.m.).

Um für den Gedankengang der ungeschriebenen Lehre Fichtes in derFassung dieses Aufstiegs zu Einheit, Wahrheit und Sein eine leitende Durch-sicht zu gewinnen, ist er förderlich, dem Methodenweg zu folgen, den dieProlegomena vorgezeichnet hatten. Er führt folgerichtig von faktischen Ein-sichten aus zu höheren genetischen Einsichten hinauf, die sich in bestimm-ter Hinsicht wiederum als faktisch und somit als widersprüchlich erweisen,bis in einer höchsten Genesis der Ursprung von Einheit und Mannigfaltig-keit zu hellster Klarheit kommt. Diese Verfahren hat der 12. Vortrag nun füreinander übersteigende Standpunkte idealistischer und realistischer Ansich-ten vorgeführt: »So sind wir daher, unserm wissenschaftlichen Grundgeset-ze nach, stets zur höheren Genesis aufgestiegen, bis wir uns ganz in dieselbeverlieren werden« (GA II/8, 178). Dabei kommen vier philosophische Positi-onen zum Zuge: je eine des unteren Idealismus und Realismus wie je einedes höheren Idealismus und Realismus. Diese vier Standpunkte sind nichtwillkürlich historisch zusammengeklaubt, sie folgen notwendig der Gene-ralregel, faktische Grundtatsachen immer weiter fort in ihrem Entstehungs-und Konstruktionsgesetz zu erforschen. Sie bilden Stufen einer Leiter, aufder eine methodisch geregelte Vernunftwissenschaft bis zum obersten Ur-sprunge aufsteigt. »Mit einem Worte, deren Ansichten sind unsre dermaligeLeiter, bis wir zu ihrem Einheitsprincip kommen und dann ihrer unmittel-bar entbehren können« (13. Vortrag; GA II/8, 190).

Solcher Stufengang durchläuft also vier unterschiedliche Formierungenvon Idealismus und Realismus in ihrem sich übersteigenden Fortgang syste-matisch unter dem eigenen wissenschaftlichen Grundgesetz. Dem ent-spricht keineswegs wie in Hegels geistesgeschichtlicher Ideenlogik der Fort-gang der Philosophiegeschichte. Zwar weist Fichtes Vortrag auf jeder einzel-nen Stufe auf neuere konkurrierende Systembildungen hin – auf die Ansich-ten von Reinhold und Bardili, auf die Ergüsse Jacobis und natürlich auf dieVerschlimmbesserungen durch Schelling –, aber das geschieht in Nebenbe-merkungen, die nicht zur Sache selbst gehören. Sie beabsichtigen lediglich,sich gegen Einwendungen und Verunstaltungen inferiorer philosophischer

258 Teil III: Fichte

Schriftsteller zu verwahren, welche nicht von der Wissenschaftslehre, son-dern nur von einem Gespenst der Wissenschaftslehre sprechen. Die wahreWissenschaftslehre und die eigentlichen Grundprobleme kenne man garnicht (vgl. 11. Vortrag gegen Reinhold; GA II/8, 166). So verwandle Bardilisgegen Fichte gewendeter Realismus im Handumdrehen ein Urdenken in einUrsein und ignoriere das Problem, wie denn Ursein und Urdenken verbun-den seien (vgl. Brief an Reinhold vom 4. Juli 1800; GA III/4, 242). Jedenfallserschöpft sich Fichtes Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen idea-listischen und realistischen Standpunkten nicht in einer Polemik gegen zeit-genössische Konfusionen. In Rechnung zu stellen sind natürlich auch dieprovozierenden Streitpunkte im Briefwechsel mit Schelling, die in die Aus-arbeitung der WL 1804-II eingewirkt haben.42

Zudem ist es eine schwierige Frage, ob und wieweit Fichtes Vorträge von1804 indirekt und ohne Namensnennung Entgegnungen zu HegelschenEin- und Abschätzungen der Wissenschaftslehre oder auch Angriffe gegenHegels überschwengliche Grundlegung eines Identitätssystems enthalten.Daß Fichte auch die Kritik an Hegel im Blick hat und sich so nicht nur mitSchelling, sondern auch mit Hegel und dessen eigenständiger Position aus-einandersetzt, mag sich aus Fichtes Lektüre der ›Differenzschrift‹, aber auchaus einer Kenntnis von Glauben und Wissen erklären (R. Lauth). Immerhinist es doch eben wahrscheinlich, daß Fichte Hegels Gegen- und Grundstel-lung, wie sie sich früh abzeichnen, zur Kenntnis genommen hat. Schellinghatte Fichte ja auf das Erscheinen dieses Werkes aufmerksam gemacht. Solassen sich Fichtes Einwände gegen eine Synthesis post factum, gegen dieWidersprüchlichkeit eines sich selbst entzweienden Absoluten, gegen denspekulativen Begriff einer absoluten Identität als Argumente herauslesen,welche die Hegelsche Position meinen. Einleuchtender noch für die Gegen-stellung zu Hegel ist die Ansicht, daß Fichte aufgrund von Überlegungen,die mit den Argumenten Hegels gegen die frühe Wissenschaftslehre im we-

42 Vgl. dazu H. Traub: Schellings Einfluß auf die Wissenschaftslehre 1804, 2000. Die-ses monumentale Hauptwerk Fichtes habe sich geistesgeschichtlich in und durchdie Konkurrenz mit Schelling herausgebildet. Dabei könne als Anregung Schellingsnotiert werden: die Lösung des Idealismus-Realismus-Problems, die Darstellungs-form von Aufstieg und Abstieg, die Ergänzung der Genesis des Sehens durch eineGenesis des Seins. Allerdings dürfte die These, die W.L. 1804 sei nichts anderes alsein zu lang geratener Brief an Schelling, allzu pointiert sein.

3. Abschnitt: Grundlegung der aufsteigenden Einheits- und Vernunftlehre. 259

sentlichen übereinstimmen, 1804 eine Position erreicht, die sich der Hegel-kritik entzieht (L. Siep).43

Indessen sind Fichtes philosophiegeschichtliche Seitenblicke eher bei-läufig und okkasionell eingestreut. Fichte durchdenkt den Geist des Rea-lismus und Idealismus, wie er sich systematisch überzeitlich in einanderüberbietenden Einstellungen aufrichtet. Dabei gewinnen Positionen desRealismus durchaus eine förderliche, eigene Erschließungskraft. Schon dasmacht es zweifelhaft, Fichtes überlegene Grundstellung mit einer Formdesjenigen Idealismus zu identifizieren, die als leerer Reflexionsstand-punkt einem Realismus entgegensteht.

Das hatte bereits der Einbau eines unteren, qualitativen und eines höhe-ren, quantitativen Realismus in die Entfaltung der Jenaer Grundlage erwie-sen. Daran ist wenigstens stichworthaft zu erinnern.44 Im Anfange des Aus-baus der theoretischen Wissenschaftslehre stuft Fichte einen qualitativenRealismus als jene Bewußtseinseinstellung ein, welche dogmatisch vom Be-stehen an sich seiender Dinge außer uns ausgeht. Solcher Realismus erhebtdie qualitative Realität des Ansichseins der vorgestellten Dinge zum obers-ten Prinzip von Erkenntnis und Sein. Das wird idealistisch durch Reflexionauf die Gesetze unserer Denktätigkeit aufgehoben. Auf höherer Wissensstu-fe aber gewinnt ein quantitativer Realismus wieder die Oberhand. Dieser er-hebt ein Ansichsein des Nicht-Ich, das vom Fürsichsein des Denkens unab-hängig ist, zum letzten Erkenntnisgrund unseres theoretischen Weltbewußt-seins. Dieses Ansich ist der Anfang und Anstoß dafür, daß die ins Unendli-che gehende absolute Tätigkeit des Ich an einer Schranke auf sich zurückge-worfen wird und so eine teilweise, quantitative Einschränkung erleidet. Da-mit findet sich die Grundlegung der reinen theoretischen Vernunft am Ende

43 Vgl. R. Lauth: Hegel vor der Wissenschaftslehre, 1987, 135-174. – L. Siep: Hegels Fich-te-Kritik und die Wissenschaftslehre 1804, 1970. – Dazu J. Heinrichs: Fichte, Hegelund der Dialog, 1972. – Das Verdienst, die Fichtekritik der ›Differenzschrift‹ kri-tisch analysiert und damit eine Betrachtung der Streitsache auch von Fichtes Seiteinitiiert zu haben, gebührt H. Girndt: Differenz des Fichteschen und HegelschenSystems in der Hegelschen Differenzschrift, 1965.

44 Es ist ein Vorzug der Untersuchung von I. Schüßler: Die Auseinandersetzung vonIdealismus und Realismus in Fichtes Wissenschaftslehre, 1972, die systematischeEntwicklung der Durchgestaltungen von Idealismus und Realismus sowohl in derJenaer Fassung wie in den Berliner Vorträgen klar und deutlich herausgestellt zuhaben.

260 Teil III: Fichte

mit der Erfüllung ihres Leitsatzes ab: Das Ich bestimme sich selbst als be-stimmt durch das Nicht-Ich. Es ist der ethische Idealismus der praktischenGrundlegung, welcher diesen quantitativen Realismus aufhebt, indem ersich unter den Leitsatz stellt: Das Ich bestimme sich selbst als bestimmenddas Nicht-Ich. Und diese Entschränkung eröffnet zum Schluß die Aussichtauf eine absolute Einheit, die zwar nicht wie in Spinozas System schlecht-hinnige All-Einheit ist, wohl aber im Streben, alles Unvernünftige unter Ge-setze der Vernunft zu stellen, sein soll. Mit dieser Stufe eines ethischen Idea-lismus hat Hegel die Wissenschaftslehre alle Zeit seines Lebens identifiziertund ›aufgehoben‹. Sie ist in der Grundlegung 1804 weit überschritten wor-den.

Hier wird die idealistische wie die realistische Denkart als in der Wur-zel faktisch und daher als untauglich charakterisiert, das oberste Prinzip inabsoluter Genesis aufzuklären. Der Idealismus stellt sich auf den Stand-punkt der Reflexion, der alles reale Ansich auf das Denken des für sich sei-enden Bewußtseins zurückstellt. Dieser hartnäckige Reflexionsstandpunkt,der faktisch immerzu möglich ist, bleibt in der Wurzel dunkel; denn er be-läßt es bei dieser seiner einzigen Gewißheit, ohne weiter darüber Rechen-schaft zu geben. Nicht anders steht es mit der realistischen Denkart. Siesetzt den realen Inhalt unter Abstraktion von der Relation auf das fakti-sche Fürunssein als das schlechthinnige, an sich seiende Wahre. Das istselber bloßes Faktum, da der Realist keine weitere Rechenschaft darüberablegt, warum und nach welchem Entstehungsgesetz das Reale die Wahr-heit reinen Wissens ist.

Also ist die Wissenschaftslehre weder Idealismus noch Realismus. »Beidesind daher in der Wurzel faktisch, und noch ganz abgesehen davon, daß sie,einseitig aufgestellt, jedes das andere aufheben, tragen sie an sich das Zei-chen ihrer Untauglichkeit zum höchsten Princip der W.L. schon in ihrerFacticität« (12. Vortrag; GA II/8, 180). Gleichwohl sind die vier hervor-tretenden Positionen von Idealismus und Realismus nicht gänzlich zudurchstreichen. Sie behalten in ihrer eingeschränkten und zu Bewußtseins-momenten abgesetzten Wahrheit eine zweifache Funktion. Einer Wahrheits-lehre dienen sie als Stufen einer Leiter im Aufsteigen zum obersten Prinzip

3. Abschnitt: Grundlegung der aufsteigenden Einheits- und Vernunftlehre. 261

der Einheit, einer Erscheinungslehre dienen sie im Absteigen zur Vielheit alsBewußtseinseinstellungen, in welchen sich das Mannigfaltige konstituiert.45

2. Kapitel: Einblick in die Formierung der Gegenpositionen: das »lebendige Durch«

Der neue Ausgang, der zu den weiterführenden Gegenstellungen von Idea-lismus und Realismus hinleitet, ist das problematische Resultat einer geneti-schen Klärung. In ihr kommt jenes Fundierungsverhältnis, welches Begriffund Leben aufbaut, zur genaueren Ansicht. Das stellt der 11. Vortrag fest. »Esist daraus klar, daß das Leben als Leben nicht im Durch liegen könne, ob-wohl die Form, welche hier das Leben annimmt, als ein Uebergehen von Ei-nem zum Andern, im Durch liegt« (GA II/8, 160). Faktisch liegen das Durchund das Leben zusammen vor. Das ist evident, und jedermann kann es, beigenügender Aufmerksamkeit, in seinem Bewußtseinsvollzug finden. Dabeibenennt die befremdlich wirkende substantivierte Präposition ›das Durch‹sachgerecht das dia-lektische In-Beziehung-Setzen unseres Begriffsvermö-gens. Seit Platos Entdeckung des Begrifflichen kommt die vielgültige Einheiteiner Idee eben dadurch zustande, daß Eines in seinem wesenhaften Sein ansich (eidos) durch eine durchgängige Ansonderung von allem anderen, dases nicht ist, umgrenzt, definiert, wird. Das gilt in der neuzeitlichen Wendevon der Platonischen Idee zur Cartesischen Vorstellung, zur idea qua per-ceptio, auch für den Durchgang der Fichteschen Grundbegriffe. In den Er-hebungen der Jenaer Grundlegungen wird das Ich ja dadurch definiert, daßes nicht Nicht-Ich ist, und das Nicht-Ich dadurch, daß es nicht Ich ist. Mit-hin geht der Begriff von Einem, es in seinem Eigenwesen erfassend, abgren-zend, durchnehmend, zum Anderen über. In dieser Form des fort- und zu-rückgehenden Übergehens vom einem zum anderen lebt die Wirklichkeit,der aktuose Vollzug, die Energie unserer Vernunftnatur. Also kommt fak-tisch das Leben geistiger Tätigkeit und reiner Aktuosität in der Form dialek-tischen Durch-Nehmens zum Vollzug. Aber lebt unsere Vernunfttätigkeit

45 Zur Textkommentierung vgl. Vf.: Fichte. Sein und Reflexion, 1970. – Eindrücklichhat der verdienstvolle japanische Fichteforscher und Fichteübersetzer Ch. Kuma-moto: Sein – Bewußtsein – Relation beim späten Fichte, 1979 den Weg des Bewußt-seins zur absoluten Einheit als Weg der Reflexion auf seinen Ursprung, der zu-gleich der Weg der Negation desselben ist, erläutert und den Mittelpunkt im Gesetzermittelt: Das Wissen soll sich sehen als Schema göttlichen Lebens.

262 Teil III: Fichte

ursprünglich aus sich selbst? Anders, Kant näher gefragt: Ist die einigend-sondernde Einheit des reinen Selbstbewußtseins ein Urakt der Spontanei-tät? Die Wissenschaftslehre 1804 fällt über die Dynamis des Durch ein Ur-teil, das für den Prinzipienanspruch der idealistischen Subjekt-Metaphysikwortwörtlich tödlich ist. »Es hat, bei aller Anlage des Lebens, dennoch insich selber nur den Tod« (GA II/8, 160).

Es besitzt die Anlage zum Leben. Das ist ein alter, Platonisch-Aristoteli-scher Grundsatz über unsere denken könnende Seele. Sie ist Anlage, Mög-lichkeit, Ideen wirklich vernehmen zu können. Nach Plato heißt ja die SeeleOrt der möglichen Anwesenheit von Ideen. Das besagt in neuzeitlicherTransformation: Unser Bewußtsein hat die Fähigkeit, sondernd einigend dieDinge durchnehmend zu begreifen. Gleichwohl ist es in sich selbst tot,»eben weil es keinen Grund in sich hat, zur Verwirklichung zu kommen«(10. Vortrag; GA II/8, 154). Dem Akt des Bewußtseins eignet die Bewegungs-form eines In-Beziehung-Setzens im Hin- und Hergang vom einen zum an-deren, aber es bewegt sich anfänglich und ursprünglich nicht von sich selbst.Mithin ist zu unterscheiden: Daß eins nur durch das andere begreifbar wird,schuldet es der Form des Durcheinander; daß dagegen die Anlage der Ver-nunftform zu wirklichem Leben kommt, ist nicht der Durchheit geschuldet.Das hat Folgen für die Lebendigkeit der Ichheit. Ist das begreifende Durch-nehmen Verfassung des Ich-denke und ist das nur Anlage und Vermögen,aber nicht lebendiger Ursprung, dann ist eben das Durch an ihm selbst tot.Damit ist ersichtlich: Das von sich lebende geistige Leben, mit Fichte zusprechen: das sich selbst effizierende Licht, kommt nicht dem Durch als ei-nem solchen zu. Das nötigt zur Frage: »Wie soll es denn mit diesem [...] insich todtem, eben weil es keinen Grund in sich hat, zur Verwirklichung zukommen, wie soll es, sage ich, mit diesem also beschaffenen Durch, jemalszum Leben kommen?« (GA II/8, 154). Faktisch ist dabei evident: Ist dasDurch in allen Vernunftvollzügen da und lebendig und lebt es nicht aus sichselbst, dann lebt es aus einem Leben, das aus sich selbst lebt. Mithin vollziehtdas sich begreifende Wissen der Vernunft nicht sein eigenes Leben. Es ist inWirklichkeit und Wahrheit das Leben des Absoluten, das in ihm lebt undimmer actu da ist. Die faktisch evidente Existenz des Durch, des dia-lekti-schen Begreifens, setzt ein Leben jenseits seiner voraus. »Resultat: Existenzeines Durch setzt ein ursprüngliches, an sich gar nicht im Durch, sondern insich selbst begründetes Leben voraus« (11. Vortrag; GA II/8, 160). Das ent-spricht ja auch der Aristotelischen Vernunftlehre, welche dem Nous patheti-kos die Anlage und Möglichkeit, dem Nous poietikos die aus sich lebende

3. Abschnitt: Grundlegung der aufsteigenden Einheits- und Vernunftlehre. 263

Wirklichkeit zuwies und diesen lichtenden Nous »das Göttliche in uns«nannte. Genetisch unklar aber ist noch der Vorgang, wie es zur Einsicht indas Gründungsverhältnis von Begriffsform und dem geistigen aus sich le-benden Leben kommt.

Hier kommt ein Gesetz zum Austrag, welches das Bedingungsverhält-nis eines Soll – dann muß aufstellt. »Soll es wirklich zu einem Durch kom-men, so wird ein inneres, an sich vom Durch unabhängiges, auf sich selberruhendes Leben als Bedingung der Möglichkeit vorausgesetzt« (12. Vor-trag; GA II/8, 176). Wie aber dieses transzendentale Verhältnis der notwen-digen Bedingung einer bedingten Möglichkeit ausgelebt wird, hängt vomGeist und von der Maxime philosophischer Stellungnahmen ab. Hieranscheiden sich die Geister der Idealisten und Realisten.

So besteht der Idealist hartnäckig auf dem Primat der Form dieser Ein-sicht. Er hält daran fest, daß ein vorauszusetzendes Absolutes doch vonuns gesetzt sei und daher im Wissen um dessen freie Operation seinen Ur-sprung habe. Der Realist dagegen hält sich seiner Geistesart gemäß prinzi-piell an Inhalt und Realität des Unbedingten. Er besteht darauf, daß wirendliche Vernunftwesen die Wahrheit nicht erzeugen, sondern daß dieWahrheit, uns ergreifend, das Licht in uns erzeugt. Ihm gilt das geduldigeSichhingeben an das reale Licht der Wahrheit und des Lebens an sich alsdie angemessene Tugend und Tüchtigkeit eines denkenden Vernunftwe-sens. So lehrt der Realismus, daß das Wahre und das absolute Ansichseineines aus und von sich lebenden Lebens uns dann ergreift, wenn wir nurdavon ablassen, die Spontaneität des Ich-denke als Quelle und Bedingungzu feiern, die alle unsere Vorstellungen begleiten und verwirklichen muß.Es wird sich zeigen, daß beide Standpunkte nicht nur einseitig sind undfaktisch befangen bleiben, sondern einem archaischen Widerstreit in derRiesenschlacht um das Sein zwischen Ideen- und Materiefreunden verfal-len.

3. Kapitel: Entfaltung der archaischen Antinomie

Im Kantischen Verstande liegt eine Antinomie und Widergesetzlichkeitgerichtlich da vor, wo zwei Parteien für ihre entgegengesetzten Ansprüchedas eine und selbe Gesetz in Anspruch nehmen. Solche Antinomie liegtnun im uralten Widerstreit zwischen den Parteien der Ideen- und Mate-riefreunden um die Wahrheit und Prinzipien ihrer obersten Grundsätze,der Archai, vor. Sie kann daher ›archaische Antinomie‹ heißen und läßt

264 Teil III: Fichte

sich im Aufsteigen der Wissenschaftslehre als Prozeß der Idealisten mitden Realisten entfalten. Das geht tiefer auf die Antinomie ein als die welt-anschaulich verkommenen Parolen: Das Bewußtsein bestimmt das Sein –das Sein bestimmt das Bewußtsein. Genauer zugesehen erhebt der Idealistvor dem Gerichtshof der Vernunft den Anspruch, das Recht und Gesetzvon Einheit und Wahrheit auf seiner Seite zu haben, nämlich die Satzungund Energie des sich wissenden und wollenden Wissens. Dem wider-spricht der Realist. Der behauptet das Recht und die Befugnis eines Ansichund der Allrealität, wahrer Grund und Anfang von allem zu sein. Er beruftsich am Ende auf das aus sich lebende und durch sich selbst bestehendeLeben. Beide Parteien berufen sich für ihre entgegengesetzten Ansprücheauf dasselbe Gesetz: Soll es zum wirklichen Lebens- und Lichtakt desDurch kommen, so ist als notwendige Bedingung dieser Möglichkeit einabsolutes Leben vorauszusetzen.

Paradigma eines archaischen Widerstreits ist natürlich Platos Eingehenauf die immer wieder ausbrechende Riesenschlacht oder die Gigantoma-chie um Wesen und Sein (Sophistes 246c). Diese Schlacht entbrennt im-mer neu zwischen Ideen- und Materiefreunden. Plato läßt sich auf diesearchaische Antinomie ein mit dem Ziel, den einseitigen Idealismus besserzu machen, ihn zu vollenden und dadurch den Streit um die Wahrheit undEinheit des Seins siegreich zu Ende zu bringen.

Für eine Explikation der neuentfesselten Antinomie sind zuerst die ide-alistischen, sodann die realistischen Argumente zu hören, um endlich denWiderstreit aus dem Geist und Charakter noch einseitiger Grundstellun-gen herzuleiten und in einem Standpunkt aufzuheben, der einer realisti-schen All-Einheitslehre und einem formalisierten Reflektiersystem dieVorsicht und Disjunktionskraft transzendentaler Besonnenheit voraushat.

Der Rechtsanspruch des Idealismus im Blick auf den Bedingungs-zusammenhang von Begriff und Sein bzw. von Durch und Leben lautet: DieOperation, mit welcher das absolute Wissen seiner Voraussetzung, eines ur-sprunghaften Lebens und Lichtens, bewußt werden soll, beginnt doch da-mit, daß wir den Begriff des ›lebendigen Durch‹ energisch denken. Wovonsonach die Einsicht in die Unabtrennbarkeit von Durch und Leben ausgeht,ist die Energie und die freie Anstrengung des Bewußtseins. Nicht das allrea-le Leben eines Unbegreiflichen außer und über uns, sondern der innere Akteines Denkens ist Anfang und Grund dieser Evidenz. »Das innere Leben die-ses Begriffes sei Princip der uns ergreifenden energischen Einsicht eines Le-bens jenseits« (12. Vortrag; GA II/8, 176). Das schlägt eine realistische Positi-

3. Abschnitt: Grundlegung der aufsteigenden Einheits- und Vernunftlehre. 265

on mit der Behauptung nieder, die Hypothesis eines bewußtseinsunabhän-gigen, göttlich-absoluten Lebens an sich sei nichts als ein notwendiger Ge-danke. Und der Idealismus beharrt auf dem inneren Leben des Begriffs undbeansprucht nach wie vor den Aktus der Spontaneität des Ich-denke als denMittelpunkt, von dem aus die Vorstellung allrealen Lebens ausgeht. »Somitist der wahre Mittelpunkt, das eigentlich ideale prius, nicht einmal mehr derBegriff, sondern das inwendige Leben, dessen posterius erst der Begriff ist«(11. Vortrag; GA II/8, 162).

Und dieser idealistische Prinzipienanspruch beruft sich eben auf dasGrundgesetz allen Wissens: Soll das Absolute als solches einleuchten, dannmuß der Begriff ein absolutes Ansich voraussetzen. Dieses problematischeSoll legt der Verteidiger des Idealismus so aus: Das unbedingte, an sichselbst bestehende und von sich aus lebende Licht und Leben ist unter eineBedingung seiner Möglichkeit gesetzt, nämlich daß es zum inneren Lebendurchnehmenden Begreifens komme. Das Sollensgebot ergeht zuerst an dieSelbständigkeit und Spontaneität des immanenten Wissensvollzugs. »DasSoll ist eben der unmittelbare Ausdruck seiner Selbstständigkeit; aber ist sei-ne innere Form und Wesen selbstständig, so ist auch sein Inhalt selbststän-dig« (GA II/8, 162). An der freien Selbständigkeit und Energie des innerenBewußtseins hängt der tiefere Zusammenhang von Begriffsform und Allre-alität, von Ansichsein und Fürunssein, von Durch und Leben. »Dies, sageich, wäre idealistisch argumentiert« (11. Vortrag; GA II/8, 164).

Diesen Arche-Anspruch bestreitet der Realist. Dessen Grundüberzeu-gung lautet: Anfang und Realgrund ist das vorauszusetzende, aus sich selbstlebende, alles belebende Leben und das sich selbst effizierende, alles erhel-lende geistige Licht; und dieses allreale Wesen ist nicht für uns und schongar nicht durch uns erzeugt, sondern schlechthin an sich. Das hat selbst einnaiver Realismus erklärt. Das Wahre ist das Sein an sich; das Sein bestimmtunser Bewußtsein. Im Andenken an die Konfundierung von dialektischemBegreifen und urrealem Leben erhebt sich der Realismus zu einer kritische-ren Einstellung. Wovon dieser Zusammenhang ausgehe und worin er grün-de, sei nicht die formale Tätigkeit und das innere Leben des durchgehendenBewußtseins, sondern das Ergriffensein vom absoluten Inhalt. Es ist ein sichselbst effizierendes Licht, das uns einleuchtet, nicht unser Licht, welches dasAbsolute erleuchtet. Daher schreibt die Generalregel des Realismus vor,»daß man nur nicht hartnäckig auf dem Princip des Idealismus, der Energieder Reflexion, beharre, sondern sich nur geduldig jener gegenüberstehendenEinsicht hingebe. Realistische Ansicht« (12. Vortrag; GA II/8, 178).

266 Teil III: Fichte

Nun beruft sich auch dieser Arche-Anspruch auf das nämliche Grund-gesetz: Soll es zur Existenz des Durch kommen, so muß ein aus sich leben-des und an sich bestehendes urreales Leben sein. Realistische Auslegungaber negiert das innere Leben im Bewußtsein als Anfang, um das Bedin-gungsverhältnis umzukehren. Nicht steht das absolute Leben unter der Be-dingung, als notwendiger Gedanke von uns vorausgesetzt zu werden. Unse-re Form des reflektierenden Wissens und des durchlaufenden Begriffs stehtunter der Bedingung, sich vom Absoluten ergreifen zu lassen, ohne das Ge-setz des Einleuchtens fassen und diktieren zu können. Soll das Absolute ein-leuchtend da sein, dann muß der Begriff sich setzen und sich vernichten,und das heißt jetzt: dem idealistischen Prinzipienanspruch entsagen. »Die-ses so eben geführte und näher charakterisirte Räsonnement ist nun das re-alistische« (11. Vortrag; GA II/8, 168). Soweit ist die archaische Antinomie ex-pliziert. Sie wird nun dadurch entkräftet, daß der Geist beider Gegenpartei-en in seiner Beschränktheit bloßgestellt und in seiner bloß faktischen Radi-kalität entlarvt wird. Der Geist des Idealismus ist borniert. Er begnügt sich jaeinseitig mit der reinen Form aller Vorstellungen, hält diese für das Ersteund Unbedingte und erklärt den realen Inhalt zum ableitbaren, objektivier-baren Zweiten und Bedingten. Außerdem ist er hartnäckig, da er in keinemFall und auf keiner Stufe davon abläßt, alles Sein an sich als ein von uns vor-gestelltes Bestehen außer uns zu erklären. So erscheint eben selbst das allre-ale Leben des Absoluten als ein von uns notwendig zu denkender und alssolches zu reflektierender Gedanke.

Diese Einseitigkeit idealistischer Reflektiersysteme rührt von der Faktizi-tät dieser Denkart her. »Sie war daher in ihrer Wurzel faktisch, nicht etwa inBeziehung auf etwas Anderes ausser ihr (z.B. der Kantische höchste Satz),sondern in Beziehung auf sich selbst. Sie setzt sich eben schlechthin, worausnun alles Uebrige von selbst folgt; und über dieses absolute Setzen entbindetsie sich der weiteren Rechenschaft« (12. Vortrag; GA II/8, 178-180). Das evi-dente Faktum des Idealismus besteht in der Einsicht, daß das Denken ist, so-fern und solange es sich selber setzt – nicht nur in Kants Grundsatz, daß dasIch-denke alle meine Vorstellungen von anderem muß begleiten können.Der unvollendete Idealismus baut auf diesem Grunde. Das ist zwar evident,aber eben nur faktisch und ohne genetisch ausgewiesene Klarheit.

Nun steht es aber mit dem Geist des Realismus nicht besser. DessenÜberprüfung ergibt, daß auch er einseitig, beschränkt und faktisch ist, in-dem er sich mit Tatsachen begnügt und daher an einem Mangel an Selbst-aufklärung und Selbstdurchdringung leidet. Seine Maxime ist einseitig auf

3. Abschnitt: Grundlegung der aufsteigenden Einheits- und Vernunftlehre. 267

einen an sich bestehenden Inhalt unserer Einsicht fixiert. Sie leitet dazuan, von der hartnäckigen Reflexion ganz abzulassen und nicht zählebig zuwiederholen, daß jegliches Sein an sich doch nur als solches, also in son-dernder Wissensform erscheint. So aber verabsolutiert der Realist die in-haltliche Seite und gibt die Form preis. Im Streite um das Einheits- undWissensprinzip bedeutet das: Der Geist des Realismus gewinnt zwar unge-sonderte Einheit und ursprüngliches Leben, aber er verliert die Mannigfal-tigkeit und Vielheit aus den Augen, wenn denn das Prinzip aller Spaltungin den reinen Formen unseres Selbstbewußtseins liegt. Deren Erzeugungs-gesetze und Schematismen sieht der einseitige Blick des Realisten nicht.

Und auch im Falle realistischer Rechtsansprüche ist deutlich: Deren blin-de Einseitigkeit gründet in einer bloß faktischen Evidenz. Der Realist stütztsich auf den vorfindlichen Inhalt eines Seins, das an sich und außer uns be-steht und von sich lebt, ohne das Gesetz seiner Genesis zu bedenken. »Die-ses Beruhen im Inhalte aber ist selber ein absolutes Faktum, das sich eben,ohne weitere Rechenschaft über sich geben zu wollen, absolut macht« (12.Vortrag; GA II/8, 180). Der realistische Geist glaubt sich der Einsicht verge-wissert zu haben, daß ein an sich seiendes, auf sich beruhendes und von sichlebendes Sein ist. Er enthebt sich der Aufgabe, sich darauf zu besinnen, wieihm dieser Inhalt entstanden ist und ihn ergreifen konnte. Mithin hängtauch dem realistischen Prinzipienanspruch der Mangel bloß faktischer Evi-denz an. Beide im archaischen Streit liegende Seinsansichten sind also glei-chermaßen in der Wurzel faktisch. Dieser Urteilsspruch löst die archaischeAntinomie und die über 2000jährige Riesenschlacht um Scheinproblemeauf und bereitet eine absolute Synthesis von Wissen und Leben vor, welchesich von den Relationen sowohl eines höheren Idealismus als auch eines hö-heren Realismus absolviert.

4. Kapitel: Überstieg über die Standpunkte des höheren Idealismus und höheren Realismus

Um den adäquaten Standpunkt eines philosophisch haltbaren Selbst- undSeinsverständnisses zu gewinnen, ist es nötig, über die faktischen Rest-bestände eines aufsteigenden Idealismus und Realismus hinauszudringen.Das erfordert, auch die Abstufungen dieser Gegenpositionen ins Auge zufassen, eben auch darum, um gängige Identifizierungen der Wissenschafts-lehre mit Idealismen zu durchstreichen, welche die ungeschriebene Lehregründlich aufgehoben hat. Worin also liegt, zuerst gefragt, der behauptete

268 Teil III: Fichte

Niveauunterschied zwischen einem unteren und höheren Idealismus? Einunterer Idealismus hält sich auch im Gewahren des Lebendigen durchaus andie unaufhebbare Tatsache, daß das energisch vollzogene Sehen und Den-ken von etwas sich evidentermaßen seines Sehens und Denkens bewußt ist.Das ist der Haltepunkt für die Einsicht, daß der Begriffsform des dialekti-schen Durch und entzweienden Als die Urrealität des durch sich bestehen-den und von sich lebenden Lebens vorauszusetzen ist. Es sei eben der Voll-zug des sich sehenden Sehens, welcher den Begriff in seiner durchnehmen-den Formalität durchdenkt und ein ursprüngliches Leben voraussetzt. Frei-lich kommt solch ein Reflexionsstandpunkt des unteren Idealismus nie zueinem Unbedingten. Er läßt keinen schlechthin an sich seienden Ursprungzu, da er ihn ja als seine eigene notwendige Bedingung ausdenkt. Dagegensteigt der höhere Idealismus zur Anerkennung eines Unbedingten auf. Erwendet sein energisches Denken direkt auf ein absolutes Ansich, dergestalt,daß er sich einer lebendigen Sichkonstruktion des Absoluten hingibt. Soleuchtet dem absoluten Wissen das sich selbst effizierende Licht ein, »wel-ches einen neuen, jedoch höher liegenden Idealismus gäbe« (12. Vortrag; GAII/8, 186). Dieser Standpunkt ist den Versicherungen eines unablässig auf dieReflexionsform pochenden Idealismus überlegen, der jegliches Ansichseinabstreitet und selbst die Selbstkonstruktion des Absoluten als einen von unskonstruierten Gedanken behauptet. Der höhere idealistische Standpunktleugnet die Selbstkonstruktion des Absoluten nicht, aber er bleibt idealis-tisch-faktisch. Der zentrale Mittelpunkt im Aufstieg zur Selbstkonstruktiondes Absoluten durch Vernichtung der Reflexionsform ist die Freiheit einesenergischen Denkens. Sie ist es, die dem Soll entspricht. Soll es zum Absolu-ten in Vernichtung des Begriffs kommen, dann muß der Begriff energischintuiert werden. »Also, ungeachtet wir nicht läugnen können, daß es sichselber construirt und mit sich das Licht, war doch dieses Alles bedingt durchunsere energische Reflexion, diese sonach das höchste Glied von Allem« (18.Vortrag; GA II/8, 192).

Wie der Idealismus hat sich auch der Realismus auf ein höheres Wissens-niveau begeben. Der niedere und naive Realismus, besteht, wie gesagt, aufdem einseitigen Faktum, daß unser Bewußtsein ein an sich bestehendes Re-ales außer sich so vorstellt, daß es durch das reale Ansichsein richtiggehendbestimmt ist, und erklärt eben dogmatisch, das Sein bestimme das Bewußt-sein. Ein höherer Realismus nimmt zur Kenntnis, daß das Sein an sich denSinn enthält, Negation des Fürunsseins zu sein und daher nur negativ be-griffen werden kann. Zugleich erklärt dieser höhere Realismus, diese Sinn-

3. Abschnitt: Grundlegung der aufsteigenden Einheits- und Vernunftlehre. 269

gebung bedeute, die positive Konstruktion des urrealen Seins durch uns ab-zuschreiben und die Selbstkonstruktion des Absoluten einzuräumen. Mitdieser Sichtkonstruktion gehe unabtrennlich das sich selbst effizierendeLicht geistigen Lebens und Intuierens auf. Und diese Ursprungsgeschehensei unbedingt. Es sei nicht auf die Reflexionsform unseres endlichen Be-wußtseins angewiesen. »Unmittelbar mit dieser seiner Construction warnun die Intuition, das absolute Entsprechen des Lichtes und der Einsichtverknüpft. Dieses wollen wir jedoch nicht erzeugt haben, indem es offenbarsich selber erzeugt und uns mit sich fortreißt. – Also die absolute Sichcon-struction des Absoluten, und das ursprüngliche Licht, sind ganz und gar dasEine, Unzertrennliche, und das Licht geht selber aus dieser Sichconstruction,so wie diese wieder aus dem absoluten Lichte hervor. Es bleibt demnach hiervon einem vorgegebenen Uns Nichts übrig: – und dies wäre höhere realisti-sche Ansicht« (12. Vortrag; GA II/8, 186). Diese Ansicht scheint zuhöchstdem Anspruch gerecht zu werden, die Ursprungsverhältnisse von Licht undLeben zu klären. Und sie macht denn auch evident, wie die Selbstkonstruk-tion des sich selbst erzeugenden Lichtes uns zum Bewußtsein kommt, näm-lich durch Vernichtung des Begriffs als dem Ersten Ursprunge und durchAbsetzung des Ich-denke als ursprünglich einigenden Anfangsgrund.

Nun aber ist auch das schon deutlich geworden: Das unterstellte Ansich-sein, das aus sich lebende und lichtende Leben, ergibt keineswegs einen be-greifbaren Einheitsgrund, auf den alle Zweiheit, Mannigfaltigkeit, Vielheitzurückzuführen ist; denn es enthält Zweiheit und Relation, sofern es alleinin der Korrelation zum Fürunssein Bedeutung gewinnt. An sich zu sein be-deutet, nicht für uns zu sein. Hier stößt der Realismus an seine Grenze. Ersollte zu einer unentzweiten ursprünglichen Einheit aufsteigen, er bringt esaber nur zur relativen Einheit, die erst durch die Zweiheit von Ansich undFüruns zu fassen ist. »Mit Einem Worte, das Ansich, tiefer erwogen, ist keinAnsich, kein Absolutes; denn es ist keine wahre Einheit, und sogar unser Re-alismus ist nicht zum Absoluten durchgedrungen« (14. Vortrag; GA II/8,222). Was er bietet, ist die Projektion einer Einheit allein durch Zusammen-setzung zweier vorgegebener Glieder.

Folgenreicher noch für die Vollendung von Einheits- und Identitäts-systemen ist die Grundregel einer undurchschauten proiectio per hiatum.»Ferner geschieht dies Projektion schlechthin unmittelbar, per hiatum,ohne gehörige Rechenschaft von sich ablegen zu können« (GA II/8, 224).Seit Plato verlangt philosophisches Forschen Rechenschaft aus Gründenzu geben (logon didonai), und auch der philosophische Geist des Realis-

270 Teil III: Fichte

mus fordert, Rechenschaft über das Faktische aus zuständigen Entste-hungsgesetzen zu geben und keine irrationale, durch keine ratio vermittel-te Kluft zuzulassen. Gleichwohl klafft in der Systembildung des höherenRealismus solche irrationale Kluft auf. »Denn wie aus der Einheit, als blo-ßer reiner Einheit, ein Ansich und Nichtansich folge, läßt sich nicht erklä-ren« (GA II/8, 224).

Wenn die Grundstellung des höchsten Realismus keine genetische Evi-denz auf ihrer Seite hat, so behält es lediglich das Faktum unmittelbaren Be-wußtseins zum Unterpfand. Sie stützt sich allein auf die Möglichkeit, dasAnsich zu denken und als Selbstkonstruktion zu unterstellen. Mithin bautder Realismus auch auf höchster Stufe undurchschaut auf die Möglichkeitund Anlage des Bewußtseins. Das aber zwingt zu einem überraschendenEingeständnis. Der höhere Realismus sei ein sich selbst nicht kennenderIdealismus. »Unser höchster Realismus daher, d.h. der höchste Standpunktunserer eigenen Spekulation, ist hier selber als ein bisher nur in seiner Wur-zel verborgen gebliebener Idealismus aufgedeckt; er ist im Grunde faktisch,und proiectum per hiatum, besteht nicht vor seinem eigenen Gericht, undist nach der Regel, die er selbst aufstellt, aufzugeben« (GA II/8, 224).

Dieses Resultat gibt nun dem leitenden Grundgesetz allen Wissens fürden Aufstieg zum Absoluten seine äußerste Zuständigkeit frei. Das Gesetzverfügt: Soll das Absolute von sich einleuchten, dann muß der Begriff ge-setzt und vernichtet werden. Nun verurteilt dieses Gesetz nicht nur denIdealismus, sofern und solange er auf der Bewußtseinsrelation, demFürunssein des Ansich, und auf der sondernd-vereinigenden Reflexions-form, dem Durch und dem Als, besteht. Es zwingt auch den höheren Rea-lismus zur Aufgabe, sofern dieser am Ende doch an der Bewußtseinsbezie-hung hängt. Das fördert die für eine vollendete Systemgründung entschei-dende Frage zutage. Sie lautet nunmehr: Wie kommt ein Aufstieg zum ab-soluten Einheits- und Wahrheitsgrund über solche realistische und idea-listische Befangenheit in Bewußtseinsrelationen hinaus?

5. Kapitel: Einsicht in Fichtes These vom Sein

Wie also kommt es am Ende des Aufstiegs zu einer Grundlegung, welchedem Methodenplan zufolge alles Mannigfaltige auf absolute Einheit zu-rückführt? Näherhin gefragt: Durch welche methodische Operation lassensich alle Abstufungen unserer Bewußtseinsrelationen fortbringen, um zueinem einfachen, relationslosen Absoluten zu kommen, welches das Sys-

3. Abschnitt: Grundlegung der aufsteigenden Einheits- und Vernunftlehre. 271

tem einer vollendeten Vernunftwissenschaft trägt? Fichtes weithin überse-hener Bescheid lautet: Das geschieht im besonnenen Verfahren einer abso-luten Abstraktion. Solche Abstraktion geht radikal so vor, daß sie von allenRelationen des Ansichseins und Fürunsseins absieht, in denen die lichtvol-le Lebendigkeit des Seins idealistisch wie realistisch befangen bleibt. Zwarkönnen wir die Bezüge der Reflexion und die Relationen des Selbstbe-wußtseins und Weltbewußtseins niemals vom Sagen und Denken des Ab-soluten in seiner einfachen, ungesonderten Einheit abhalten. Aber wirkönnen sie als inadäquat in Rechnung stellen und gleichsam vom Resultatabziehen. Dabei erweist sich die absolute Abstraktion als ein positivesWegsehen. Sie vollbringt ein hinwegsehendes Zusehen, welches zusieht,was nach Abzug aller Bewußtseinsrelationen und nach Absehen von derdialektischen Begriffsform an Sein, Licht und Leben übrigbleibt.

Der Einwand (Hegels), das Wegnehmen dessen, was das Werkzeug desBegriffs am Absoluten getan hat, lasse das Absolute, wie es war, trifft Fich-tes Standpunkt kritisch abstrahierender Besonnenheit nicht. Nach Hegelist die Arbeit des absoluten Begriffs die Selbstentfaltung des einfach-einenSeins und Wesens zur Fülle der absoluten Idee. Für kritische Besonnenheitist die formale Schematisierungsleistung des Begriffs dagegen die Entfal-tung des Seins als vergegenständlichte Erscheinung. Und das wird zumSchein, wenn die Entstehung der Erscheinungsmannigfaltigkeit mit derSelbstentfaltung des Absoluten vermischt wird, wie es in den Identitätssys-temen Schellings und Hegels geschieht.

Für das Verfahren der Wissenschaftslehre 1804 jedenfalls ist diese Vollen-dungstendenz festzustellen. Das Vorgehen der absoluten Abstraktion über-bietet dabei die Methode relativen Abstrahierens, wie sie die frühe Einlei-tung vorgeführt hatte. Die frühe Auseinandersetzung mit allem Dogmatis-mus hatte argumentiert: Das, was in aller Erfahrung vorliegt, ist eine Verbin-dung von Ding und Intelligenz; wird nun angesichts des vorgestellten Din-ges davon abstrahiert, daß es ein von uns Vorgestelltes ist, dann bleibt dasDing an sich übrig, und der Dogmatismus hat durch Wegsehen sein Prinzipersehen. Wird umgekehrt vom vorgestellten Ding abstrahiert, daß es als rea-les Ding und an sich bestehend seiend ist, dann bleibt die Intelligenz, d.i. dassich vorstellende Vorstellen als idealistisches Prinzip der Dinge als Erschei-nung übrig. Einer Durchdringung der Standpunkte eines höheren Idealis-mus wie des höheren Realismus ist klar geworden: Beide Prinzipienansprü-che verfahren einseitig abstrahierend und bleiben im Faktum der Subjekt-Objekt-Relation hängen. Erst eine absolute Abstraktion läßt die beidseitige

272 Teil III: Fichte

Relation des Ansichseins und Fürunsseins fallen, um das reine, einfache,eine Sein übrig zu behalten. Dieses absehende Sehen sieht zu, was das vonallen Relationen absolvierte Absolute in seiner Wahrheit ist. »Was ist nun indieser Abstraktion von der Relation dieses reine Sein?« (15. Vortrag; GA II/8,228).

Fichtes These vom Sein als Resultat einer absoluten Abstraktion lautet:»Das Sein ist durchaus ein in sich geschlossenes Singulum des Lebens undSeins, das nie aus sich herauskann« (16. Vortrag; GA II/8, 242). Und die Les-art der ›Copia‹ lautet: »Das Seyn ist durchaus ein in sich geschlossenes Sin-gulum des unmittelbaren lebendigen Seins, das nie aus sich heraus kann«(GA II/8, 243).46 Dabei spricht diese These vom Sein des Absoluten unterdem Vorbehalt der Besonnenheit aus, es sei objektiv unfaßlich. Um es über-haupt ins Auge zu fassen, ist eben die methodische Anstrengung uner-läßlich, alle Bewußtseinsrelationen in bisher ungeübter absoluter Abstrakti-on davon abzuziehen. Nur so komme es zur kritisch durchreflektierten Aus-sage, das Absolute sei alles Licht und Leben, aktivisches Wesen – esse inmero actu – ohne jedes weiter bestimmendes Prädikat. Es öffnet sich nichtdem Auge unseres sich intelligierenden Sehens, es bleibt in sich geschlossen.Dieses Geschlossensein in sich kann ›Inkludenz‹ heißen. Und diese Inklu-denz hebt sich ebenso streng von der Immanenz des Alls in der Einheit dereinzig-einen Substanz (Spinozas »Deus sive natura«) ab wie von der Diffe-renz-Lehre Schellings oder der Rede von der Identität und Nicht-Identitätbei Hegel. Ihr ist eine absolute Identität, die sich selbst entzweit und dasheißt: sich selbst paralysiert, fremd. Und ihr kommt schon gar nicht dasmerkwürdige Ansehen einer sich quantitativ differenzierenden Indifferenzzu. Und Fichtes These vom Sein verabschiedet auch die geometrische Me-thode eines Schlußfolgerns aus substanzmetaphysischen Axiomen. Spinozasmos geometricus, aber auch die spekulative Methodik des Identitätssystems

46 Ausgehend von dieser Seinsthese hat H. Minobe: Die Stellung des Seins bei Fichte,Schelling und Nishida, 2002 die Frage nach dem absoluten Sein neu zur Diskussiongestellt, und zwar in Betracht von Schellings Wendung gegen das Insichgeschlos-sensein des Absoluten für das göttliche Sein als unverborgene Wirklichkeit, sowieunter Einbeziehung von Nishidas ›reiner Erfahrung‹ vom ›Ort des Nichts‹ her. –Vgl. ders.; das Absolute in der Wissenschaftslehre 1804, 2000. – Den parallelenÜbergang vom Handeln zum Sehen bei Nishida und Fichte und die Differenz inder Transzendenz von Ort (Basho) und Licht hat A. Omine bedacht: Theorie desBewußtseins bei Fichte und Nishida, 1989.

3. Abschnitt: Grundlegung der aufsteigenden Einheits- und Vernunftlehre. 273

sind auf Ab- und Irrwegen transzendentaler Nicht-Besinnung. Da steigeeben das Eine und Unveränderliche selbst in das Veränderliche und Vielehinab und verfalle damit dem eigenen, inneren Widerspruch. Solch unbe-sonnenes Seinsverständnis und Systementfalten beirre eben »auch die Spi-nozisten unter unseren Zeitgenossen« (GA II/10, 188).

Nicht zuletzt trennt sich Fichtes Denkweg auf der Höhe seiner metho-disch erworbenen These vom Sein auch deutlich von der Glaubens-philosophie Friedrich Heinrich Jacobis. Sicherlich war dessen Briefabhand-lung Jacobi an Fichte, 1799 von beträchtlichem Einfluß. Da waren ja eben-falls das Ich als das sich selbst Übersteigende und Gott als das Unbegreifli-che angesehen. Jacobi beteuert: »Mit unwiderstehlicher Gewalt weist dasHöchste in mir auf das Allerhöchste über und außer mir; es zwingt mich,das Unbegreifliche – ja das im Begriff Unmögliche zu glauben« (JW III 35).Während aber Jacobi auf den »Instinkt der Vernunft« und auf das Glau-bensgefühl, das unsere Nichtigkeit erschließt, setzt, dringt Fichte auf wissen-schaftliche Evidenz. Und während Jacobi einen lebendigen Gott außer unspostuliert, deduziert Fichte das göttliche Leben, das, in sich geschlossen, inuns und nur in uns da ist und lebt.

Fichtes Satz vom Sein bedenkt das Absolute in seinem vollständigen In-einanderaufgehen von Leben und Bestand, von Subjektivität und Substan-tialität. Diese einfach-eine, ununterscheidbare, durch keine Reflexion auf-teilbare Einheit bleibt in sich. Es ist ein Singulum über aller Dualität undganz und gar inwendiges Leben. Dessen Einheit hat, nochmals gegen Schel-ling und Hegel eingeschärft, weder die Eignung sich dialektisch äußernderIdentität noch die einer differenzierbaren Indifferenz. Sie ist radikale, mitkeinem Wort weiter bestimmbare, unsägliche Inkludenz. Diese Fassung desinkludenten Seins faßt den Lebensgrund einer transzendentalkritischen ne-gativen Theologie. Sie erklärt: Nichts ist außer dem Einen, dem in sich un-zugänglichen, undurchdringlichen Sein und Leben wahrhaft seiend – außerdem absoluten Wissen als dessen Dasein, Bild und sich durchbildende Er-scheinung.47 So formieren wir zwar mittelbar unsere Erscheinungswelt, wir

47 K. Düsing: Vernunfteinheit und unvordenkliches Daßsein. Konzeptionen der Über-windung negativer Theologie bei Schelling und Hegel, 1987 entwickelt gründlich undproblemoffen Hegels Theorie der absoluten Subjektivität und Schellings Konzept derpositiven Philosophie aus den Anfängen des Identitätssystems als Modelle, die negati-ve Theologie (des Neuplatonismus) metaphysisch zu überwinden, und als paradig-matische Möglichkeiten, über eine negative Theologie hinaus zu einer spekulativen

274 Teil III: Fichte

leben und existieren aber unmittelbar im Lebensvollzug des niemals objek-tivierbaren und durch uns zu vermittelnden Dasein des Absoluten. DieseKlärung bringt die Vernunft- und Wahrheitslehre zur Vollendung. Auf derHöhe der Wissenschaftslehre 1804, im 15. Vortrag, faßt Fichte diese Vollen-dung in drei Hauptsätzen zusammen (GA II/8, 230).(1) »Dieses einige Seyn und Leben kann nun durchaus nicht außer ihm

selbst seyn, oder aufgesucht werden und kann außer ihm Nichts seyn.«(2) »Es ist nur ein verbales Seyn, denn das ganze substantive Seyn ist Ob-

jektivität, die durchaus nicht gilt: und nur dadurch daß man diese Sub-stantialität und Objektivität, nicht blos dem Vorgeben nach, sondern inder That und Wahrheit der Ansicht aufgiebt, kommt man zur Ver-nunft.«

(3) »Wir leben, aber unmittelbar im Lebensakte selber [...] das an sich selberlebende Wir an sich, welches wir begreifen lediglich durch unsere eigenekräftige Vernichtung des Begreifens.«Der Anfang des 16. Vortrags wiederholt die aufgestellten Grundsätze von

Sein, Inkludenz und Existenz (Dasein) als Vollendung kritisch-idealistischerWahrheits- und Vernunftlehre. »Er enthält, sagte ich, und vollendete, wasman als einen ersten Theil der W.-L. aufstellen könnte, die reine Wahrheits-und Vernunftlehre« (GA II/8, 242).

4. Abschnitt: Grundlegung der Wahrheitslehre

Unablässig hat Fichte es unternommen, die Gestalt einer Vernunftlehre alsWissenschaft vom Wissen durch eine systematische Grundlegung sowiederen Ausfaltung in alle Gebiete der Vernunftwissenschaften und derenAnwendung auf das geschichtliche Leben und die persönlichen Lebens-entwürfe der Menschen in höchster Klarheit der Darstellung zur Vollen-dung zu bringen. Dafür war es unausweichlich, die Grundfrage der Philo-sophie nach der Wahrheit zu lösen; denn erst eine zureichende Wahrheits-ergründung legt das Fundament für eine Vernunftkritik, die darauf aus ist,den Schein und das Blendwerk eines sich selbst bespiegelnden Reflektier-

bzw. ›positiven‹ philosophischen Theologie zu kommen. Die hier aufgezeigten Pro-bleme aber dürften sich verschärfen, wenn sie mit Fichtes transzendental-kritischerVollendung der negativen Theologie im Beachten der Inkludenz konfrontiert wer-den.

4. Abschnitt: Grundlegung der Wahrheitslehre 275

systems aufzulösen und die Welt der Erscheinung als Scheinen und Sicht-barwerden wahren Seins aus den Verhüllungen einer vergegenständlichtenWelt aufzuklären.

1. Kapitel: Rückgang zur Wahrheitskehre vom Wissen zum Glauben (Die Bestimmung des Menschen, 1800)

Es ist die erste exoterische Schrift aus der ersten Berliner Zeit, Die Bestim-mung des Menschen von 1800, welche das Wahrheitsproblem aus dem Ge-biet der theoretischen Reflexion und der reinen Erkennntnisbegriffe desWissens in das Gebiet der praktischen Vernunft und der Zweckbegriffe desWillens überführt. Diese Wendung durchläuft in der Meditation des 1. Bu-ches die Cartesianische Bahn vom Zweifel zur Gewißheit selbstbewußtenWissens und liquidiert den Anspruch des Ich-stelle-vor, die Übereinstim-mung der Vorstellung mit der aktualen Realität der Dinge zu gewährleisten.Der Fichtesche Dialog des Ich (ego cogitans) mit einem »verruchten Geist«(genius malignus) im 2. Buch hat eine Kehre zum Resultat. Das Ich-denkekann keine Wahrheit als Übereinstimmung unseres Vorstellens mit derWirklichkeit geben. Es ist und bleibt Traum eines Traumes. Diese Einsichtzwingt dazu, sich einem anderen Wahrheitsgrunde zuzukehren, dem unmit-telbaren, innerlich überzeugten Glauben. Diese Kehre wendet sich vom the-oretischen Wissen als Vorstellen leerer Nachbilder ab und praktischem Wol-len im freien Entwerfen von Vorbildern und Zweckbegriffen zu. »Jene Be-griffe, Zweckbegriffe genannt, sollen nicht wie die Erkenntnisbegriffe Nach-bilder eines Gegebenen, sondern vielmehr Vorbilder eines Hervorzubrin-genden seyn« (GA I/6, 255). Glauben nun, der Wahrheit gründet, besteht inder Überzeugung, daß die Handlung des Willens mit dem Vorbild und gu-ten Zweck übereinstimmt. Diese angeborene Glaubensgewißheit baut nichtauf Folgerichtigkeiten des Verstandes im Einsehen von Gründen, sie hörtauf die Stimme des Gewissens bei Entscheidungen unseres Handelns. Aufsolcher Gewißheit beruht die dreifache Überzeugung einer Übereinstim-mung von freiem Handeln mit der irdischen Welt, der Zusammenstimmungder überirdischen Geisterwelt, der religiösen Gewißheit göttlicher Weltre-gierung.

Ihren Ausgang nimmt diese Kehre im 1. Buch, das in seiner Form einesSelbstgesprächs eben an Descartes’ Meditationen erinnert, anläßlich derQual und Unruhe eines uns zerreißenden Zweifels. Darin findet sich derMensch hin- und hergerissen zwischen seiner Bestimmung, ein Naturwe-

276 Teil III: Fichte

sen, d.i. ein Glied in der unendlichen Kette von Ursache und Wirkung zusein, und der Bestimmung, ein Freiheitswesen, mithin unabhängig von derKausalgesetzlichkeit der Natur zu sein und autonom zu handeln. Die eine,naturalistische Ansicht befriedigt den Ursachen erforschenden Verstand,die andere, idealistische, folgt der Forderung des Herzens.

Nun beruhigt das im 2. Buch hervortretende Wissen diesen fundamenta-len Zweifel, der Herz und Verstand des Menschen zerstückt. Es enthebt denMenschen des Zweifels, in welchem er zwischen den Wünschen nach Frei-heit und der Verstandeseinsicht in seine Determiniertheit hin- und her-schwankt. Davon erlöst das Wissen, daß nicht die Dinge an sich uns deter-minierend bedingen, sondern daß sie durch uns bedingt sind. Indessen, die-ses Wissen des Wissens ist als Wahrheitsgrund unzureichend. Es rettet zwarvor dem Schwanken machenden Zweifel, aber es gibt keinen unbedingtenHalt, und zwar aus zwei Gründen. Unbedingt zu sein, bedeutet dem Worteund der Sache nach, kein real bestimmtes Ding und an ihm selbst unbe-stimmt zu sein. Demnach ist das Wissen an ihm selbst ohne Bestimmtheitund das heißt auch: ohne Halt und feststellende Grenze. Mithin ist das bloßesich wissende Wissen in seiner Nichtbestimmtheit halt- und grenzenlos. Zu-dem ist der Zusammenhang von drei einschlägigen Grundsätzen bedenk-lich. Wissen erzeugt immer nur Wissen, Wissen ist und bleibt ein Abbilden,der Seinsstatus des Bildes ist nicht Sein dessen, was es bloß abbildet. Dem-zufolge ist das Ich als sich wissendes Wissen ein seinsloses Bild von Bildern.»Ich selbst weiß überhaupt nicht und bin nicht. Bilder sind [...]. Ich selbst bineins dieser Bilder; ja ich bin selbst dieses nicht, sondern nur ein verworrenesBild von den Bildern« (GA I/6, 251).

So tritt ein zweifaches Ungenügen jener Wahrheitssicherung hervor, diedas Ich-bin als Fundament eines Reflektiersystems und vom Zweifel nichtzu erschütterndes Fundament aufstellt. Es ist an sich die Leere grenzenlo-ser Unbestimmtheit sowie ein Spiegel, der sich selbst bespiegelt. Die Vor-stellung des Ich ist nicht Wahrung der Wirklichkeit, sondern Hinträumenvon Bildern und nichtigen Schatten. So lautet das letzte Wort, das der»ruchlose Geist« an das stolze Ich richtet: »Die Realität, die du schon er-blickt zu haben glaubtest, eine unabhängig von dir vorhandene Sinnen-welt, deren Sclav du zu werden fürchtetest, ist dir verschwunden; denndiese ganze Sinnenwelt entsteht nur durch das Wissen, und ist selbst unserWissen; aber Wissen ist nicht Realität, eben darum, weil es Wissen ist. Duhast die Täuschung eingesehen und kannst, ohne deine bessere Einsicht zuverläugnen, dich nie derselben wieder hingeben. Und dies ist denn das ei-

4. Abschnitt: Grundlegung der Wahrheitslehre 277

nige Verdienst, das ich in dem Systeme, das wir so eben mit einander ge-funden, rühme: es zerstört und vernichtet den Irrthum. Wahrheit gebenkann es nicht; denn es ist in sich selbst absolut leer« (GA I/6, 252).

Angesichts der Leere des ich-befangenen Reflektiersystems kehrt sichder Weg zu einem haltbareren Unbedingten als Grund der Wahrheit, näm-lich dem Glauben, zu. Dabei bietet der Glaube nicht einfach, wie Schel-lings und Hegels Abschätzungen suggerieren, eine Zuflucht aus Sehnsuchtnach Gott für ein Ich, das seine Leere fühlt. Und Meinungen des Glaubensöffnen auch nicht das weite Feld bloß subjektiven Fürwahrhaltens, in wel-chem das Spekulative, das dem Wissen entgleitet, verkehrt eingepflanztwird. Vielmehr erzeugt der Urakt des Glaubens einen Haltepunkt, der sichüber die haltlosen Wahrheitsbilder der Reflexion erhebt und deren Wahr-heitsanspruch durchstreicht. So sieht es der Meditierende im 3. Buch. »Ichweiß, daß jede vorgebliche Wahrheit, die durch das bloße Denken hervor-gebracht, nicht aber auf den Glauben gegründet sein soll, sicherlich falschund erschlichen ist, indem das durchaus durchgeführte, bloße und reineWissen lediglich zu einer Erkenntnis führt, daß wir nichts wissen können«(GA I/6, 258).

Das dokumentiert unübersehbar Fichtes große Nähe zu Jacobis Glau-bensphilosophie, freilich mit dem gravierenden Unterschied, daß Jacobiden Glauben als unmittelbare Instanz unserer theoretischen Wahrheitser-kenntnis beansprucht, Fichte dagegen als Wahrheitsorgan unseres prak-tisch-moralischen Handelns. Dessen Prüfstein ist das Gewissen. »Aus demGewissen allein stammt die Wahrheit: Was diesem, und der Möglichkeit,und dem Entschlusse, ihm Folge zu leisten, widerspricht, ist sicher falsch,und es ist keine Ueberzeugung davon möglich« (GA I/6, 258).

Glauben im strikten Sinne bedeutet, im Stande einer unmittelbaren, ur-sprünglichen, eingeborenen Überzeugtheit von dem zu sein, was wirklichfür wahr zu halten ist. Dieser Zustand kann als ›aletheuischer Glaube‹ cha-rakterisiert werden. Er unterscheidet sich eben durch seine Wahrheits-überzeugung und durch sein Wahrheitskriterium, die Stimme des Gewis-sens, von den drei in Kants Methodenlehre (KrV A 820-831) beschriebe-nen Einstellungen eines pragmatischen, doktrinalen und moralischenGlaubens. Aletheuischer Glaube ist überzeugt von der Übereinstimmungunseres willenhaften Handelns und dessen frei entworfenen Vorbildesoder Zweckbegriffs mit der realen Wirklichkeit der irdischen Sinnenweltwie mit der Realität der überirdischen ›Geisterwelt‹. Dieser Glaube hat esnicht als subjektives Meinen ohne objektives Wissen mit der Welt verwor-

278 Teil III: Fichte

rener Abbilder zu tun. Glaubensgewißheit ist zutiefst von Weltordnungenerfüllbarer Vorbilder und realisierbarer Zweckbegriffe im Handeln als ele-mentare Bestimmung des Menschen überzeugt.

Die Tragweite solcher Glaubensüberzeugung hängt davon ab, welcheWelten sie in ihrem wahren Sein und unverbrüchlichem Sinn entdeckt.Worauf sich nun der Wille zur Übereinstimmung von Zweckbegriff undWirklichkeit richtet, ist nicht nur die naturhafte Umwelt, sondern auchund vor allem die interpersonale Mitwelt. Sie erhalten ihre Realität erst alsSphäre des Handelns unserer praktischen Vernunft, in der sich der vomGewissen gebilligt Zweck erfüllen soll, nämlich die Welt zum Guten zuverändern und nicht nur theoretisch auszulegen. Die Feuerbach-Thesenvon Karl Marx kommen zu spät; denn die Welt ist Sphäre unseres Han-delns und nicht des Anschauens um des Anschauens willen. Also kehrtschon Fichte die alte Überordnung der vita contemplativa über die vita ac-tiva um.

Das geschieht sowohl durch Kultivierung der noch nicht zivilisiertenNatur wie durch Zivilisierung im Rechtsstaat und Moralisierung der Ge-sinnung in der durch Krieg und Ungerechtigkeit verunstalteten bürgerli-chen Mitwelt in den Umtrieben egoistischer Selbstsucht. Dieser Zweck derKultivierung, Zivilisierung, Moralisierung der irdischen Welt solle erreichtwerden. Und er werde zu irgendeiner Zeit erreicht und realisiert sein. DerFortschritt verläuft nicht in eine schlechte Unendlichkeit des immerfortGesollten. Die Vernunft ist nicht so unvernünftig, Zwecke zu setzen undZiele vorzubilden, die in Wahrheit unerreichbar und utopisch sind. UnserErdenleben ist nicht dazu bestimmt, unaufhörlich um eine bessere Welt zuringen als ein Ziel, das uns unaufhörlich entflieht. Unaufhörlich und nichtohne rhetorisches Pathos erklärt Fichte: »Dieses ist der Zweck unsers irdi-schen Lebens, den uns die Vernunft aufstellt, und für dessen unfehlbareErreichung sie bürgt. Es ist dies kein Ziel, nach dem wir nur zu strebenhätten, um unsre Kräfte an etwas Großen zu üben, dessen Wirklichkeitaber wir etwa aufgeben müßten: es soll, es muß wirklich werden, es mußin irgend einer Zeit erreicht seyn sollen dieses Ziel; so gewiß eine Sinnen-welt ist, und ein vernünftiges Geschlecht in der Zeit« (GA I/6, 276).

Weil nun aber diese Zweckbestimmung des Menschen einst Realität undwahre Wirklichkeit geworden sein wird, kann dieses Ziel nicht der einzigeund letzte Endzweck sein – wie es die Reszendenzbewegung des Positivis-mus, Marxismus, Nihilismus behauptet. So würde die Menschheit auf ihrerBahn untätig stillstehen! Mithin liegt die ganze Absicht unseres Daseins

4. Abschnitt: Grundlegung der Wahrheitslehre 279

nicht allein darin, einen irdischen Vollendungsstatus des Menschenge-schlechts, etwa das größte Glück der größten Zahl, aus eigener Vollmacht ineinem weltverändernden, revolutionären Handeln zu erkämpfen. Tiefer ge-sehen trachtet der dem menschlichen Vernunftwesen angeborene aletheui-sche Glaube nach einer höheren Bestimmung und Wahrheit. Danach er-schöpft sich die Bestimmung unseres Handelns nicht ausschließlich in derRealisierung einer freiheitlich irdischen Ordnung. Eine höherer Wahrheits-sinn wurzelt im Glauben, daß unsere vom Gewissen geleitete Gesinnungmit der ewigen Ordnung einer übersinnlichen Welt (der Synthesis der Geis-terwelt) übereinstimmt und harmonisch zusammenstimmt. Mein gutge-sinnter Wille hat in dieser moralischen Ordnung ewige Folgen, so folgenlosund erfolglos er auch in der Sinnenwelt, zumal in unserem Zeitalter vollen-deter Sündhaftigkeit, sein mag. Das aber liegt offenkundig nicht in derMacht unseres endlichen, sondern in der Seinskraft eines unendlichen odergöttlichen Willens als dem ordo ordinans der Geisterwelt.48 Mithin gibt esein Unbedingtes, Absolutes, Göttliches, welches das Ich als Fundament undSchöpfer unserer Selbst-, Welt- und Gottesvorstellung überragt, als oberstesPrinzip entsetzt und die Wahrheit als Übereinstimmung und ›prästabilierteHarmonie‹ der Geisterwelt gründet. Solcher Glaube erhebt sich auf der Stu-fe religiösen Gottesglaubens zur Quelle der Wahrheit, die nicht nur den zer-reißenden Zweifel, sondern auch die Ich-Reflexion aufhebt und eine Wie-dergeburt der Seele erzeugt. »Dies ist das einzig Wahre und Unvergängliche,nach welchem hin meine Seele aus ihrer innersten Tiefe sich bewegt; allesAndere ist bloße Erscheinung, und schwindet und kehrt in einem neuenScheine zurück« (GA I/6, 293).

Diese Wahrheitsergründung aus der Kraft religiöser Glaubensüberzeu-gung ist für eine systematische philosophische Wahrheitstheorie ein bedeu-

48 Diese sich in der Übergangsschrift von 1800 abzeichnende Kehre von der Früh-zur Spätphilosophie Fichtes auf dem Wege zur Wahrheit hat die umfang- und be-ziehungsreiche Auslegung von H. Rosenau: Allversöhnung. Ein transzendental-theologischer Grundlegungsversuch, 1993, 226-399 unter die Leitthese gestellt undso theologisch fruchtbar gemacht: Die anfängliche These von der ›soteriologischenMacht‹ des Ich in Verwirklichung absoluter Selbstvergewisserung als Tathandlungerweist sich als unhaltbar und verkehrt sich aus inneren, philosophischen Gründen– nicht durch äußeren Druck des Atheismusstreites – in ihr Gegenteil, die ›soterio-logische Ohnmacht‹ des Menschen.

280 Teil III: Fichte

tender Vorgang.49 Ohne die Klarheit und Überzeugungskraft des aletheui-schen Glaubens bliebe der Schein einer totalitären Reflexion ebenso in Gel-tung wie eine bloß auf irdische Ziele gerichtete Bestimmung des Menschen.Der Akt des Glaubens ist der Schlußpunkt einer Wahrheitsanalyse, welchebis zum Absoluten als Wahrheitsgrund im Übersteigen des Ich-Prinzips auf-steigen sollte. So bildet der Glaube zumal in seiner religiösen Erschließungs-kraft eine notwendige Durchgangsphase auf dem Wege zu einer vollendetenphilosophischen Wahrheits- und Erscheinungslehre. Die Erlanger Wissen-schaftslehre von 1805 hat das klargestellt: »Es ist eben der Glaube, durch wel-chen allein die W.L. zum Absoluten kommt und selber wird« (GA II/9,238).50

2. Kapitel: Fichtes Aufstieg zum Wahrheitsgrund in der Wissenschaftslehre 1804-II

Eine Wahrheitsbegründung auf dem Grund und Boden der Ersten Philo-sophie, welche die Bestimmung des Menschen in das Sichtbarmachen deswahren göttlichen Seins setzt, liefert die zweite Fassung der Berliner Vor-tragszyklen. Da wird die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre in

49 Auf eigem Wege hat der religiöse Schriftsteller Kierkegaard, der sich mit Fichtes Be-stimmung des Menschen auseinandergesetzt hat, existenztheologisch den Glaubenals Wahrheitsgrund des existierenden Geistes, des Einzelnen unmittelbar vor Gott,aufgestellt – im Gegenzug gegen die Allesvermittlung des Hegelschen Systems und imVerwerfen des phantastischen, existenzvergessenen Prinzips des Subjekt-Objekt odereines Ich=Ich. Die halbanonyme Schrift Die Krankheit zum Tode von 1849 jedenfallsschließt mit dem alle Verzweiflung überwindenden Sprung in den Glauben. Im Glau-ben zu sein, heißt, sich durchsichtig, angst- und sprungbereit in der göttlichen Machtzu gründen, welche das existierende Selbst gesetzt hat, »eine Formel, die [...] Definiti-on ist für Glaube« (24./25. Abt., 134).

50 Im ›ungeschriebenen‹ Vortrag der W.L. 1805 an der damals noch preußischen Uni-versität Erlangen hat Fichte den Glauben als Durchgangsphase auf dem Wege zurWahrheit analysiert: als negativen Glauben, d.i. als Unglauben, der die leere Reflexi-on als oberstes Prinzip der Wahrheit im Sicherkennen nicht gelten läßt, als positi-ven Glauben, d.i. als Überzeugung von einer absoluten Reflexion, welche die Rück-besinnung auf sich im Andenken des Absoluten geltend macht, und, polemisch aufSchelling gezielt, als den blinden Glauben, d.i. die Überzeugung von einer unmittel-baren Evidenz des Ewigen und Unbedingten, ohne ein Auge für die mehrdeutigenVerhältnisse der Reflexion zu haben. Vgl. Vf.: Glauben und Wissen. Ein Beitrag zurSchelling-Kontroverse in Fichtes Erlanger Wissenschaftslehre 1805, 2000.

4. Abschnitt: Grundlegung der Wahrheitslehre 281

zwei Hauptteile aufgeteilt: »dem, daß sie eine Vernunft- und Wahrheitslehre,zweitens daß sie sey eine zwar wahre, und auf Wahrheit gegründete Erschei-nungs- und Scheinlehre« (15. Vortrag; GA II/8, 228).

Nun fügt Fichte dieser Aufgliederung hinzu: »Der erste Theil besteht ineiner einzigen Einsicht, und wird mit dem Einen Punkte, den ich sogleichhinstellen werde, anheben und beschließen« (GA II/8, 228). Das legt dieAuslegung nahe, Fichte habe die vorgegebene Hauptteilung zurückgenom-men und der Wahrheitslehre eine Sonderstellung zugewiesen, die lediglichin Fichtes These vom Sein besteht, im Satz vom in sich geschlossenen Singu-lum von Leben und Sein, von Subjektivität und Substantialität.51 Indessen istzu merken: Es ist ein langer Weg der erscheinenden Wahrheit und eine harteArbeit des Begriffs, die Beirrung der Vernunft durch den Schein zu beseiti-gen, bis endlich die Einsicht in den Grund der Wahrheit erreicht ist. DieserWeg benötigt einen vielstufigen Aufstieg, um unzureichende Wahrheitsleh-ren einseitig-faktischer philosophischer Grundlegungen aufzuheben. Dasaber gehört methodisch zur Wahrheitslehre als Überstieg über Grundlegun-gen des Scheins im Aufsteigen zur rechten Quelle des Lichts und zum An-fangsgrunde der Wahrheit.

Das braucht Entscheidungen einer ontologischen, Sein verstehenden(nicht bloß der kosmologischen, moralischen oder politischen) Freiheit,die dem aletheuischen Soll entspricht. Es soll Wahrheit ins Offene kom-men, das Absolute soll einleuchten. Das, was in Wahrheit geistig real undaktual lebendig ist, soll in uns leben und wir in ihm. Die gebotene Erfül-lung dieses Wahrheitsgebotes aber geschieht nicht wesensnotwendig alsSichäußern des Absoluten, sei es in Spinozistischer, sei es in HegelscherManier. Das verlangt eine Freiheit, welche dem Anspruch des Soll entspre-chen kann oder auch nicht. Dabei ist kritisch besonnen einzuschränken:Diese unsere ontologische Freiheit unter dem aletheuischen Soll erschafftnicht die Wahrheit, sie befreit lediglich unsere Vernunft von Beirrungendes Scheins. Mithin wirkt sie nicht affirmativ, indem sie Wahrheit richtig-gehend nach methodischen Regeln zur deutlichen Klarheit bringt, sie ope-

51 So sieht es die große Strukturanalyse dieser Wissenschaftslehre von J. Widmann.Danach falle die Wahrheitsthese aus der Strukturordnung, sie bilde kein syntheti-sches Moment, etwa die fünfte Synthesis des 2. Standpunktes nach der Zählung desbedeutenden Kommentars von M. Guéroult. Die Vorträge 3-15 gehören zur Er-scheinungslehre.

282 Teil III: Fichte

riert lediglich negativ, indem sie den täuschenden Schein abhält. Und dasist kein nebensächliches Geschäft einer gegen sich selbst kritischen Ver-nunftwissenschaft. Erst, wenn der beirrende Schein bis in die Wurzeldurchdrungen ist, eröffnet sich das Licht der Wahrheit.

Nun breiten sich überall da Schein- und Halbwahrheiten aus, wo unzu-reichende philosophische Grundstellungen vorherrschen. So finden sie ei-nen Rückhalt eben in den einseitigen und bloß faktisch evidenten Stand-punkten des Realismus und Idealismus. Der naive Realist vertritt eben dieThese: Wahrheit ist Richtigkeit des Urteils, da sich unser Vorstellen ad-äquat nach dem vorliegenden Sachverhalt richtet. In solcher Adäquations-theorie avanciert das Urteil zum exklusiven Ort eines Wahrheitswesen,dessen Maßstab die Übereinstimmung unseres Vorstellens mit einem rea-len, an sich selbst bestehenden Sachverhalt ist. Das ist zwar wahr, abernicht die ganze Wahrheit. Diese Wesensbestimmung der Wahrheit alsÜbereinstimmung (adaequatio) von Vorstellung (intellectus) und Sache(res) kann daher mit Kant als eine Worterklärung geschenkt werden. Siewird grund- und bodenlos, wenn sie sich nicht auf ihren Wahrheitsgrund,den Ursprung dieser Übereinstimmung besinnt.

Der höhere Realismus erhebt sich zu einer gründlicheren Einsicht. Zwarrichtet er sich in seinem Ergründen der Wahrheit auch nach einem in unddurch sich bestehenden Ansich, aber auf der Abstraktionshöhe eines urrea-len, sich selbst konstruierenden Absoluten. Und er folgt der Maxime, sichbedingungslos dem an sich seienden Wahren hinzugeben und die Vorstel-lungen des Subjekts abzublenden. Hier setzt sich die Einsicht durch: Nichtwir erzeugen das Licht der Wahrheit, es erzeugt sich in uns. Somit hat einRealismus, der sich dem Absoluten als Grund der Wahrheit zuwendet,durchaus Recht, und das erklärt eine gewissen Vorliebe Fichtes für den rea-listischen Standpunkt. »Der Geist der Wahrheit, als Wahrheit, liegt dochwohl nicht in dem Bewußtsein, sondern durchaus in der Wahrheit selber.Von der Wahrheit mußt du also immer das Bewußtsein abziehen. [...] Wenndu aber glaubtest, in diesem Bewußtsein liege der Grund, daß WahrheitWahrheit ist, so verfielest du in den Schein« (13. Vortrag; GA II/8, 204). DieFrage ist nur, wie ein absolutes Wissen zu jenem Standpunkt gelangt, in wel-chem die Wahrheit von sich einleuchtet und nicht von uns nach Regeln derBewußtseinsklärung methodisch verdeutlicht und gesichert wird. Darüber,auf welche Weise der oberste Wahrheitsgrund sich offenbart und entbirgt,gibt auch der höhere Realismus keine Rechenschaft.

4. Abschnitt: Grundlegung der Wahrheitslehre 283

Als einseitig erweist sich auch die Wahrheitshypothese des faktischbornierten Idealismus. Sie baut auf den Grundsatz: Wahr ist das klar unddeutlich Vorgestellte auf dem Fundament des Selbstbewußtseins in Selbst-gewißheit und Selbstbestimmung. Diese Fundierung beseitigt allen Zwei-fel, welcher sich gegenüber der sinnlichen Gewißheit und der bloßen Ver-sicherung einer wahren Realität der Außenwelt erhebt. Und sie gewinntauch den Standpunkt einer Freiheit, die sich vom gegenständlichen Be-wußtsein und seinen Beirrungen losreißt und die Klarheit des Selbstbe-wußtseins zum Richtmaß und Gewißheitsgrund der Wahrheit erhebt.Aber jeder Weg zum Grunde der Wahrheit – auch der Schellings und He-gels – führt über die Stufe endlicher Selbstgewißheit und Selbstbestim-mung hinaus. Das mahnt Fichte eindringlich an. Das seiner selbst gewisseSich-Vorstellen der Ichheit in allem Vorstellen gegenständlichen Seinsstellt sich vor die Wahrheit des Seins. Es ist kein Enthüllen, sondern einVerhüllen des Wahrheitsgrundes. In den Formen und Schemata der Ich-heit kommt Sein eben nur als relatives, von uns theoretisch objektiviertesund praktisch projektiertes Sein vor. Das nährt einen täuschenden Schein,der dazu verleitet, das vergegenständlichte Sein für das wahre und absolu-te Sein zu halten.

Nimmt man beide Vorbehalte zusammen, so ergibt sich die einschnei-dende Revision der Wahrheitstheorie. Das Urteil des Verstandes ist gar nichtder ursprüngliche Ort der Wahrheit, und die Richtigkeit in der Überein-stimmung von Vorstellung und Ding ist nicht deren Grund und Maß. Aberauch das Selbstbewußtsein ist nicht das unerschütterliche Fundament derWahrheit und die Selbstgewißheit des Ich nicht deren Grund und Maß.Fichtes Überstieg über die Stufe von Selbstbewußtsein und Selbstgewißheitgelangt zu einer Einsicht, da der Grund der Wahrheit als ein Urakt des Ent-bergens und Lichtens des sich selbst effizierenden Lichtes zum Vorscheinkommt. Das ist ein Wahrheitsgeschehen, in welchem sich das allreale Lebenund Licht in höchster Klarheit lichtet und in eins in tiefster Verborgenheitsich verschlossen entzieht, und zwar plötzlich, mit einem Schlage und jen-seits aller objektiv geklärten Richtigkeit und subjektiven Klarheit und Ge-wißheit. Fichte faßt dies Ereignis im Paradox als »das Allerklarste und zu-gleich das Allerverborgenste, da wo keine Klarheit ist« (GA II/8, 228). Das istein unausweichliches Paradox und nicht die Feststellung des Widerspruchs,die Einsicht in das wahre Sein sei zugleich völlig klar und völlig unklar. DasAufscheinen der Wahrheit aus ihrem Lichtquell ist das Allerklarste; denn alsGrund aller Klarheit und geistigen Evidenz ist sie das, was sie begründet, am

284 Teil III: Fichte

meisten, also das Allerklarste. Und der Wahrheitsgrund ist das Allerverbor-genste; denn wir sehen in seiner Helle nur das Scheinen des sich selbst effi-zierenden Lichts, nicht aber den Aufstrahl der Lichtquelle selbst. Das lehrtschon der Wahrheitssatz des Platonischen Sonnengleichnisses (Politeia506b): Der Grund der Wahrheit und des Lichtes, die Idee des Guten, ist jen-seits klarer Wesenserfassung unserem Einsehen und Begreifen verborgen.52

Mithin ist der Standpunkt einer gründlichen Wahrheitslehre die Ansicht ei-nes begrifflich unfaßlichen und sprachlich unsäglichen Geschehens: das Er-eignis der Entbergung eines an ihm selbst Verborgenen. Nun aber bringtFichtes Wissenschaftslehre den Gipfelsatz der Wahrheit nicht bloß in derAnalogie einer Platonischen Licht-Metaphysik zur Evidenz, sondern intranszendentaler Besonnenheit. Die aber scheidet. Ursprung der Wahrheitist die Entbergung des in seinem ursprünglichen Sein und Leben verborgenbleibenden, in sich geschlossenen Absoluten. Ursprung der Erscheinung ei-ner gegenständlichen Welt und Mitwelt und eines Scheins, der das absolute,göttliche Sein dadurch verhüllt, daß unser Bewußtsein es unausweichlich inein gegenständliches Sein verwandelt, ist das absolute, sich intelligibel intu-ierende Wissen menschlicher Vernunft als einziges unmittelbares Daseinund als wahre Existenz des Absoluten im Lichte absoluter Gewißheit unduns ergreifender Evidenz des uns einleuchtenden Lichtes.

3. Kapitel: Von einem Vorrang der Fichteschen Konzeption im Rangstreitder dreifachen idealistischen Wahrheitsbegründung

Alle Denkwege des Deutschen Idealismus suchen ihr Ziel und ihr vollende-tes Ende darin, die Frage nach Bedeutung und Grund des Seins im Sinnedes Wahrseins methodisch hinreichend und geschichtlich abschließend zulösen. Dabei gehen die drei großen Vorhaben eines zu vollendenden Ver-nunftsystems einmütig vor. Sie übersteigen, freilich auf getrennten Wegenzur Wahrheit, alle das Gewißheitsfundament des reinen Selbstbewußtseins,um zu einem Absoluten aufzusteigen, das als absoluter Quellgrund die Lich-tung des Seins, die Evidenz der Selbstgewißheit, die Übereinstimmung von

52 So scheint es ratsamer, Fichtes These von der Wahrheit des Seins auf der Höhe vonPlatos Epekeina-Satz zu halten, als ihn als performativen Selbstwiderspruch derSprechakttheorie am trivialen Beispiel »Ich sage nichts« zu problematisieren, undsei es so scharfsinnig wie in der kritischen Überholung von W. Lütterfelds: FichtesKonzept absoluter Einheit (1804) – ein performativer Selbstwiderspruch?, 1994.

4. Abschnitt: Grundlegung der Wahrheitslehre 285

Subjekt und Objekt gewährleistet. Insoweit bieten alle drei Höhenwege zumWahrheitsprinzip Aussichten, die vorherrschende metaphysik-abstinente,präzisierte Wahrheitsdiskussion wieder als Menschheitsfrage in integrum zurestituieren, d.h. in ihr angestammtes ontologisches Urrecht wiedereinzuset-zen. Gerade auch dadurch bietet die spekulative Kraft aller drei Vernunftsys-teme ein Heilmittel gegen das Elend von Ideologien, denen es nicht um dieWahrheit, sondern um Machtergreifungen mit Hilfe von ›parteilich-wissen-schaftlichen‹ Weltanschauungen geht. Freilich sind ebenso deutlich ihre Dif-ferenzen ins Auge zu fassen und abzuwägen, die sich sowohl in der Methodedes Transzendierens als auch im Blick auf das erreichte Ziel abgezeichnethaben, um das Problem einer dreifachen Wahrheit zu lösen.53

Methodisch sind vorzüglich drei Wege zur Wahrheit eröffnet worden.Sie sind durch die Methode der Dialektik (Hegel), der intellektuellen An-schauung/ Ekstase (Schelling), der genetisierenden Evidenz (Fichte) unter-schiedlich gebahnt. Das ist noch einmal, jetzt vergleichend, einzuholen.

1. Hegels Weg des erscheinenden Geistes im Erscheinen seiner Wahr-heit läßt die Wahrheitsbehauptungen von der Stufe sinnlicher Gewißheitbis zur Selbstgewißheit des Selbstbewußtseins durch ein dialektisches Ver-fahren unter sich, durch das sich jedwede abstrakte, d.h. einseitige Wahr-heitsposition in einen Widerspruch mit sich verwickelt und sich selberaufhebt, um sich im absoluten, konkreten Wissen, das sich als Einheit vonVorstellung und Gegenstand weiß, zu beschließen. Diese Dialektik derPhänomenologie bereitet die Dialektik der Logik vor. Jene entfaltet dieWahrheit der absoluten Idee im Durchgang von Sein, Wesen und Begriffin den vollständigen Reichtum konkreter Gedanken (Gottes vor Erschaf-fung der Welt). Und die Dialektik des Geistes bewährt die währendeWahrheit des Beisichbleibens im Anderssein durch den Kreisgang des sub-jektiven, objektiven und absoluten Geistes. Das stellt immer noch alle prä-

53 Zur Problemgeschichte von Wahrheit und Wahrheitsgrund außerhalb des dreifa-chen Widerstreits im Deutschen Idealismus sei verwiesen auf M. Fleischer: Wahr-heit und Wahrheitsgrund. Zum Wahrheitsproblem und seiner Geschichte, 1984. Daist in sechs Hauptstationen (Plato – Aristoteles – Thomas von Aquin – Descartes –Kant – Nietzsche) die Korrespondenztheorie mit dem Reichtum ihrer Bezüge inden ihr eigenen Problemdimensionen wieder zur Geltung gebracht worden, mitder systematischen Absicht, die Korrespondenztheorie mit der Frage nach derWahrheitsermächtigung zu überschreiten. Genau darum geht es im dreifachenRingen um die Wahrheit im Deutschen Idealismus.

286 Teil III: Fichte

zisierte Methodik des Positivismus und jede Pseudodialektik weltanschau-licher Wahrheitsversicherungen in den Schatten.

2. Schellings Weg zur Wahrheit führte vom intellektuellen Anschauendes Ewigen und Absoluten als Ermöglichungsgrund der Übereinstim-mung von Vorstellung und Gegenstand zur entsetzenden Ekstase, der Her-ausstellung des Ich aus seinem Ort vermeintlicher Wahrheitssicherung.Das gilt als notwendige Bedingung für das mögliche Gewahren der Un-verborgenheit und die Unverborgenheit als das Wahrheitsgeschehen, dadas unvordenkliche Nur-Existierende qua potentia existendi sich in ewi-ger Freiheit in der Entwicklung von Mythos und Offenbarung geschicht-lich gänzlich entbirgt.

3. Fichtes Weg zur Wahrheit in der W.L. 1804-II durchläuft Besinnun-gen auf jene Gesetze, nach denen Wahrheitsbehauptungen entstehen. Ersteigt in genetischer Evidenz über einen naiven Realismus, der die Ad-äquationstheorie der Richtigkeit als Sichrichten der Vorstellung nach deman sich vorliegenden Sachverhalt verabsolutiert, hinaus und über einenIdealismus, der gänzlich auf die Selbstgewißheit des sich auf sich zurück-beziehenden Ich und so auf eine leere, gespenstische Selbstbespiegelungsetzt, hinweg. Er führt zur Urquelle der Wahrheit göttlichen Seins, Lichtesund Lebens, die, in sich geschlossen und uns verborgen bleibend, sich imWissen des Menschengeschlechts entbirgt, um da objektiviert und da-durch verhüllt zu werden.

Diesen drei unterschiedlichen Wegen zur Wahrheit entspricht die Dif-ferenz des erreichten Ziels, die Seinsverfassung des Wahrheitsgrundes. De-ren Unterschied war mit den Merkworten Indifferenz/Nur-Existenz(Schelling), Identität von Identität und Nicht-Identität (Hegel), Inkludenz(Fichte) zur Anzeige gebracht worden.

1. Die Struktur des Wahrheitsgrundes, zu dem Schellings Identitätssystemhinleitet, ist die Indifferenz von Subjektivität und Objektivität. Diese Identi-tätseinheit schließt die Differenzen des Idealen und Realen darum von sichaus, weil diese erst durch quantitative Differenzierung systematisch herzu-leiten sind. Und solche Indifferenz ist keine Vorstellung, die als Überein-stimmung mit ihrem Gegenstande identifiziert werden könnte, weil sie alleÜbereinstimmung von Subjekt (Vorstellung) und Objekt (Gegenstand) al-lererst ermöglicht. Das hat Schelling im System des transzendentalen Idealis-mus 1801 schlagend formuliert. »Wie Vorstellung und Gegenstand überein-stimmen können, ist schlechthin unerklärlich, wenn nicht im Wissen selbstein Punkt ist, wo beide ursprünglich Eins oder wo die vollkommenste Identi-

4. Abschnitt: Grundlegung der Wahrheitslehre 287

tät des Seyns und des Vorstellens ist« (W II 364 = SW III 364). Im Fortgangder Spätphilosophie rückt das unvordenklich Nur-Existierende in die Stel-lung eines wirklichen Wahrheitsgrundes ein, dessen Entbergung erst Wahr-heit als Unverborgenheit der Wirklichkeit verbürgt.

2. Hegels Weg zur Wahrheit führt schon früh zu einem Wahrheits-grund, dem die Verfassung von Identität und Nicht-Identität eignet; dennein Wahrheitsgrund der einfachen Einheit von Nicht-Identischem, vonVorstellung und Gegenstand, bringt es allein zu Richtigkeiten des Verstan-des. Das Fundament einfacher Identitätseinheit sichert alle unbezweifelba-re Gewißheiten des Selbstbewußtseins. Die Indifferenz von Realem undIdealem erbringt nicht die Helle erfüllter Wahrheit, sondern eine Leere desUnbestimmten – eben die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind. Erst dieEinheit von Identität und Nicht-Identität, da Affirmation und Negativitäturprünglich eins und lebendig sind, begründet Wahrheit in lebendigenProzessen des aufzuhebenden Widerspruchs.

3. Die Verfassung des Wahrheitsgrundes, zu dem Fichtes Weg in derWissenschaftslehre 1804 hinführt, läßt sich in Abhebung zur absoluten In-differenz (Schelling) und absoluten Identität (Hegel) als absolute Inklu-denz (das In-sich-Geschlossensein des Absoluten) benennen. Diese Ver-fassung schließt aus, daß der allreale Ursprung der Wahrheit sich selbstentäußert und die Urkraft des Lichtes aus Überfülle emanativ überfließt.Der Ursprung der Wahrheit bleibt in sich geschlossen. Da und existent ister allein im menschlichen Wissen als einzigem Dasein, das außer dem Ab-soluten wahrhaft lebendig und lichtvoll existiert und das nun seinerseitsEntstehungsgrund von Selbstgewißheit und objektiver Adäquation ist. Sol-che Inkludenz erklärt, warum der Quelle der Wahrheit das Allerklarste ist,da wo keine Klarheit ist.

Soweit sind unter den Leitworten Dialektik, Ekstase, Genetisierung dreiMethodenwege zum Anfangsgrund der Wahrheit und mit den Stichwortenabsolute Indifferenz, absolute Identität, absolute Inkludenz die Verfassungdes erreichten Wahrheitsgrundes nochmals eingeholt. Und damit schärftsich das Problem der dreifachen Vollendung des Deutschen Idealismus zu.Die Frage ist: Müssen sich die drei Wahrheits- und Systemgründungen ge-genseitig vertilgen, oder können sie irgendwie zusammen bestehen? Aufdiese Alternative hat Schelling mitten im Widerstreit im Erlanger VortragÜber die Natur der Philosophie hingewiesen. »Im ersten Falle würde manstatt des Systems nur einen bodenlosen Abgrund vor sich sehen, in dem al-les versinkt, und in dem sich nichts mehr unterscheiden läßt. Nicht getilgt

288 Teil III: Fichte

werden sollen die Systeme, sondern zusammen bestehen« (W V 7 = SW IX213).

Diese Problemstellung des Deutschen Idealismus im Stadium seinerdreifachen Vollendung läßt sich zumal angesichts der Wiederherstellungvon Fichtes ungeschriebener Lehre kaum umgehen. Die methodische Si-cherung einer dreifachen selbigen philosophischen Wahrheit wie die Be-hauptung dreier Absolute sind offenkundig unhaltbar. Philosophiege-schichtliche Forschung, welche sich auf die Erkundung und Erörterung ei-nes der drei großen Gesamtentwürfe spezialisiert und die beiden anderenruhig daneben bestehen läßt, endet bei allen antiquarischen Forschungser-folgen in einem Skeptizismus, der die Pilatusfrage beiseitestellt oder auf-gibt. Philosophische Einstellungen, welche sich auf den Widerstreit derSysteme im Behaupten der einzig-einen Wahrheit einlassen, sind immernoch überwiegend gewohnt, Fichtes System der Wissenschaftslehre mitden anderen zusammen bestehen zu lassen: durch Ein- und Unterordnungeines transzendentalen Idealismus ins Ganze des Identitätssystems bzw.durch Hegels Aufhebungen im Geiste des absoluten Idealismus. Das be-ruht weitgehend auf Unkenntnis und Abschätzung von Fichtes unge-schriebener Lehre. Dafür haben Hegel und Schelling selbst zum guten Teilgesorgt. Hegel hatte ja ebenso ignorant wie arrogant Fichtes späterer Lehrejeden spekulativen Wert abgesprochen, und Schelling hatte, ebenso ge-kränkt wie feindselig, die späteren Grundsätze der populären Schriften alseklektisch und synkretistisch abqualifiziert. Werden diese oberflächlichenStellungnahmen ernsthaft revidiert, dann stellt sich das Problem der dreiWahrheiten unausweichlich und in aller Schärfe. Alle drei können nichtzusammen bestehen, aber sie dürfen sich auch nicht gegenseitig ganz undgar vertilgen. Sonst verschwinden die noch einmal großartig gewecktenMenschheitsfragen der Philosophie endgültig im Abgrund einer halbenAufklärung und eines unvollkommenen Nihilismus aus dem allgemeinenBewußtsein unserer Zeit.

An dieser Stelle der wiedereingeholten Wahrheitslehre Fichtes von 1804wäre nun ein Vorrang der Fichteschen Konzeption herauszustellen: Sie istdie einzige Grundlegung von Wahrheit, Sein und Leben, die bei transzen-dentaler Besinnung bleibt.54 Ihr Aufstieg war durch eine absolute Abstrakti-

54 Die ebenso dichte wie luzide Untersuchung von R. Barth: Wahrheit als Sein vonEinheit. Die gewißheitstheoretische Reformulierung des absoluten Wahrheitsbe-

4. Abschnitt: Grundlegung der Wahrheitslehre 289

on von allen Bewußtseinsrelationen ermöglicht. Damit vollendete sich diegroße Tradition der negativen Theologie im Geiste transzendental-kriti-scher Besonnenheit. Von Gott ist eben in philosophischen Kategorien undin verständiger Urteilssprache nichts weiter zu denken und zu sagen als: Erist. In Differenz zu Hegels und Schellings hyperbolischen Durchbestim-mungen göttlichen Seins, Denkens und Offenbarens gebietet kritische Be-sonnenheit: Gott oder das Absolute ist begrifflich nur als Unbegreifliches zubegreifen und sprachlich nur als Unaussprechliches auszusprechen. Und dasbedeutet eben nicht, daß Fichtes ungeschriebene Lehre in der mittleren Pe-riode nach dem Glaubensdurchbruch die Anweisung erteilt, mystischschweigend im göttlichen Licht zu versinken und den durch Kant einge-pflanzten Kritizismus hinzugeben. Ihr Vorzug besteht im Vollzug äußersterkritischer Selbstbesinnung. Um von den Bewußtseinsrelationen im Ein-leuchten des Absoluten zu abstrahieren, muß unser Denken sich auf dieseBezüge besinnen. Solche Besonnenheit nennt die ungeschriebene Lehre»absolute Reflexion«: das Sich-Besinnen auf sich im Andenken der absolu-ten Wahrheit als Wahrheit des Absoluten.

Das ergibt den von Schelling und Hegel übersehenen Mittelpunkt zwi-schen dem in sich geschlossenen Sein und der entgegengesetzten objekti-ven Erscheinung der Welt in ihrem verhüllenden Schein. Er vermittelt dasAbsolute und das absolute Wissen oder das Sein und das Dasein, und ervermittelt das Dasein des Seins mit dem Erscheinen der Welt. So aber sinddie Grundsätze über das wahre Sein und der Welt konstituierende Stand-punkt der Reflexion nicht, wie Schelling urteilt, unpassend zusammenge-stückt, sondern in transzendentaler Besinnung aus einem Mittelpunkt ein-heitlich kohärent zusammengefügt. Daraus resultiert tatsächlich ein Vor-rang der ungeschriebenen Lehre Fichtes gegenüber den konkurrierendenWahrheitslehren und Systembildungen. Diese erheben sich aus Nichtbe-sinnung im Ausfall von absoluter Abstraktion und absoluter Reflexion zumetaphysischen bzw. positiven Theologien. Und die überschreiten die

griffs in Fichtes Phänomenologie von 1804-II, 2007 überprüft die systematischenProbleme, die sich aus der absolutheitstheoretischen Fassung des Wahrheitsbegriffsin seiner Verschränkung mit einer Prinzipientheorie des Wissens für die Differen-zierung des Einheits- wie des Seinsgedankens ergeben, um die Erscheinung der ab-soluten Wahrheit im Stande einer zuletzt faktisch evidenten Gewißheit zu reformu-lieren.

290 Teil III: Fichte

Grenze, welche Fichtes bei Besinnung bleibende Lehre von der Wahrheitdes inkludenten Seins besonnen zieht.

5. Abschnitt: Grundlegung und Grundzüge der Erscheinungslehre

1. Kapitel: Reine Gewißheit. Vergewisserung von Licht und Evidenz derErscheinungseinsicht (W.L. 1804-II, 23. Vortrag)

Die Darstellung der Wahrheitslehre hat die erste Hälfte der These vomSein als Wahrheitsgrund zur Einsicht gebracht: Das Sein ist ein absolut insich geschlossenes, durchaus nicht aus sich herauskommendes, lebendigesVon-sich. Die zweite Hälfte dieses obersten Grundsatzes aber fügt hinzu:Das Sein »ist nach aussen erst die Bedingung und der Träger des Was«(GA II/8, 346). Das erlegt die Aufgabe auf, die Erscheinungen in ihrenWas-Bestimmungen aus notwendigen Bedingungen einsichtig zu machenund die genetische Evidenz solcher Herleitungen zu vergewissern. Erst da-durch erweist sich der aufgestellte Satz des esse in mero actu vollständigals Grundsatz von Wahrheit des Seins und Gewißheit der Erscheinung.

Die neugestellte Aufgabe besteht mithin darin, die genetische Evidenzder gesamten Erscheinungslehre in ihren Gewißheitsgrund zu sichern. Dasinnere Licht nämlich, das uns ergreift und evident einleuchtet, ist »die Ge-wißheit, rein und für sich, und als solche« (GA II/8, 346). Reine Gewißheit,das ist eine uns unmittelbar ergreifende Evidenz als solche oder in der Spra-che der Lichtmetaphysik das uns einleuchtende Licht der Wahrheit. Solchreine Gewißheit als Wahrheitsgrund der Erscheinung hat Fichte in seinem23. Vortrag grundlegend erörtert.55

Für eine Besinnung auf diesen Ansatz von Gewißheit, Evidenz und ein-leuchtendem, uns ergreifendem Licht ist vorab klarzustellen: Er liegt höherals der Cartesianische Ansatz einer Wahrheitssicherung im faktischenFundament der Selbstgewißheit der Ich-Apperzeption. Da ist zwar zwei-felsfrei die Untrennbarkeit von Bewußtseinsvollzug und wirklicher Exis-tenz faktisch evident, aber eben nur als unerschütterliche Tatsache. Man

55 Eine umsichtige Exegese dieses Vortrags hat U. Schlösser: Entzogenes Sein und un-bedingte Evidenz in Fichtes Wissenschaftslehre 1804 (2), 2003 vorgelegt. Da wirdder Ansatz bei der Evidenz in seiner systematischen Funktion und in Rücksicht aufdie ›Entzogenheitsproblematik‹ von Sein und Leben fruchtbar eruiert. – Vgl. ders.:Das Erfassen des Einleuchtens. Fichtes Wissenschaftslehre von 1804, 2000.

5. Abschnitt: Grundlegung und Grundzüge der Erscheinungslehre 291

kann tatsächlich unmöglich wirklich denken, ohne im Stande des Bewußt-seins zu sein. Und man kann tatsächlich umgekehrt unmöglich sich seinesDenkens bewußt sein, ohne wirklich zu denken. Aber solche Versicherungbaut auf dem faktischen Zusammenhang von Bewußtsein und Sein imsich vorstellenden Vorstellen, ohne diese Evidenz in ihrer Genesis, demEntstehungsgesetz, herzuleiten (vgl. 14. Vortrag; GA II/8, 218). Mithin giltes, einen Gewißheitsgrund jenseits der subjektiven Existenzvergewisse-rung scharf und rein zu denken.

Dazu bedarf es vor allem eines Abstraktionsverfahrens, in welchem vonaller Gewißheit weggesehen wird, welche aus dem stammt, wessen mansich gewiß ist. Erst das läßt uns hinsehen auf die reine Gewißheit, die aufsich selber beruht, »mit aller Abstraktion von etwas« (GA II/8, 344). Dasschließt Gewißheiten von der Art aus, wie wir in der Erfahrung der ›Auf-forderung‹ uns eines alter ego außer uns gewiß werden oder wie wir ander Lauterkeit eines heiligen Willens nicht zweifeln oder eben wie wir unsunserer eigenen Existenz im Vorstellungsakt gewiß sind. Zu abstrahierenist aber auch jene Evidenz, die auf dem sich selbst effizierenden Licht dasAbsoluten beruht. Sowohl vom Einleuchten der Selbstgewißheit des Ichwie vom Aufleuchten des Absoluten ist zu abstrahieren. Das sind Gewiß-heiten von etwas. Wie aber läßt sich eine reine, für sich seiende, auf sichberuhende Gewißheit näher beschreiben und deutlicher machen?

Nun gehört zum Charakter der Gewißheit als solcher der Grundzugder Unerschütterlichkeit und Unwandelbarkeit ohne Wanken und Wandel.Folglich ist die reine Gewißheit als unerschütterliches Bestehen, als un-wandelbare, unveränderliche Einheit zu beschreiben. Das ist ihre Qualitätoder ihr Wassein, die Negation der Wandelbarkeit und die Negation derVermannigfaltigung. Das schon eröffnet eine weittragende Einsicht in dieHerleitung der Erscheinung. Bedeutet die Qualität der Gewißheit Negati-on der Wandelbarkeit, dann erhält das Negierte, das Wandelbare den Cha-rakter der Quantitabilität oder einer unendlich veränderbaren Bestimm-barkeit. Somit erscheint die Welt der Erscheinung im Lichte eines Wech-selverhältnisses von unwandelbar gewisser qualitativer Einheit und un-endlich bestimmbarer Quantitabilität.

Somit ist die reine Gewißheit näher beschrieben. Wie aber sind wir da-bei verfahren? Wir haben davon abstrahiert, daß die Gewißheit als Grundder Erscheinungswelt identisch ist mit der Wahrheit des sich selbst effizie-renden Lichtes des Absoluten. Im transzendentalen Transzensus derWahrheitslehre war ja vom Bezug der Selbstvergewisserung abstrahiert

292 Teil III: Fichte

worden. Diese immanente Selbstgewißheit aber ist jetzt, wo es sich um dieAufklärung von Schein und Erscheinung dreht, in den Blick zu fassen. »Esist daher klar, daß wir bei Aufsuchung des Absoluten hiervon abstrahiren,und sie lediglich in dem suchen müssen, was sich als Immanenz, als Ichoder Wir, offenbarte« (GA II/8, 350). Das besagt noch einmal: Das uns ein-leuchtende, unmittelbar evidente Licht reiner Gewißheit beruht nicht aufdem Faktum des seiner selbst gewissen Ich oder Wir, der zur Evidenz ge-brachten Synthesis der Geisterwelt. Es steht umgekehrt. Die Selbstbezüg-lichkeiten des Ich oder Wir werden offenbar im Lichte der immanentenGewißheit.

Und es ist diese Einsicht in das Offenbarungsverhältnis von absoluterEvidenzgewißheit und der Selbstbezüglichkeit des Ich oder Wir, welchedie Erscheinungslehre vom großen beirrenden Schein befreit. Das glücktdadurch, daß die Möglichkeit von Schein und Irrtum in ihrer Wurzel auf-gedeckt wird. Der Schein nämlich, der zum Irrtum über das, was ist, ver-leitet, wurzelt darin, daß wir das Aufsichberuhen und Insichgründen derreinen Evidenz für etwas halten, das uns zugänglich und durch uns be-greifbar ist. Zwar war von dem Insichgründen und einer unwandelbar insich geschlossenen Qualität des Gewißheitslichtes, es objektivierend undbeschreibend, die Rede, aber von solcher Objektivierung und Entäuße-rung ist in Besinnung auf die Unzugänglichkeit der Lichtquelle zu abstra-hieren. Geschieht das nicht, dann scheint ein Unzugängliches uns zugäng-lich und objektivierbar. Das ist der Quellgrund des Scheins, der dasmenschliche Bewußtsein zum Irrtum verleitet, der Ursprung der Wahrheitsei ihm verfügbar. »Daß wir jetzt wirklich davon reden, also es entäussern,davon eben ist, zufolge der obigen Einsicht, zu abstrahiren; und es ist die-ser Schein, der, als der Wahrheit widersprechend, nur Schein ist und Irr-thum, seiner Möglichkeit nach aus dem Systeme der Erscheinung abzulei-ten« (GA II/8, 350). Also vermag eine Besinnung auf das Licht der reinenGewißheit die Erscheinungslehre vom beirrenden Schein fernzuhalten.Wie aber gelingt es der Wissenschaftslehre, die absolute, immanent in sichbegründete Gewißheit als Wahrheitsgrund der Erscheinung sich klarzu-machen?

Dazu ist es unumgänglich, auf das Verfahren achtzugeben, in welchemdie absolute Gewißheit sich selber in uns, der Ichform, unmittelbar und le-bendig äußert. Dieses Verfahren ist der Vollzug eines Prinzipiierens, Proji-zierens und intellektuellen Intuierens (und entfaltet so das Schlüssel- undProblemwort des Deutschen Idealismus, die intellektuelle Anschauung,

5. Abschnitt: Grundlegung und Grundzüge der Erscheinungslehre 293

neu). Diesen Aufschluß gibt Fichte im 23. Vortrag vor. »Drängen wir unsheran zur Klarheit, so weit wir es hier vermögen. Unmittelbar lebendiges,und immanentes Principsein, mit Licht und mit Intuition, mit innererNothwendigkeit – ich sage: Pricipsein, darum eben Projiciren und Intuiren.Ich sage: unmittelbar lebendiges und immanentes, schlechthin im Intuiren,vom Intuiren und aus dem Intuiren ist das Projektum, und das Projiciren isteben das Leben des Lichtes als Principiiren. Ich sage: mit innerer Nothwen-digkeit, und so, daß die Nothwendigkeit durchaus sich ausdrücken müsse;denn es ist eben Principiiren, als Principiiren« (GA II/8, 350).

Es geht darum, die innere Gewißheit im gelichteten Ich anzuschauen.Sie wird erblickbar in der Einheit eines Verfahrens, das unmittelbar undlebendig ist. Es ist ja lebendiges Licht, das uns ergreift und einleuchtet. Da-her eignet dieser Lichtung in uns der Grundzug eines Prinzips, das sich inund aus sich selbst gründet. Daraus entspringt das immanente Projizieren,ein Sich-Projizieren, welches sich, selbst sehend machend, sieht. Damit er-scheint das Projektum des Sich-Projizierens, das lebendig sehend gemach-te Ich, als selbständig und auf sich beruhend. Hierbei kommt alles daraufan, soll der täuschende Schein falscher Subjektivität vermieden werden,einzusehen: Solches Sich-Projizieren ist eine proiectio per hiatum. Es ver-dankt sich einem Hiat, einer unüberbrückbaren Kluft, nämlich zwischendem in sich geschlossenen, unzugänglichen Lebensvollzug des absolutenSeins und dessen äußerer Darstellung. Wo aber solche Unzugänglichkeitübersehen und wo solche proiectio per hiatum nicht beachtet wird, danimmt das Projektum die täuschende Gestalt des in sich selbst gründen-den Ich-Subjekts an.

Nun ist solches Sich-Projizieren und Sich-sehend-Machen unmittelbaranschaubar und gewiß. Ein unmittelbar anschauendes Wahrnehmen heißtIntuieren (intuitus) und als übersinnliches Anschauen eines geistigen Voll-zugs Intelligieren, so daß Intelligieren und Intuieren mit demselben Schlaggeschehen: »Sich zum formalen Intuiren machend, unmittelbar durch dasimmer lebendige Principsein, also intelligirend und intuirend, schlechthinin Einem Schlage« (GA II/8, 352). Soweit ist die eigentümliche Gewißheitder Erscheinungs- und Scheinlehre in ihrer Wesensherkunft durchsichtiggemacht: Der Wahrheitsgrund der Erscheinungslehre ist das uns einleuch-tende Licht und Leben im Verfahren des prinzipiierenden, sich projizieren-den und intelligibel machenden Sehens im Ich, und zwar im Modus einerunerschütterlichen, schlechthin notwendigen, unverwandelbaren Gewiß-heit. »Aber, es ist nicht bloß Leben, sondern es ist Leben seiner selbst, und

294 Teil III: Fichte

als solches ist es Sichprojiciren. Das so eben abgeleitete Leben als construi-rendes Verfahren ist daher Construktion seiner selber, in der Projektion, da-her eben in der Gewißheit [...]. Die Gewißheit ist ursprünglicher in uns inder lebendigen Beschreibung« (GA II/8, 352). Somit ist einer vom Schein be-freiten, im Lichte der Gewißheit erscheinenden Erscheinungslehre derGrund gelegt. Es ist sonach klarzumachen, worin näherhin die Aufgabe ei-ner Entfaltung ihrer Einheit in die Vielheit und Mannigfaltigkeit unserer Er-scheinungswelt besteht.

2. Kapitel: Angabe der Aufgabenstellung (Wissenschaftslehre Königsberg, 23. Vortrag)

Seit Plato kreist eine Hauptaufgabe der prima philosophia im Aristoteli-schen Verstande um das Eine (hen) und Viele (polla) mit dem Ziel, dieEinheit von Einheit und Vielheit ein- und auszufalten. Und es ist neuplato-nische Tradition, die wirkungsgeschichtlich zumeist latent oder wie imFalle Hegels bewußt in die Systembildungen des Deutschen Idealismus hi-neinreicht. Der Neuplatonismus ist der alten Aufgabenstellung der Meta-physik auf einem doppelten Wege intensiv und extensiv in vordialekti-schem Geiste (etwa bei Proklos, dem ›Hegel der Antike‹) nachgegangen: ineinem stufenweisen Aufstieg von der ins Nichts zerstiebenden Vielheitzum lichterfüllten Sein des göttlichen Hen und in einem Abstieg, da dasan Einigungskraft überfließende Eine sich in den ›Hypostasen‹ von Ver-nunft, Seele, materieller Raum- und Erscheinungswelt bis zum einheitslo-sen Nichts abstufte. Solche Aufgabenstellung kehrt im Lichte transzenden-taler, absoluter Reflexion und in Anknüpfung an die All-Einheitslehre Spi-nozas in Fichtes ungeschriebener Lehre wieder. Die neugestaltete Wissen-schaftslehre legt diejenigen Gesetze des Bewußtseins frei, nach denen allesMannigfaltige in absoluter Einheit eingeht und aufgeht, und zwar auf demWege einer aufsteigenden Wahrheitslehre. Und eine Erscheinungslehredurchdringt jene Prinzipien, nach denen alles Mannigfaltige auf abstei-gendem Wege aus der absoluten Einheit des schlechthin einfachen Einenin seinem unmittelbaren Dasein entsteht. Das verlangt vom Prinzipienfor-scher keineswegs, plotinisch in einer unio mystica mit dem lichtvollen Ei-nen selber Licht zu werden, sondern in transzendentaler Besinnung aufdas absolute Wissen zu setzen und die Prinzipien einer Erscheinungslehrekomplett zu erfassen, »d.h. daß ihm die Einheit = A als Princip einleuchtetsolcher Mannigfaltigen; und umgekehrt, daß ihm die Mannigfaltigen ih-

5. Abschnitt: Grundlegung und Grundzüge der Erscheinungslehre 295

rem Seinsgrunde nach nur begriffen werden können, als Principiate vonA« (1. Vortrag; GA II/8, 8).

Diesen Aufgabenstand dokumentiert der 23. Vortrag der Wissenschafts-lehre Königsberg 1807. »Noch immer bleibt unsere Aufgabe dieselbe, dieMannigfaltigkeit, die wir als fünffache Unendlichkeit kennen, aus absoluterEinheit abzuleiten: welche Aufgabe selbst, jetzt, da wir ihrer Lösung immernäher rücken, wir noch schärfer betrachten wollen« (GA II/10, 179). DieseThemenstellung wiederholt einleitend die weder von Kant noch von Spino-za gelöste Aufgabe, alles Mannigfaltige im Wissen rein a priori aus absoluterEinheit herzuleiten, um sie im Vorblick auf die ins Auge gefaßte Lösungschärfer zu betrachten.56 Die schon deutlicher entwickelte Aufgabe einerprima philosophia besteht, komprimiert formuliert, darin, die Mannig-faltigkeit als »fünffache Unendlichkeit« herzuleiten. Das verlangt keines-wegs, gegenüber populären Mißverständnissen warnend eingeschärft, allekontingenten Einzeldinge und Gegebenheiten in ihrer realen Vorfindlich-keit aus einem Absoluten zu deduzieren. Das hatte bekanntlich der popula-risierende Kant-Nachfolger Wilhelm Traugott Krug in seiner StreitschriftBriefe über den neuesten Idealismus. Eine Fortsetzung der Briefe über die Wis-senschaftslehre eingefordert. Schelling wie Hegel haben im gemeinsam her-ausgegebenen Kritischen Journal der Philosophie 1802 diesen Unsinn bloß-gestellt. »Herr Krug kann sich nicht enthalten, die Sache wie der gemeinstePlebs zu verstehen und zu fordern, es solle jeder Hund und Katze, ja sogarHerrn Krugs Schreibfeder deduziert werden, und da das nicht geschieht, someint er [...], man hätte sich nicht sollen das Ansehen geben als ob man dasganze System der Vorstellungen deduzieren wolle« (TWA 2, 194). Die›Schreibfeder des Herrn Krug‹ tut Fichte mit der ersten einleitenden Bemer-kung in der Wissenschaftslehre 1812 ab. »Alberne Menschen verlangen, mansolle ihnen deduciren ihre Feder und die Albernheiten, die sie schreibt« (GAII/13, 43). Dieser Vorbehalt stellt eine bedeutsame kritische Schranke auf. Sa-che der Philosophie, selbst in ihrer systematischen Vollständigkeit, ist esnicht, all das Ungefähre und Zufällige und auch nicht das je Einzelne in sei-nem realen Inhalt und seiner empirischen Wirklichkeit genetisch herzulei-

56 Zum Aufbau der Königsberger Wissenschaftslehre vgl. die vielfach klärende Studievon G. Rametta: Einleitende Bemerkungen über die W.L. von 1807, 2006. – Ders.: Lestrutture speculative della dottrina della scienza. Il pensiero di Fichte negli anni1801-1807, 1995.

296 Teil III: Fichte

ten; denn das liegt unterhalb der Schwelle und außerhalb der Reichweite derGesetze unseres Bewußtseins. »Wie das Ungefähre, Zufällige (Gesetzlose)wird, kann man nicht sagen« (GA II/13, 43). Wohl aber ist genetisch dieFünffachheit und die Unendlichkeit unserer Bewußtseinsverhältnisse undunserer Welteinstellungen durchsichtig zu machen. Diese entfaltet sich for-mal in der synthetischen Fünffachheit von fünf Gliedern. Diese sind 1. dastätige Setzen, 2. das gegenständliche Sein, 3. das Anschauen einer Sinnen-welt, 4. das Denken der übersinnlichen Welt und 5. der lebendige Wechseleines Durcheinanders. Und sie besondert sich materiell in den fünf Bewußt-seinsstufen unserer Weltansichten. Diese sind 1. der Naturglaube, 2. das Bau-en auf das Recht, 3. die Einforderung von Sittlichkeit, 4. die Liebe der Religi-on und 5. die Wissenschaft als Weltweisheit.

Das systematisch zu vervollständigende Faktum dieser fünffachen Auf-spaltung oder Pentatomie hatte Fichte schon in einem Zusatz zum Appia-Brief (vermutlich an Paul Joseph Appia, reformierter Prediger in Frankfurtam Main) vom 23. Juni 1804 in Aussicht gestellt. Danach spaltet sich das ab-solute Wissen in seiner Bewußtseinsform »zuförderst in ein sinnliches undübersinnliches Bewußtseyn, was auf das Seyn angewendet ein sinnliches undübersinnliches Seyn geben muß. Das Übersinnliche spaltet sich hinwiederum,nach einem hier nicht anzuführenden Gesetz, in religiöses und moralischesBewußtsein, was auf das Seyn angewendet einen Gott giebt und ein sittlichesGesetz; das Sinnliche spaltet sich wiederum in ein Sociales und in ein Natur-Bewußtsein, was auf das Sein angewendet ein Rechtsgesetz und eine Naturgiebt« (GA III/5, 247-248).

Fichtes materielles Gesetz der ›Pentatomie‹ vervollständigt die unvoll-ständige Trichotomie Kants und erst recht natürlich die Platonische Dicho-tomie. »Grundgesetz der Pentatomie, keinesweges Trichotomie:... Kant 3 Kri-tiken, 3 Welten. Sollten 5 seyn, welche fehlt: die eigentl. reale moralische, diereligiöse, die wissenschaftliche« (GA II/10, 153). Nun sind Übergänge undAufstiege auf den fünf Stufen der Weltansichten ein Akt der Freiheit, unddieser in seinem Vollzug eines freien Hinsehens ist unendlich. Mithin ver-langt die Aufgabe wahrer Philosophie, alles Mannigfaltige in seiner fünffa-chen Unendlichkeit a priori aus einem Spaltungsprinzip einsichtig zu ma-chen. Sie wäre gelöst, wenn die fünffache Unendlichkeit in der Fünffachheitder Freiheit aus einem Stück dargestellt würde. »Also Schematisiren d.i. frei-es hinsehen eines Etwas ins Unendliche, nach dem Gesetze der Unendlich-keit, u. einer bestimmten Fünffachheit, ist das Grundgesetz des zu Sehen ge-wordenen Lebens« (GA II/10, 159).

5. Abschnitt: Grundlegung und Grundzüge der Erscheinungslehre 297

Um in diesen »Grundpunkt« hineinzuführen, hat Fichte eine »feste sche-matische Formel« mitgeteilt: »x = A + F + U + 5« (GA II/10, 159). X steht fürdie zu suchende, von Kant für unerforschlich gehaltene Einsicht in die abso-lute Genesis, in das Entstehungsgesetz eines Ursprungs, der zugleich Ein-heits- und Sonderungsursprung alles Mannigfaltigen ist. Dazu sind folgendeGlieder in Rechnung zu stellen: die Ich-Erscheinung als Dasein, Schema,Bild absoluten Lebens (A), die Freiheit (F), welche das gesollte Intelligierendes Ich-Bildes vollzieht, das Unendliche (U), in welches sich das erscheinen-de Leben in Zeit und Geschichte der Weltwirklichkeit schematisiert, nichtzuletzt die Fünffachheit (5), in welcher sich fünf Grundmomente des Selbst-bewußtseins konsitutieren und mit demselben Schlag in fünf Einstellungendes Welt- und Seinsverständnisses sondern.57 Somit ist die Aufgabe einer ge-netisch evidenten Erscheinungslehre gestellt. Aufzusuchen sei das Entste-hungsgesetz, nach welchem dieses höchste Faktum des Bewußtseins, die»fünffache Unendlichkeit« und die »Fünffachheit der Freiheit«, entsteht;denn auch die Einstellung der fünf Weltansichten und der mögliche Auf-stieg vom Naturglauben bis zum Religionsgefühl ist Sache der Freiheit undnicht des Zufalls oder einer dialektischen Notwendigkeit.

Zur Lösung dieser Aufgabe stellt die Einleitung der 23. Vorlesung dreiPrinzipien bereit. 1. Der erste Anfangsgrund ist die reale All-Einheit göttli-chen Wesens und Lebens. »Wir bedürfen daher zuvörderst einer Einheit, u.zwar keinesweges, was fast aller philosophischen Systeme Einheit ist, eineaus der Mannigfaltigkeit zusammengesetzte, die sonach erst wird, sonderneine, die in u. durch sich selbst Einheit ist, u. aus der, weil sie ohne Wandelist, nie ein anderes hervorgehen kann. Diese Einheit muß ferner [...] absolutReal seyn, d.i. dem allein wir Realität zuschreiben [...], u. das göttliche Wesenselbst seyn« (GA II/10, 179). Um den Prinzipienanspruch solcher Einheit zugenügen, welche als Einigungsgrund über der synthetischen Einheit desWissens oder der transzendentalen Apperzeption ›west‹, sind drei notwen-dige Bedingungen zu erfüllen. Die umfassende Einheit darf nicht nachträg-lich aus vorliegendem Mannigfaltigen zusammengestückt werden. Sie muß

57 Der förderliche Durchgang durch die Königsberger W.L. in der Abhandlung von M.Ivaldo: Transzendentale Lebenslehre. Zur Königsberger Wissenschaftslehre 1807,1996, 174 hat diese Formel trefflich transponiert: »Ich-Erscheinung erweist sich alsSchema des Lebens (A), das durch Freiheit (F) ins Unendliche (U) schematisierbarist und prinzipiell nach den fünf Stufen (5) des Bewußtseins (als Nicht-Ich Ich-Be-ziehung) gestaltet wird.«

298 Teil III: Fichte

in und durch sich selbst geeint sein. Ferner darf ein genügender Einheits-grund nicht ein anderes ›emanativ‹ hervorgehen lassen, er muß seine All-Einheit bewahren, so daß allein diese ist und nichts außer ihr. Und sie mußschließlich wahrhaft real und göttlichen Wesens sein. Wird nun das wahr-haft reale Wesen grammatikalisch als verbum activum bestimmt, dann ist esLeben, das nicht substantivisch besteht, sondern aktivisch weset. Das wesen-de Leben ist nach dem Ausdruck der W.L. 1804-II: esse in mero actu. Diedurch sich lebende Wesenseinheit ist daher nicht einseitig als absolute Sub-stanz denkbar. Das wahre, real-wesende Leben können wir nur leben. Daserste in seiner Verborgenheit zu entbergende Prinzip ist also die Einheitgöttlich tätigen Wesens und Lebens selbst.

2. »Zweitens bedürfen wir ein Princip der Mannigfaltigkeit, d.i. [...] einezweite Einheit, welche schlechthin durch sich selbst, zufolge ihres von unsdarzulegenden Wesens nothwendig sich spalte in: p.p. [die Mannigfaltigkeitfünffacher Unendlichkeit]« (GA II/10, 179). Außer dem Ursprung absolutenEinheitslebens ist ein Prinzip der Spaltung und Disjunktion anzusetzen, so-fern das wandellose, inkludente Sein und Leben des Absoluten sich nicht insich selbst spaltet und in unendliche Modi einer Substanz modifiziert. DieDurchdringung und Entfaltung dieses zweiten Prinzips ist die genuine Auf-gabe einer transzendentalphilosophischen Besinnung, welche sich auf dieGrundelemente und Hauptstrukturen der Erscheinungswelt besinnt. Dasvollbringt die Wissenschaftslehre und nur sie als höchste synthetisch-analy-tische Kunst des Sehens, das sich von sich als solches sieht und sichtbarmacht. Solches absolute Sehen und Wissen drückt sich in den substantivier-ten Präpositionen des Von, Durch und Als aus.

Eine Sichtbarmachung des sich von sich als solches sehenden, durch-gängigen Sehens bildet die Grundform, das Schema, welchem alle Spal-tungsgesetze des Bewußtseins einheitlich folgen. Das Sich-Sehen in den rei-nen Bezügen des Von, des Als und des Durch spaltet sich notwendig und ge-setzhaft in ein Sehen (das Ich-Subjekt) und in ein Gesehenes (das Nicht-Ich-Objekt), in eine theoretisches Einsehen und den praktischen Vollzug ei-nes Strebens ins Unendliche, in die Differenz von unmittelbarem Hinschau-en des Sinnlichen und das Denken des Übersinnlichen vermittelst des Als.Die vollständige Entfaltung dieser höchsten synthetisch-analytischen Kunstdes Sehens in alle ihre Mittelglieder vollendet die Form der Vernunftwissen-schaft, die in den Ausarbeitungen der Jenaer Grundlage noch nicht durch-geführt war. Und sie wehrt den Nihilismusverdacht Jacobis ausdrücklich ab,indem sie es nicht bei der Reflexion, der Schematisierung eines Schemas be-

5. Abschnitt: Grundlegung und Grundzüge der Erscheinungslehre 299

wenden läßt, sondern bis zum Realgrund der Reflexion zu Ende reflektiertund das Prinzip einer Vereinigung mit der wahren Einheit und Urrealitätbeibringt. Fichtes Anti-Nihilismus-Formel erklärt: Das Nichts im Sinne dessich schematisierenden leeren Schemas eines sich selbst sehenden Sehensund sich spiegelnden Spiegels ist, sofern es doch real ist, nicht Nichts (vgl.GA II/10, 176 u. 194-195).

3. Beim Ansatz von zwei getrennten, zusammenhanglosen Prinzipien,der wandellosen-realen Einheit (A) und dem formalen Spaltungsgrundder Mannigfaltigkeit (B), kann es nicht bleiben. »Wodurch wir einen, niezu vereinigenden Dualismus hätten. Daher wir denn 3. ein Princip derEinheit u. des Zusammenhanges der beiden ersten Principe aufzeigenmüssen, worin sich finde, daß A selbst, jedoch ohne seine Einheit zu ver-lieren, eintrete in B u. wiederum B ohne doch die in ihm liegende absoluteSpaltung zu verlieren sey A« (GA II/10, 179). Damit eröffnet sich die letzteund entscheidende Aufgabe einer Philosophie, welche nicht Dualismussein will, der unbesehen zwei Prinzipien, Gott oder das Absolute und dasIch oder das absolute Subjekt, zusammenhanglos nebeneinander bestehenläßt. Darin, den Dualismus aufzuheben, muß, nochmals formuliert, diehöchste Aufgabe der Vernunftwissenschaft bestehen. »Wie die absoluteEinheit u. Unveränderlichkeit Gottes u. die unendliche Veränderlichkeitim Wißen als seine Erscheinung nebeneinander bestehen u. wohl gar dieleztere aus der ersten nothwendig folgen, u. sich erheben möge, ist die ei-gentliche u. lezte Aufgabe aller Philosophie« (GA II/10, 188). Und Fichtefügt historisch an: Die wenigsten Systeme seien bis zu dieser Aufgabenstel-lung durchgedrungen; andere, wie Spinoza oder der verklärte SpinozistSchelling, hätten diese Aufgabe erfaßt, aber nicht gelöst.

3. Kapitel: Feststellung des Mittelpunktes der fünffachen Vernunftstruktur(W.L. 1804-II, 28. Vortrag)

Um die Aufgabe der prima philosophia als Erscheinungslehre mit den Me-thodenansprüchen der vollendeten Wissenschaftslehre zu erfüllen, müssendie unendliche Vielheit des Vorgestellten überhaupt und die Fünffachheitder Bewußtseinsstruktur und Welteinstellung genetisch evident werden.Dafür ist es zu allererst nötig, einen Mittelpunkt aufzusuchen, der die Er-scheinungen der Vielheit als Vorschein des schlechthin Einen vermittelt.Und es sollte ein Prinzip der Sonderung und Disjunktion einsichtig wer-den, welches die Fünffachheit in sich enthält. In welchen Mittelpunkt nun

300 Teil III: Fichte

kommt eine Vernunftwissenschaft zu stehen, welche in eins und mit ei-nem Schlag die unendliche Mannigfaltigkeit der in unserem Bewußtseinerscheinenden Welt und die Fünffachheit unserer Weltansicht ursprüng-lich klärt? Diese Frage schärft sich zu. Steht die Philosophie im Stand-punkt der absoluten, sich selbst machenden und sich im Bewußtsein kon-struierenden göttlichen Vernunft oder im Standpunkt einer selbstbewußt-ichhaften nachmachend-nachkonstruierenden Vernunft? Nun war ein Sitzder Wahrheitslehre schon einsichtig geworden: »das unmittelbar in sichselber aufgegangene und von sich selber durchdrungene Eine Vernunftle-ben« (GA II/8, 406). Mit diesem nur scheinbar unscheinbaren Resultat be-ginnt Fichte seinen alles abschließenden 28. Vortrag. »So standen wir: dieVernunft ist schlechthin Grund ihres eigenen Daseins, in eigner Objektivi-tät, für sich selber, und darin besteht eben ihr ursprüngliches Leben« (GAII/8, 410). Das ist das sich selbst effizierende Licht. Dieses Leben machtsich selber intuieren, d.h. sie geht ununterscheidbar in der reinen Tätigkeitdes Intuierens auf. Das kommt auf neuzeitlichem, transzendentalem Wegemit der Nous- und Vernunftlehre der Aristotelischen ›Theologie‹ in Meta-physik Lambda überein.

Nun ist in transzendentaler Besonnenheit längst entschieden: Von dieserUrtätigkeit göttlichen Vernunftlebens ist weiter nichts prädizierbar und be-grifflich zu erfassen. Es ist nur als Unbegreifliches begreifbar und nur alsUnaussprechliches auszusprechen. Im geistigen Leben des Absoluten selbstfindet eine philosophische Vernunftwissenschaft keinen Stand, mag sie nochso fortschrittlich vom Absoluten reden. Dagegen ist ein für allemal zu behal-ten: Außer diesem all-einen Leben der Urtätigkeit der absoluten Vernunftgibt es nichts, was wahrhaft tätig ist und lebt, außer dem Wissen, das vomLicht der unbegreiflichen Urtätigkeit ergriffen ist. Damit entsteht unab-trennlich ein Zweifaches, das Sichmachen der absoluten Urtätigkeit unddessen Nachmachen als Bild. »Es entsteht hier zugleich eine absolute Urthä-tigkeit und Bewegung, als an sich; und das Machen oder Nachmachen dieserUrthätigkeit, als ihr Bild« (GA II/8, 410).

Aber auch im sich als Bild bildenden Nachmachen kann der gesuchteMittelpunkt nicht liegen; denn so wie ein Stehen im Absoluten lediglich zueiner unzerteilten Einheit ohne Vielheit und Mannigfaltigkeit des Bewußt-seins kommt, so kann ein Stehen im sich selbst reflektierenden Bilde esnur zur aufgespaltenen Vielheit ohne wahre Einheit, ohne aktuale Realitätbringen. Mithin ist von einem Vernunftstandpunkt, der auf das sich bil-dende Subjekt als Prinzip des Gedankens vom Absoluten besteht, ebenso

5. Abschnitt: Grundlegung und Grundzüge der Erscheinungslehre 301

zu abstrahieren wie von dem Vernunftstandpunkt, der auf der Selbstkons-truktion absoluten Licht und Lebens besteht. Vielmehr bezieht die Wissen-schaftslehre ihren Standpunkt dazwischen. »Wir oder die Vernunft stehennicht mehr, weder in jener objektivirten Vernunft, noch in der subjektivir-ten; – denn davon gerade ist ja zu abstrahiren, – sondern rein im Mittel-punkte des schlechthin effektiven sich Machens; die Vernunft ist durchauslebendig in sich selber aufgegangen und zu einem inneren Ich, Umkreiseund Mittelpunkte geworden in der W.L.« (GA II/8, 412). Also steht dieWissenschaftslehre weder im sich selbst machenden Absoluten und im le-bendigen Geiste Gottes selbst noch im nachmachenden Dasein des Ich,sondern in dem Mittelpunkte zwischen beiden.

Dafür ist ein unmittelbares, aber inneres Sich-intuierend-Machen zudurchdringen, und zwar eben vom Mittelpunkt einer Vernunftwisenschaftaus, die besonnen zwischen der Urtätigkeit göttlichen Sich-intuierend-Ma-chens und dem Nachmachen des daseienden Wissens schwebt. »Die Ver-nunft [...] zerfällt in dem Leben dieses Machens in Sein und Machen: undMachen des Seins als gemachtem und nicht gemachtem, und des Machensals gleichfalls ursprünglichem und nicht ursprünglichem, d.h. nachgebilde-ten: und diese Disjunktion, also ausgedrückt, wie wir sie eben ausdrückten,ist die absolute und ursprüngliche« (GA II/8, 412). Im Eingehen auf dieseGrunddisjunktion der absoluten Vernunft in ihrem Sein (Leben, Tätigsein)und Machen (Sich-intuierend-Machen) gliedern sich vier Glieder heraus,die in einem fünften Glied, der vereinigenden Einheit, in der Wurzel zusam-menhängen:(1) ein ursprüngliches Machen: die Selbstkonstruktion der absoluten Ver-

nunft, die das Dasein des reinen Wissens innerlich ergreift,(2) ein nicht ursprüngliches Machen: als Nachkonstruieren des nachma-

chenden reinen Wissens,(3) das nicht gemachte Sein an sich: die sich selbst effizierende Urtätigkeit,(4) das gemachte Sein: die für sich seiende Tätigkeit des sich durchbilden-

den Bildes,(5) der Mittelpunkt von Sein und Machen: das sich auf sich besinnende

Sehen von Machen und Sein.Von dieser Fünffachheit aus lassen sich nunmehr die Aufspaltungen desfaktischen Bewußtseins der Erscheinungswelt genetisch herleiten.

302 Teil III: Fichte

4. Kapitel: Genetische Herleitung der unendlichen Vielheit undVeränderlichkeit

Zunächst also ist von diesem Mittelpunkte aus das Faktum der absolutenMannigfaltigkeit und unendlichen Veränderung der in unserem Bewußt-sein erscheinenden körperhaft gegenständlichen Umwelt und interpersona-len Mitwelt aus einem Grundgesetz herzuleiten. Dafür ist der Bewußt-seinszustand der Erscheinung als solcher, ihr Urgrund und ihre Urbedin-gung hervorzuheben, nämlich das innere Ich. Das innere Ich ist Tätigkeit,ein entgegensetzendes Sich-Setzen. Aber als schlechthin absolutes Subjektund als schrankenlose Urtätigkeit der Tathandlung, welches die Realität derWelt ursprünglich zur Erscheinung bringt, ist es abgesetzt und vernichtet.Vielmehr gilt es näherhin einzusehen: Die Erscheinung selber ist »ur-sprünglicher Vernunft-Effekt, und zwar als Ich« (GA II/8, 414). Sonach wirddas Ich zwar nicht empirisch durch Selbsterfahrung erfahren, aber es istauch nicht die sich intuierend machende Urtätigkeit selbst. Es ist da als Re-sultat und Effekt, und nurmehr ein schlechthinniges Sich-Machen. Das Ichist, mit einem Wort, nicht oberstes Prinzip von Leben und Realität, von Ein-heit und Sein, es ist absolutes Prinzipiat und lediglich formales, schematisie-rendes Prinzip der Sonderung. Als Urgrund und oberste Bedingung kommtes nur in Betracht, wenn vom wahren Sein, der Urtätigkeit des Absoluten,weggesehen wird. Das innere Ich ist lediglich einigende Einheit, welche dasSeiende als Erscheinung konstituiert. Für die Struktur dieses Ich und seinerFreiheit als eigener »Sitz der Sehe« ist nun die anschließende Analyse ent-scheidend. »Rein in der Erscheinung aber = dem nur in seinem Princip un-zugänglichen Vernunfteffekt liegt, 1) daß ich schlechthin abstrahiren müsse,falls es zu jenem Bewußtsein kommen soll, 2) daß ich dieses könne oderauch nicht, also daß ich frei sei« (GA II/8, 414). Mithin kommt in der Er-scheinung ein Sollen auf, welches an die Bewußtseinsbildung ergeht, sichabstrahierend in einem Freiheitsakt von dem loszureißen, was es immerschon ist, um sich als Erscheinung im Gegensatz zum Absoluten zu fassen.So kommen Freiheit, das Gesetz des Soll und das Ich als Sitz der Sehe auf.58

58 Entsprechend hat P. Falk 2006 in einer eindrücklichen Analyse der W.L. 1812 dieSich-Form des Ich an diesem Punkte, nämlich der Rede vom Absoluten und seinerErscheinung, die sich als sich erscheinend erscheinen soll, abgeleitet und die Kon-kretisierung des Soll als Sittengesetz verfolgt. Im ganzen zeige eben auch diese letz-te Fassung der Wissenschaftslehre: Was so erscheint, ist nicht mehr der Triumph

5. Abschnitt: Grundlegung und Grundzüge der Erscheinungslehre 303

Von daher erst stellt sich die Frage nach dem Wie der Entstehung und Ge-nesis der Welt. »Was entsteht mir, laut der Aussage der Erscheinung, durchdie Abstraktion?« (GA II/8, 414). Es entsteht, in gedrängter Kürze erklärt, dieVernunft als entstehend und erscheinend aus ihrem Gegenteil. Alles Entste-hen erscheint ja als solches nur an seinem Gegenteil, wie das Altsein ausdem Jungsein und eine Einheit aus der Einigung einer Vielheit entsteht.»Das Gegentheil der absoluten Einheit, die in diesem Gegensatze wiederumqualitative Einheit wird, ist absolute Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit«(GA II/8, 416).

Welt erscheint als ein Entstandenes, nicht aber als Schöpfungswerkgöttlicher creatio ex nihilo. Als Erscheinung, unter Bedingungen des Ich,erscheint es als Gegenbild absoluter Einheit. Das ergibt eine »qualitativeEinheit« und macht erklärlich, warum unser Bewußtsein als Bilder der ei-nen und selben Welt entsteht.

Nun erscheint uns eben diese qualitative Einheit in unendlicher Zer-teiltheit durch Veränderlichkeit und Mannigfaltigkeit bestimmt. Es ist diefreie Reflexion des Ich, die dazu frei ist, von Reflexion zu Reflexion insUnendliche fortzugehen und jegliches in der Form des Als zu vereinzeln.So erscheint uns dieses-da als nicht jenes, als hier und nicht dort, als ge-genwärtig und nicht vergangen bzw. zukünftig, als so und nicht anders be-schaffen. Geschieht das wirklich, »so muß jeder neuen Reflexion die Weltin einer neuen Gestalt heraustreten und so, in einer unendlichen Zeit, wel-che gleichfalls nur durch die absolute Freiheit der Reflexion erzeugt wird,ins unendliche fort sich verändern, und gestalten, und hinfließen, als einunendliches Mannigfaltige« (Anweisung, 4. Vortrag; GA I/9, 99). Die Frei-heit der Reflexion mit der Trennkraft des Als erweist sich somit als Erzeu-ger des unendlich Mannigfaltigen als solches in der Welt. Und diese Ent-stehung der unendlich mannigfaltigen und veränderlichen Welt ist sinn-voll und nicht etwa wie in nihilistischer Präzisierung endlos, zwecklos,sinnlos. Sie bildet den Ausgang für eine absolute Abstraktion, die zur wan-dellosen, schlechthin einfachen, göttlichen Einheit der Vernunft kommt.Soll es zu solcher Vernunfteinheit kommen, dann muß genetisch das Ge-genbild im Bewußtsein erscheinen, »welches das erste Grundgesetz wäre«(GA II/8, 416).

autarker Subjektivität, sondern die Göttlichkeit des Absoluten in einer Erscheinung,die sich wissend auf sich und seine gesollte Freiheit besinnt.

304 Teil III: Fichte

5. Kapitel. Schematisierung der fünf Standpunkte menschlichen Seins- und Weltverstehens

Der ersten Anwendung der methodischen Generalregel, die faktischenTatsachen des Bewußtseins in den Zusammenhang ihrer Genesis einzu-stellen, folgt eine zweite Anwendung. Die richtet sich auf das Faktum un-serer immer noch und unentwegt im Streite liegenden fünf vorherrschen-den Welt- und Seinsansichten. Auch in diesem Falle wird die Mannigfal-tigkeit der Standpunkte von Prinzipien für das Verstehen der Erschei-nungswelt her als notwendige Bedingung und Ausgang deduziert. Und dasfolgt eben dem Grundgesetz: Soll die Einsicht in die durchgegliederte Ein-heit von Sein und Dasein des absoluten Vernunftlebens entstehen, dannmuß sie als entstanden aus ihrem Gegensatz, den gesonderten Prinzipien,im Seinsverständnis der Erscheinung deduziert werden. Das ist die An-wendung des Sollengesetzes: »Soll die W.-L. eben ein Sichmachen, eineGenesis sein, so muß ein solches und solches Bewußtsein gesetzt werden«(GA II/8, 416).

Dafür liegt bereits das Lösungsziel bereit, nämlich die in ihrer Fünf-fachheit durchdrungene Vernunfteinheit von vier, in einem fünften zu-sammengehaltenen Gliedern. Das waren, nochmals repetiert, ein ur-sprüngliches wie ein nicht ursprüngliches Machen, ein nichtgemachteswie ein gemachtes Sein. Das wiederholt nur die Analyse der Grundformdes Wissens, nun, da die zweite Anwendung der Genetisierungsvorschrifterfolgt. »Nun haben wir diese vier Glieder insgesammt aufgestellt, nur in-wiefern wir die Vernunft als innere Einheit durchdrangen« (GA II/8, 416).Dabei ist die innere Einheit vorausgesetzt, in welcher die vier Glieder nichtauseinanderfallen und als selbständige Prinzipien heraustreten. Sie bleibenunzertrennbare Momente eben im Fünften, einer Einheit, in welcher Seinund Machen durcheinander aufgehen. Nun ist diese Fünffachheit als ent-standen genetisch durch Abstraktion von ihrem Gegenteil entstanden. Daserzwingt einen Ausgang in der Erscheinung, welche diese Fünffachheit ge-sondert und zusammenhanglos aufstellt.

Sind nun aber die Dinge als Erscheinung an das Ich-denke gebunden,dann verwandeln die vier Disjunktionsglieder ihren Stand und Standesna-men. Das Sein erscheint als Objektsein, das Machen als Subjektsein, dasnachgemachte Sein als stehendes (an sich entgegenstehendes) Objekt derSinnenwelt, das sich machende Machen als Bild eines übersinnlichen (in-telligibel angeschauten) Unbedingten, das sich machende Sein erscheint

5. Abschnitt: Grundlegung und Grundzüge der Erscheinungslehre 305

als absolutes (göttliches) Objekt, das in uns lebt. Das ergibt vier Stand-punkte, die auf ihren je besonderen Grundprinzipien bestehen und die inunserem Zeitalter feindseliger denn je in ideologische Weltanschauungs-parteien auseinanderfallen.

1. Die nächstliegende Weltanschauung hält sich an das »stehendeObjekt«. Sie erklärt: Was wahrhaft ist, ist das wandelbare Sein an sich, dassich in seinem materialen Empfindungsgehalt durch sinnliche Wahrneh-mung mit sinnlicher Gewißheit bekundet. Das ist der erste und niedrigsteModus, das Sein der Welt unter dem Grundsatz zu verstehen, wahr undwirklich sei das, was wir im Wahrnehmen der Sinne mit Händen greifenund mit eigenen Augen sehen können. Und dieser Sensualismus erklärtebenso eigensinnig wie unsinnig: Die Dinge, wie sie sich sinnlich zweifels-frei bekunden, bestehen an sich selber außer und ohne uns. Selbst eineSchellingsche Einstellung, welche die Natur abgetrennt von ihrer transzen-dentalen Vergegenständlichung (als Nicht-Ich) und Sinngebung (als Materi-al der Pflichterfüllung) zugrundelegt, fällt auf diesen oberflächlichen dog-matischen Standpunkt zurück. Inzwischen erklärt der unvollkommene, ma-terialistische Nihilismus: Nur die Sinnenwelt ist wahr und wirklich – eineübersinnliche Ideenwelt ist von ›Idealisten‹ hinzugesetzt und hinzugelogen.Das ist für Fichte die erste und unterste, freilich weit verbreitete Weltan-schauung: »Princip der Wirklichkeit, Glaube an die Natur, Materialismus«(GA II/8, 416).

2. Die zweite, höhere und geistigere, aber immer noch an die Sinnenweltgebundene Weise, die Welt auszulegen und sich auf wahres Sein zu verste-hen, hält sich an das »stehende Subjekt«. Das Wirkliche, um das es geht, isthier das empirische Einzelsubjekt als Rechtsperson und die Gleichheit allervor Gericht durch die Kraft des Gesetzes: »Princip der Legalität« (GA II/8,416). Danach ist der erste Ursprung, aus dem die Weltordnung entsteht undworin sie sicher besteht, das Rechtsgesetz. Weil das Rechtsgesetz als Geboteine wechselseitige Einschränkung schrankenloser Freiheit fordert und eingedeihliches Leben des Menschengeschlechtes einrichtet, erscheint die Sin-nenwelt in dieser Weltansicht als Sphäre des freien rechtlichen Handelns derMenschen zwischen Personen allgemeinen und gleichen Rechts.

Nun ist das totale Bestehen auf bloßer Legalität, die notwendig durchZwangsgesetze Ordnung und Sicherheit schafft, nicht nur borniert, son-dern gefährlich. Wird das Bewußtsein der Legalität aus ihrem Zusammen-hange mit Sittlichkeit und Moralität, mit Religion und Vernunftwissen-schaft gerissen, dann kommt ein Weltalter herauf, da Machtergreifungen,

306 Teil III: Fichte

Massenmorde, ›ethnische Säuberungen‹ im Namen der Legalität unterZwangsgesetzen des positiven Rechts legalistisch durchorganisiert werden.Darum liegt viel daran, unser Rechtsbewußtsein nicht im Standpunkt derLegalität zu isolieren, sondern in ihrem Zusammenhange mit den Gebo-ten der Sittlichkeit, der Menschenrechte, der ungeschriebenen göttlichenGesetze zu verbinden.

3. Die Weltansicht der Legalität wird durch den Standpunkt der Moralitätüberboten und als oberstes Prinzip herabgestuft. Dieser Standpunkt verläßtnun die Sphäre der Sinnlichkeit und der Mannigfaltigkeit egoistischer Ein-zel-Iche, indem er sich ins absolute reale Bilden des Subjekts stellt. Da er-scheint die Realität im Bewußtsein des intellektuell angeschauten Sittenge-setzes, welches allgemein und kategorisch für alle Subjekte als moralischePersonen gilt, unangesehen der zeitlichen und geschichtlichen Situationenund der positiven Gesetzlichkeiten: »Standpunkt der Moralität« (GA II/8,416). Diese Schematisierung hat in der Religionsschrift Fichtes eine weitereDifferenzierung gewonnen. Freilich ist hierfür auf die methodische Wendevon der 28. Vorlesung der Wissenschaftslehre 1804 zur 5. Vorlesung der Reli-gionslehre zu achten. Während die Wissenschaftslehre die Aufspaltung die-ser Fünffachheit in ihrem Mangel, der zusammenhanglosen Absonderung,und in ihrem Eigensinn artikuliert, zeigt die Religionsschrift die Übergängeund den Zusammenhang dieser Abstufungen an. Das hat zumal für die Mit-telstufe der Moralität Folgen.

Danach steigt die Weltansicht zur Moralität auf, wenn sich das Sittenge-setz im Inneren des Rechtssystems offenbart. Das aber stuft die Religions-schrift lediglich als »Sphäre der niederen Sittlichkeit« ein. Dazu gehört diegewöhnliche Sittenlehre unter der Klugheitsregel »Tue niemandem Un-recht!«, aber auch die von Kant inaugurierte moralische Gesinnungpflichtgemäßen Handelns aus Achtung vor der Gesetzlichkeit des Sittenge-botes. Davon hebt sich der dem Zeitalter gänzlich verborgene – in der Er-langer Vorlesung 1805 nähergebrachte – »Standpunkt der wahren und hö-heren Moralität« ab. Diese Weltansicht erhebt sich zu einem Grundsatz,der ein neues Seinsverständnis und eine neue, geheiligte Seinsverherrli-chung stiftet. »Das wahrhaft reale und selbstständige ist das Heilige, Gute,Schöne; das Zweite in ihr ist die Menschheit, als bestimmt, jenes in sichdarzustellen; das ordnende Gesetz in derselben, als das Dritte, ist ihr ledig-lich das Mittel, um, für ihre wahre Bestimmung, sie in innere und äußereRuhe zu bringen« (GA I/9, 109). Demzufolge ist die Urrealität dieser Ideenchristlich-platonischer Tradition das Erste, ursprünglicher und sinnträch-

5. Abschnitt: Grundlegung und Grundzüge der Erscheinungslehre 307

tiger als das bloß ordnende und normierende Gesetz der niederen Morali-tät. Diese bricht die Kraft der Neigungen, schränkt die sich auslassendeWillkür ein, befriedet den Bürgerkrieg aller gegen alle, untersagt katego-risch, den anderen in seiner Würde zu lädieren. Dagegen stellt das Prinzipder höheren Moralität ein »erschaffendes Gesetz« heraus. Das sieht vor,die Ideen des Heiligen, Guten und Schönen in die Welt zu tragen. DieseAufgabe vertieft die Bestimmung des Menschen. Zugleich nimmt sie dieordnende Kraft formal-gesetzlicher Sittlichkeit als Mittel in Gebrauch, umdie wahren Ideen in Ruhe und Frieden verwirklichen zu können. So bringtdiese Weltansicht eine vom Heiligen, Guten, Schönen beseelte Welt zu Ge-sicht, in der Gottes inneres Wesen und Sein heraustritt.

4. Eine innigere Ansicht des übersinnlichen Seins und Lebens über-steigt die untere und höhere Moralität. Sie hält sich an das wahre Leben»des absoluten Objekts« in uns. Das ist Gott und das ewige Leben, in demund aus dem wir leben, und zwar in dem unwandelbaren Glauben deshomo religiosus: »Standpunkt der Religion, als Glaube an einen in allemZeitleben allein wahrhaft, und innerlich allein lebenden Gott« (GA II/8,418). Auf diesem Standpunkt enthüllt sich die Zuwendung zur Welt alshaltlos und das In-der-Welt-Sein als in der Wurzel tot, die Hinwendung zuGott dagegen als das einzig haltgebende wahre Leben. Das erfährt der Re-ligiöse im Glauben, in und aus dem er lebt, existiert und ein Leben langwirkt und handelt. Der Standpunkt des religiösen Glaubens ist inhaltlichund real unüberbietbar, aber er kann formal ins Schauen verwandelt wer-den.

5. Die fünfte und alles von Grund auf durchschauende Weltansicht istder Standpunkt der Vernunftwissenschaft, und diese ist vollendet, wennsie sich in den Mittelpunkt stellt, da alles Mannigfaltige aus reiner Einheitgenetisch hergeleitet ist und da die vier auf sich vereinzelten und sich ver-absolutierenden obersten Seinsauslegungen, nämlich Dogmatismus ein-schließlich Sensualismus, Materialismus, Naturvergötzung, Legalismus,Rigorismus und selbst höherer, platonistischer Moralismus in ihrem Prin-zipienanspruch vernichtet und als Momente in einem organischen Sinn-zusammenhang aufgehoben sind.

6. Kapitel. Ausblick auf die 25 Grundformen vernunftbestimmten Wissens

Nun hat der 28. Vortrag zusätzlich diese Fünffachheit in 25 Hauptmomen-te ausgefächert und als ursprüngliche Grundbestimmungen des Bewußt-

308 Teil III: Fichte

seins auf den Standpunkten von Natur und Recht, Sittlichkeit und Religi-on, Gott und Sein freigelegt. Das leuchtet ein, sofern jeder dieser fakti-schen Standpunkte ein freilich nicht durchschauter Effekt der Vernunft inihrer Fünffachheit ist. Somit stellen sich auf jeder Stufe die vier anderenSeinsbezüge ein, »nur eben tingirt im Geiste des herrschenden Grund-princips« (GA II/8, 418). Diese Anzeige Fichte ist unschwer zu rekonstru-ieren. So finden sich selbst in der geistlosen Sphäre unter dem Prinzip derSinnlichkeit ein:(1) das sensualistische Seinsverständnis,(2) die Vorstellung eines Gottes: der uns das tägliche Brot gibt,(3) Regeln der Klugheit, nämlich sich im Genuß zu mäßigen und es mit

Gott als dem Geber der Gaben nicht zu verderben,(4) eine Art geistiger Reflexion: im bedachten Genießen des Genießens,(5) ein vereinigendes Prinzip, nämlich die totale Liebe zur sinnlichen, an

ihr selbst nichtigen und vergänglichen Welt in der Tradition des Hedo-nismus.Entsprechend sind alle fünf Weltanschauungen im Geiste des Rechts-

bewußtseins eingefärbt und zusammengeschlossen:(1) das Pochen auf das Heil der Legalität,(2) die Vorstellung eines Gottes als »höhere Polizei«, die den Schuldigen

ergreift, auch wenn menschliche Polizei ihn nicht verhaftet,(3) eine Moralität, die mit der äußeren Rechtlichkeit zusammenfällt und

sich am positiven Recht orientiert,(4) eine spezifische Anerkennung der Sinnenwelt »zum Behuf der bürger-

lichen Industrie«, gleichsam als Material der Arbeitskraft des Men-schen und der Vorschriften der bürgerlichen Gesellschaft,

(5) ein vereinigendes Prinzip, eben die totalitäre Herrschaft des Rechts-gesetzes.Und fünf Hauptmomente konstituieren auch den Standpunkt der Mo-

ralität:(1) das Vorverständnis des Seins als Sollen,(2) ein Vernunftglaube an Gott, der lediglich postuliert ist, um die Ver-

wirklichung des Sittengesetzes moral-theologisch zu garantieren,(3) eine Rechtsgemeinschaft als Vorbedingung einer von Zwangsrecht und

Staatsrecht freien und sittlichen Menschenwelt,(4) die Sinngebung der Natur- und Sinnenwelt als Material der Pflicht-

erfüllung,

5. Abschnitt: Grundlegung und Grundzüge der Erscheinungslehre 309

(5) ein einigendes Prinzip, die Freiheit der Selbstunterwerfung unter dasSittengesetz.Und natürlich lassen sich auch fünf Hauptmomente vom Standpunkt

der Religion ausmachen:(1) der religiöse Glaube an Gott als die Wahrheit und das Leben,(2) eine Moralität, die nicht die Existenz eines gerechten Gottes postuliert,

sondern als göttliches Werk offenbar wird,(3) eine von ewigen, göttlichen Gesetzen durchwaltete Rechtswelt,(4) eine Sinnenwelt als Ausfluß göttlichen Lebens,(5) ein vereinigendes Prinzip, nämlich die Gottesliebe, die höher ist denn

alle Vernunft.Vor allem der Standpunkt der Philosophie hat sich fünffach zu ent-

falten, nämlich als philosophisches Verständnis der Natur, als philosophi-sche Grundlegung des Rechts, als Herleitung der unteren und höherenMoral, als Aufstieg zum Standpunkt der Religion und dies in einer Ver-nunftwissenschaft, die alle vier anderen Vernunftwissenschaften hierar-chisch durchordnet und in ihrem Sinn erhellt. Also entschlüsselt derSchlußvortrag die Fünffachheit in 25 genuine Hauptmomente des Wissensvom Sein der Welt. »In jedem Standpunkte sind daher vier und wenn Siedas vereinigende Prinzip wiederum dazu nehmen, fünf Grundmomente,welches ihrer zusammen 20 und wenn sie die eben von uns vollzogeneSynthesis der W.L. in ihrer aufgezeigten Fünffachheit dazunehmen, fünfund zwanzig Hauptmomente und ursprüngliche Hauptbestimmungen desWissens giebt« (GA II/8, 418).

Am Ende stellt sich im Blick auf die Vollendung eines vollständig abge-schlossenen Vernunftsystems die Frage: Sind die evident gemachte Zer-spaltung in 25 Hauptformen unseres Wissens und der zuvor zur Einsichtgebrachte Zerfall des Realen in die unendliche Mannigfaltigkeit der Er-scheinung nacheinander entstanden und deren Zusammennahme etwadoch eine mangelhafte Synthesis post factum? Oder geschehen beide Dis-junktionen mit einem Schlag und nach einem und demselben Grundge-setz der Vernunft? Diese Frage ist bereits entschieden und der Ansprucheiner Synthesis mit einem Schlage eingelöst. Beide Disjunktionen fallenzusammen. Die Mannigfaltigkeit überhaupt entsteht ja aus der Reflexionauf die Einheit der Vernunft als ein Sich-intuierend-Machen, und dieseReflexion läßt unmittelbar das Schema der Fünffachheit entstehen. Diemateriale, unendliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungswelt und die

310 Teil III: Fichte

Fünffachheit der Prinzipien von 25 Wissensformen entstehen zugleich undin eins nach demselben Vernunftgesetz.

Somit ist die Aufgabe der Prinzipienforschung auch als Erscheinungs-lehre gelöst, vollendet und systematisch abgeschlossen. Fichte jedenfallshat 1804 öffentlich auf dem Forum des geistigen Berlins die Wissen-schaftslehre als Vollendung des mit Kant anhebenden, durch Spinoza her-ausgeforderten, durch Schellings und Hegels Spekulation aus der Bahn ge-worfenen Idealismus verkündet. »Unsere unternommene Aufgabe ist da-her vollkommen gelöst, und unsere Wissenschaft geschlossen. Die Princi-pien sind, in der höchst möglichen Klarheit und Bestimmtheit hingestellt«(GA II/8, 420).

Die ausgereiften Grundlegungen der Seins- und Erscheinungslehre von1804 liegen den weiteren Ausformungen der Wissenschaftslehre zuvor undzugrunde. Das ist für die Abgrenzung und Kritik der Spätphilosophie vonBelang. Werden die 1804 gewonnenen und zur Evidenz gebrachten Entste-hungsgesetze unseres reinen Wissens von Gott, Dasein und Welt abgeblen-det oder mit Schellings Augen schief angesehen, dann geraten spätere Fas-sungen ins Zwielicht. So ist nicht zuletzt die Wissenschaftslehre 1812 einerkritischen Analyse unterzogen worden.59 Sie sei das System einer von Onto-theologie umrahmten Reflexionswissenschaft; von ihrem metaphysischenRande aus dringen Dunkelheiten in den transzendentalen Mittelteil wie inden Schlußteil ein; da werden Freiheit und Ergriffenwerden gleichgesetzt.Vor allem aber würde die Differenz von Sein und Erscheinung mit der Dif-ferenz zweier Seinsformen des Absoluten, dem Leben durch sich und demDasein als Bild, identifiziert. Das führe zu einem unausgereiften Komplexeines doppelten Absoluten und einer doppelten Erscheinung und verschlie-ße am Ende den Ort für ein frei wählendes Wollen, das im Sichlosreißenvom Widerschein seiner selbst das Licht einer absoluten Reflexion sichtbarmache. Solcher Freiheitsschwund sei eben der methodischen Uneindeutig-keit der beiden Seinsformen des Absoluten geschuldet.

Solche ernstzunehmende Kritik unterstellt: Der Begriff Gottes sei inDunkelheit gehüllt, die Rede von der Selbstvernichtung des Begriffs sei einungeklärtes Paradox, eine höhere Reflexion sei Prinzip einer bloß schein-baren, höheren Welt, und schließlich: In Fichtes Spätphilosophie sei die

59 Vgl. die scharfsinnige Kritik der W.L. 1812 in ihrer Gesamtanlage durch P. Bau-manns: Fichtes und Schellings Spätphilosophie, 1989.

5. Abschnitt: Grundlegung und Grundzüge der Erscheinungslehre 311

Freiheit verschwunden. Spätestens seit den Grundlegungen von 1804 aberwar in voller Klarheit und Bestimmtheit herausgestellt: Gott ist nicht insDunkel gehüllt, sondern als Unbegreifliches begriffen und als absolutesLeben in unserem religiösen Dasein in Tat und Wirklichkeit gelebt. DieSelbstvernichtung des Ich ist kein ungeklärtes Paradox, sondern durch dieErfüllung des Gesetzes geklärt: Soll das Absolute einleuchten, dann mußsich der Begriff vernichten. Eine absolute Reflexion spiegelt nicht denSchein einer höheren Welt vor, sie vollbringt eine transzendentale Besin-nung auf sich im Denken des Absoluten. Und schließlich: In Fichtes unge-schriebener Lehre ist die Freiheit nicht verschwunden, vielmehr wird dieFreiheit so aufgegeben, daß sie in den absoluten Freiheitsgrund übergeht.Es sind eben Problemlösungen im Vollendungsstadium der Wissen-schaftslehre von 1804, welche unveränderliche Grundlagen der Vernunft-wissenschaft freigelegt haben: die transzendentale Vollendung einer nega-tiven Theologie im Aufstieg zur einfachen, in sich geschlossenen Einheitdes Hen, die Selbstvernichtung des Ich in seiner Selbstmächtigkeit unterdem Gebot des aletheuischen Soll, die intuierende Durchdringung des rei-nen Wissens in seinen Reflexionsformen als Schöpfer der Welt, die Er-schließung der Fünffachheit im Aufbau des Selbst- und Seinsverstehenswie der fünf Weltansichten in ihren 25 Grundeinstellungen.

Und von diesem Grund und Boden aus kann Fichte zum Abschluß der28. Vorlesung eine Ausfaltung ankündigen, welche die Prinzipien der Wis-senschaftslehre eigens auf die speziellen Vernunftstandpunkte des Rechts,der Sittlichkeit, der Religion anwenden: »Zur Anwendung dieser Principi-en auf besondere Standpunkte, z.B. den der Religion, welche wohl immer,nur nicht in der Einseitigkeit und Versinnlichkeit, in der sie oben gefaßtwurde, sondern im inwohnenden Geiste der W.-L. das Höchste bleibendürfte, von ihr auch der Sittenlehre, und der des Rechts, dürfte vielleichtkünftigen Winter sich Zeit und Gelegenheit finden« (GA II/8, 420). Demzuvor aber läßt sich die wissenschaftlich deduzierte Fünffachheit in ihrerAnwendung auf das gelingende, selige Leben anzeigen.

7. Kapitel: Anweisungen für die fünffache Erscheinungsform der Liebe imLeben (Anweisung zum seligen Leben, 7.-9. Vorlesung)

Zum Programm einer ganz abgeschlossenen Erscheinungslehre gehörtentscheidend die Anwendung ihrer Grundlegungen auf das Leben. Dasbetrifft den Lebensentwurf jedes Einzelnen. Solchen Lebensbezug thema-

312 Teil III: Fichte

tisiert die Religionsschrift durch Anweisungen zu einem geglückten, seli-gen Leben. Und das geschieht auf der Grundlage der ausgearbeitetenFünffachheit unserer Weltansichten, zumal durch zwei Aufschlüsse: durchdie Klärung des Fundierungsverhältnisses von Leben und Liebe, Selbstlie-be und »Wohlsein« (Zufriedenheit, Freude, Seligkeit) wie durch die Zu-ordnung von Leben und Liebe zum fünffach gestuften Modus menschli-chen Seinsverständnisses.

Nun ist das Grundverhältnis von Leben und Liebe schon in der 1. Vor-lesung vorbereitend formuliert worden. »Das Leben ist Liebe, und die gan-ze Form und Kraft des Lebens besteht in der Liebe, und entsteht aus derLiebe« (GA I/9, 55). Liebe ist das, woraus das Bewußtseinsleben ursprüng-lich entsteht und worin es besteht. Offenbar besteht ja die Lebendigkeitdes Bewußtseins in jener einigenden Tätigkeit, welche die ewig bleibendeZweiheit des sehenden Ich und des gesehenen Ich im Vollzug des Sich-Se-hens als eines solchen ursprünglich vereinigt. Mithin ist es eine Selbst-Lie-be, welche diese zerteilte Zweiheit innigst verbindet. Nun bringt die Liebeda, wo sie das Selbst mit sich glücklich vereinigt, ›Wohlsein‹ in den Modider Zufriedenheit, Freude, Seligkeit unmittelbar auf. »So ist klar, daß Le-ben, Liebe und Seligkeit, schlechthin Eins sind und Dasselbe« (GA I/9, 56).Mithin bildet die Liebe die Wurzel und den Mittelpunkt aller Regungenunseres individuellen Lebens in seinen Möglichkeiten, selig oder unseligzu werden. Das, woran ein Mensch sein Herz und sein Sehnen hängt,macht seine Denkart und Geistesbeschaffenheit aus. »Offenbare mir, wasdu wahrhaft liebst [...] – und du hast mir dadurch dein Leben gedeutet.Was du liebst, das lebst du« (GA I/9, 57).

Nun hat die Erscheinungslehre fünf Stufen unserer Weltansicht heraus-gegliedert. Ihnen ist in Anwendung auf unser Leben eine fünffache Auf-fassung der Liebe zuzuordnen.

(1) Mit dem zureichenden Vorverständnis von Leben, Liebe und Sein undmithilfe des Leitfadens der Fünffachheit läßt sich die unterste Stufe derWeltliebe beschreiben. Hier erschöpft sich das Wohlsein von Liebe undSelbstliebe im Genießen weltlicher Dinge und Güter, zumal im Sinnenge-schmack des Angenehmen, etwa im Wohlgeschmack von solchem, dasmundet, oder im Wohlgeruch von solchem, das duftet. So sagen wir genie-ßerisch: »Ich liebe Rosen« oder »Ich liebe Wein« oder »Ich liebe schlesische

5. Abschnitt: Grundlegung und Grundzüge der Erscheinungslehre 313

Würstchen«. Und dazu gehört die Leidenschaft, die sich an der Wohlgestalteines Menschen entzündet, welche den Liebestrieb reizt.60

Nun aber kann sich diese Weltliebe nicht durchhalten. Darum ist sienicht wahr, sondern eine Scheinliebe. Einerseits sind die geliebten Dingevergänglich und im unaufhörlichen Wandel. Daher erweist sich unsereScheinliebe als unseliger Versuch, Vergängliches in seiner Vergänglichkeitfestzuhalten. Andererseits unterliegt auch der Liebende als persona psy-chologica einer fortwährenden Entwicklung, selbst in Veränderungen sei-nes Sinnengeschmacks, so daß er das zeitweise bevorzugte Objekt seinerBegierde eines Tages verschmäht und sich anderem zuwendet. Also erfülltsich unsere Weltliebe lediglich in Momenten des Wohlseins flüchtiger Zu-friedenheiten. Sie wirft sich von einem Gegenstande der Lust zum ande-ren, von keinem Hinfälligen gänzlich und für immer zutiefst befriedigt.Solches Hinleben und Lieben bleibt ein Leben lang unselig.

Sofern nun aber das Menschenleben doch in einer Liebe zum Wahren,Unveränderlichen, Bleibenden wurzelt, erweckt die unerfüllte WeltlustSehnsucht nach dem Unerreichten. Das gaukelt auf der untersten Stufe ei-nes naiv realistischen und beschränkt sensualistischen Seinsverständnissesdie Erfüllung aller Sinnengelüste ohne Schranke und Ende im ›Paradies‹vor: einem Zustand, da alle Schmerzen, alle Mühe und Arbeit verschwun-den und alle Bedürfnisse extensiv und alle Lust intensiv und durativ zu-höchst erfüllt sind. Weltanschauungen, für die es nur das Diesseits undkein Jenseits gibt, versprechen, die ungestillte Sehnsucht der Weltliebe aus-nutzend, das Paradies vom Himmel aus dem Jenseits auf die Erde in ge-schichtlicher Zeit zu holen.

(2) Geistiger, wenn auch noch auf unterer Stufe der Ideensicht, stellt sich dieLiebe des Gesetzesmenschen dar. Diese hängt am Standpunkt einer rigoro-

60 In diese Region gehört die ›pathognomische‹ Liebe, jene Leidenschaft, die unser Na-turtrieb entfacht. Eine Liebe aus Leidenschaft mit der blinden Gewalt des Naturtriebsentzieht sich einer höheren, rechtlich-sittlichen Lebensführung. Sie kennt kein Gebot,und sie kann nicht geboten werden (vgl. Collegium über die Moral, 1796; GA IV/1,137). – Zu einer mittleren Sphäre gehört die interpersonale Liebe in der Mitwelt, z.B.die Liebe der Mutter zu ihrem Kind. Sie folgt einem Vernunftinstinkt und ist voll-kommen zu billigen; denn sie bricht den härtesten Egoismus und bereitet einer Liebezu den Ideen, nämlich zur Idee der Menschheit, den Boden (vgl. Die Grundzüge desgegenwärtigen Zeitalters; GA I/8, 221).

314 Teil III: Fichte

sen Gesetzlichkeit. Hier herrscht der Glaube an das sich tragende und sichselbst genügende autarke Sein des Rechtsgesetzes. Das ist ideenhaft undsteht darum höher als ein geistloser und naiver Naturglaube. Da fungiertdas Gesetz nicht mehr nur wie in der Ordnung der Weltliebe als Mittel undInstrument, um einen Freiraum ungestörten Sinnengenusses zu schaffen.Das Gesetz wird um seiner selbst, um der für alle gleichen Gesetzlichkeitwillen, gewürdigt. Es wird zum Endzweck und zur höchsten Ordnungs-macht erhoben. Ohne das Gesetz des Rechts versinke alles in Willkür, Krieg,Chaos. Aber diese strikte Lebenshaltung zahlt einen hohen Preis: die Absenzder Liebe.61

Auf diesem Stande einer unteren Moralität gebietet das Gesetz vonRecht und Sitte in der Befehlsform eines kategorischen Imperativs. Dasweist jegliche Zuneigung und Liebe zu dem, was das Sittengesetz befiehlt,als Beweggrund für unser Tun und Lassen, Erstreben und Meiden in einerrechtlich-sittlich geordneten Gemeinschaft ab. Selbst das Vernunftgefühlder Achtung erscheint hier in negativer Definition. Achtung sei Abwesen-heit der Selbstverachtung. Der Mann des Gesetzes handelt rechtlich, umsich nichts vorwerfen zu lassen und um sich nicht verachten zu müssen.

Gravierend aber ist die Absenz der Liebe im Leben des rechtlich ge-sinnten, aber gefühllosen Menschen. Das kennzeichnet Fichte als stoischeDenkart. Dabei kann außer Betracht bleiben, welche Stoiker oder stoischeSchulen Fichte genau vor Augen hat. Generell wird Stoizismus im Kontextder Affektenlehre als Lebensform einer genußfernen Apathie und gleich-gültigen Bedürfnislosigkeit im Blick auf Glückseligkeit charakterisiert.Stoisch ist kalte Unempfänglichkeit für jeglichen Lebensgenuß. Nach stoi-scher Lehre sind eben Affekte und Leidenschaften Verwirrungen, jaKrankheiten der Seele. So mag stoische Apathie die Seele im Gleichge-wicht halten, vor den Irrungen und Wirrungen, dem tiefen Schmerz undLeid der Liebe schützen, aber sie hält auch die Liebesseligkeiten ab. Dankseiner stoischen Haltung erhebt sich der Legalist in negativer Freiheit zur

61 Leben und Liebe im Rechtsstande der Ehe steht nach Fichte unter dem Gesetz derScham: als Hingebung der Frau an den Mann, letztlich nicht, um des Geschlechts-triebes willen, sondern um das Herz zu befriedigen, so daß die Vereinigung der Ge-schlechter im zärtlichen Austausch von Herzen – nicht in der Leidenschaft des Na-turtriebs – ihre Vollendung findet.

5. Abschnitt: Grundlegung und Grundzüge der Erscheinungslehre 315

Stufe gleich-gültiger Allgemeingültigkeit des Gesetzes, aber in einer Le-benshaltung, der es an Liebe fehlt.

(3) Vor dem Übergang zum dritten Standpunkt von Liebe und Sein aufder Stufe der höheren Moralität ergeht die wohl bedeutungsvollste Anwei-sung zum seligen Leben: die Weisung zur Selbstvernichtung der Selbstlie-be. Nur solcher Umwandlungsakt eröffnet das bis dato verschlossene Torin ein höheres Leben. »Diese Selbstvernichtung ist der Eintritt in das hö-here, dem niedern, durch das Daseyn eines Selbst, bestimmten, Leben,durchaus entgegengesetzte Leben« (GA I/9, 149-150). Und die Weisung,einseitig ich-besessenen und selbst-befangenen Weltansichten aufzukün-digen, ist nicht anachronistisch, sondern durchaus für unser reszendentesWeltbewußtsein im Zustande einer selbstsicheren, wissenschaftsgläubigenIdeenfeindlichkeit und religionskritischen Gottlosigkeit aktuell.

Was also dem Zugang zur wahren, unverstellten Ideen- und Gottesliebeim Wege steht, ist die Selbstbezüglichkeit einer Weltliebe ebenso wie dieSelbstgerechtigkeit formalen Gesetzesglaubens. Eudämonistisch regiert dieSelbstliebe als Trieb nach Seligkeit in und durch das Genießen bestimmterObjekte im Wandel der Sinnenwelt. Legalistisch stoisch regiert eine Selbst-ermächtigung und Gottunabhängigkeit, da der Mann des Gesetzes seinerFreiheit der Indifferenz, dem Gesetz zu gehorchen oder auch nicht, inneist und daher einen Imperativ einsetzt, da alle Neigung, Zuneigung, Liebeals Beweggrund pflichtgemäßen Handelns in kalter Apathie und Gleich-gültigkeit beseitigt sind.

Und auch in ihrem Gottesverständnis kommt diese Selbsthaftigkeit desMenschen auf sich selbst zurück, blind gegenüber der Einsicht, daß derMensch nur so zu Gott kommt, indem Gott unmittelbar zu ihm kommt.Also weist die Religionsschrift eine Umkehr an, da sich die Ichvergöttli-chung zur Ichvernichtung umkehrt. »So lange der Mensch noch irgend et-was selbst zu seyn begehrt, kommt Gott nicht zu ihm; denn kein Menschkann Gott werden. Sobald er sich aber rein, ganz und bis in die Wurzelvernichtet, bleibet allein Gott übrig, und ist Alles in Allem. Der Menschkann sich keinen Gott erzeugen; aber sich selbst, als die eigentliche Negati-on, kann er vernichten, und sodann versinkt er in Gott« (GA I/9, 145).(Das hatte die Erscheinungslehre als Gesetz der Selbstvernichtung ins Kla-re gebracht.)

Und der Mensch ist frei, seine eigene indifferente Freiheit und Selbst-gesetzgebung aufzuheben, darin besteht die höchste Freiheit. Diese er-

316 Teil III: Fichte

schöpft sich nicht in der moralisch-praktischen und politischen Freiheitder Selbstbestimmung und versteift sich schon gar nicht auf eine stoischeBefreiung von Affekten und Leidenschaften. Es ist die Freiheit religiösenLebens, welche von der Selbstliebe befreit und freimacht zur Gottesliebe.Solches Sichlosreißen aber führt zunächst seiner Potenz nach zu einerdritten Stufe. Das ist der Standpunkt einer höheren und eigentlichen Mo-ralität. Er überragt den Standpunkt einer bloß formalen Gesetzmäßigleiteben darum, weil er das Selbst und die Welt neu erschafft. Es ist sowohldie Ansicht der Welt, die im Lichte von Ideen so erscheint, wie sie das ge-wöhnliche, gegenständliche Bewußtsein nie sieht, aber auch die Ansichtder eigenen Person, die in der Kehre der Selbst- zur Gottesliebe einen un-erhörten Sinn gewinnt.

Diese Erschaffung eines ungewöhnlichen Weltanblicks läßt sich am ehe-sten beschreiben und faktisch-historisch evident machen im Hinblick aufdie Uridee der Schönheit. Im sinnlichen Scheinen des Schönen leuchtet dieWirklichkeit als Spiegel der Herrlichkeit Gotts auf, seligen Genuß erzeu-gend. Das schützt davor, das Schönsein auf der Stufe des ästhetisch-sensua-listischen Seinsverständnisses zum Angenehmen herabzustufen, das sinnli-che Lust bereitet. Und die Ansicht der Schönheitsidee überragt auch eineÄsthetik, die jedermann ein interesseloses Wohlgefallen des Geschmacksur-teils anmutet, eine Interesselosigkeit, der nichts an der Wirklichkeit, sondernalles am schönen Schein gelegen ist. Fichte erweckt eine geradezu platoni-sche Schönheitsbegeisterung, da nach Platos Urwort im Phaidros (250d 6-8)das Schöne-selbst von so göttlicher Art ist, daß es am strahlendsten hervor-leuchtet und am mächtigsten zur Liebe zwingt. Und nicht von ungefährtbietet Fichte als Beispiel ein verklärtes Madonnenbild auf (für Hegel derHöhepunkt der romantischen Kunst). In der verklärten Schönheit des Ma-donnenbildes erscheint Wirkliches beglückend neu, als sinnliche Erschei-nung übersinnlich göttlichen Wesens, als Durchscheinen eines Überwirkli-chen im Wirklichen.

Ebenso gravierend ist die Umschaffung des personalen Wesens, wenndie Selbstliebe abfällt. Das Selbst als für sich bestehende, in der Sinnenweltlebende Person kommt zur Einsicht, Mittel für einen höheren Zweck zusein, nämlich den Willen Gottes zu verwirklichen, wie er sich in mir offen-bart. Das wird zum Grundsatz einer höheren Moralität und zur näherenAnweisung eines seligen Lebens. Verwirkliche das, was Du gemäß Deineseigentümlichen Anteils am höheren, übersinnlichen Sein sein sollst. (Dashatte ein weiteres Spaltungsgesetz der Erscheinungslehre genetisch evident

5. Abschnitt: Grundlegung und Grundzüge der Erscheinungslehre 317

gemacht.) Geht der so neugeborenen Person (persona vere moralis) dieseihre individuelle Bestimmung auf, so ergreift sie diese in reinem Wohlseinund mit unaussprechlicher Liebe. Freilich ist auch die Beschränktheit die-ses Standpunktes zu markieren. Hier weist die Anweisung ein Handeln an,das ein glückliches Gelingen am äußeren Erfolg in der Sinnenwelt bemißt.Das aber ist jederzeit dem Mißlingen ausgesetzt, so daß die Zufriedenheitin Unzufriedenheit umschlägt und Liebe wie Seligkeit getrübt werden. Dasbewegt dazu, sich einem noch höheren Standpunkt, einer tieferen Selbst-durchdringung und reineren Liebe zuzuwenden.

(4) Indem sich unsere Weltansicht zur Stufe der Religion erhebt, steigt siezur höchsten Bestimmung des Menschen auf, die der religiös empfinden-de Mensch mit ganzer und ungeteilter Liebe umfaßt. Im Stande der Got-tesliebe ist ihm klar, daß es göttliche Liebe ist, die in seiner Individualitätsich entwickelt, und zwar ohne Schwanken, Mißlingen und Eintrübungen.Dabei begnügt sich der wahrhaft Gläubige nicht etwa mit inniger Andachtund mystischer Versenkung, er arbeitet tatkräftig am Erfolg seines Liebes-handelns in der Glaubensgewißheit, daß nichts mächtiger und allgegen-wärtiger ist als die Liebe Gottes. Das Handeln des Religiösen in der Mit-welt vernunftbegabter Individuen wird von einem Vertrauen darauf getra-gen, daß diese Geisterwelt intelligibler Wesen in Wahrheit unverbrüchlichund unzerstörbar vorgeordnet ist, wie elend auch die Scheinwelt von Zer-störung, Tod und Untergang betroffen ist. Es ist dieses Reich der Freiheitvon Tod und Selbstzerstörung, ein von Gottes Liebe durchstimmtes Reich– nicht das Reich politisch-ökonomischen Wohlseins –, was religiösesHandeln betend erbittet: »Dein Reich komme!«

(5) Zu einem höheren, seligeren Leben im Element der Liebe kann es auchdie geistvollste philosophische Wissenschaft nicht bringen. Aber sie ver-mag es, schauend die teleologische Ordnung der Welten vom Endzweckerscheinender Gottesliebe her zu lichten. So enthüllt sich die objektiv ver-hüllte Welt am Ende als Offenbarung, da das absolute Sein und Leben inder einigenden Einheit absoluter Liebe in sich einkehrt. In dieser Weltord-nung ist die Sinnenwelt nichts als Sphäre der Geisterwelt, die GeisterweltErscheinung göttlicher Ordnungskraft und die erscheinende OrdnungBild und Dasein des urrealen Lebens. Gott ist da und lebt in uns und inunserer Liebe zu Gott. Solche Liebe ist nicht mehr selbsthaft und nichtvon uns selbst erzeugbar. Diese philosophisch von Spinoza geweckte An-

318 Teil III: Fichte

sicht vom Amor Dei intellectualis kommt in Fichtes Anweisungen zur An-wendung auf unser Leben.

6. Abschnitt: Ausfaltung der Grundlagen(Principien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre, 1805)

Zur Vollendung eines Vernunftsystems gehört es endlich, die Vernunftwis-senschaften der Natur, des Rechts, der Sittlichkeit (unterer und höhererMoralität), der Religion wie der Wissenschaft einheitlich und durchgeord-net unter Prinzipien der Ersten Philosophie aufzustellen und zusammen-zufügen. Auf dem Grund und Boden der ungeschriebenen Lehre ist dieserOrdo der speziellen Vernunftlehren im Schema der Fünffachheit teleolo-gisch neu durchgegliedert worden. Die fünf Weltansichten, welche die spe-zifisch zuständigen Vernunftwissenschaften anleiten, sind an Wahrheitund Seinsdignität nicht gleichrangig. Die niederen bestehen nicht selb-ständig mit gleichem Rang neben höheren, sie erscheinen abgestuft ein-und untergeordnet, aufgehoben in der je höheren. Das folgt einer Dialek-tik des Aufhebens, da die je niedere Vernunftwissenschaft in ihrer Selb-ständigkeit negiert, in ihrer Vernunfthaftigkeit konserviert und durch diehöhere Weltansicht eleviert wird.

Für solche Durchordnung kommen die an die Grundlagen der Wahr-heits- und Erscheinungslehre von 1804 anschließenden Principien der Got-tes-, Sitten- und Rechtslehre in Frage. Vom 6. Februar bis 30. März 1805 hatFichte in Berlin 23 einschlägige öffentliche Vorträge gehalten. In ihnen wur-den die 1804 zur genetischen Evidenz gebrachten Prinzipien auf unterge-ordnete Gebiete der Vernunftwissenschaften angewendet, vorzüglich auf dieGotteslehre der Religionsphilosophie, in eins aber auch auf die Sittenlehrewie auf das Naturrecht. Auch diese mündlichen Vorträge sind nicht schrift-lich fixiert im Druck erschienen. Sie wurden erstmals 1986 durch R. Lauthaus dem Fichte-Nachlaß ediert und 1989 in die Akademie-Ausgabe aufge-nommen (GA II/7, 369-489). Mit dieser einheitlich zusammenschließendenExplikation von obersten Prinzipien auf die besonderen Vernunftwissen-schaften schließt der Systembau ab, der Einleitung, Grundlegung und spezi-

6. Abschnitt: Ausfaltung der Grundlagen 319

alisierende Ausfaltung der obersten Gesetze des absoluten Wissens um-schließt.62

Diese Anlagen der Rechts-, Sitten- und Gotteslehre gehören somit zurHochperiode der ungeschriebenen Lehre und legen den Ordo der einzu-ordnenden speziellen Vernunftwissenschaften offen. Das ermittelte Gesetzder Genesis, welches Sinn und Zweck der fünf Weltansichten eröffnet, isteine mehrfach gestufte Folge des Seins als Sollen. Vereinfachend ausge-drückt ergibt das eine hierarchisch-teleologische Zuordnung: Soll die Sitt-lichkeit in der Sinnenwelt und materialen Natur Fuß fassen, dann muß dieNatur sinn- und seinsgemäß als Material der Pflichterfüllung verstandenwerden. Soll die Moralität unter Menschen zur freien Herrschaft kommen,dann muß die Mitwelt durch das Recht und seine zwingenden Gesetzevom Recht des Stärkeren entbunden werden. Soll die lebendige Wahrheitdes absoluten Seins Gottes überhaupt in der Welt Dasein gewinnen undsichtbar werden, dann muß das stolze Ich sich in seiner Autarkie demüti-gen, um in der Liebe Gottes zu leben und zu weben. Dabei ist zu beachten:Diese Aufgliederung findet ihr Recht in jener Deduktion, welche im Auf-bau der W.L. 1804-II das aletheuische Soll nachgewiesen hatte.

1. Kapitel: Erörterung des Programms der explikativen Prinzipienforschung

Das Programm dieser auf Sitte, Recht, Religion eingehenden Prinzipien-forschung legt die 1. Vorlesung vor. Das geschieht zunächst in Worter-klärungen. So benennt das Grundwort »Sitte« die absolute Sittlichkeit ausVernunft, nicht etwa empirisch aufgelesene Gewohnheiten und Gebräuchedes Alltagslebens. »Sittenlehre« benennt demnach die Theorie dessen, wasschlechthin alle, d.i. alle Iche ohne individuelle Spaltung und Besonderungschlechthin unter Vernunftgesetzen tun sollten. Für eine Rechtslehre nachPrinzipien der Wissenschaftslehre ist »Recht« ebenfalls ein erfahrungs-unabhängiger, rein apriorischer Begriff. Er stammt mithin nicht aus der Er-fahrung tatsächlichen Zusammenlebens von Menschen unter positiven Ge-setzen, er geht untrennbar mit der Vernunftnatur des Menschen einher. Da-bei hält der Rechtsbegriff einen besonderen Gegenstandsbereich offen, und

62 Zu Recht ist dieser Systembau von R. Lauth als eindrucksvolles Zeugnis der Denk-leistung Fichtes in den Umbruchsjahren 1802-1805 gewürdigt worden. »Kein Philo-soph vor und nach ihm kann etwas Derartiges in so kurzem Zeitraum Vollbrachtesaufweisen« (Edition 1986, Einleitung XVIII).

320 Teil III: Fichte

zwar durch ein spezifisches Wechselverhältnis zwischen naturkräftigen Ver-nunftwesen. Fichte erfaßt es als »das stehende Verhältniß von mehrern ver-nünftigen Individuen, als Naturkräfte, zu einander« (GA II/7, 379). Dahergehört zur Grundlegung von Rechtsverhältnissen die Disjunktion einerVielheit individueller Iche in der Mitwelt wie die Konstituierung der Zeit imRaum der Geschichte.

Dabei ist von vornherein zu beachten: Obwohl die Rechtslehre ledig-lich bestehende Verhältnisse zwischen Menschen in der Zeit erörtert, istdas Rechtsverhältnis als Vollzug wechselseitiger Anerkennung ein von derVernunft gefordertes. Es ist nicht gegeben, sondern aufgegeben und ge-sollt. So hatte Kant bekanntlich Grund und Wesen des Rechts klassisch de-finiert als den Inbegriff von Bedingungen, unter denen die Willkür des ei-nen mit der Willkür des anderen nach dem Gesetz freier gegenseitigerEinschränkung und Rücksicht zusammen bestehen soll und kann. Zeitlichfrüher – in seiner Grundlage des Naturrechts 1796 – hat Fichte die Theoriedes Rechts auf die Wechselbestimmung der »Anerkennung« gegründet.Erst solche Wechselwirkung löst das Gegeneinander willkürlicher Natur-kräfte in ein Rechtsverhältnis zwischen Rechtssubjekten ein. Dazu findeich mich nicht durch ein alter ego genötigt, aus Achtung vor dem Sittenge-setz zu handeln. Ich finde mich dazu herausgefordert, handelnd, nichtbloß in Worten, durch wechselseitiges Anerkennen eine rechtliche Welt zukonstituieren. In ihr ist die schrankenlose Willkür mit dem Recht des Stär-keren und dem Recht auf alles (ius in omnia) eingeschränkt, indem dereine den Begriff der möglichen Freiheit des anderen faktisch anerkennt.Solche Forderung rechtlicher Anerkennung ist schon rechtlich, nicht erstmoralisch gesollt. Ihre Erfüllung ist notwendige, wenngleich nicht hinrei-chende Bedingung von Moral und Sittlichkeit. Das Sittengesetz soll daseinund in der Welt erscheinen; es kann erst unter der Bedingung erscheinen,daß die von der Natur auferlegten Zwecke, nämlich Selbsterhaltung durchSicherung von Arbeit, Eigentum, sozialem Frieden, erfüllt und die Kräfteenthemmter Willkür gebrochen sind.

Ebenso einleitend ist das Gottesverhältnis der Religion und das Gebieteiner Religionsphilosophie zu umgrenzen. »Gott« ist hier nicht der Namefür den personalen Schöpfer des Himmels und der Erde. Für Fichte ist dieSchöpfungslehre ein Grundirrtum der Metaphysik. Gott ist vorverstandenals das Absolute, als Ens a se, als Träger alles Seins und Lebens. Das nen-nen alle Gott. Gotteslehre wäre demnach Theorie des wahren Seins- undLebensgrundes. In ihrem ersten Schritt ist die Wissenschaftslehre als pri-

6. Abschnitt: Ausfaltung der Grundlagen 321

ma philosophia mit der Theologie und Gotteslehre verbunden, sofern sicheben ihr Standpunkt, das absolute Wissen, als Dasein und Existenz des Ab-soluten enthüllt. Und mit der vernunftkritischen Gotteslehre der transzen-dental besonnenen negativen Theologie kommen Grundlagen der religiö-sen Gottesansicht und Prinzipien der Religionslehre zur Sprache; denn dieGotteslehre der Ersten Philosophie und der Gottesbegriff der Religions-lehre sind dem Inhalt nach nicht different. Sie unterscheiden sich metho-disch, und zwar eben dadurch, daß die prima philosophia als Lehre vomAbsoluten das lebensvolle Dasein Gottes theoretisch zur Klarheit undexistentiell als Anweisung für unser Leben und Lieben zur Anwendungbringt.

Diese Vorerörterungen haben ein erstes, nicht unbedeutendes Ergebnis.In ihren Prinzipien besondern sich die Theorien von Gott und Religion,Sitte, Recht und Natur nicht in selbständige, voneinander getrennte Wis-senschaften mit je eigenen Axiomen. Die in Frage stehenden Disziplinenbilden nicht selbständige Wissenschaftsgebiete mit einer je eigenen Verfas-sung, sie sind einander bedingende Entfaltungsbereiche von Gesetzen desabsoluten Wissens. »Resultat: 1.) an sich (im Standpunkte des absolutenWissens) giebt es keine Sitten, oder Rechtslehre als besondre u. selbststän-dige Wissenschaften. 2.) Die Erscheinung dieser Wissenschaften oder ihrerBegriffe, oder die absolute Herrschaft dieser Begriffe im Leben entstehtdaher, daß das Wissen sich selber noch nicht durchaus klar geworden u. inseinen Urquell zurückgekehrt« (GA II/7, 381). Offenkundig haben sich, ra-dikal nach dem ›Zusammenbruch‹ der Systembildungen des DeutschenIdealismus, die Wissenschaften von Gott, Sitte, Recht – vorab die Natur-wissenschaft und Soziologie, aber auch die Staatswissenschaft – verselb-ständigt von einer spekulativen Ersten Philosophie geschieden und dieGrundlagenforschung selbst übernommen, was auch einen Bruch der»zwei Kulturen«, einer natur- und einer geisteswissenschaftlichen Kultur,merklich macht. Der Grund für solche präzisierenden Zerklüftungen liegtdarin, daß das Wissen der Wissenschaften nur noch verunklärt und abge-rissen aufgefaßt ist. Dies aber, die Durchklärung des absoluten Wissens bisauf seinen Urquell, wollten die Vorträge von 1805 mit dem Resultat leisten,die Einheit und Ordnung der Prinzipien von Gott, Sitte, Recht und Naturoffenzulegen.

322 Teil III: Fichte

2. Kapitel: Wiederholende Klärung der Aufgabenstellung, denHauptgegensatz von Gott und Welt zu verknüpfen

Der Weg für eine explikative Spezialisierung im Aufbau der Lehren vonGott, Sitte und Recht ist in der 14. Vorlesung gebahnt. Er führt noch einmaltief in den Mittelpunkt zwischen absolutem Leben und reflexiver Ichformhinein. Aber diese Besinnungen zielen jetzt darauf ab, die Prinzipien dertheologisch-religiösen Gottestheorie wie einer mitweltlichen Theorie vonSittlichkeit und Recht aus einem Mittelpunkt einheitlich zu entfalten. Dafürwird der Hauptgegensatz vorgestellt, um dessen wahre Verknüpfung einzu-fordern. »Hauptgegensatz. Absolute Intelligenz = Daseyn, Existenz, der Gott-heit. Rückblick derselben auf sich selbst: – Absolute Anschauung; als bedin-gend die erstere, weil sie lebendig ist, nicht todt. (Alle Philosophie tödtet ir-gendwo, die Spinozische, auch die Kantische, wie sich heute im Vorbeigehnzeigen wird, u. das ist das proton pseudos) -. Nächste Aufgabe. In den Mittel-punkt dieses Gegensatzes einzutreten; u. besonders den Grund der Bedingt-heit der absoluten Intelligenz, eben durch ihr Leben aufzuzeigen: so Gott, u.Welt absolut verknüpfen« (GA II/7, 433).

Für ein leichteres Verständnis des hier kurz und scharf skizziertenHauptgegensatzes sind Ergebnisse des zuvor Vorgetragenen einzuholen.Der angezeigte Gegensatz ist nicht an sich bestehend vorhanden, er brichtin Form und Inhalt eines absoluten Wissens auf, das sich auf sich im Den-ken von Sein besinnt. Dabei tritt eben das neue Grundwort »absolutesWissen« an die Stelle des Ich der Tathandlung. Es kommt als die sich selbsttragende Einheit des Wissens überhaupt zur Evidenz, die von jeder moda-len und intentionalen Bestimmung unseres Vorstellens losgelöst ist. Soliegt das reine Wissen allen besonderen modi cogitandi – sinnlicher An-schauung, reproduktiver Einbildungskraft, begreifendem Verstand,schlußfolgernder Vernunft – zuvor und den intentionalen Einstellungenzugrunde, in denen ich etwas vorstelle.

Und auch das war mit Bedacht sichergestellt: Das absolute Wissen istnicht das Absolute selbst, und es kann nicht ontotheologisch entfaltet wer-den. Es ist Dasein und Existenz der Gottheit. Der Gott der Philosophen isteben seins- und erkenntnismäßig das unaussprechlich-unbegreifliche Ensa se. Die geisthafte Lebendigkeit reinen Wissens ist Ek-sistenz, das Außendes Absoluten. Das hat die einschneidende Folge: Einzig der Mensch exis-tiert. Allein der Mensch ist das verstehende Da des unvordenklichen Seins.Alles andere, weltlich Seiende existiert nicht. Es ist gegenständlich vorhan-

6. Abschnitt: Ausfaltung der Grundlagen 323

den, ohne das Da des Seins lebendig vollziehen zu können. (Einzig derMensch ist »Hirte des Seins«.)

Im Hinblick auf seine Form heißt das absolute Wissen »absolute Intelli-genz«, ein Intelligieren im »Rückblick auf sich selbst«. »Was ist nun diesesIntelligiren: offenbar das als, das Aeussern, zum absoluten Wissen der Formnach« (GA II/7, 427). Demnach sieht das Intelligieren als Form reinen Wis-sens auf sich als Dasein des Absoluten zurück. Auch das ist folgenreich. ZurForm reinen Wissens gehört ein Blick, da das Wissen auf sich als solches, alsgeschieden vom Absoluten, zurücksieht. Das ist die Grundform der Reflexi-on. Und aus dieser folgt die Form der Ichheit in der Freiheit des Sichsetzens,wohlgemerkt nicht als Erster Anfangsgrund, sondern als herleitbares Ergeb-nis. »Giebt Ich: selbstständig, aus sich von sich durch sich« (GA II/7, 396).Hier kommt noch einmal die Hauptabsicht der Wissenschaftslehre auf demHöhepunkt der mittleren Periode zur Sprache. Sie zielt nicht darauf ab, diegesamte theoretische und praktische Vernunftwissenschaft aus dem Grund-satz der Ichheit zu entwickeln, sie sucht vielmehr die Ichheit und deren Frei-heit aus einem höheren Ursprunge verstehbar zu machen. »UnsereHauptabsicht ist: Ich, u. Freiheit desselben, beides unabtrennlich, in seinemtiefsten Ursprunge kennen zu lernen, ist sichtbar. Die Absicht davon klar:Ich = Welt. Vernichtung des Ich = Gott, in eins« (GA II/7, 403).

Damit aber öffnet sich ein Gegensatz zwischen der Ichform des absolu-ten Wissens, welche von und durch sich selbst das gegenständliche Sein,die Welt als Umwelt und Mitwelt, konstituiert, und dem absoluten Wissenseinem Inhalte nach, da das allreale Sein des lebendigen Gottes in Ver-nichtung des Ich einleuchtet. Also stehen sich Form und Inhalt der absolu-ten Intelligenz unverbunden gegenüber, und das macht den Hauptgegen-satz von Gott und Welt aus. Das ist eben kein beiläufiger Gegensatz vonNebengliedern des absoluten Wissens. Sie bilden den Hauptgegensatznicht nur von Welt und Gott, sondern auch von mitweltlicher Moral undreligiöser Zuwendung zu Gott. Und das bezieht den Gegensatz von Zeitund Ewigkeit ein; denn die Moral gebietet ein Handeln aus Pflicht zu allerZeit und unter allen Bedingungen der Weltsituation, die religiöse Zuwen-dung zu Gott ist dem Ewigen zugewendet. »Standpunkt der Moral [...].Diese bedarf der Zeit... Dagegen Gott schlechthin ausser aller Zeit liegt«(GA II/7, 432).

Der Eingang in die 14. Lektion nimmt also die schon in der 5. Stundevorgesehene Aufgabe auf, um sie einer auch schon vorbereiteten Lösungzuzuführen, die alle Philosophien bisher verfehlt haben. »Die Aufgabe ist

324 Teil III: Fichte

von Bedeutung; die Einheit, u. die Verschiedenheit Gottes u. der Welt ein-zusehen, welche, unsers Erachtens, durch keine bisherige Philosophie ge-löst ist« (GA II/7, 394). Diese Aufgabe konnten Spinoza und die Spinozis-ten der neueren Zeit nicht bewältigen; deren Systemdarstellung gewinntallein die All-Einheit Gottes (qua causa immanens) und verliert so die ent-gegengesetzte Welt. Und selbst Kants Kritiken machten vor dieser Aufgabehalt. Sie entwickeln die Weltvorstellungen aus der Einheit des Ich-denke inden Schranken endlich zeithafter Erfahrung und wehren die Rede vom In-telligieren eines Göttlich-Absoluten als Schwärmerei ab. Und SchellingsIdentitätssystem tut sich eben damit groß, in intellektueller Anschauungingeniös das Ewige und Absolute selbst zu gewärtigen. Einzig die Wissen-schaftslehre fordert dazu auf, in einen Mittelpunkt zwischen unseremWelt- und Gottesbezug einzutreten, der die Gegensätze ursprünglich somiteinander verknüpft, daß ein einheitliches Prinzip für die sittliche undrechtliche Welt wie für die religiös empfundene Gottheit ersichtlich wird.

3. Kapitel: Einsetzung des kategorischen Soll als Anfangsgrund der Gottes- und Religionslehre

Eine neue und bisher in keiner Philosophie einsichtig besonnen gelöste Auf-gabe ist gestellt. Die Auflösung des Hauptgegensatzes von Gott und Weltglückt dadurch, daß die verschieden abgestuften Standpunkte des Rechtsbe-wußtseins, der Sittlichkeit, der Religion einschließlich einer sinnerfülltenNaturansicht auf ein Grundverhältnis zurückgeführt werden: Soll – dannmuß. Dazu verhilft eine Erweiterung, Differenzierung und Vertiefung desSeins als Sollen. Hatte die frühe Jenaer Grundlage mit dem Sollen als un-endliche Aufgabe des Strebens geendet, den Gegensatz von Ich und Weltaufzuheben, so hebt die ungeschriebene Lehre das Prinzip des Sollens nichtetwa auf, sondern vertieft es, dergestalt, daß das Soll in seiner eigentlichenGestalt und in seiner vielfachen Funktion zum Austrag kommt: als Soll derSichtbarkeit, in welcher das Wissen als Schema Gottes hell wird, und zwar inBesinnung darauf, daß das Wissen solche Sichtbarkeit nicht nur einsehenkann, sondern willentlich vollziehen soll. Und eben darin verknüpft sich derHauptgegensatz von Gott und Welt.63

63 Das wird in der Durchsicht des allgemeinen Grundrisses der W.L. 1810 durch K.Nagasawa: Gott und Wissen in der Wissenschaftslehre von 1810, 2006 klargemacht

6. Abschnitt: Ausfaltung der Grundlagen 325

Dieses Prinzip kommt nun auf die speziellen Gebiete der Vernunftwis-senschaft zur Anwendung, vorzüglich, um die Gottes- und Religionslehregrundlegend zu entfalten, überhaupt aber, um die teleologischen Abstu-fungen der Sinnauffassungen von Natur, Recht und Moralität aufzubauen.Zuerst also bringt die Einsicht in das kategorische Soll den Standpunkt derReligion ins Klare. Soll Gott selbst im Glauben und Handeln des homo re-ligiosus in der Welt lebendig werden, dann muß sich menschliches Wissenals Dasein einsehen, das nicht nur in und aus Gott leben kann, sondern le-ben soll. Das kommt im Fortgange des 14. Vortrags zur Sprache. DieseLektion ist dicht und durchschlagend und erfordert ein besonders kon-zentriertes Nachkonstruieren. Der erste Passus durchläuft eine vorläufige»Erklärung« der Struktur des einschlägigen Sollens, um in einem zweitenPassus zur »Hauptsache« zu kommen, der Einsetzung des kategorischenSoll als Grund für den inneren Zusammenhang von Weltbewußtsein undGott und so als Prinzip einer Gotteslehre und Religionsphänomenologie.

Die hinführende formale Klärung des Soll beginnt damit, die Folgerung»Soll das eine, dann muß das andere« als Zusammenhang unseres Bewußt-seins mit dem Dasein des Absoluten zu problematisieren. Dafür ist die Ma-xime zu erörtern: Soll das Absolute als solches sein, dann muß es Bewußt-sein geben. Dabei meint Bewußtsein hier ein Wissen des Wissens, das sichals Wissen weiß. »Wissen = Wissen des Wissens = Bewußtsein. Kein Wissenohne Bewußtsein u. vice versa« (GA II/7, 385). Das gilt auch für das absoluteWissen als Dasein des Absoluten. Indem es sich als solches intelligiert, ist esmittelbar im Stande des Bewußtseins. Freilich ist dieser Bedingungszusam-menhang dem Geist und der Maxime der Neuzeit nach problematisch. SeitDescartes setzt neuzeitliche Philosophie auf das seiner selbst gewisse Ich,das seiner Existenz unmittelbar bewußt ist, ohne eines fundamentalerenExistenzialprinzips zu bedürfen. In der Cartesianischen Grundstellung desabsoluten Bewußtseins kommt die Folgerung »Soll – dann muß« und damitein fundamentaler Zusammenhang von Gottes- und Selbstbewußtsein nichtzum Zuge. Das wird im Status des sich intelligierenden Wissens anders. Indessen Vollzug herrscht die Maxime, für das Bewußtsein einen höheren Ur-sprung zu finden, da sonst der Grund für die Verknüpfung des Weltbewußt-seins mit dem Dasein des Absoluten im Dunkel bleibt. »1.) Resultat: Absolu-

und im Kommentar von G. Schulte: Die Wissenschaftslehre 1810, 1976 übersichtlichdargestellt.

326 Teil III: Fichte

te Intelligenz, u. absolutes Bewußtseyn sind wesentlich verschieden in Ab-sicht der Maxime: die erste dem Bewußtseyn ein Prinzip zu suchen, diezweite nicht« (GA II/7, 434). Nach Prinzipien und Maximen der Wissen-schaftslehre also ist die Schlußfolgerung »Soll – dann muß« anzunehmenund durchzuklären. Und das kann offenbar auf zweierlei Weise geschehen,nämlich einmal so: Gibt es Bewußtsein, dann soll das Absolute als solchessein, zum anderen so: Soll das Absolute schlechthin dasein, so muß das Be-wußtsein sein; auf beiderlei Weise aber leuchtet die Evidenz auf, daß das Ab-solute als solches sein solle.

Daß das Absolute im Bewußtsein dasein soll, ist ein kategorisches Soll.Es macht dem geistigen Schwanken der Neuzeit ein Ende, ob für die Exis-tenz des reinen Selbstbewußtseins ein höheres Prinzip aufzusuchen seioder nicht. Und es wächst über ein hypothetisches Soll hinaus. Das hypo-thetische Soll stellt das Dasein des Absoluten unter die Bedingung des zusich kommenden Wissens. Das kategorische Soll ist unbedingtes Existen-zialprinzip und für die Reflexionsform ein Fremdes. Daher gilt: »Das ab-solute kommt nicht aus dem Wissen, als seinem Schöpfer, sondern eskommt schlechthin aus sich selber« (GA II/7, 435). Damit ist das Soll alsein Anfangsgrund erklärt und in eins verdeutlicht, daß alle Philosophienohne den Geist und die Maxime des kategorischen Soll – Skeptizismus,Spinozismus, Kritizismus – blind und tot sind.

Diese »Erklärungen« des Soll haben die »Hauptsache« vorbereitet, näm-lich den ursprünglichen Geburtsort für die apriorische Synthesis von Intelli-gieren und Gott aufzufinden. Das Intelligieren soll schlechthin sein, so ge-wiß das Absolute dasein soll. Die Wurzel dieses Zusammenhanges ist dasSoll als Existenzial- und Lebensprinzip reinen Wissens. Dazu muß sich einephilosophische Ursprungsforschung eben auf den Standpunkt stellen: DasAbsolute entsteht nicht aus dem Wissen. Das Wissen in seinem ursprüngli-chen einigenden Vermögen des Vorstellens ist zwar Schöpfer der Welt, nie-mals aber Schöpfer Gottes. Das kategorische, bedingungslose, unvermittelteSoll macht klar: Soll das sich intelligierende, weltschöpferische Wissen nichttot, sondern lebenskräftig tätig sein, dann muß Gott in ihm sein und leben.»Gott daher ist absoluter Grund der Facticität des Intelligirens, hierschlechthin unmittelbar: u. so ist es ganz richtig: die absolute Intelligenz inihrer Wurzel [...] ist selber das göttliche Seyn, u. Leben, und der lebendigeRückblick auf sich selber. Soll schlechthin seyn, so gewiß Gott als solcherseyn soll« (GA II/7, 436).

6. Abschnitt: Ausfaltung der Grundlagen 327

Das nimmt frühere Klärungen auf. So schließt die 16. Vorlesung der W.L.1804-II mit zwei Bemerkungen: »1. Das Soll trägt durchaus alle Kennzeichendes im Grundsatz eingesehenen Seyns an sich, ein innerlich lebendiges vonsich, durch sich, in sich, schaffend und tragend sich selber, reines Ich u.s.f.und zwar innerlich organisiert und zusammenhaltend durchaus als solches«(GA II/8, 253). Und der ontologischen Auszeichnung folgt der methodologi-sche Primat: »2. Dieses Soll hat nun immerfort, nur unbeachtet, in allen un-seren bisherigen Untersuchungen die erste Rolle gespielt. Soll es zu dem unddem, zu einer Realisation des Durch u.s.f. kommen, so muß pp. In dieserForm ging unsere Einsicht immer einher« (GA II/8, 255). Und diese Schluß-bemerkung stellt das aletheuische Soll als das heraus, was übrig bleibt, wennalle anderen Anfangsgründe fallengelassen sind.

Es steht noch ein letzter Schritt transzendentaler Besinnung aus, der zumStandpunkt der Religion und zur Lebensweise des Religiösen hinführt. Die-se Rückbesinnung sieht darauf, daß das kategorische Sollensverhältnis dochvon einem Ich-Bewußtsein gesetzt ist. Indessen soll dieses setzende Ich zwaraufgrund einer Besonnenheit unverloren sein, »aber nicht als Wesen, son-dern als vor dem Wesen vernichtetes, und zergehendes seyn« (GA II/7, 437).

Damit erst ist jener Standpunkt erreicht, welcher die religiöse Lebens-weise klarmacht. Der homo religiosus setzt sein ganzes Leben und Liebenin den Glauben, daß unser menschliches Weltbewußtsein in der Wurzelmit Gott zusammenhängt. Im religiösen Grundgefühl ist die Nichtigkeitdes stolzen Ich, der Tod und die Leere reflektiven Wissens, manifest. Da-her soll ein kategorisches Soll unser Dasein dazu freimachen, in Gott alsDasein Gottes zu leben, zu lieben und das Göttliche in der Welt sichtbarzu machen. Das ist die Maxime, durch die sich das Sollensprinzip der Wis-senschaftslehre im Gebiet der Religions- und Gotteslehre entfaltet.

4. Kapitel: »Das absolute Soll des Soll als Soll«: Durchdringen zum Mittel- und Ableitungspunkt für die sinnliche undsittliche Welt

Der religiöse Lebens- und Gottesbezug und damit der Ausgang für eineGottes- und Religionslehre ist hergeleitet. Das gelang dadurch, daß derHauptgegensatz von Gott und Welt aus dem Mittelpunkt des Sichintelli-gierens unter dem Gesetz des kategorischen Sollens miteinander ver-knüpft wurden. Was jetzt noch aussteht, ist die angekündigte Herleitungder Sitten- und Rechtslehre. Und da wird die Verknüpfung der zeiterfüll-

328 Teil III: Fichte

ten Sinnenwelt mit der sittlichen Welt geradezu zur Hauptaufgabe. »Wasaber Welt eigentlich heisse, da wir nun vorläufig noch übrig behielten dreiWelten, die sittliche, rechtliche u. sinnliche, ist die Frage« (GA II/7, 438).Dabei kommt alles darauf an, den Einheitspunkt für die Einrichtung allerdrei Gebiete der ausgefalteten Wissenschaftslehre zu finden, ohne die Reli-gionslehre mit der Sittenlehre und die Sittenlehre mit der Rechtslehre zuvermischen. Es muß vermieden werden, Standpunkte der Gotteslehre mo-raltheologisch als Bedingung der Moralität zu postulieren, so daß dieTheologie moralisch fundiert wird. Und man darf nicht den Standpunktder Legalität mit dem der Moralität verquicken. Und das reine Verhältnisder Welten ist nicht ein positiv gegebenes, sondern ein aufgegebenes. IhrSein ist ein gesolltes. Das Sein ist Sollen.

Nun führt die erweiternde Wiederholung der Sollensanalyse in der Mitteder 15. Lektion zu einem Grundmittelpunkt. »Das Wissen in seiner Einen,wesentlichen, und unwandelbaren Einheit ist gefunden, u. läßt sich definie-ren: es ist das absolute Soll des Soll als Soll« (GA II/7, 440). Hier findet sichdas Wissen in seiner Bestimmung und Destination definiert, d.h. in dem,wozu es wesentlich sein soll. Nun ist es schlechthin zu einem einzigen End-zweck bestimmt, nämlich daß Gott in ihm dasein und in der Welt zur Sicht-barkeit kommen soll. Das ist ein unbedingtes Soll. Sonst ist das Wissen zunichts da. Wissen ist nicht Macht, sich der Welt technisch-wissenschaftlichzu bemächtigen. Wissen ist schon gar nicht Instrument eines Willens zurMacht, um den Andrang des end-, sinn-, ziellosen Werdens zu bewältigen.Freilich ist das Wissen als Dasein göttlichen Wesens und Waltens in keinerWeltzeit abgeschlossen, fertig und seiend. Es ist ein Sein, das sein soll, keinsubstantes, perfektes, sondern ein perfektibles Sein. Im Seinsollen des sichintelligierenden Wissens ist aber nun das absolute Soll als solches gewußt. Esbewährt sich als umfassende Sphäre, welche das nichtige und zerfließende,bloß formale und seinslose Wissen zusammenhält. »In dem Vereinigungs, u.Gegenseitigen Bestimmungspunkte dieses Soll, nicht als soll, und dieses Sollals Soll = Ich liegt nun unser gesuchter fester Mittelpunkt« (GA II/7, 440).Hier sind zwei gegensätzliche Bestimmungen zu vereinigen, nämlich das ab-solute Soll und das Soll als Soll. Das absolute Soll weist das Als ab und ›ver-nichtet‹ dadurch das Ich-soll, das Soll als Soll dagegen ist ein Ich-soll. Dasabsolute, kategorische Soll bildet, wie angezeigt, den Anknüpfungspunkt fürdie freie Erhebung des Welt-Wissens zu Gott und für das selige, der Zeit undSinnenwelt enthobene Leben. Das Soll als Soll dagegen ist bezogen auf dasIch, die Zeit und die Welt. Es soll unserem ansonsten nichtig zerfließenden

6. Abschnitt: Ausfaltung der Grundlagen 329

Wissen Zusammenhalt und Halt geben. »Das absolute Soll des Soll als Soll«ist die ungewöhnliche Formel einer Synthesis, in welcher das kategorischeSoll und das Soll als Soll mit einem Schlage vereinigt vorkommen. Das Wis-sen vermag das Sollen als Bestimmung seines Seins klar einzusehen, aber sobleibt das Soll ein Vermögen, das eigens vollzogen werden soll. Der Vollzugobliegt dem Willen oder der praktischen Vernunft im Stande des Soll alsSoll. Er erfüllt seine Bestimmung, wenn er das vollbringt, was das kategori-sche Soll fordert, nämlich das Göttliche in den Weltbezügen des Ich sichtbarzu machen.

Nur unter Voraussetzung dieser apriorischen Synthesis kann eine Ana-lyse beider Glieder getrennt durchgeführt werden. Das ist im zweiten Teilder 15. und im Kontext der 16. Lektion vorgeführt. Dabei liegt das Haupt-augenmerk der Zergliederung auf der Herleitung der Sinnenwelt aus densie konstituierenden Vermögen von Seinsgefühl, Trieb und Wahrnehmungunter dem Grundverhältnis »Soll – dann muß«. Die Schöpfung der über-sinnlichen Welt nach dem Sollensgebot des kategorischen Imperativs wirddagegen als bekannt vorausgesetzt. Ziel der Analyse ist es jedenfalls, dasVerhältnis der wahrnehmbaren und der sittlichen Welt aufzuklären als einVerhältnis, in welchem das eine sein muß, wenn denn das andere sein soll.

Für die Sinngebung der Sinnenwelt lassen sich vier notwendige Bedin-gungen des Sollens darlegen: (1) ein Zusammenhalten des Nichts zumSein, (2) das Seinsgefühl, (3) das Triebgefühl und (4) die Wahrnehmung.

(1) Grund dafür, daß wir überhaupt Seiendes finden und nicht Nichts, istdas kategorische Soll. Diese These erbringt einen transzendentalen Auf-schluß der metaphysischen, von Leibniz formulierten und von Schellingwieder aufgenommenen Grundfrage: Warum ist überhaupt Seiendes undnicht vielmehr Nichts? Fichte trägt zur Lösung dieser Frage einen apagogi-schen Beweis vor. Grund dafür, daß das Nichts zum Sein und Bestehenkommt und zusammengehalten wird, ist das absolute Soll in seinem not-wendigen Folgeverhältnis. Soll das Nichts, das bestand- und haltlose Ver-gehen und Zerfließen unserer Vorstellungen im Schema der leeren Zeitins Sein gehalten und als Bestand zusammengehalten werden, dann mußdas Absolute, das allreale und ursprüngliche Leben und Tätigsein dasein.Sonst verginge eben alles, was zur Vorstellung kommt, ins endlose, ziellose,seinslose Nichts. Solche Seinsbindung ist unsichtbar. Nur das Soll als Sollmacht den Vorgang von Vergehen und Binden sichtbar. Dieser bloßen

330 Teil III: Fichte

Sichtbarmachung durch das Als aber geht die reale Seinsbindung des kate-gorischen Soll voraus.

(2) Mit diesem fundamentalen Seinsglauben verbindet sich ein Seinsge-fühl. Hierbei meint Gefühl das unzertrennbare Ineinanderaufgehen einesInneren und Äußeren. Das Innere ist hiernach die Immanenz des lebendigin sich bleibenden Seins, das Äußere die Emanenz. Emanent ist das, wasder Sollensforderung gemäß außer dem in sich geschlossenen Sein geson-dert da ist. Was im Seinsgefühl empfunden wird, ist demnach das emanen-te und immanente Sein als eines.

(3) Mit demselben Schlag entsteht das Triebgefühl. Für dessen Genetisie-rung ist darauf zu achten, daß das bloße Soll ein seiendes Soll und tätig ist:Antrieb, das an sich zerfließende Nichts zusammenzuhalten, und zwar ab-sichtslos, ohne sich das Zusammenhalten als Zweck (causa finalis) zu setzen.Trieb ist so nach Fichtes gebräuchlicher Formel eine Kausalität, die nichtKausalität ist. Nun kann das Zusammenhalten nicht immer schon sein, essoll in der Tat werden. Das betrifft das Schema des Nichts, ins Nichts zu zer-fließen: die Linie der leeren Zeit. In solchem Zusammenhange der GliederTrieb, Schema der Zeit, Zusammengehaltenwerden breitet Fichte die Kon-stituierung der Zeit als solcher noch einmal aus. Im Rückblick auf das mitdem Seinsgefühl zugleich aufkommende Triebgefühl ist hier nur das Resul-tat zu vermerken. Der elementare Antrieb, das Zerfließen in Nichts im Seinzusammenzuhalten, vollzieht sich als Zeiterfüllung. Da kommt das Triebge-fühl als je erfüllter Punkt in der Leere der Zeit zutage.

(4) Das Gefühl, als bloßes, selbstloses Bewußtsein eines Antriebs zu sein,ist schlechthin notwendige Bedingung für das Wissen, freilich so, daß die-ses Vorstellen keine Rechenschaft von sich und seiner Genesis zu gebenvermag. Erst wenn der Trieb in der Wahrnehmung von einzelnen Objek-ten aufgeht, tritt Wissen ins Licht des Ich-Bewußtseins, freilich ohne sichim Wahrnehmen als Ich zu begreifen. Das liegt an der Konfundierung desersten, kategorischen Soll mit dem zweiten, als solchem gelichteten Soll.Dadurch gehen das reine Triebgefühl und unser Seinsglaube in einerWahrnehmung auf. Da nimmt ein vorstellendes Ich in erfüllter Zeitreiheeinzelne Objekte sinnlich wahr. Soweit ist aus Voraussetzungen des Sollensdas Wissen als Wahrnehmen der Sinnenwelt hergeleitet.

6. Abschnitt: Ausfaltung der Grundlagen 331

Seinsgefühl, Triebgefühl, Wahrnehmungsempfindung müssen im Voll-zug sein, soll die Sinnenwelt in Zeit und Werden bestehen und nicht insNichts zerfließen. Allerdings sind diese Vermögen konstituiert durch dasLicht des Soll, aber nicht in ihm. Ein Soll im Lichte steht dagegen in derHelle und Klarheit unseres Ich-Bewußtseins vor Augen. Diese Grundstel-lung ergibt eine neue, höhere, aber auch spezifischere Vereinigung vonSollen und Ich. Das ergibt eine andere, übersinnliche Weltansicht. »NeueSynthesis des Ich, und Vereinigung derselben, bekannt aus der W.L. Alsoder bekannte kategorische Imperativ: der Schöpfer der sittlichen Welt, so-wie des Soll, nicht als der Schöpfer der sinnlichen« (GA II/7, 448).

Fichtes ›Schöpfungslehre‹ der sittlichen Welt verweist auf Einsichten,welche denen, die mit der Transzendentalphilosophie vertraut sind, ein-sichtig sind. Das weist natürlich auf Kant zurück und teilt die Überzeu-gung mit, der kategorische Imperativ sei der Angel- und Mittelpunkt allertheoretischen und praktischen Philosophie. Nun spricht sich der kategori-sche Imperativ bekanntermaßen als Sollensgebot aus, welches kategorischund bedingungslos, nicht etwa hypothetisch unter Bedingungen, gebietet,sittlich zu handeln. Der Mensch soll unter allen Bedingungen zu aller Zeitaus Pflicht handeln, und das heißt aus dem Vernunftgefühl der Achtungvor dem Sittengesetz. Das zeichnet das menschlich-endliche Vernunftwe-sen als Bürger der zweiten, der Ideenwelt aus. Die Wissenschaftslehre be-läßt es ebenso bekanntermaßen nicht beim Faktum des kategorischen Im-perativs und einem spezifisch sittlichen Leben, das unser Handeln ausPflicht einfordert. Sie unternimmt es, die sich hierdurch eröffnende sittli-che Welt aus einem Einheits- und Sonderungspunkt herzuleiten. In derfrühen Wissenschaftslehre ist dieser Mittelpunkt die Ichheit, da das Ver-nunftlose mit dem Vernunfthaften, das Nicht-Ich mit dem Ich, vereinigtwerden soll, ohne je ganz eins werden zu können. In der mittleren Wissen-schaftslehre dagegen liegen Gegensatz und Vereinigung höher. Nunmehrgeht es um den Gegensatz von Gott und Welt und um deren Verknüpfungwie um das Fundierungsverhältnis der sinnlichen, sittlichen und religiö-sen Weltansichten aus der Synthesis eines absoluten Sollens mit dem Sollals Soll.

332 Teil III: Fichte

5. Kapitel: Erforschung der teleologischen Verhältnisse der sinnlichen zurrechtlichen wie der sittlichen zur religiösen Weltansicht

Die Aufgliederung in die Zweiheit von wahrnehmbarer Sinnenwelt undkategorisch gebotener sittlicher Welt bereitet die Hauptuntersuchung vor.»Die Hauptsache ist nun, das Verhältniß dieser zwei Welten zueinander zuerforschen« (17. Stunde; GA II/7, 448). Dabei wird sich wie beiläufig dieSphäre der Rechtswelt in das Prinzip dieses Verhältnisses einordnen las-sen. Und es wird sich so am Ende der Hauptgegensatz von Gott und Weltim Ausblick auf die religiöse Weltsicht und Lebensweise auflösen.

Die nächstliegende Aufgabe aber zeichnet sich darin ab, den Wider-spruch zwischen den richtig abgeleiteten Sollensprinzipien zu vereinigen.So kann die Thesis behaupten: »Soll das zweite u. in specie das dritte, dasSoll als Soll seyn, dann muß das erste seyn« (GA II/7, 448-449). Diese Po-sition setzt des erste Sollen, das kategorische Zusammenhalten des Nichtsim Seinsgefühl, als Prinzip für das zweite Soll des Trieb- und Wahrheitsge-fühls wie für das dritte Soll des kategorischen Imperativs. Die Antithesekann mit demselben Recht das Gegenteil behaupten. Das zweite und dritteSoll sei Prinzip des ersten. Soll das erste Soll notwendig werden, dann mußdas zweite und dritte Soll sein. »Beides ist wahr: wie vereinigen wir denWiderspruch?« (GA II/7, 449). Diese Frage ergeht an die Wissenschaftsleh-re als Prinzipienforschung. Indem sie sich auf das Widerspruchsverhältnisbesinnt, kommt der Erklärungsgrund ins Offene, durch den das Licht, dieHelle geistigen Sehens, in sich selber sein Sein in der sinnlichen, rechtli-chen, sittlichen Welt intelligiert. Das sprechende Wort für dieses Prinzip ist»Absicht«: ein Sehen, das die Grundverhältnisse seines In-der-Welt-Seinsabsieht. Das seit Aristoteles eingeführte philosophische Grundwort istZweck (telos) und dessen Verhältnis zweckmäßig oder teleologisch. Dabeibedeutet nach Kant der hypothetische Zweck das Mittel für etwas anderes,um dessentwillen es ist, und kategorischer Zweck bedeutet den Endzweck,der um seiner selbst willen ist und sein soll. Und Kants Vernunftkritikstellt die Idee der Zwecke als das Vornehmste aller Einheitsprinzipien un-ter der Regierung der Vernunft fest; denn Zweckmäßigkeit ist das Prinzipder Natur überhaupt, und deren letzte Absicht ist eigentlich die moralischeWelt, das Reich der kategorischen Zwecke. Kant hat das Zweckprizip fak-tisch aufgestellt, nicht aber genetisch hergeleitet. Woher es kommt, verfolgtdieser Schritt der Fichteschen Prinzipienlehre: das Intelligieren jenes Prin-zips, das den Widerspruch im gegensätzlichen Sollensverhältnis von Natur

6. Abschnitt: Ausfaltung der Grundlagen 333

und Moral vereinigt. Das geschieht durch die Klarstellung des teleologi-schen Verhältnisses, da das eine um willen des anderen ist.

»Die Sache steht nun so: Der kategorische Imperativ oder die sittlicheWelt soll selbst seyn, absolute seyn; aber er kann nicht seyn, wenn nicht dieWahrnehmung der sinnlichen Welt ist: darum, darum aber allein soll diesegleichfals seyn: Erklärung aus dem Grunde, die Wurzel des Daseyn umfas-send, des Soll« (GA II/7, 449). Diese teleologische Erklärung des hypotheti-schen Zwecks der Natur hat Fichte in allen Gestalten und Wendungen sei-ner Wissenschaftslehre vorgetragen. »Die Sinnenwelt ist durchaus nichtsweiter, als die Sphäre der sittlichen, und hat keine Fülle Realität-Gültigkeit insich, als die, welche sie von daher erhält« (GA II/7, 450). Hier schließt sichnaheliegend die teleologische Einordnung der Rechtssphäre an. Sie bildetdas Mittelglied zwischen Natur und Freiheit. Das Recht konstituiert dieSphäre von Rechtspersonen als »naturfreien und naturkräftigen Ichen« undist als apriorischer und erfahrungsunabhängiger Begriff notwendig für denGesamtzusammenhang eines Vernunftsystems. Darum ist das Recht ein ausVernunftgründen Gesolltes. Recht soll sein. Das fordert nicht ein Handelnaus Pflicht in Achtung vor dem Sittengesetz, es verlangt die vertraglich ver-einbarte, kontraktualistische wechselseitige Beschränkung von Rechtsperso-nen durch Rechtsgesetze. Das Rechtsgesetz grenzt das Recht auf alles wiedas Recht des Stärkeren unter Sanktionen des legitimen Zwangsrechts derStaatsmacht ein. Fichte hat bei allen Wendungen der Verhältnisse von Na-turrecht und Staatsrecht, von Recht und Sittlichkeit die Sollensprinzipienvon Rechts- und Sittenlehre immer streng unterschieden. Gleichwohl sindRecht und Sittlichkeit, Legalität und Moralität positiv aufeinander angewie-sen und teleologisch verortet. Dafür hat Fichte die Sphäre des Rechts zwi-schen die sinnliche und die sittliche Welt gestellt und die Rechtslehre alsBand der Vereinigung gekennzeichnet. »Noch dies beiläufig. – Sphäre derSittlichkeit. Nun dürfte aber etwa das Naturgesetz diese Sphäre nicht vollen-det haben, u. es hat sie sicher nicht vollendet, wo dies Reich der naturfreienu. naturkräftigen Iche angeht. Da nun, also zwischen der sittlichen und dersinnlichen Welt u. als ihr Vereinigungsband dürfte die Rechtslehre liegen alsNaturlehre von der menschlichen Gattung, als Sphäre der Sittlichkeit« (17.Stunde; GA II/7, 450). Das Recht bewährt sich als notwendige Bedingung fürdas unendliche wie vollendete Werden eines Zustandes der Menschheit, indem das gesamte Handeln aller Subjekte nicht mehr von Naturkräften, son-dern ausschließlich vom Sittengesetz bestimmt sein werde. Und der Rechts-

334 Teil III: Fichte

zustand bildet die notwendige Stufe im geschichtlichen Fortschreiten allge-meiner Sittlichkeit.

Das ergibt einen teleologischen Sinnzusammenhang von Recht undSittlichkeit. Rechtsverhältnisse sind lediglich notwendig gesollt um willender Sittlichkeit. Mithin sind rechtskonformes Verhalten, rechtliche Frie-densverträge, Rechtsstaatlichkeit nicht selber von sittlichem Wert, wohlaber doch notwendige Mittel, um Ideen der Sittlichkeit durch Überwin-dung des Rechts der Stärkeren Wirklichkeit werden zu lassen.

Dieses teleologische Verhältnis des »Soll – dann muß« hat noch dieRechtslehre 1812 durchgehalten. Soll die Sittlichkeit in der Welt der Erschei-nungen ungestört vorherrschen können, dann muß es ein verbindliches, le-gales Zwangsmittel geben, das Störungen der Freiheit abhält, damit dasPrinzip der Sittlichkeit in Erscheinungen der Sinnenwelt wirklich werde. »Esmuß drum ein von der Sittlichkeit unabhängiges Mittel geben, um die Frei-heit aller, durch die die Sittlichkeit in ihnen als Erscheinung, u. in der Reiheder Erscheinungen bedingt ist, zu sichern« (Rechtslehre 1812; GA II/13, 24).Nun können solche, die einen Naturstand ohne Rechtsgewalt und ohneZwangsrecht, nämlich den Kampf ums Dasein aller gegen alle, bejahen, sa-gen: »Wir wollen nun aber uns unter einander fressen u. aufreiben: daß wirdarüber alle zu Grunde gehen werden, mag wohl wahr sein [...]; aber wemüberhaupt verschlägts etwas, ob ein solches Geschlecht wie wir sind, da sey,oder nicht?« (GA II/13, 228). Fichtes gegen Hobbes gerichtete antinihilisti-sche Antwort lautet: »Ihr sollt aber da seyn, erhalten werden, weil schlecht-hin seyn soll nur Sittlichkeit, die Realisation des göttlichen Bildes, und es zudieser nicht kommen kann außer durch euch. Ist aber dieses der lezte Zweckder Rechtsverbindung, so muß er auch erreicht werden können durch sie«(GA II/13, 228).

Damit ist eine weitere, vierte und höhere Stufe angekündigt. Hierbei er-scheint die Versittlichung nicht als Endzweck und höchstes Gut, sondernals Zweck des Zweckes. Sie soll geschichtlich institutionell, nicht zuletztdurch Bildung und Erziehung ins Werk gesetzt werden, damit das göttli-che Bild, die Erscheinung des Absoluten, in der Reihe der Erscheinungenrealisiert werde. Das wehrt jede Verselbständigung und Separierung derEthik als Disziplin der praktischen Vernunft ab und entkräftet die alte So-kratische und Aristotelische Tendenz. Sokrates hatte ja dem tragisch-reli-giösen Weltalter durch die Aufstellung des Gesetzes »Wissen = tugendge-rechtes Handeln = Endzweck und Glück menschlichen Lebens« ein Endebereitet. Und Aristoteles stellt im Grundbuch der abendländischen Ethik,

6. Abschnitt: Ausfaltung der Grundlagen 335

der ›Nikomachischen Ethik‹, den Anfangs- und Grundsatz auf, das letzte›Worumwillen‹ menschlichen Strebens und unser höchstes Gut ist sittli-ches Handeln um der Sittlichkeit willen. In Fichtes systematischer Deduk-tion von fünf Weltansichten und Lebensformen aber bildet die Sittlichkeitunter dem Soll des kategorischen Imperativs nur eine Vorstufe, die durcheine höhere Daseins- und Gotteserscheinung überboten wird. Der Religiö-se handelt aus einer Glaubensgewißheit heraus, für ewig in und aus derunbeschreiblichen Lebenskraft und unaussprechlichen Liebe der Gottheitzu leben.

Nun dürfen einerseits Religion und Sittlichkeit nicht ineinanderge-mischt und vermischt werden. Dieser Vorwurf betrifft Kants Moraltheolo-gie, wo Gott als Garant für das proportionale Verhältnis von sittlicherGlückswürdigkeit und sinnlicher Glückseligkeit als totaler Befriedigungaller Bedürfnisse postuliert wird. In der 17. Stunde erklärt Fichte öffentlich:Kants System entbehre eigentlich vollständig eines Gottes; unsicher tap-pend, nicht methodisch intelligierend, gründe er das Wesen Gottes auf einBedürfnis der sinnlichen Natur.

Andererseits ist das positive Verhältnis »Soll – dann muß« zu durchden-ken. Soll es zur Erscheinung der Religiosität in der Welt kommen, dann mußdie Idee der Sittlichkeit der Menschheit den Sinn für eine intelligible Welt,für die göttlich durchgeordnete Synthesis der Geisterwelt geöffnet haben. Soerfüllt sich der Systemanspruch, die vier Standpunkte von Sinnlichkeit,Recht, Moral, Religion einheitlich zu ermöglichen: »alle die von uns aufge-stellten Standpunkte sollen innerhalb des wirklichen, eben absolute seyen-den Wissens mögliche seyn; in specie der höchste, der der Religion« (18.Stunde; GA II/7, 453). Den letzten Aufschluß darüber gibt die Vernunftwis-senschaft auf der Höhe der Wissenschaftslehre. Das ist eigentlich kein eige-ner materieller Standpunkt, sondern allein das formale Intelligieren, dasdurchdringende Herleiten der Erscheinungen von Natur, Recht, Sittlichkeitund Religion. Dafür ist das Soll in der höchsten Potenz in seinen notwendi-gen Bedingungen einsichtig. »Es soll zum daseyn des absoluten, als solchenkommen. Drum pp.« (GA II/7, 454). Hier kommt das bekannte aletheuische,kategorische Soll zum Zuge. Soll es zum Dasein des Absoluten als solchenkommen, dann muß das Licht des sich wissenden Wissens als Ursprungs-prinzip abgesetzt und in eins als Erzeugungsprinzip der Erscheinung in ih-rer grundsätzlichen Einheit und notwendigen Sonderung eingesetzt wer-den; »nicht durch das Licht sonach, sondern nur durch das absolute selbstkann das absolute daseyn« (GA II/7, 454). Dasselbe vom absoluten Wissen

336 Teil III: Fichte

her eingeprägt (und gegen Feuerbachs religiöse Entfremdungstheorie gehal-ten): »Nun kann, wie gesagt, das Wissen sich nie aus sich selbst das absoluteerzeugen, weder mittelbar, noch unmittelbar, sondern dasselbe muß durchsich selbst u. eigene Kraft sich in ihm erzeugen« (GA II/7, 454).

Lassen sich nun Religion, Recht, Sittlichkeit als Erscheinungen des Ab-soluten aus dem Mittelpunkt des absoluten Wissens ableiten und ist dasAbsolute in sich wie außer sich ein Eines, dann bilden die Weltansichtenvon Sinnlichkeit, Recht, Sitte, Religion und Wissenschaft eine systemati-sche Einheit, die im teleologischen Einheitsverhältnis des Sollens nach-weisbar ist. Also stellen die einschlägigen Vorträge 13-18 das Soll in seinerPriorität und prinzipiellen Funktion für die Systematisierung der hierar-chisch eingeordneten Vernunftwissenschaft der Gottes- und Religionsleh-re, der Sitten- und Rechtslehre einschließlich der Naturlehre genetisch evi-dent dar.

Damit schließt die Systembildung der gesamten Wissenschaftslehre aufdem Höchststand der ungeschriebenen Lehre grundsätzlich ab. Ihre Be-stimmungen von Wissen und Sein, Einheit und Vielheit, Wahrheit und Er-scheinung sind nun durch phänomenologische Einleitungen faktisch zu-gänglich gemacht. Der stufenweise Aufstieg zum Seins-, Einheits- undWahrheitsgrund ist in absoluter Reflexion und Abstraktion genetisch voll-bracht worden. Der Abstieg von der Einheit zu aller Mannigfaltigkeit, imÜbergang von Gott zur Welt in der Fünffachheit und Unendlichkeit derErscheinungen des Bewußtseins und unserer Weltansichten ist in allerKlarheit hergeleitet. Und schließlich hat eine Teleologie des Sollens dieVernunftwissenschaften der Natur, des Rechts, der Sittlichkeit und der Re-ligions- und Gotteslehre ausgefaltet.

Somit dürfte sich der Vollendungsanspruch von Fichtes Wissenschaft desWissens erfüllen, welcher durchaus mit dem Systembau Hegels und denvielgestaltigen Entwürfen Schellings konkurrieren kann. Und es sollten sichsogar Perspektiven abzeichnen, in welchen ein gewisser Vorrang der Wis-senschaftslehre ersichtlich wird, nämlich sowohl in Respekt auf die kritischeBesonnenheit im Andenken des Absoluten wie in Respekt auf die Anwen-dung der philosophischen Wissenschaften auf das Leben. Das jedenfalls istdas eigentliche Geschäft, das Wesen und Walten des Gelehrten. Auftrag undAufgabe des Philosophen besteht nicht darin, die Unmengen von Detailwis-sen eines Fachgebietes zu sammeln, so erstaunlich umfänglich und Kenntnisvermittelnd eine quantitative Gelehrtheit auch sei. Philosophisches Wissenbesteht in der Tiefe genetischer Einsichten in den Ursprung der Ideen, der

6. Abschnitt: Ausfaltung der Grundlagen 337

›Gesichte‹ des Übersinnlichen. Und seine eigentliche Aufgabe liegt darin,solche Gelehrtheit auf das Leben anzuwenden. So steht der rechte Eruditusunter der Forderung eines ›eruditiven Soll‹. Dessen Nötigung ergeht an dieBestimmung des Gelehrten (officium eruditorum). Das haben Fichtes letzteVorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten von 1811 zur Sprache ge-bracht. Das eruditive Soll ist »eigentlich die Forderung der steten Fortent-wicklung des göttlichen Bildes« (GA I/10, 386) durch die Gemeinde der Ge-lehrten. Soll das göttliche Bild in der Sinnenwelt sich im Bewußtsein einesVolkes bilden, dann muß das Wissen des Gelehrten praktisch werden unddie Welt nicht nur theoretisch auslegen, sondern geschichtlich verändern.Der Gelehrte »soll sie anders machen um Gottes willen, soll sie bilden nachGottes Bilde« (GA I/10, 386) – zumal in einem halb aufgeklärten Zeitalter,das sich nicht mehr von der Gottesbegeisterung der Seher und Dichter er-greifen lasse.64

64 Auf diese Funktion des Sollens in der ›populärwissenschaftlichen‹ Bestimmung desGelehrten von 1811 hat F. Gilli: Die Präsenz der ›Populärphilosophie‹ im SpätwerkFichtes, 2007 aufmerksam gemacht. Weitergehende Analysen des Sollensprinzips inder Gesamtsystematik haben 2001 M. Ivaldo: Die konstitutive Funktion des Sollensin der Wissenschaftslehre und Y. Kumamoto: Moralische Freiheit und problemati-sches Soll beim späten Fichte vorgelegt.

NachschriftenAusführungen über die Bedeutung des kritisch voll-endeten Idealismus für das gegenwärtige Zeitalter

1. Abschnitt: Vom Vorrang der ungeschriebenen Lehre (Zu Grundsätzen der Erlanger Wissenschaftslehre 1805)

1. Kapitel: Hervorhebung des Behauptens einer absoluten Reflexion in transzendentaler Besonnenheit

Schellings erster eigenständiger Gedanke über das Unbedingte und Absolu-te resultiert aus der Maxime: Die Philosophie habe sich völlig vom Stand-punkt der Reflexion zu entfernen, ansonsten verfehle sie auf ihrem Wegedas Ziel, das Prinzip der Alleinheit und Wahrheit, die totale Indifferenz desSubjektiven und Objektiven, verbindlich darzustellen; denn alle Reflexiongehe von Gegensätzen aus und beruhe auf Gegensätzen. Und Schelling fügtpolemisch hinzu: Anstatt dieses Ziel zu erreichen, sei Fichtes vielverspre-chender Denkweg auf dem Standpunkte eines einseitigen, formellen, leeren,nichtigen Reflektiersystems stehengeblieben und erstarrt. So lautet vielstim-mig und bis heute das Urteil der Geschichte. Fichtes spekulatives Denkendringe nicht zur Grundlage eines Unbedingten, bis zur wahrhaft seienden,nicht bloß gesollten Einheit der Gegensätze von Ich und Nicht-Ich durch,weil es am Trennenden der Verstandesreflexion festhält. Nun soll die verwi-ckelte Geschichte dieser von Nicolai, Reinhold, Bardili, Jacobi, Schelling undHegel mit unterschiedlicher Intensität vorgetragene Polemik hier nicht nocheinmal thematisch behandelt und ausgebreitet werden. Zur Erinnerung sei-en lediglich drei prominente Einlassungen zitiert. Reinhold bemerkt zuFichtes einleitender Aufforderung, von allem Objektiven zu abstrahierenund auf das reine Ich zu reflektieren: »Die Willkühr [...] abstrahiert nunvom Abstrahieren selber, um über das Reflektieren – zu reflektieren« (Bey-träge I 101). Solches Reflektiergespinst sei schuld daran, daß die wahre Iden-tität des Idealen und Realen vergessen werde. Gleichzeitig hatte Schelling inder Vorerinnerung der Darstellung seines Systems erklärt: Fichte könnte sichmit dem Idealismus auf dem Standpunkt der Reflexion halten, während er,

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340 Nachschriften

Schelling, sich mit dem Prinzip des Idealismus ganz auf den Standpunkt derProduktion gestellt habe. Und Jacobi hat das Reflektieren der Wissenschafts-lehre als Ursache für ihren ›Nihilismus‹ entdeckt. Sein ›Nihilismusbrief‹vom 3. März 1799 erklärt: »Wahrlich, mein lieber Fichte, es soll auch nichtverdrießen, wenn Sie, oder wer es sey, Chimärismus nennen wollen, was ichdem Idealismus, den ich Nihilismus schelte, entgegensetze« (JW IV 44).

Und noch Heideggers Idealismus-Vorlesung aus dem Jahre 1929 hält anAbschätzungen fest, die sich an der unvollendeten Jenaer Grundlage undam Reflexionsstandpunkt des Ich orientieren: Sie bauen eben auf dieSelbstgewißheit des sich reflektierenden Ich (und verschließen sich so derAletheia), sie geben dem weltentwerfenden Subjekt des Wissens den Pri-mat (und verkennen den ›geworfenen Entwurf‹ des Daseins), sie verwan-deln die Natur zum Nicht-Ich und verkürzen sie zur bloßen Schranke desIch (und verfehlen so das volle In-der-Welt-Sein).

Solche Einsprüche, zumal der Nihilismusvorwurf gegen Fichtes ver-meintliches Reflektiersystem, beschäftigen Fichte bis zuletzt. Noch die Wis-senschaftslehre 1812 greift das auf. »Das Reflektieren der Wissenschaftslehresei der Grund unseres vermeintlichen Nihilismus« (NW II 325). Und dieEinleitungsvorlesungen in der Wissenschaftslehre 1813 entgegnen solchenGegnern: »Ihr sagt ferner: Idealismus und Nihilismus. Wie Ihr entzückt seid,ein Wort gefunden zu haben, von dem Ihr hofft, daß wir darüber erschrek-ken werden! Wie denn, wenn wir, nicht so blöde, uns dessen rühmten, unddas eben als das Vollendete und Durchgreifende unserer Ansicht, daß sieeben Nihilismus sei, eben Nachweisung des absoluten Nichts, außer dem Ei-nen, unsichtbaren Leben, Gott genannt« (NW I 39). Nun hat Fichte niemalsgewankt, den Akt transzendentaler Reflexion aufzugeben, der bei jedem Ge-dachten auf das Denken und dessen Entstehungsgesetze sieht. Er hat vordem Grundfehler gewarnt, die Reflexionseinstellung irgendwo blindlingsabzubrechen, und gefordert, sie besonnen zu Ende zu bringen. Das gilt zu-höchst für den Gedanken des Absoluten. Eine Besinnung auf sich im Ge-danken des Absoluten heißt absolute Reflexion. Sie ist transzendentale Re-flexion, sofern sie sich vom Gedanken auf sich als den Denkenden zurück-bezieht, der das Absolute denkt. Sie ist absolute Reflexion, sofern sie sichvom Gedanken des Absoluten auf sich als Bild und einziges Dasein des Ab-soluten außer dem, nihilistisch gedacht, Nichts wahrhaft seiend ist, besinnt.Es ist die ungeschriebene Lehre in der Fassung der Erlanger Wissenschafts-lehre 1805, welche solche transzendentale Transzendenz einer vollendetenVernunftwissenschaft behauptet. Sie steigt zum transzendenten Gedanken

1. Abschnitt: Vom Vorrang der ungeschriebenen Lehre 341

des Absoluten im Vollzug der Selbstvernichtung des Begriffs auf und bleibtgleichwohl als einzige der drei Vollendungsgestalten des Deutschen Idealis-mus bei transzendentaler Besinnung. Sie bricht die Reflexion eben nicht ir-gendwo ab, sondern führt sie konsequent in absoluter Reflexion zu Ende.»Jenes besinnen auf sich heißt Reflexion; und das sich besinnen auf sichselbst im Gedanken des Absoluten heißt absolute Reflexion« (GA II/9, 231).

2. Kapitel: Sich-Besinnen auf sich. Vorlage der Wort- und Sacherklärung

Die exklusive Behauptung der Besonnenheit absoluten Reflektierens evo-ziert Hauptfragen. Welche Generalregel dirigiert diese Methode? Inwie-fern führt das zur einzigen Einheitslehre des Deutschen Idealismus, dietranszendental besonnen bleibt? Und weiterhin: Warum in aller Welt hatsolche philosophische Besinnung und Besonnenheit Bedeutung für unsergegenwärtiges Zeitalter? Dem zuvor aber ist wohl der Vorfrage nachzuge-hen: Was heißt überhaupt Reflexion im Wortsinne von Besonnenheit wieim Sachsinne neuzeitlicher Selbstbesinnung? Reflexion wird von Fichte,die Herkunft aus der Optik übergehend, dem Worte nach ausgedrückt alsSich-Besinnen auf sich. Und tatsächlich sagen wir umgangssprachlich »Je-mand verliert die Besinnung« und »Jemand kommt wieder zur Besin-nung« und meinen »Jemand verliert das Bewußtsein« und »Er kommtwieder zu sich selbst« und so in den Zustand eigener Vorstellungen. Wirsagen auch »Jemand besinnt sich eines anderen oder eines besseren« undmeinen, er vollziehe eine besonnene Änderung und Umkehr seiner Ein-stellung. Und wir fordern auf »Besinne dich!« und meinen, er solle aus ei-gener Freiheit erinnernd in sich selbst gehen. So prägt sich das Wort Be-sinnung/Besonnenheit umgangsprachlich als personal vollziehbare undinterpersonal eingeforderte Rückkehr klaren Bewußtseins in sich selbstaus Freiheit ein.

In philosophischem Sprachgebrauch konnte das Wort bei Herder dieStelle von Reflexion einnehmen. Das belegt Herders Überlegung zur Ent-stehung der Sprache in der ›Preisschrift‹ von 1772. Dort heißt der Menschdas besonnene Geschöpf. »In den Zustand der Besonnenheit gesetzt, derihm eigen ist, und diese Besonnenheit (Reflexion) zum ersten Mal freiwirkend, hat Sprache erfunden« (Sprachphilosophische Schriften, 1960,23). »Das erste Merkmal der Besonnenheit war Wort der Seele« (ebd. 24).Fichtes Verwendung des Wortes Besonnenheit für Reflexion nun wird zu-mal für die Markierung der philosophischen Sonderstellung der Wissen-

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schaftslehre sprechen, die als leeres Reflektiersystem gänzlich vernichtetschien. Das Wort dient als Scheidewort für die tiefe Differenz zwischen ei-nem besonnenen Andenken des Gedankens vom Absoluten und allerNichtbesinnung. Alle Seinslehren im großen Stil des Spinoza, in den Aus-maßen des Hen kai Pan, der absoluten Indifferenz und spekulativen Iden-tität bleiben im Ausfall einer Nichtbesinnung befangen. Allein die Wissen-schaftslehre beherrscht die Kunst der absoluten Reflexion und bleibt be-sonnen. Diese Sonderstellung hebt noch der späte Vortrag der Wissen-schaftslehre 1813 heraus: »Die Besinnung wird uns zu einer Kunst nachRegeln« (NW II 3).

Diese Worterklärung bedarf zur Vertiefung einer Sacherklärung, derge-stalt, daß der Akt der Reflexion und Besinnung auf sich als Grundzug neu-zeitlichen Geistes überhaupt wie als Grundlage der Wissenschaftslehre imbesonderen deutlich wird. Daß die Reflexion zur Sache der Ersten Philoso-phie wird, bedeutet den Eintritt in ein neues Zeitalter. Hegel hat diese Epo-che Zeit der Reflexionskultur genannt. Worin aber besteht das Neue, dadoch Prinzip und Struktur der Reflexion längst bekannt waren und ihre Be-schreibung mit der Unterscheidung von intentio recta und intentio obliquaSchule gemacht hatte? Danach richtet sich meine Aufmerksamkeit in derIntention der intentio recta auf solches, was uns umgibt, sei es Wand oderOfen, Stein, Kraut, Tier oder Mensch. Diese natürliche Einstellung des Be-wußtseins zielt ab und erstreckt sich auf innerweltliche Dinge außer mir.Aber ich kann auch jederzeit mein Sehen und Besprechen der Dinge zumGegenstand meiner Vorstellung machen. Dann wendet sich eben unsereAufmerksamkeit von den Dingen an ihnen selber ab und biegt sich auf un-ser eigenes Sehen und Wissen zurück. Indessen ist für die Tragweite diesesSachverhaltes anzumerken: Die scholastische Distinktion bleibt vortrans-zendental, sofern und solange die intentio recta nicht nur der Zeit, sondernauch der Erkenntnis und dem Sein nach das Frühere und die intentio obli-qua das in jeder der drei Hinsichten Spätere ist. Gewiß hat schon Augustini-sche Tradition die Reflexion (reditio, conversio) als ein Sich-Besinnen aufsich unter das Gebot einer Umkehr aus äußerlichem Treiben ins eigene In-nere gestellt: Noli foras ire – in teipsum redi (De civitate Dei XI 26). Und dergroße, so einflußreiche Kirchenvater hat solche Selbstbezüglichkeit auch alsunmittelbares und zweifelsfreies Wissen von sich selbst privilegiert. Abererst mit der Cartesianischen Wende gewinnt die intentio obliqua einen sys-tembildenden Primat. Der bestimmt den Rang der Erkenntnis. Das zuerstund unmittelbar Erkannte ist der seiner selbst bewußte Geist. Und er be-

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stimmt die Wahrheit (veritas) als Gewißheit (certitudo) gegenüber dem ra-dikalsten Zweifel (dubitatio); denn das selbstgewisse Sein des Zweifelns wi-derlegt alles Bezweifeln des Seins. Solcher Primat der Reflexion verwandeltdie Grundbestimmung der denkenden Seele. Griechisch verstanden ist dieSeele in ihrem Denkvermögen definiert als möglicher Ort der Anwesenheitvon Ideen (topos eidon). Der Mensch denkt wirklich, wenn ihm Gedankeneinleuchten, indem sich die Ideen lichten. Cartesianisch genommen ist diedenkende Seele Bewußtsein auf dem Grunde und in der einigenden Einheitdes Selbst-Bewußtseins (ad-perceptio) von Ideen, die meine Vorstellungen(perceptiones) sind. Der Mensch denkt dadurch, daß er sich auf sich selbstals das denkende Subjekt aller Ideen als seiner Perzeptionen besinnt. Kanterklärt: Das Ich-denke muß alle meine Vorstellungen begleiten können.

In dieser Wende kommt die Reflexion als transzendentale Methode, wel-che das Sein vom Sehen der Dinge auf das Sehen des Sehens zurückbiegt,zum Austrag und als Subjekttheorie in die Krise. Auch daran ist zusammen-fassend lediglich stichworthaft zu erinnern. Seit Kant schreibt die Methodeder Vernunftkritik vor, sich nicht mehr geradehin auf die Gegenstände un-serer endlich-menschlichen Erkenntnis zu richten, sondern sich auf unsereVorstellungsart von Gegenständen der Erfahrung zu besinnen, sofern dieseapriori möglich ist. Kants Name für Reflexion heißt ›Überlegung‹. In ihremVollzug überlege ich vergleichend unterscheidend, ob unsere Begriffe zumVermögen des reinen Verstandes oder zur sinnlichen Anschauung gehören.Fichtes frühe Wissenschaftslehre hat den Übergang von solcher Vermögens-lehre zur Reflexions- bzw. Produktionstheorie der Tathandlung vollzogen.Das verlangt die freie Kunst einer Besinnung, die auf die Struktur des reinenReflexionsvollzugs als in sich zurückkehrende Tätigkeit und auf die Gesetzedes sich denkenden Denkens schaut. Am Anfang steht die Methodenregeldes Wissenschaftslehrers: »Denke Dich, und bemerke, wie du das machst,war meine erste Forderung« (Versuch einer neuen Darstellung; GA I/4, 274).Zur philosophischen Besinnung gehört eben nicht nur, die in sich zurück-kehrende Tätigkeit energisch zu vollziehen. Besonnenheit hat intellektuellzuzusehen, wie diese Bewegung geschieht. Dabei fällt ein unbedingtes Un-terscheiden, Trennen und Entgegensetzen in den Blick. Das Ich findet zurIdentität mit sich selbst, indem es das setzende und gesetzte Ich der Stellungim Reflexionsvollzug gemäß auseinanderhält und in eins setzt. Aber taugtdiese Beschreibung dazu, die Reflexion im Sinne der neuzeitlichen Subjekt-und Selbstbewußtseinstheorie zu erklären und vor Simplifizierungen undVerunstaltungen zu bewahren?

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Nicht zuletzt sind jene Simplifizierungen zu revidieren, welche Fichtezum Vertreter des modernen Geistes stempeln, der im steigenden Fieber desSubjektivismus nach der Gleichung Selbstbewußtsein = Selbstmacht mit derVerkündung eines reinen Willens zur Macht endet. Nach Fichte sei die WeltProdukt des Ich und das Ich die Macht, über die Welt der Erscheinungen zugebieten, weil seine reflexive Tätigkeit sich selbst schlechthin autark ermäch-tigt. Aber das geht an Fichtes Theorie einer Selbstbesinnung vorbei. Das ein-fache ›Reflexionsmodell‹ ist – nach Jacobis Einspruch und durch Fichtes Re-vision im zweiten Buch der Bestimmung des Menschen – für untauglich be-funden, um die Einheitsstruktur des Ich-Subjekts und die Lebensform desabsoluten sich wissenden Wissens zu fundieren. Damit löst sich die Wissen-schaftslehre von Descartes’ und Kants Reflexionstheorie, die fraglos voraus-setzt, daß das Ich durch die Rückwendung auf sich selbst entsteht, ohne zuentdecken, daß sich solche Reflexionshypothese in drei Probleme verstrickt.Der erste Defekt ist eine mangelnde Selbstidentifikation. Ein zweites Beden-ken besteht in der Iteration eines Denkens, das nicht nur einmal sein Den-ken, sondern endlos wieder das Denken des Denkens denkt. Ich weiß, daßich weiß, daß ich das Wissen des Wissens weiß usf. Der dritte Fehler liegt indem vitiösen Zirkel, der das voraussetzt, was Resultat sein soll, nämlich denIch-Akt. Aus solchen Schwierigkeiten einer Selbstbewußtseinstheorie, wel-che ein Ich-Subjekt voraussetzt, ohne es je in Stand zu setzen, sucht die Wis-senschaftslehre den neuzeitlichen Geist zu lösen. Darauf hat die Forschung(vorzüglich D. Henrich) aufmerksam gemacht. Die Einsicht in die Problem-verstrickungen des Reflexionsmodells sei die ursprüngliche EntdeckungFichtes und die Überwindung der ersten Epoche in der Entwicklung derSelbstbewußtseinsphilosophie von Descartes bis Kant gewesen. Fichtes spä-tere Philosophie ab 1801 sei nichts anderes als eine neue Lösung der anfäng-lichen Problementdeckung, indem der Tathandlungsformel das Als einge-fügt und metaphorisch ein Auge hinzugesetzt werde. Das Setzen des Ichsetzt sich selbst als setzend, so daß es sich sieht als Bild und Dasein des Ab-soluten.1 Eine darüber hinausgehende neue Problemlösung aber bietet derGrundsatz einer absoluten Reflexion von 1805, in welcher das Denken sichdarauf besinnt, als absolutes Wissen nichts als das einzige Dasein zu sein,das außer dem Absoluten da ist, und das sich in absoluter Evidenz und Ge-

1 Vgl. D. Henrich: Fichtes ursprüngliche Einsicht, 1967. – Ders.: Fichtes ›Ich‹. In: ders.,Selbstverhältnisse, 1982.

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wißheit als dessen Bild versteht. So erst bewährt sich Fichts vollendete Ver-nunftwissenschaft als die einzige Position, in welcher das Selbstbewußtseinim Dasein absoluten Wissens über sich in ein absolutes Sein und Leben hin-ausweist, das hell wird, indem es sich im Lichte der Gewißheit in allen For-men und Schemata der Ich-Struktur repräsentiert.

Diese höchste Besinnung des Vernunftwissens auf sich im Gedenkendes Absoluten blieb für Hegel und Schelling unbekannt. Beide billigen derWissenschaftslehre lediglich den Status der Verstandesreflexion zu. Weildas Element des Verstandes das Unterscheiden, Entgegensetzen, Trennenist, verharre die Wissenschaftslehre in der Sphäre der Entzweiung von Ichund Nicht-Ich, von absolutem Wissen und Absolutem. In einer einseitigenReflexion, die ein trennender Verstand vollzieht, könne sich die Identitätunmöglich als Totalität erfüllen und vollenden. So aber bleibt das Selbst-Bewußtsein unaufhebbar vom Anderssein abgetrennt und die durch denGrundsatz der Entgegensetzung entzweite Ureinheit des Ich=Ich unein-holbar aufgegeben; denn die leitende Verstandesreflexion sei ja das Entge-gensetzende, Trennende, Beschränkende, Bestimmende an ihr selbst. Unddas Heilmittel, das Streben der praktischen Vernunft, bringe es nur zu ei-nem gesollten Absoluten. Über Fichtes Lebenslehre des Absoluten auf derHöhe der absoluten Reflexion und im Lichte vollendeter Besonnenheithängt so das Damoklesschwert der enthauptenden Sollenskritik. Das Stre-ben nach absoluter, Spinozistischer All-Einheit als letztes Wort der Wis-senschaftslehre soll die Nichtidentität von Ich und Nicht-Ich, von Geistund Natur, von absolutem Wissen und Absolutem überwinden, ohne dasvollkommen vollbringen zu können. Geht man entgegen solcher Vorurtei-le ernsthaft auf die Eigenart der Fichteschen Lehre vom Absoluten ein,dann wird deutlich: Das absolute Wissen ist über die Form der Ichheit undüber die Verstandesreflexion eines leeren Reflektiersystems hinaus zur ab-soluten Reflexion und zur Synthese von reiner Gewißheit und allrealerWahrheit aufgestiegen.

3. Kapitel: Problemanzeige der absoluten Reflexion

Nun kann aufgrund der Fichteschen Definition einer absoluten Reflexionalles Bedenken gegen ein Reflektiersystem nicht einfach fallengelassen undfraglos eine tiefere Besinnung auf den Anfangs- und Systemgrund ange-nommen werden. Man muß vielmehr auf die Ausweglosigkeit eingehen, diesich auch auf dieser höchsten Stufe in den Weg einer Reflexionstheorie stellt.

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Da ist noch einmal der Problemstand zu vergegenwärtigen. Die ErlangerFormel lautet: »Das Sich-Besinnen auf sich selbst im Gedanken des Absolu-ten ist eine absolute Reflexion.« Das übersteigt unstreitig die Verstandesre-flexion. Eine verständige, mundane Reflexion folgt der Aufforderung an sol-che, die noch im dogmatischen Schlummer befangen sind: »Denken Sie dieWand! – Denken Sie den, der die Wand denkt!« Der Ausgang für solchesSich-Besinnen auf unser Sehen des Sehens ist das gegenständlich hinge-schaute Vorhandensein innerweltlicher, mundaner Dinge wie Wand oderOfen. Eine absolute Reflexion mutet dagegen eine höhere Stufe der Selbstbe-sinnung an. »Denken Sie das Seyn schlechthin an sich, als Seyn [...]. Nunaber geben Sie auf Ihr Denken selber Acht« (GA II/9, 186). Hier geht dieSich-Besinnung auf den Gedanken des Seins schlechthin. Das ist das von al-ler Mannigfaltigkeit und Unterscheidbarkeit absolvierte, in sich aufgehende,von sich bestehende Eine, der kühne Gedanke des Parmenideischen Henund Spinozas substantiales Hen kai Pan im Verfahren eines transzendenta-len Transzensus. Die Kunst der Besinnung verlangt, sich auf unser Denkenzurückzuwenden und darauf achtzugeben, wie und unter welchen Gesetzenuns dieser Gedanke des Absoluten entstanden ist. Dabei kommen nichtmehr unmittelbar das selbstgewisse Ich und das Gesetz der Tathandlung inBetracht, sondern ein absolutes Wissen in der Gewißheit des Sich-Intelligie-rens. Besinnt sich das absolute Wissen so auf den Gedanken des absolutenSeins und des lebendigen Einen, dann leuchtet die Einsicht ein: »Das Wissenan sich ist die absolute oder [...] des Absoluten Existenz« (GA II/9, 185). Dasist der Scheidesatz, der Fichtes Systembegründung von Spinozas Pantheis-mus, von Schellings Identitätssystem, von Hegels Onto-theo-Logik trennt.Fichte beharrt auf einer transzendentalen Besonnenheit, in welcher das ab-solute Wissen im Andenken des Seins schlechthin auf sich als Mittel- undDurchströmungspunkt von Sein und Erscheinung zurücksieht. Aber esbleibt die drückende Frage: Ist das Beharren auf Reflexion und Sich-Besin-nung nicht aporetisch? Auf dieses Problem ist Fichte selbst im Zuge der Er-langer Grundlegung 1805 eingegangen. »Wirklich immer reflektiren, undnichts anderes thun denn reflektiren, können wir weder relativ noch absolut,weil wir ausserdem zu gar nichts pp. Aber die absolute Reflektirbarkeit stehtuns fest, u. diese zu läugnen, wollen wir uns ja nie verleiten lassen. – AusVerzweiflung das Auge zuthun, damit man das verhaßte ewige Leben nichtsehe« (GA II/9, 231). Die Sache der absoluten Reflexion scheint ebenso aus-weglos wie die der relativen Reflexion, die vom vorgestellten Ding auf dasVorstellen der Dinge als Grundoperation des Ich und Genesis des Selbstbe-

1. Abschnitt: Vom Vorrang der ungeschriebenen Lehre 347

wußtseins zurückgeht. Bleibt die Reflektierbarkeit überhaupt unablässig alsGrundoperation in Geltung, so kommt es zu gar nichts, nicht zum Standedes Selbstbewußtseins, nicht zur Realität des Wissens, nicht zum Gedankendes Seins von sich. Das ist schon Fichtes früheste Einsicht. Die Bewegungder Reflexion führe zu nichts; denn sie verlaufe in einen progressus in infi-nitum. Wir seien uns äußerer Objekte nur dadurch bewußt, daß wir uns un-serer selbst bewußt würden. Nun werden wir unserer selbst dadurch be-wußt, daß wir das Subjektive zum Objekt eines reflektierenden Sich-Wis-sens machen, das wiederum nur so zum Bewußtsein kommt, daß es seiner-seits zum Objekt eines Wissens, welches das Sich-Wissen weiß, wird und soiterativ fort ins Unendliche. Immer wieder verwandelt sich das unterstellteSubjektive zum Objektiven. So aber läßt sich das allem Objektwissen vor-ausgesetzte Ich-Subjekt niemals auffinden und mit sich identisch feststellen.

Näher zum Punkte der absoluten Reflektierbarkeit als solche Bedenkender W.L. nova methodo führt die Argumentation, die Fichte im zweiten Bu-che der Bestimmung des Menschen 1800 vorgeführt hatte: Wissen erzeugtimmer nur Wissen; alles Wissen ist Abbilden; der Seinsmodus des Bildseinsist Nichtsein im Sinne des Nicht-Präsentseins dessen selbst, was das Bild nurrepräsentiert. Mithin kommt es in einer Reflexion des Wissens auf sich zueinem sich als Bild bildenden Bilde in gespenstischer, endloser Selbstbespie-gelung des Bewußtseins, in der es keine Grenze, keine Bestimmung, keineRealität gibt. Beide Einsichten in die gespenstische Leere eines Reflektiersys-tems, nämlich haltlose Iteration und leere Selbstbespiegelung, wenden sichnun auch gegen die Aufstellung der absoluten Reflektierbarkeit absolutenWissens. Nichts tun als reflektieren und sich objektivieren führt zu nichts.Andererseits aber muß die absolute Reflektierbarkeit in Geltung bleiben. Esist zu simpel, sie einfach zu leugnen. Dazu will und soll sich eine Philoso-phie auf der Höhe der Wissenschaftslehre nicht verleiten lassen. Dazu wer-den allein Systemgründungen verführt, die das Absolute als Sein an und fürsich denken, ohne auf die Bedingungen des Fürsich- und Gedachtseins zureflektieren. Und dieses Defizit führt dazu, das Absolute zu verdinglichenund seine Lebendigkeit zu ertöten.

Faktisch aber bleibt es doch auf jeder Stufe aufsteigender Einsicht indas Wahre selbst nicht nur möglich, sondern notwendig, sich darauf zubesinnen, daß und wie, nach welchem Verfahren und unter welchen Ge-setzen das Eingesehene Objekt und Projekt unseres sich anschauenden,sich projizierenden und intelligibel intuierenden Sehens ist. Das ist me-thodisch bis zum Ende auszuarbeiten. Sonst bleiben eben die Gesetze und

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Verfahrensweisen, nach denen uns das Gesehene und evident Einleuch-tende entstanden ist, im Dunkel. Und solche Genetisierung gilt auch undgerade für den höchsten uns evident einleuchtenden Gedanken des Abso-luten. Also fordert die absolute Reflexion unerläßlich, sich darauf trans-zendental zu besinnen, unter welchen notwendigen Bedingungen dastranszendentale Absolute als solches da und einsichtig ist. Gleichwohlbleibt das hartnäckige Bedenken: Der Reflexionsstandpunkt scheint dochunhaltbar und ausweglos. Leugnet oder ignoriert man die absolute Reflek-tierbarkeit, so wird das Wissen des Wissens blind. Behauptet man die fort-währende Reflexion auf sich als unerläßlich, dann wird das Wissen leer.Anders, als Widerstreit formuliert: Einerseits muß die absolute Reflektier-barkeit zu Recht nihiliert werden; sonst komme es zum leeren Reflektier-system. Andererseits muß die absolute Reflektierbarkeit zu Recht in Gel-tung bleiben; sonst komme es bloß zu einem blinden, hochfahrenden Spe-kulieren über das sogenannte Absolute.

4. Kapitel: Auflösung des Problems einer absoluten Reflexion. Anzeige des Vorzugs von Fichtes ungeschriebener Lehre

In der Lösung dieses ausweglos scheinenden Widerstreits scheiden sichdie Wege der drei zur Frage stehenden Systemgründungen. So postuliertSchelling eine intellektuelle Anschauung, in welcher sich das sterblicheAuge der Reflexion schließt und das Ewige an sich und nicht mehr nurdas Ewige in uns zu Gesicht kommt. Aber es ist unzulässig, vor dem Fak-tum der absoluten Reflektierbarkeit einfach das sterbliche Auge zu schlie-ßen und ein ewiges Sehen in uns zu postulieren, um das Absolute durcheine überspannte, ingeniöse Intuition beliebig als Unbedingtes und als An-fangsgrund anzusetzen. Und es ist nicht weniger hypertroph, mit Hegeldie Schranken des Selbstbewußtseins aufzuheben und das Absolute im Be-wußtsein zu konstruieren. Diese Operation schneidet im Begreifen des ab-soluten Begriffs jeden Reflexionsbezug ab. Dagegen steht von Anfang derungeschriebenen Lehre Fichtes an das Haupttheorem, das absolute Wissensei nicht das Absolute, sondern dessen Dasein und Existenz. Hier steht einSich-Besinnen auf sich im Konfundierungsverhältnis von absolutem Seinund ichhaftem Wissen im Mittelpunkt.

Dabei ist Fichtes Lösung der Reflexionsaporie limitativ einschränkend.Der Anspruch auf Reflektierbarkeit ist berechtigt und auch faktisch im-mer vollziehbar. Aber er gilt nicht uneingeschränkt. Das absolute Sein

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kommt als Unbegreifliches zur Einsicht, wenn die absolute Reflexion sichso auf sich besinnt, daß sie von ihrem Resultat abstrahiert. Das Sich-Be-sinnen auf sich im Gedanken des Absoluten schließt so eine einschrän-kende Selbstnegation ein. Das macht den Weg frei für die Aussicht auf eineWechselbestimmung von absolutem Sein und absolutem Wissen in derLebendigkeit einer absoluten Repräsentation.

Die Relation der absoluten Reflexion fällt nicht in den Vollzug des abso-luten Besinnens auf sich und in ein Nicht-mehr-Vollziehen der Reflexionauseinander. Es stellt sich in der Einheit eines inversen Repräsentationsver-hältnisses auf, in welchem das reflektierende Wissen einsieht, daß es nur Re-präsentation, nicht aber ein Repräsentierendes ist, das Gott präsentiert.»Nicht das Ich repräsentiert ihn, sondern er selbst repräsentiert sich im Ich«(GA II/9, 249). So faßt die Erlanger Wissenschaftslehre das innere Wesendes Ich als Rückkehr göttlichen Existierens in sich selber auf. Das Ich sei un-mittelbar das ›Als‹ Gottes: »das unmittelbare repraesentans, u. die Repräsen-tation Gottes. Wiederum ist es nur diese Repräsentation Gottes, keineswegesaber Gott selbst« (GA II/9, 249). Das eröffnet eine Wechselbeziehung. Gottoder das absolute Sein, sich selbst effizierende Licht und aus sich lebendeLeben geht in das Anders- und Außersichsein, in die Existenz oder das Da-Sein ichhaften reinen Wissens ein, so daß dieses wesenhaft präsent ist, d.h.unvergänglich lebt. Umgekehrt repräsentiert sich das Absolute im Ich so,daß es selbst im anderen zu sich kommt. In solcher höchsten Wechselbe-stimmung von Sein und Ich wird die an sich leere Reflexionsform lebensvollund das an sich undurchdringliche göttliche Leben hell und bewußt. ImProzeß der absoluten Repräsentation geht das Absolute so in das andere au-ßer ihm – das absolute Wissen, nicht die raum-zeitliche Natur – über, daß esim Anderssein bei sich selber bleibt. Dabei verdankt sich das repräsente Bei-sichbleiben im Anderssein nicht – wie in Hegelscher Logik – der dialekti-schen Werdestruktur der absoluten Idee, sondern der ›Inversion‹ des Reprä-sentanten. Das ist das in sich gekehrte, bei sich wohnende Ich. ›Wohnen‹ alsSein bei sich ist eine Metapher Fichtes für das ›Gekehrtsein des Wissens insich‹.

Diese repräsentative Wohnstätte des Absoluten im Ich bildet den Mit-tel- und Durchströmungspunkt, da Entgegengesetztes zusammentreffenkann. Das so vermittelte Entgegengesetzte ist eben absolutes Leben undabsolutes Wissen, anders gefaßt: das in sich geschlossene Sein und dasFürsichsein des Daseins. Das daseiende Wissen im Schema des in sich ge-kehrten Ich weiß, daß es nur Repräsentant Gottes ist, nicht etwa Explikati-

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on oder Emanation des göttlichen Urquells und Geistes selber. Das wahrtdie Nicht-Identität von Wissen und absolutem Sein. Zugleich aber gewär-tigt sich das Ich als Ort, in welchem das Absolute sich selbst lichtet und re-präsentiert. Das wahrt ursprüngliche Identität von absolutem Wissen undabsolutem Leben.

Also führt das Sich-Besinnen auf sich im Gedanken des Absoluten zueiner Repräsentationseinheit von Identität und Nicht-Identität. Dabeibleibt einerseits die Nicht-Identität in Identität führend, nämlich in derAufspaltung der einen und selben Welt in die Fünffachheit und Vielheitihrer Bewußtseinsformen. Andererseits bleibt die Identität in Nicht-Iden-tität gesichert, nämlich in der vollzogenen Besinnung darauf, daß Gott sel-ber im Leben und Lichte der Ichheit wohnt. Diese Formel einer Identitätvon Identität und Nicht-Identität kommt aus keiner äußerlichen Einmi-schung Hegelscher Einflüsse zustande. Sie ist Resultat Fichtescher Beson-nenheit. »In Summa: Gott selber unmittelbar ist im Ich; u. er ist das Ich;und das Ich ist der gesuchte und unmittelbare Berührungspunkt seinerselbst und seines Existirens« (GA II/9, 249-50).

Diese Wiedereinholung der Position von Fichtes ungeschriebener Leh-re nach Grundsätzen der W.L. 1805 sollte die Leitthese befestigen, FichtesVernunftsystem sei die einzige Vollendungsgestalt des Deutschen Idealis-mus, die im Systemrausch der Jahrhundertwende transzendental beson-nen bleibe. Dagegen hängt an den großen konkurrierenden Systembildun-gen der Makel der ›Nicht-Besinnung‹. So zählt der Schelling des Identi-tätssystems nach Fichtes schneidender Abgrenzung zu jenen »neuerenStümpern im Gebiete der Spekulation, die denken, sie hätten recht absolutgeredet, und man würde rechten Respekt haben, wenn sie das Wort Abso-lut recht oft vorbringen. Diesen Dünkel verdanken sie bloß ihrer Nichtbe-sinnung« (GA II/9, 195). Und das Verdikt der Unbesonnenheit trifft auchdie Spekulation Hegels. Das absolute Wissen nämlich ist, kritisch beson-nen gedacht, gar nicht Äther und Lebendigkeit, Prozeß und Methode desAbsoluten selber, sondern nur repräsentierende Existenz, die sich als sol-che auf die Nicht-Identität in der Identität von Sein und Bild besinnt.

Das mag die Frage nach dem Primat in der Gigantomachie, der Riesen-schlacht um Wahrheit und Sein, um absolutes Wissen und Ich-Reflexionin der Hochzeit des Deutschen Idealismus entscheiden. Drückend aberbleibt die Frage: Hat das alles für unser Zeitalter des Wissenschaftspositi-vismus und des pathologischen Nihilismus mehr als ein antiquarisch-his-torisches Interesse? Dem wäre im Lichte der vollendeten Wissenschafts-

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lehre und in Beachtung kritischer Besonnenheit die Frage entgegenzuhal-ten: Ist unser Zeitalter etwa die Epoche vollendeter Nichtbesinnung underst als solche zureichend philosophisch in Gedanken gefaßt?

2. Abschnitt: Einsichten in das gegenwärtige Zeitalter vollendeter Nicht-Besinnung

Unser Zeitalter ist immer noch durchdrungen und beherrscht vom Geistdes Positivismus und von Geistern des unvollkommenen, pathologischenNihilismus. Beide Weltansichten lassen sich durch eine gemeinsame Ten-denz charakterisieren. Die richtet sich darauf, eine philosophische Besin-nung auf Sein und Einheit des Absoluten abzuschneiden und jedes meta-physische, fundamentalistische ›Gerede‹ dem Sinnlosigkeitsverdacht aus-zusetzen. Das sollte eigentlich eine Not bemerkbar machen, welche eineRestituierung gründlichen Sich-Besinnens – unter den Bedingungenwachsender Seins-, Welt- und Selbstentfremdung – zu wenden hätte. Da-für ist die vollständige Unbesonnenheit in den Methoden des klassisch-so-ziologischen und des logischen Positivismus wie in den Gestalten des pa-thologischen Nihilismus und Antifundamentalismus zur Anzeige zu brin-gen, um eine ganz und gar unzeitgemäße Untersuchung in Gang zu set-zen.

1. Kapitel: Die Besinnungs- und Wahrheitskrise im Geiste des Positivismus

Der Geist des Positivismus im Sinne des großen Methodologen AugusteComte versteht sich als Vollendungsstadium menschlicher Erkenntnis.Dieser Erkenntnisstand ist überzeugt, alle religiösen und metaphysischenBesinnungen auf Gott oder das Absolute unwiederholbar hinter sich zuhaben; denn religiöse Erkenntnis sei fiktiv und metaphysische Erkenntnisabstrakt. Konkret seien allein Erkenntnisse, die sich an das positiv Gegebe-ne und präzise Faßbare unserer Welt halten. Das ist im Zeitalter unbeson-nener Wissenschaftsgläubigkeit allgemeines Bewußtsein geworden: Unse-re Welt ist nichts anderes als das Korrelat der vollendet gedachten positi-ven Einzelwissenschaften. Und es sind die positiven Wissenschaften, wel-che ewigen Frieden unter Menschen zu stiften vermögen – mit der Sozio-logie als ›physique sociale‹ an der Spitze.

Und der logische Positivismus sucht die Verwirrungen einer metaphy-sischen Besinnung auf Sein, Ichheit, Subjekt zu heilen. Er sieht die thera-

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peutische Aufgabe heutigen Philosophierens darin, das Denken strengerpositiver Wissenschaften und deren adäquate sprachliche Ausdrücke vonmetaphysischen Selbstverblendungen und Sprachverwirrungen zu heilen.Das hat Schule gemacht. Das Jahrtausende lang währende Gerede über›Sein‹ und ›Seiendes‹, ›Nichts‹ und ›Gott‹ entstamme einer Verhexung desVerstandes durch die Sprache und ende mit deren Aufklärung. So bedeu-ten die Grundwörter ›Gott‹ oder ›das Absolute‹ nicht mehr als die sinnloseBuchstabenfolge ›babig‹. Aussagen darüber können nicht in Protokoll-,Beobachtungs-, Basissätzen untergebracht werden. Gegen Hegels spekula-tive Logik gewendet: Der ›Gedanke‹ »Das reine Sein und das reine Nichtsist dasselbe« bilde einen Scheinsatz der Art: »Cäsar ist eine Primzahl«. Dieverfehlte Anstrengung des philosophischen Begriffs, Sein und Wesen derDinge auszudrücken anstatt Sinn und Meinung von Sätzen zu klären, falledahin, und zwar nicht darum, weil solche Aufgabe nicht lösbar wäre, son-dern weil es sie überhaupt nicht gibt. Folgerichtig sind auch Sätze wie»Das Sein ist das in sich geschlossene Singulum von Sein und Leben« oder»Absolute Reflexion ist das Sich-Besinnen auf sich im Gedanken des Ab-soluten« dem Sinnlosigkeitsverdacht zu überliefern und als unkontrollier-bar zu beseitigen. Auch die Grundsätze der Wissenschaftslehre seien we-der verifizierbar noch falsifizierbar.

So erscheint wohl gerade auch die spätere Wissenschaftslehre Fichtes inihrer variablen Sinnbildsprache, die vom ›Licht‹ oder ›Gesicht‹ oder der›Sehe‹ eines absoluten Wissens redet und mit ihren merkwürdigen Subs-tantivierungen, die sich sprachlich als das Als, das Durch, das Soll des Soll,das Von des Von ausdrücken, völlig blind gegenüber dem empirischenSinnkriterium und taub gegenüber einer logisch und grammatisch korrek-ten Sprache. Solche Spekulation hebe sich selbst auf. Sie sei ahnungslos,begriffsgefangen gegenüber den semantischen Regeln der Sprache in ih-rem pragmatischen Sinn und uninteressiert daran, in die Analogie vonSprachgebrauch und ›Sprachspiel‹ einzudringen. Näher zugesehen aller-dings hat sich Fichte ausdrücklich gegen solche Berufung auf den gesun-den Menschenverstand und auf die Alltagssprache im Kampf gegen jedeArt Nicolaitischer Verwachsenheit mit sarkastischem Ernst verwahrt. Erhat sehr wohl das Fundierungsverhältnis von Begriff und Wörtersprache,zumal im Achten auf die symbolisch-metaphorischen Operationen derSprache, reflektiert. Vor allem aber: seine ›Spekulation‹ hat sich in allerDeutlichkeit auf die Schranken der Sagbarkeit des Seins im thetischen Satzund attributiven Wort besonnen.

2. Abschnitt: Einsichten in das gegenwärtige Zeitalter 353

Hartnäckig aber fragt der logische Positivismus weiter: Gebricht es ei-nem metaphysischen Wahrheitsverständnis nicht überhaupt an einer Be-sinnung auf Wahrheitskriterien, die sowohl notwendig wie hinreichendsind? Das ist im Lichte der drei führenden Wahrheitstheorien des logi-schen Positivismus – der Konsens-, Diskurs- und Redundanztheorie – we-nigstens stichworthaft zu diskutieren.

Die Wahrheitsdefinition der Konsenstheorie lautet: »Wahrheit ist einGeltungsanspruch, den wir mit Aussagen verbinden, indem wir sie behaup-ten« (J. Habermas, Wahrheitstheorien, 1973, 212). Diese Bestimmung stellt ab-sichtsvoll den Anspruch auf Sein bzw. Wahrsein und Nichtsein bzw. Falsch-sein des Sachverhaltes, über den etwas ausgesagt wird, beiseite. Damit ist diemetaphysische Zweifelsfrage, ob der als wahr behauptete Gegenstand wirk-lich in der Welt ist oder nicht, abgeblendet. Bei einer Wahrheitsbehauptunggeht es definitiv nicht um die Richtigkeit in Urteilen über Gegenstände undobjektive Begebenheiten und damit um deren Bewährung bzw. Entwährungdurch Erfahrung, die sich in Protokollsätzen oder ›sauberen Atomsätzen‹ausspricht und auch durch einzel-ichliche Evidenzgewißheit erhärtet. In derKonsenstheorie geht es allein um die Anerkennung der Geltungsansprüchevon Behauptungen als solchen durch Austausch triftiger Argumente in idea-ler Sprechsituation, der einen Konsens über die Berechtigung von Geltungs-ansprüchen herstellt. Damit schränkt sich das philosophische Wahrheitspro-blem auf die Frage ein: Wie kann der Geltungsanspruch von Wahrheitsbe-hauptungen eingelöst werden?

Ausdrücklicher durchstreicht die Kohärenztheorie die metaphysischenAdäquationsprobleme in der Wahrheitsbestimmung. Das gilt insbesonderefür die neopositivistische Variante im Rahmen des logischen Empirismusund speziell im Gebiete des Physikalismus des Wiener Kreises. Repräsenta-tiv dafür ist die Definition, die Otto Neurath anbietet: »Richtig heißt eineAussage dann, wenn man sie eingliedern kann. Was man nicht eingliedernkann, wird als unrichtig abgelehnt« (Physikalismus, 1931, 403). Der Prüfsteinfür Wahrheit ist die Kohärenz (Eingliederbarkeit) aufgrund der Konsistenz(Widerspruchsfreiheit), Systemkonformität (Kompatibilität mit einem Ge-samtzusammenhang) und Komprehensität (Passen in eine umfassende, an-geschlossene Einheit). Damit scheidet jede Korrespondenzproblematik aus,welche das Übereinstimmungs- und Entsprechungsverhältnis von Aussageund Tatsache (dem positiven Sachverhalt an sich) betrifft. Zur Frage stehtallein die Zusammenstimmung verträglicher bzw. unverträglicher Aussagenin Durchformung wissenschaftlicher Aussagesysteme. Die metaphysikabsti-

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nente Folgerung ist radikal. Alle Wahrheitstheorien außer der Kohärenzhy-pothese sind Metaphysik. Metaphysik ist sinnlos. Also sind sie samt undsonders ohne Sinn.

Noch radikaler im Angriff auf die Feindbegriffe ›Metaphysik‹, ›Spekula-tion‹, ›Idealismus‹ ist die Redundanztheorie. Die Initialthese von F. P.Ramsay 1927 lautet: »Es gibt in Wirklichkeit kein gesondertes Wahrheitspro-blem, sondern nur eine sprachliche Verwirrung (linguistic muddle)« (Facts16). Das wird 1970 durch das einflußreiche Werk von A. J. Ayer über Sprache,Wahrheit, Logik bestätigt. »In allen Sätzen der Art ›p ist wahr‹ ist die Wen-dung ›ist wahr‹ logisch überflüssig« (16). Festgestellt wird, daß die metaphy-sische Aussage »Es ist wahr« keine inhaltliche Weiterung ergibt, sondernsprachanalytisch einen bloß stilistischen Zusatz darstellt, welcher der Aussa-ge pathetisch oder argumentativ Nachdruck verleihen will. Für das Ausge-sagte selbst ist der Zusatz »ist wahr« redundant.

Das alles läuft auf dieselbe Konsequenz heraus: Die philosophische,transzendentale, spekulative Frage nach Sein und Wahrsein ist schief.Sprachanalytisch umgestellt darf sie nur lauten: Was ergibt die Analyse desSatzes »p ist wahr«? Diese Wende kehrt sich von einer Ersten Philosophie,welche nach dem Wissen des Seins und dem Primat des Wahrseins sucht,ab. Es gebe solches Wahrheitsproblem tatsächlich nicht.

Angesichts dieser Präzisierung legt sich die Frage nahe: Fällt der Ein-wand nicht auf den logischen Positivismus zurück? Der klammert sich anontisch überprüfbare, logisch konkrete Aussagen, ohne sich auf jene onto-logischen Grundsätze und apriorischen Wissensbedingungen zu besinnen,die seiner eigenen Position zuvor- und zugrundeliegen. Stattdessen ver-steift sich seine kritische Intention darauf, ihnen zuvorliegende Grundbe-griffe wie Wissen, Ich, Gegenstand von ihrem angeblich leeren Sprachge-brauch wieder auf ihre alltägliche Verwendung zurückzuführen. Das istTherapie ohne zureichende Diagnose. Sie trachtet eben danach, unserZeitalter endlich von jenen Problemverwirrungen zu heilen, die entstehen,wenn die Alltagssprache feiert (vgl. Wittgenstein: PU 116). Wie aber, wenndadurch eine transzendental besonnene Ursprungsforschung in der Wur-zel abgeschnitten, präzisiert wurde? Wird einer Wissenschaft vom reinenWissen damit nicht einfach die Zunge abgeschnitten, die nicht in der All-tagssprache des gesunden Menschenverstandes, sondern in einer selbstkri-tischen Sprache reiner, apriorischer Begriffskonstruktionen spricht? Wirdam Ende nicht der Mensch in seiner Vernunftnatur als ein metaphysischesWesen, das sich einzigartig auf Wahrheit und Sein versteht, verstümmelt?

2. Abschnitt: Einsichten in das gegenwärtige Zeitalter 355

Und wie steht es heute, da wir das merkwürdige Schauspiel einer Zeitohne Metaphysik erleben, die positivistisch wissenschaftsgläubig, meta-physikfeindlich, autoritätskritisch im Zustande halber Aufklärung ver-harrt, mit der Aufgabe der Philosophie, das Wahre als das Bleibende zu er-fassen und das wahrhaft Erfaßte auf das Leben anzuwenden? Wie, wennfür diesen Zeitgeist vollendeter Nichtbesinnung eine Besinnung aufGrundfragen der Menschheit in der Klarheit und mit der Energie der un-geschriebenen Lehre Fichtes doch und durchaus heilsam wäre?

2. Kapitel: Philosophische Besonnenheit wider die Idealismuskritik despathologischen Nihilismus. Eine unzeitgemäße Betrachtung

Offenkundig lassen sich der soziologische, erkenntniskritische Positivis-mus wie der logische Positivismus und Neopositivismus, so vielseitig sichdiese Strömung auch entfaltet hat, als eine Erscheinungsform des unvoll-kommenen Nihilismus verstehen; denn sie wertet alle platonisch-christli-chen Werte nur partiell um. Zwar werden der christliche Platonismus unddie von Descartes ausgehende Metaphysik des Idealismus grundsätzlichabgewertet, unvermerkt jedoch und ohne sich darauf zu besinnen, werdenzahlreiche überkommene Werte durchaus verwertet. Die polemischeEnergie solch partieller Umwertung nährt sich von einem ›pathologischenNihilismus‹. Nietzsche hat dessen Heraufkunft in Europa als beherrschen-des Ereignis unserer Jahrhunderte diagnostiziert. Danach ist der patholo-gische Nihilismus krankhaft unbesonnen. Er ist geradezu darauf fixiert,das System idealistischer Selbstbesinnung als Lug und Trug zu entlarven.Es ist solch krankhafte Fixierung, die den Wahrsagegeist Nietzsches ver-stört, verrückt und zerstört hat.

So wird vor allem das Ich-Subjekt des neuzeitlichen Idealismus als le-bensdienliche Fiktion destruiert, die dem Lebe- und Leibwesen Mensch,dem listigsten Tier, hilft, das endlose, zweck-, ziel-, ideen-, seinslose Wer-den zu bestehen. Präzisierende, die Ideenmetaphysik in ihrer Wurzel ab-schneidende Nihilisten erklären: »Wir haben nicht das geringste Recht, einJenseits oder ein Ansich der Dinge anzusetzen, das ›göttlich‹, das leibhafteMoral sei« (Nachgelassene Fragmente 1877; KSA 12, 571). Damit fallen dieIdeen Wahrheit, die Wahrheit als Übereinstimmung von Idee und Ding,ebenso fort wie ein apriorisches Sittengesetz oder der christliche Jenseits-glaube. Nicht zuletzt verschwindet Gott oder das absolute Sein und Leben.Die Fiktion ist abgeschafft, daß Gott die Wahrheit und die Wahrheit gött-

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lich sei. Gott ist für uns tot. »Was geht uns Gott, der Glaube an Gott nochan! ›Gott‹ heut bloß ein verblichenes Wort, nicht einmal mehr einBegriff!« (Nachgelassene Fragmente 1887; KSA 12, 346). Aber dieser An-schlag Nietzsches auf die Prinzipien des Idealismus ist im Lichte der voll-endeten Wissenschaftslehre dreifach zu entkräften.

Nietzsche will berichtigen. Das Subjekt im Sinne des cogito (me cogita-re), des Ich-denke, des Ich=Ich sei gar nichts Gewisses und unmittelbarEvidentes, sondern etwas Hinzugedichtetes und Dahintergestecktes. Esfolge unserer grammatischen Gewöhnung, zu einem Tun einen Täter zusetzen. Wir werden Gott nicht los, weil wir an die Grammatik glauben. –In der Tat: Das ›Subjekt‹ ist kein Tätiges, das als substantia cogitans hinterdem Tun des Vorstellens steckt. Mit der Abwehr der Cartesianischen Fol-gerung ›Es wird gedacht, folglich gibt es ein Denkendes‹ aber beginntnicht eine nihilistische Antimetaphysik, sondern die Wissenschaftslehreder Tathandlung. Und diese vollendet sich im Aufstieg zur absolut aktuo-sen Quelle von Licht und Leben, zu Gott als dem esse in mero actu und alsdem unbegreiflich Unsagbaren, da der Glaube an die Grammatik in Besin-nung auf das thetische Urteil ›Ich bin‹ aufgekündigt ist. Nietzsche kommtzu spät.

Nietzsche will entlarven. Das ›Ich-Subjekt‹ sei wohl notwendige Bedin-gung für die Möglichkeit gegenständlicher Erkenntnis, gegenständlicheErkenntnis aber sei ihrerseits notwendig für die Möglichkeit der Selbstbe-hauptung einer bestimmten Lebewesenart, des Menschen. – In der Tat, dasIch-denke ermöglicht objektive Erkenntnis, aber nicht, weil es dem leib-haften Lebewesen Mensch eine Überlebenschance gibt, sondern weil dieGesetze der Ichhandlungen in eins Gesetze der Dinge als Erscheinungensind und weil die Welt gar nicht Andrang des sinn- und zwecklosen Wer-dens an sich, sondern sinnbegabte Schöpfung unseres ichhaften Da-Seinsund, zu Ende gedacht, Versichtbarung des göttlichen Seins ist. Nietzschehat den Gedanken der transzendentalen Deduktion nicht durchdrungenund den Schematismus der vollendeten Weltkonstitution im Elemente rei-nen Wissens als dem einzig-einen Dasein des Seins – wie alle seine Zeitge-nossen – gar nicht gekannt.

Nietzsche will umwerten. Das sich wissende und wollende Ich sei nichtautonomer Freiheitsgrund, sondern Ausdruck des Lebens. Erkenntnis undSelbsterkenntnis arbeiten überhaupt nicht um einer theoretischen Wahr-heit willen, sie seien Werkzeuge der Macht und Organe eines Willens, derdie Beständigung des Werdens will, um seiner selbst mächtig zu werden.

2. Abschnitt: Einsichten in das gegenwärtige Zeitalter 357

Dieser Wille zur Macht und nichts anderes sei das Wesen des Lebensselbst. – In der Tat, das Streben des Ich-Subjekts ist Ausdruck des Lebens,aber gerade nicht als Vielheit von Trieben, die unaufhörlich dazu antrei-ben, die Werdewelt zu bewältigen, um sie einem sich selbst ermächtigen-den Willen verfügbar zu machen. Der Wille als interpersonaler, geistig-sittlicher Aktvollzug weiß, daß er das werden soll, was er immer schonwar, nämlich Dasein göttlichen Lebens. Nietzsches radikale Umwertungvon Subjektivität und Leben ist blind. Im Grunde manifestiert sich in ihr,mit Kierkegaard zu reden, eine Verzweiflung des Trotzes. Die weigert sichim Trotz des Übermenschen gegen Gott und wider die ›Hinterwelt‹ derIdeen, sich auf das Ursprungsverhältnis von göttlichem Leben undmenschlichem Dasein zu besinnen.

Solche Verweigerung kennzeichnet wohl auch den Antifundamentalis-mus, welcher Fundamentalwissenschaften im Stile Descartes’ oder Kants alsFlucht aus der Geschichte in ein zeitloses System a priori eruierbarer Bedin-gungen jeglicher menschlichen Erkenntnis destruiert (vgl. Rorty: Philosophyand the Mirror of Nature, 1979). Und gegenwärtig verbreitete Wendungengegen eine ›Letztbegründung‹ erklären, es sei weder möglich noch gar not-wendig, unsere alltägliche Erfahrung auf ein vernunftbestimmtes ErstesPrinzip zurückzuführen und daraus zu begründen. Indessen, solche Annihi-lierungen lassen sich im Ernst auf den transzendentalen Gedanken, gar inder Durchdrungenheit und Ausgestaltung von Fichtes ungeschriebenerLehre, gar nicht ein. Und doch ist da die Spiegelmetaphorik des Bewußt-seins aufgehoben, und die Prinzipien der Ersten Philosophie sind durchausauf die Geschichtlichkeit unseres Lebens in Anwendung gebracht.2

Alles in allem dürfte es kaum überflüssig und anachronistisch sein,unser Zeitalter des wissenschaftsgläubigen Positivismus und des unvoll-kommenen, pathologischen Nihilismus als Zeitalter philosophischerNichtbesinnung zu überdenken und den Weg eines transzendentalen

2 Vgl. den programmatischen Beitrag von D. Breazeale: Zurück zur Zukunft. Über dieRelevanz der Wissenschaftslehre für das Einundzwanzigste Jahrhundert, 2000, dersich mit dem anglo-amerikanischen Antifundamentalismus auseinandersetzt. – M.Gerten: Fichtes Wissenschaftslehre vor der aktuellen Diskussion um die Letztbegrün-dung, 2000; da wird Fichtes Systemgedanke als ein tieferer und konsequentererGrundansatz in der Diskussion um die Letztbegründung zwischen dem Kritischen-Rationalismus (K. Popper, H. Albert) und der Transzendentalpragmatik (K. O. Apel,W. Kuhlmann) eingebracht.

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Transzensus zum Ursprunge von Wahrheit, Einheit und Sein wieder be-gehbar zu machen. Dafür ist nicht nur eine philosophiegeschichtlicheWiedereinholung des Idealismus im Stadium seiner dreifachen Vollen-dung förderlich, es legt sich eine systematische Anknüpfung an jene Aus-arbeitung des Vernunftsystems nahe, welche als einzige die kritische Be-sonnenheit vorzüglich in vollendeter Reflexion wahrt. Solchen Ansatzenergisch weiterzudenken, stellt eine wahrhaft unzeitgemäße Untersu-chung in Aussicht: die Ergründung unserer Weltentfremdung (Rousseau –Marx), der Weltentzauberung (Max Weber), der Weltentgötterung (durchunser gottloses, dankloses Geschlecht: Hölderlin), der Entstellung der Erdeim ›Gestell‹ moderner Technik (Heidegger) als Symptome philosophi-scher Nichtbesinnung. Wie nämlich steht es, wenn der Grundzug unseresgegenwärtigen, vom Sein verlassenen, gottverlassenen Zeitalters philoso-phische Nichtbesinnung wäre? Stünde dann nicht die weiterführende Auf-nahme jener geistigen, wissenschaftlichen Grundlegung des reinen Wis-sens von Sein und Erscheinung, Gott und Welt, Wahrheit und Schein, Ein-heit und Vielheit auf der Tagesordnung, welche ganz und gar bei tran-szendental-kritischer Besonnenheit bleibt? Jedenfalls hat Fichte noch amEnde, im Frühjahr 1813, das radikale Sich-Besinnen als bleibender Zustandunseres philosophischen Wissens der Wahrheit gegen alle pseudowissen-schaftlichen Weltanschauungen der Nichtbesinnung eingefordert. »Für dieWissenschaftslehre ist dagegen die Besonnenheit [...] der eigentliche – derEine und der bleibende Zustand« (NW II 3).

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NamenverzeichnisArendt, H...........................................218, 361Aristoteles....3, 98, 110, 126, 136, 137, 141, 145,

285, 332, 334Aschenbach, R...................................153, 361Asmuth, Ch.. 52, 180, 196, 360, 361, 362, 366,

368, 369Ayer, A. J.............................................354, 361Bardili, Ch. G..........24, 46, 175, 257, 258, 339Barth, R..............................................288, 361Baum, M................................63, 152, 167, 362Baumanns, P................102, 162, 176, 310, 362Baumgardt, D...................................249, 362Baumgartner, M...............360, 362, 369, 370Becker, H. J................................................219Behler, E....................................................360Beißner, F...................................................359Bergmann, E......................................217, 362Beyme, K. F.................................................75Biemel, W.............................................15, 362Bladel, L. van.................................70, 73, 362Boehme, J..................................................362Brachtendorf, J...................253, 255, 256, 362Breazeale, D........................................357, 362Brentano, F. von............................................3Brown, R. F. ................................................74Brüggen, M........................................257, 362Bubner, R..................................................369Buchner, H...............................................360Colli, G......................................................360Comte, A................................................4, 351Danz, Ch.......................................34, 197, 362Denker, A.....................................74, 360, 362Descartes, R........108, 126, 129, 275, 285, 325,

344, 355, 357, 366Dietzsch, St................................360, 363, 365Dilthey, W......................................................7Dostojewski, F..........................................366Drechsler, J................................................362

Düsing, K...................................142, 273, 363Ehrhardt, W. E.......................................2, 363Eichner, H.................................................360Erdmann, J. E.....................................233, 363Eschenmayer, C. A...............45, 58, 59, 61, 76Eucken, R............................................217, 363Falk, P.........................................256, 302, 363Feick, H.....................................................359Fichte, I. H...........................................75, 359Fink, E..........................................156, 157, 363Fischer, K................................58, 115, 174, 363Fleischer, M.......................................285, 363Frigo, G. F..........................................360, 363Fuchs, E.......179, 216, 219, 359, 360, 362, 363,

365, 366, 370Fuhrmans, H........31, 70, 88, 93, 94, 360, 363Fulda, H. F............118, 126, 360, 363, 365, 367Gawoll, H.-J................................129, 159, 359Gerhardt, C. J............................................359Gerten, M..................................................363Gilli, F.........................................................337Giordano Bruno........................................62Girndt, H....................................191, 259, 363Gliwitzky, H..............................................359Glockner, H............................7, 122, 363, 364Gloy, K........................................195, 363, 364Goethe, J. W. von........................56, 249, 369Görland, I............................................26, 364Götze, M.............................................361, 363Grätzel, St..................................................366Greiling, J. Ch...........................................180Gueroult, M..........................61, 162, 257, 364Gurwitsch, G............................................364Habermas, J.......................................353, 364Haering, Th.......................................116, 364Hammacher, K....179, 221, 247, 359, 361, 364,

366, 367, 369Hartmann, E. von..............................90, 364

372 Namenverzeichnis

Haym, R.....................................236, 237, 364Heidegger, M...3, 5, 8, 13, 14, 15, 98, 206, 226,

340, 358, 359, 361, 362, 364, 369Heimsoeth, H........................93, 94, 223, 364Heinrichs, J.........................221, 228, 259, 364Heintel, E...................................................359Hennigfeld, J...........................58, 76, 90, 364Henrich, D.. 136, 344, 360, 361, 362, 363, 364,

367Herder, J. G................................249, 341, 359Herrmann, F.-W. von .................14, 359, 364Heuser-Keßler, M.-L..........................57, 364Hitler, A.....................................................218Höffe, O.............................................361, 369Hoffmeister, J............................................359Hölderlin, F.......2, 35, 38, 61, 98, 251, 358, 359Horstmann, R.-P......................................369Hösle, V................................................13, 364Hühn, L......................................106, 364, 365Hülsen, A. W.............................................180Hyppolite, J.........................................112, 365Ivaldo, M. 23, 179, 216, 219, 222, 247, 297, 337,

359, 360, 362, 363, 365, 366, 370Ivanenko, A. A...................................247, 365Jacobi, F. H..24, 29, 62, 154, 162, 175, 177, 201,

247, 249, 252, 257, 273, 277, 298, 339, 340,344, 359, 361, 369, 370

Jacobs, W. G........239, 360, 362, 365, 369, 370Kotzebue, A. von.......................................183Luden, H.............................................181, 184Mehmel, G. E. A........................................182Niethammer, F. I........181, 239, 360, 362, 365,

369, 370Jaeschke, W.........................359, 361, 365, 370Jain, E........................................................366Janke, W.... .7, 84, 139, 164, 170, 201, 250, 254,

257, 261, 280, 365Jean Paul, d. i. J. P. F. Richter...............29, 44Jürgensen, S........................................48, 366Kant, I....3, 4, 5, 7, 8, 9, 10, 12, 13, 15, 19, 23, 25,

30, 59, 60, 75, 83, 85, 87, 91, 96, 97, 98,103, 104, 105, 119, 124, 126, 128, 132, 133,138, 141, 142, 152, 154, 155, 156, 157, 158,159, 162, 163, 166, 180, 181, 182, 188, 195,225, 227, 230, 232, 239, 246, 247, 248, 249,

250, 252, 262, 263, 266, 277, 282, 285, 289,295, 296, 297, 306, 310, 320, 322, 324, 331,332, 335, 343, 344, 357, 359, 361, 362, 363,364, 366, 367, 369

Kierkegaard, S.....6, 18, 109, 111, 136, 139, 147,150, 280, 357, 365, 369

Klein, H.-D................................................363Knittermeyer, H.........................................93Kodalle, K.-M............................217, 222, 366Koktanek, A. M.................................361, 362Köppen, F..................................................359Krings.......................................................360Kroner, R......................................13, 162, 366Krug, T........................................195, 250, 295Kumamoto, Ch.................................261, 366Kumamoto, Y.....................................337, 366Land, J. P. W.. 132, 135, 189, 216, 219, 228, 360,

366Lasson, G...................................................359Lauth, R........ 26, 36, 46, 58, 78, 182, 188, 216,

221, 223, 229, 231, 247, 258, 259, 318, 319,359, 366

Leese, K...............................................94, 366Leibniz, G. W.. . .51, 74, 85, 102, 203, 238, 244,

252, 329, 359Lenin, W. I...............................4, 155, 156, 359Leyser Brogi, J...........................................219Loewe, J. H................................................366Lübbe, H............................................216, 366Lucas, H.-Ch......................................361, 363Luden, H...................................................186Lütterfelds, W....................................284, 367Marheineke, Ph. K.....................................86Marquard, O.....................................160, 367Marx, K.......6, 18, 366, 109, 155, 156, 278, 358Marx, W. ............................................122, 367Meckenstock, G.................................257, 367Medicus, F.................................................367Meier, F................................................26, 367Mendlewitsch, D...............................218, 367Menzer, P............................................218, 367Metz, W..............................................221, 367Michel, K. M.............................................359Minobe, H.........................................272, 367Moldenhauer, E........................................359

Namenverzeichnis 373

Montinari, M............................................360Moretto, G.........................................179, 360Mues, A.........179, 361, 362, 365, 366, 367, 369Nagasawa, K..............................324, 359, 367Natorp, P.............................................217, 367Neurath, O.........................................353, 367Neuser, W.............................................55, 367Nicolai, F.....21, 27, 28, 29, 85, 86, 87, 177, 179,

339, 352, 360Niethammer, F. I.................................38, 180Nietzsche, F..3, 4, 5, 6, 8, 18, 111, 156, 285, 355,

356, 357, 360Nordalm, J..........................................217, 367Novalis, d. i. F. von Hardenberg....2, 61, 201,

216Oesterreich, P. L.................176, 228, 231, 367Oiserman, T.......................................155, 367Okada, K.............................................30, 367Omine, A...........................................272, 367Paulus, H. E. G............................................88Pesch, R..............................................218, 367Philonenko, A.....................................61, 367Pieper, A....................................................361Platon.3, 4, 6, 12, 48, 49, 51, 58, 61, 62, 63, 64,

65, 66, 69, 70, 74, 75, 83, 84, 86, 91, 104,110, 126, 142, 145, 177, 227, 232, 244, 250,256, 261, 262, 264, 269, 284, 285, 294,296, 316, 355, 366

Pöggeler, O........................7, 116, 118, 361, 367Radrizzani, I.....................................220, 368Rametta, G........................................295, 368Reinhold, C. L.....24, 25, 46, 63, 175, 257, 258,

339, 360Rockmore, T.......................................98, 368Rorty, R..............................................357, 368Rosenau, H........................................279, 368Roth, F........................................................359Rothermel, O....................................206, 368Rousseau, J. J..............................224, 358, 365Salat, J........................................................196Sandkaulen, B...............30, 252, 361, 368, 370Schad, J. B.........................................27, 28, 29Schelling, K. F. A......................................360Schieche, W...............................................359Schlegel, A. W...............................................2

Schlegel, F.....2, 8, 28, 29, 61, 70, 72, 196, 201,204, 205, 206, 360, 368, 370

Schlösser, U................................257, 290, 368Schmidt, J...........................................136, 368Schmied-Kowarzik, W......................193, 368Schopenhauer, A......................6, 89, 90, 364Schottky, R.........................................179, 359Schrader-Klebert, K.........................150, 368Schrader, W. H....................179, 216, 359, 368Schröter, M........................................360, 361Schulte, G...........................................325, 368Schulz, W..........31, 33, 34, 88, 93, 94, 359, 368Schurr, A...............................................11, 368Schüßler, I.....................................6, 259, 368Sell, A..................................................171, 368Seubert, H..........................................361, 369Siemek, M. J................................................30Siep, L.........................................257, 259, 369Sombart, W........................................217, 369Spinoza, B.. .8, 10, 12, 23, 25, 28, 32, 33, 45, 47,

48, 49, 50, 57, 74, 75, 79, 93, 123, 126, 145,169, 170, 200, 201, 230, 232, 241, 245, 246,247, 248, 249, 250, 251, 252, 253, 254, 255,260, 272, 294, 295, 299, 310, 317, 324, 342,346, 360, 361, 362, 364, 365, 366, 368, 369,370

Stolzenberg, J.................................14, 61, 369Strube, C......................................14, 359, 369Theunissen, M...................................153, 369Thulstrup, N......................................139, 369Tilliette, X...........................18, 46, 61, 95, 369Timm, H....................................201, 249, 369Traub, H......176, 179, 196, 220, 231, 258, 360,

367, 369Treitschke, H. von............................216, 360Trendelenburg, A........136, 137, 138, 139, 140,

360, 368Tugendhat, E.....................................138, 369Vater, M...........66, 69, 99, 216, 228, 342, 360Vaysse, J.-M........................................98, 369Verweyen, H.....................................196, 369Vetö, M................................................96, 369Vloten, J. van............................................360Volkmann-Schluck, K. H....90, 113, 122, 369Vos, L. de............................................129, 370

374 Namenverzeichnis

Wagner, R..................................................5, 6Walther, M.................................361, 364, 365Widmann, J...........................36, 257, 281, 370Wieland, W........................................138, 370Wild, Ch..............................................26, 370Willms, B...........................................227, 370Wimmershoff, H................................70, 370Windelband, W.................................174, 370

Wittgenstein, L.................................354, 360Wundt, M.....................................84, 237, 370Wundt, W...........................................174, 236Zeltner, H...........................48, 55, 58, 96, 370Zimmerli, W. Ch..........................57, 367, 370Zimmermann, R. E.............................57, 370Zöller, G.......................................23, 247, 370