WOCHENENDEZuschlag+für... · 2017. 3. 8. · U53 %(F aUrntUB^: August 1970 Nr. 353 (Fe(Feruausgabc...

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U53 %(F aUrntUB^: August 1970 Nr. 353 (Fe (Feruausgabc Nr. 210) WOCHENENDE Slcue 3iirdjcr Leitung Kein Zuschlag für Zimmer mit Kerze oe. Herr de Conty mußte in der Schweiz vor allem nachts sehr unangenehme Erfahrungen gemacht haben. Er ließ dies seine Leser in seinem Reiseführer «Les Vosges en poche» deutlich wis- sen: er lobte die Gasthöfe in den Vogesen, weil der Reisende in den Fremdenzimmern zwar keine Louis-XV-Möbel, aber gute Bet- ten mit genügend breiten Leintüchern fände. Dies zu vernehmen werde besonders die Leute erfreuen, die schon die Schweiz und Deutschland bereist hätten. Auch herrsche in diesen einfachen, sauberen Häusern noch das wahre Familienleben , das es in der Schweiz und an den Ufern des Rheins nicht mehr gebe. Als weiteren Vorzug in den offenbar noch unverdorbenen Vogesen führte de Conty an, daß dort das Kerzengeld in den Hotels fast unbekannt sei, gegen das er in Reiseführern über andere Gebiete schon so oft protestiert habe. Der Fremde mußte damals meist einen Zuschlag entrichten, wenn er nicht im Fin- stern zu Bett gehen wollte. In den Vogesen bezahlte der Gast nach de Contys Angaben das Trinkgeld freiwillig. Immerhin machte der Reiseführer darauf aufmerksam, «daß die dicken Mädchen mit den fröhlichen Gesichtern .. . außer dem Trinkgeld» keinen Franc verdienten. «Donnez, et vous serez considere», hoißt es zum Abschluß dieses Themas. Der Reiseführer nahm seinem Publikum das von manchen so gefürchtete Studium des Fahrplanes ab. Er gab bei jedem wich- tigeren Ort an, mit welchem Zug er von Paris aus am besten zu erreichen sei. (Andere Menschen als die Pariser reisten nach de Contys Meinung vermutlich nicht.) Man fuhr damals mit r"om Expreß von Paris in 11 Stunden 10 Minuten nach ßains-les-Bains und in 15 Stunden 31 Minuten nach Contrexeville. Nach dem Reisevorschlag de Contys übernachtete man allerdings auf dem Weg von der Metropole in die Vogesen zweimal, in Langres und in Beifort, um sich nicht allzusehr anzustrengen. All dies zeigt, daß es sich hier um einen Reiseführer des 19. Jahrhunderts han- deln muß. Abgesehen von amüsanten Vignetten ist der Guide überaus sachlich. Nur bei der Behandlung von Radekurorten mit beson- ders glanzvoller Vergangenheit holte de v_. eit aus. So emp- fahl er Plombiere mit der Bemerkung, es häti schon Stanislaus Lesczinski begeistert; ihm, dem König von Polen und Herzog von Burgund, seien Vergrößerung und Verschönerung des Bades zu verdanken. Zweimal, 1761 und 1762, verbrachte der französische Hof den Sommer in dem heute bescheideneren Vogesenort. Später beehrte Kaiserin Josephine Plombieres mit ihrem Besuch, und Napoleon III. hatte dafür eine außerordentliche Vorliebe. Das Jahr, in dem der Reiseführer erschien, steht nicht ver- merkt. Es muß jedenfalls nach dem Krieg von 1870/71 und dem Verlust von Elsaß-Lothringen gewesen sein. Im ansehnlich gro- ßen Reklameteil inserierte nämlich eine patriotische Firma, die sich beziehungsvoll, die Revanche beschwörend, «Aux armes Alsace-Lorraine» nannte. Sie empfahl übrigens ihre Windmühlen, die jedem Sturm trotzten. Die Firma Chevet, die Comestibles, Wein und ganze Mahlzeiten ins Haus lieferte, bildete in ihrem Inserat einen Küchenjungen ab, der von der «gloire» träumte, einmal bei Chevet arbeiten zu dürfen. Eugene Godard senior hingegen bot an, in Frankreich oder im Ausland Ballonfahrten für allgemein- öffentliche oder aber für wissenschaftliche Zwecke zu unterneh- men. Er stellte Ballone auch selbst her. Ferner war er bereit, die offenbar besonders heiklen Verhandlungen zwischen den Ballon- fahrern und den Behörden zu übernehmen. Apropos Die Menschheit besteht aus zweierlei Arten Es gibt heutzutage sehr, sehr viele Menschen auf unserer Erde. Und trotzdem lassen sie sich noch immer einfach in zwei Arten gruppieren. Das wäre in erster Linie in Frauen und Männer; die neue Mode trübt einem hier manchmal etwas den Blick, aber ändert nicht sehr viel an den naturgegebenen Tatsachen. Dann können wir unterteilen in Raucher und Nichtraucher, Abstinenten und Trinker, Reiche und Arme, Fette und Magere, Hunde- und Katzenliebhaber, Fromme und Sündige, Ehrliche und Lumpen- pack, Alte und Junge. Boshafte unterscheiden auch zwischen Men- schen und Baslern oder Menschen und Psychiatern. Dies ist aber unfein, man darf füglich Basler wie auch Psychiater zu den Men- schen zählen. Bemerkenswert ist der Unterschied zwischen Gescheiten und Dummen. Die Gescheiten erkennt man an ihrer größeren und tieferen Bildung. Sagt man beispielsweise: «Youngs Buch über die Anden finde ich .. .», wird man von der Dame linkerhand berichtigt, daß Jung nie und niemals ein Buch über die Anden geschrieben habe. Und will man die lustige Geschichte vom Missionar erzählen, der im Kochkessel der Kannibalen schmort, so wird man von seinem Gegenüber belehrt, daß es a) heutzutage keine Kannibalen mehr gebe (Verbot der belgischen Regierung gegen das Essen von Menschenfleisch vom 14. April soundso) und b) es eine irr- tümliche Meinung sei, man habe die Menschen zu Zeiten des Kannibalismus in Kesseln gekocht. Dann gibt es die konsequenten und die inkonsequenten Leute. Die Konsequenten .sind die, welche mit spitzen Fingern Schnur- knoten und Maschen lösen, wenn sie irgendein Päckchen öffnen. Sie weisen Schere und Messer kurzerhand zurück, und selbst wenn alle Fingernägel brechen, haben sie für Alexander des Großen knotenzersäbelnde Tat nur Verachtung. Dann gibt es die unwissenden Leute und im Gegensatz zu ihnen diejenigen, die alles wissen: «Ich habe es ja gewußt» oder «ich wußte, daß es so herauskommen wird». Man sieht, die Unterteilung der Menschen nach ihren Arten ist nicht schwierig, es fragt sich lediglich, was einem diese Gruppierung eigentlich nützt. Denn schließlich sind die einen so und die andern, die sind anders. Ren4 sjmtnen Nebenbei Das Riesenei auf hoher See cat. In Tazacorte, auf der einsame n Insel La Palma, traf kürz- lich eine seltsame Expedition ein. Nicht ganz unerwartet, denn schon Tage zuvor hatte das «Huevo Navegante», das schwimmende Ei des Berner Plastikers Herbert Distel, Schlagzeilen für die kana- lische Presse geliefert. Seit dem berühmten Ei des Kolumbus war kaum von einem anderen Ei so viel die Rede gewesen wie von dem schwimmenden Riesenei aus Polyester des Berner Künstlers, das für sine Ueberquerung des Atlantiks bestimmt worden war. Ais Ste tort für die Reise war vom Deutschen Seewetteramt das verschlafene Fischerdorf Puerto de Tazacorte ausgewählt worden, da der Kanarenstrom, dem man das Ei anvertrauen wollte, in un- mittelbarer Nähe der Insel vorbeiführt und den Nordwestpassat- winden dort keine weiteren Hindernisse in Form von Inseln im Weg stehen. Am Morgen verließen wir mit einer kleinen Fisdierflolle und dem Ei in Schlepptau den Hafen. Ueber eine Stunde tuckerten wir in Richtung Westen auf die offene, tiefblaue See hinaus. Ein Filmteam hielt die Szene von einem anderen Boot aus im Bild fest. In einem weiteren Schiff folgten eine Reihe spanischer Persön- lichkeiten, der Bürgermeister von Tazacorte, der Sekretär des Inseladministrators, ein hoher Zollbeamter, ein Vertreter des Mili- tärs sowie spanische Presseleute. Wir gaben dem Fischer das Zeichen, den Motor abzustellen. Das Ei wurde herangezogen und der Auslösemechanismus der Kamera, die zu einem Guckloch heraus während der Reise alle 20 Minuten eine Aufnahme nte$h.«tt" wird, kontrollier^ Dann? gab Herbert Distel mit einem kräftigen Stoß sein Ei frei. Schaukelnd löste es sich von der Bordwand, umrahmt von Wasser, Wellen, Himmel und Wolken. Eine Skulptur brach auf, nicht nur um als erstes Kunstwerk im Dienste der Wissenschaft den Atlantik zu überqueren, sondern auch um für einmal den engen Raum des Das Riesenei wird von einem F/sc/ierboo/ aufs ofiene Meer hinausgezogen. Museums zu sprengen. Wir schauten, wie das Ei immer kleiner und kleiner wurde und zuletzt unseren Augen ganz entschwand. Vielleicht wird es später wieder irgendwo auftauchen, möglicher- weise wird es das ihm vorf Wissenschaftern gesteckte Ziel, die Karibischen Inseln, erreichen, später in New York versteigert werden und doch wieder in einem Museum landen. Mode Versteckspiel mit den Beinen sz. Die achtzig Prozent jener Männer, die sich laut Umfrage für den Mini- und gegen den Midilook ausgesprochen haben und jetzt in den Trottoircafes leicht wehmütig den vermeintlich letzten Minis nachsehen, können getröstet werden. Auch wenn Paris einen «langen» Winter diktiert hatte, wird er nicht so eintönig und traurig ausfallen, wie viele befürchten. Die Tyrannei der Couturiers geht nur bis unter das Knie. Die Frauen dürfen die Länge, die sie wünschen, selbst wählen, solange die Länge lang genug ist, das heißt mindestens das Knie bedeckt. Das Versteck- spiel «Wie oder wo zeigt man ein wenig Bein» wird von sämt- lichen Kreateuren mitgemacht und scheint für die kommende Saison recht amüsant zu werden. Cardin betrügt die Länge mit Gucklöchern teilweise wie die Löcher von Emmentalerkäse oder in Form von großen Kom- mas , die er ungefähr 20 Zentimeter oberhalb des Saumes an- bringt, oder er schlitzt seine Jupes bis zürn Rücken und läßt dar- unter einen Minirock hervorblitzen, so daß die Beine wieder zum Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an! ien. Noch vor knapp 15 Jahren stellten Schneebelis jeweils eine Reihe Kerzchen unter weiße und rote Gläschen auf den Fen- stersims, klemmten eine verwaschene Schweizer Fahne zwischen die Fensterläden und brannten zwei, drei «Frauefürzli» ab. Dann hörten sie sich auf dem Quartierplätzchen . eine hemdsärmelige bundesfeierliche Ansprache an, summten «Rufst du, mein Vater- land» mit und bewunderten den Rütlischwur des Turnvereins. Dann kauften sie sich zur Feier des Tages Bratwurst, Püürli und Most. Heute stürzt sich Mr. Schneebcli ins Dinner-Jacket und seine Gemahlin ins Maxi, und dann geben sie eine Barbecue-Party, mit Hot dogs, Hamburgers, Sandwiches, Snacks, nippen an Long- drinks, lassen Herrn Hamburger kommen, damit er ein paar Sky- Rockets startet und hören sich dann den Speech im Golf and Country Club an. Und wenn sie über Willy sprechen, ist nicht Teil, sondern Brandt oder Stoph gemeint. Und die Fahnen sind aus dem Fahnen-Center. «Star» werden. Ungaros waden- oder knöchellange Röcke lassen sich ganz nach Laune aufknöpfen, damit man die Beine, in dunk- len Strumpfhosen, bis hinauf zi den Oberschenkeln, sieht. Baimain läßt buschige Feder- oder Pe'zbesätze um die Waden spielen, und Yves SaSnt-Laurent präsentiert für den Alltag eine gute Länge von 30 Zentimetern ab Boden. Givenchy und Chanel bleiben ihrer letztjährigen Länge, kurz unterhalb des Knies, treu. Bei Courreges, tü*U~ J^flfmfliif Zeichnung: Walter Niggli Aus hellbeigem Cashmere ist der Cape-Mantel mit kinnhohem Stehkragen, SchöBcheneinsalz und trompeteniöimigen, aulgeschlitzten Aermelm Modell Venet. Straußenledern, tweedähnlich geschnitten, umspielen Kragen, Manschetten und Rocksaum des Tweedensembles. Typisches Merkmal: Twcedstlelel; Modell Baimain. der bis anhin Mini verteidigt hat, gab es eine große Ueber- raschung: Er versteht es wie kein anderer Couturier, seine Länge so zu präsentieren, daß sie wirklich jung wirkt. Er selber erklärte allerdings: «Diese Kollektion ist als ein Uebergang zu betrachten, bei den nächsten Kollektionen werde ich wieder beginnen, über einen kurzen Stil nachzudenken. Meine Maxikollektion ist nicht so jung, wie ich sie gerne gehabt hätte.» Esterei gab am Montag, eine Minute nach Mitternacht, den Auftakt für die Pariser Mode- saison. Er zeigt Maxilänge, schlitzt aber seine Kreationen hinten, vorn oder seitlich fast schenkelhoch. Auf den Champs-Elysees hingegen, wo teilweise immer noch die Tribünen der Parade vom «Quatorze Juillet» den Weg blockie- ren, sieht man noch nicht viel «Länge», viel weniger als in Rom oder auch in Zürich. Nur an der «Rive gauche» promenieren die jungen Mädchen in langen Zigeunerjupes, sofern sie nicht noch dem Hosenanzug die Treue halten. Abschied zu nehmen gilt es auch von den geraden Jupes, den langen Oberteilen, den ärmellosen Kleidern. Die Taille ist fein markiert und befindet sich meistens auf ihrem Platz. Sie wird durch extrem breite Gürtel akzentuiert oder durch einen schrägen Schnitt modelliert. Die Jupes, leicht ausstehend, erhalten ihre Weite durch Godets, tiefe Falten oder Plisses. Tailleurs ver- stecken ihre oft etwas verspielten Crepeblusen unter kurzen Spensers. Der schmale Mantel wird vom Ausschnitt bis zum Saum geknöpft. Mit Godets versehene Mäntel wechseln mit sol- chen im Cardiganstil ab. Beliebt sind immer noch Capes oder Mäntel mit Kutscherkragen. Pelzbesätze sieht man viel: am Saum, an Jackenenden, an Kragen und als Aermelabschlüsse. Weich fließende Jerseykleider, Chemisiers mit plissierten Jupes oder Deux-pieces in Blusenform, mit Leder eingefaßt, gehören zu den Lieblingen. Leder ist wiederum ein Favorit dieser Saison und zeigt sich an Mänteln, Jupes oder Gaucho-Hosen. Ein Comeback feiert das «kleine Schwarze». Die lange Jupß mit einer Lame- bluse wird die kleino Königin dieses Winters sein. Tweed, Crepe in Wolle und Seide, viel Jersey, Mousselino, Seidensamt und für den Abend schillernde Lames sind die Favo- riten der Saison. Die Farben sind: Schwarz, Aubergine, mattes Pflaumenblau, Ziegelrot, Schokoladenbraun, Matisseblau, Wein- rot und ein stumpfes Olive. Stiefel aus weichem Wildleder, aus Samt, aber auch aus Tweed umschließen die Fesseln selbst zu den Abendkleidern werden Stiefel getragen. Fällt der Stiefel weg, müssen Schuhe und Strümpfe die Farbe des Mantels oder Kleides haben. Kleine ge- strickte Mützchen bei Dior, große Bereis bei Cardin und bei Un- garo breitkrempige Hüte, die hinten aufgeschlagen sind, damit der Chignon zur Geltung kommt. Viele Mannequins trugen Chignons, nur Dior zeigt den ganz kurzen Garconneschnitt aus dem Jahr 1925, jetzt aber mit stark lackierten Haaren. Zu den runden Ausschnitten sind die Hundehalsbänder wieder en vogue; Bänder aus Samt, Satin, Leder, Metall, aber auch aus Hörn um- schlingen den Hals. Neue Zürcher Zeitung vom 02.08.1970

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U53%(F aUrntUB^: August 1970 Nr. 353 (Fe(Feruausgabc Nr. 210) WOCHENENDE Slcue 3iirdjcr Leitung

Kein Zuschlag für Zimmer mit Kerze

oe. Herr de Conty mußte in der Schweiz vor allem nachts sehrunangenehme Erfahrungen gemacht haben. Er ließ dies seineLeser in seinem Reiseführer «Les Vosges en poche» deutlich wis-sen: er lobte die Gasthöfe in den Vogesen, weil der Reisende inden Fremdenzimmern zwar keine Louis-XV-Möbel, aber gute Bet-ten mit genügend breiten Leintüchern fände. Dies zu vernehmenwerde besonders die Leute erfreuen, die schon die Schweiz undDeutschland bereist hätten. Auch herrsche in diesen einfachen,

sauberen Häusern noch das wahre Familienleben, das es in derSchweiz und an den Ufern des Rheins nicht mehr gebe.

Als weiteren Vorzug in den offenbar noch unverdorbenenVogesen führte de Conty an, daß dort das Kerzengeld in denHotels fast unbekannt sei, gegen das er in Reiseführern überandere Gebiete schon so oft protestiert habe. Der Fremde mußtedamals meist einen Zuschlag entrichten, wenn er nicht im Fin-stern zu Bett gehen wollte. In den Vogesen bezahlte der Gast nach

de Contys Angaben das Trinkgeld freiwillig. Immerhin machteder Reiseführer darauf aufmerksam, «daß die dicken Mädchenmit den fröhlichen Gesichtern . . . außer dem Trinkgeld» keinenFranc verdienten. «Donnez, et vous serez considere», hoißt es zum

Abschluß dieses Themas.

Der Reiseführer nahm seinem Publikum das von manchen sogefürchtete Studium des Fahrplanes ab. Er gab bei jedem wich-tigeren Ort an, mit welchem Zug er von Paris aus am besten zu

erreichen sei. (Andere Menschen als die Pariser reisten nachde Contys Meinung vermutlich nicht.) Man fuhr damals mit r"omExpreß von Paris in 11 Stunden 10 Minuten nach ßains-les-Bains

und in 15 Stunden 31 Minuten nach Contrexeville. Nach demReisevorschlag de Contys übernachtete man allerdings auf demWeg von der Metropole in die Vogesen zweimal, in Langres undin Beifort, um sich nicht allzusehr anzustrengen. All dies zeigt,

daß es sich hier um einen Reiseführer des 19. Jahrhunderts han-deln muß.

Abgesehen von amüsanten Vignetten ist der Guide überaussachlich. Nur bei der Behandlung von Radekurorten mit beson-ders glanzvoller Vergangenheit holte de v_. >;. eit aus. So emp-

fahl er Plombiere mit der Bemerkung, es häti schon StanislausLesczinski begeistert; ihm, dem König von Polen und Herzog vonBurgund, seien Vergrößerung und Verschönerung des Bades zuverdanken. Zweimal, 1761 und 1762, verbrachte der französischeHof den Sommer in dem heute bescheideneren Vogesenort. Später

beehrte Kaiserin Josephine Plombieres mit ihrem Besuch, undNapoleon III. hatte dafür eine außerordentliche Vorliebe.

Das Jahr, in dem der Reiseführer erschien, steht nicht ver-merkt. Es muß jedenfalls nach dem Krieg von 1870/71 und demVerlust von Elsaß-Lothringen gewesen sein. Im ansehnlich gro-

ßen Reklameteil inserierte nämlich eine patriotische Firma, diesich beziehungsvoll, die Revanche beschwörend, «Aux armesAlsace-Lorraine» nannte. Sie empfahl übrigens ihre Windmühlen,

die jedem Sturm trotzten. Die Firma Chevet, die Comestibles, Weinund ganze Mahlzeiten ins Haus lieferte, bildete in ihrem Inserateinen Küchenjungen ab, der von der «gloire» träumte, einmal beiChevet arbeiten zu dürfen. Eugene Godard senior hingegen botan, in Frankreich oder im Ausland Ballonfahrten für allgemein-

öffentliche oder aber für wissenschaftliche Zwecke zu unterneh-men. Er stellte Ballone auch selbst her. Ferner war er bereit, dieoffenbar besonders heiklen Verhandlungen zwischen den Ballon-fahrern und den Behörden zu übernehmen.

Apropos

Die Menschheit besteht aus zweierlei ArtenEs gibt heutzutage sehr, sehr viele Menschen auf unserer

Erde. Und trotzdem lassen sie sich noch immer einfach in zweiArten gruppieren. Das wäre in erster Linie in Frauen und Männer;die neue Mode trübt einem hier manchmal etwas den Blick, aberändert nicht sehr viel an den naturgegebenen Tatsachen. Dannkönnen wir unterteilen in Raucher und Nichtraucher, Abstinentenund Trinker, Reiche und Arme, Fette und Magere, Hunde- undKatzenliebhaber, Fromme und Sündige, Ehrliche und Lumpen-pack, Alte und Junge. Boshafte unterscheiden auch zwischen Men-schen und Baslern oder Menschen und Psychiatern. Dies ist aberunfein, man darf füglich Basler wie auch Psychiater zu den Men-schen zählen.

Bemerkenswert ist der Unterschied zwischen Gescheiten undDummen. Die Gescheiten erkennt man an ihrer größeren undtieferen Bildung. Sagt man beispielsweise: «Youngs Buch überdie Anden finde ich . . .», wird man von der Dame linkerhand

berichtigt, daß Jung nie und niemals ein Buch über die Andengeschrieben habe.

Und will man die lustige Geschichte vom Missionar erzählen,

der im Kochkessel der Kannibalen schmort, so wird man vonseinem Gegenüber belehrt, daß es a) heutzutage keine Kannibalenmehr gebe (Verbot der belgischen Regierung gegen das Essen

von Menschenfleisch vom 14. April soundso) und b) es eine irr-tümliche Meinung sei, man habe die Menschen zu Zeiten des

Kannibalismus in Kesseln gekocht.

Dann gibt es die konsequenten und die inkonsequenten Leute.Die Konsequenten .sind die, welche mit spitzen Fingern Schnur-knoten und Maschen lösen, wenn sie irgendein Päckchen öffnen.Sie weisen Schere und Messer kurzerhand zurück, und selbstwenn alle Fingernägel brechen, haben sie für Alexander des

Großen knotenzersäbelnde Tat nur Verachtung.

Dann gibt es die unwissenden Leute und im Gegensatz zuihnen diejenigen, die alles wissen: «Ich habe es ja gewußt» oder«ich wußte, daß es so herauskommen wird».

Man sieht, die Unterteilung der Menschen nach ihren Artenist nicht schwierig, es fragt sich lediglich, was einem dieseGruppierung eigentlich nützt. Denn schließlich sind die einen so

und die andern, die sind anders. Ren4 sjmtnen

Nebenbei

Das Riesenei auf hoher See

cat. In Tazacorte, auf der einsamen Insel La Palma, traf kürz-lich eine seltsame Expedition ein. Nicht ganz unerwartet, dennschon Tage zuvor hatte das «Huevo Navegante», das schwimmendeEi des Berner Plastikers Herbert Distel, Schlagzeilen für die kana-lische Presse geliefert. Seit dem berühmten Ei des Kolumbus warkaum von einem anderen Ei so viel die Rede gewesen wie vondem schwimmenden Riesenei aus Polyester des Berner Künstlers,das für sine Ueberquerung des Atlantiks bestimmt worden war.Ais Ste tort für die Reise war vom Deutschen Seewetteramt dasverschlafene Fischerdorf Puerto de Tazacorte ausgewählt worden,

da der Kanarenstrom, dem man das Ei anvertrauen wollte, in un-mittelbarer Nähe der Insel vorbeiführt und den Nordwestpassat-

winden dort keine weiteren Hindernisse in Form von Inseln imWeg stehen.

Am Morgen verließen wir mit einer kleinen Fisdierflolle unddem Ei in Schlepptau den Hafen. Ueber eine Stunde tuckerten wirin Richtung Westen auf die offene, tiefblaue See hinaus. EinFilmteam hielt die Szene von einem anderen Boot aus im Bild fest.In einem weiteren Schiff folgten eine Reihe spanischer Persön-lichkeiten, der Bürgermeister von Tazacorte, der Sekretär desInseladministrators, ein hoher Zollbeamter, ein Vertreter des Mili-tärs sowie spanische Presseleute.

Wir gaben dem Fischer das Zeichen, den Motor abzustellen.Das Ei wurde herangezogen und der Auslösemechanismus derKamera, die zu einem Guckloch heraus während der Reise alle20 Minuten eine Aufnahme nte$h.«tt" wird, kontrollier^ Dann? gab

Herbert Distel mit einem kräftigen Stoß sein Ei frei. Schaukelndlöste es sich von der Bordwand, umrahmt von Wasser, Wellen,

Himmel und Wolken. Eine Skulptur brach auf, nicht nur um als

erstes Kunstwerk im Dienste der Wissenschaft den Atlantik zuüberqueren, sondern auch um für einmal den engen Raum des

Das Riesenei wird von einem F/sc/ierboo/ aufs ofiene Meer hinausgezogen.

Museums zu sprengen. Wir schauten, wie das Ei immer kleinerund kleiner wurde und zuletzt unseren Augen ganz entschwand.Vielleicht wird es später wieder irgendwo auftauchen, möglicher-

weise wird es das ihm vorf Wissenschaftern gesteckte Ziel, dieKaribischen Inseln, erreichen, später in New York versteigert

werden und doch wieder in einem Museum landen.

Mode

Versteckspiel mit den Beinen

sz. Die achtzig Prozent jener Männer, die sich laut Umfrage fürden Mini- und gegen den Midilook ausgesprochen haben und jetzt

in den Trottoircafes leicht wehmütig den vermeintlich letztenMinis nachsehen, können getröstet werden. Auch wenn Pariseinen «langen» Winter diktiert hatte, wird er nicht so eintönig

und traurig ausfallen, wie viele befürchten. Die Tyrannei derCouturiers geht nur bis unter das Knie. Die Frauen dürfen dieLänge, die sie wünschen, selbst wählen, solange die Länge lang

genug ist, das heißt mindestens das Knie bedeckt. Das Versteck-spiel «Wie oder wo zeigt man ein wenig Bein» wird von sämt-lichen Kreateuren mitgemacht und scheint für die kommendeSaison recht amüsant zu werden.

Cardin betrügt die Länge mit Gucklöchern teilweise wiedie Löcher von Emmentalerkäse oder in Form von großen Kom-mas , die er ungefähr 20 Zentimeter oberhalb des Saumes an-bringt, oder er schlitzt seine Jupes bis zürn Rücken und läßt dar-unter einen Minirock hervorblitzen, so daß die Beine wieder zum

Ans Vaterland, ans teure, schließ dich an!

ien. Noch vor knapp 15 Jahren stellten Schneebelis jeweils

eine Reihe Kerzchen unter weiße und rote Gläschen auf den Fen-stersims, klemmten eine verwaschene Schweizer Fahne zwischendie Fensterläden und brannten zwei, drei «Frauefürzli» ab. Dannhörten sie sich auf dem Quartierplätzchen

. eine hemdsärmelige

bundesfeierliche Ansprache an, summten «Rufst du, mein Vater-land» mit und bewunderten den Rütlischwur des Turnvereins.Dann kauften sie sich zur Feier des Tages Bratwurst, Püürli undMost.

Heute stürzt sich Mr. Schneebcli ins Dinner-Jacket und seineGemahlin ins Maxi, und dann geben sie eine Barbecue-Party, mitHot dogs, Hamburgers, Sandwiches, Snacks, nippen an Long-

drinks, lassen Herrn Hamburger kommen, damit er ein paar Sky-

Rockets startet und hören sich dann den Speech im Golf andCountry Club an. Und wenn sie über Willy sprechen, ist nichtTeil, sondern Brandt oder Stoph gemeint. Und die Fahnen sind ausdem Fahnen-Center.

«Star» werden. Ungaros waden- oder knöchellange Röcke lassensich ganz nach Laune aufknöpfen, damit man die Beine, in dunk-len Strumpfhosen, bis hinauf zi den Oberschenkeln, sieht. Baimainläßt buschige Feder- oder Pe'zbesätze um die Waden spielen,

und Yves SaSnt-Laurent präsentiert für den Alltag eine gute Länge

von 30 Zentimetern ab Boden. Givenchy und Chanel bleiben ihrerletztjährigen Länge, kurz unterhalb des Knies, treu. Bei Courreges,

tü*U~

J^flfmfliif

Zeichnung: Walter Niggli

Aus hellbeigem Cashmere ist der Cape-Mantel mit kinnhohem Stehkragen,

SchöBcheneinsalz und trompeteniöimigen, aulgeschlitzten AermelmModell Venet. Straußenledern, tweedähnlich geschnitten, umspielenKragen, Manschetten und Rocksaum des Tweedensembles. Typisches

Merkmal: Twcedstlelel; Modell Baimain.

der bis anhin Mini verteidigt hat, gab es eine große Ueber-raschung: Er versteht es wie kein anderer Couturier, seine Länge

so zu präsentieren, daß sie wirklich jung wirkt. Er selber erklärteallerdings: «Diese Kollektion ist als ein Uebergang zu betrachten,bei den nächsten Kollektionen werde ich wieder beginnen, übereinen kurzen Stil nachzudenken. Meine Maxikollektion ist nichtso jung, wie ich sie gerne gehabt hätte.» Esterei gab am Montag,

eine Minute nach Mitternacht, den Auftakt für die Pariser Mode-saison. Er zeigt Maxilänge, schlitzt aber seine Kreationen hinten,vorn oder seitlich fast schenkelhoch.

Auf den Champs-Elysees hingegen, wo teilweise immer nochdie Tribünen der Parade vom «Quatorze Juillet» den Weg blockie-ren, sieht man noch nicht viel «Länge», viel weniger als in Romoder auch in Zürich. Nur an der «Rive gauche» promenieren diejungen Mädchen in langen Zigeunerjupes, sofern sie nicht nochdem Hosenanzug die Treue halten.

Abschied zu nehmen gilt es auch von den geraden Jupes, denlangen Oberteilen, den ärmellosen Kleidern. Die Taille ist feinmarkiert und befindet sich meistens auf ihrem Platz. Sie wirddurch extrem breite Gürtel akzentuiert oder durch einen schrägen

Schnitt modelliert. Die Jupes, leicht ausstehend, erhalten ihreWeite durch Godets, tiefe Falten oder Plisses. Tailleurs ver-stecken ihre oft etwas verspielten Crepeblusen unter kurzenSpensers. Der schmale Mantel wird vom Ausschnitt bis zumSaum geknöpft. Mit Godets versehene Mäntel wechseln mit sol-chen im Cardiganstil ab. Beliebt sind immer noch Capes oderMäntel mit Kutscherkragen. Pelzbesätze sieht man viel: am Saum,

an Jackenenden, an Kragen und als Aermelabschlüsse. Weichfließende Jerseykleider, Chemisiers mit plissierten Jupes oderDeux-pieces in Blusenform, mit Leder eingefaßt, gehören zu denLieblingen. Leder ist wiederum ein Favorit dieser Saison undzeigt sich an Mänteln, Jupes oder Gaucho-Hosen. Ein Comebackfeiert das «kleine Schwarze». Die lange Jupß mit einer Lame-bluse wird die kleino Königin dieses Winters sein.

Tweed, Crepe in Wolle und Seide, viel Jersey, Mousselino,Seidensamt und für den Abend schillernde Lames sind die Favo-riten der Saison. Die Farben sind: Schwarz, Aubergine, mattesPflaumenblau, Ziegelrot, Schokoladenbraun, Matisseblau, Wein-rot und ein stumpfes Olive.

Stiefel aus weichem Wildleder, aus Samt, aber auch aus Tweedumschließen die Fesseln selbst zu den Abendkleidern werdenStiefel getragen. Fällt der Stiefel weg, müssen Schuhe undStrümpfe die Farbe des Mantels oder Kleides haben. Kleine ge-

strickte Mützchen bei Dior, große Bereis bei Cardin und bei Un-garo breitkrempige Hüte, die hinten aufgeschlagen sind, damitder Chignon zur Geltung kommt. Viele Mannequins trugenChignons, nur Dior zeigt den ganz kurzen Garconneschnitt ausdem Jahr 1925, jetzt aber mit stark lackierten Haaren. Zu denrunden Ausschnitten sind die Hundehalsbänder wieder en vogue;Bänder aus Samt, Satin, Leder, Metall, aber auch aus Hörn um-schlingen den Hals.

Neue Zürcher Zeitung vom 02.08.1970