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Wo Natur sich selbst gehört Warum wir mehr Wildnis in Deutschland brauchen

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Wo Natur sich selbst gehörtWarum wir mehr Wildnis in Deutschland brauchen

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Impressum

Herausgeber Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (BMU) Referat Öffentlichkeitsarbeit, Online-Kommunikation, Social Media · 11055 Berlin E-Mail: [email protected] Internet: www.bmu.de

Redaktion BMU, Referat N II 4

Gestaltung PROFORMA GmbH & Co. KG, Berlin

Druck Druck- und Verlagshaus Zarbock GmbH & Co. KG, Frankfurt a. M.

Bildnachweise Siehe Seite 27.

Stand Januar 2019

2. unveränderte Aufage 4.000 Exemplare (gedruckt auf Recyclingpapier)

Bestellung dieser Publikation Publikationsversand der Bundesregierung Postfach 48 10 09 · 18132 Rostock Tel.: 030 / 18 272 272 1 · Fax: 030 / 18 10 272 272 1 E-Mail: [email protected] Internet: www.bmu.de/publikationen

Hinweis Diese Publikation wird vom Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit kostenlos herausgegeben. Sie ist nicht zum Verkauf bestimmt und darf nicht zur Wahlwerbung politischer Parteien oder Gruppen eingesetzt werden. Mehr Informationen unter: www.bmu.de/publikationen

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Inhalt

Mehr Wildnis in Deutschland 4

Was ist Wildnis in Deutschland? 6

Wildnis schützt 10

Wildnis vernetzt 12

Wildnis stabilisiert 13

Wildnis heilt 14

Wildnis ist Atempause 16

Wildnis ist Blaupause 18

Wildnis ist wertvoll 20

Wildnis ist Verantwortung 22

Wildnis ist Pflicht 24

Abkürzungsverzeichnis 26

Bildnachweise 27

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Kann es in einem so dicht besiedelten und hoch technisierten Land wie Deutschland überhaupt Wildnis geben? Und brauchen wir in Deutschland überhaupt Wildnis? Beide Fragen kann und muss man mit einem klaren „Ja!“ beantworten.

Die Wildnisentwicklung ist ein Gebot der Nachhaltigkeit. Eine Politik der Nachhaltigkeit, wie sie auch die Nationale Nachhaltigkeitsstrategie der Bundes-regierung formuliert, gestaltet alle Bereiche unseres Lebens und Wirtschaftens so, dass wir auch den nachfolgenden Generationen eine lebenswerte Welt mit den gleichen Chancen wie für uns selbst hinterlassen. Der Schutz der natür-lichen Lebensgrundlagen mit all ihren Facetten gehört als wesentliche Basis selbstverständlich dazu. Ein wichtiger Baustein dabei ist die Bewahrung und Weiterentwicklung von Wildnis – der Erhalt unseres Naturerbes.

Mehr Wildnis in Deutschland

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Um in Deutschland wieder mehr und vor allem großflächige Wildnis entstehen zu lassen, brauchen wir entschlossenes Handeln und Unterstützung auf allen Ebenen. Der Bund hat etwa 20 Prozent seiner Waldflächen perspektivisch für die natürliche Entwicklung gesichert. Auch die Länder leisten ihren Beitrag zur Erfüllung der Wildnisziele der Nationalen Biodiversitätsstrategie, ebenso wie viele Stiftungen und Verbände.

Ab 2019 wird die Bundesregierung zehn Millionen Euro jährlich für einen Wildnisfonds zur Verfügung stellen, um weitere Flächen für die Wildnis zu sichern. Und wir brauchen gute Argumente, denn in unserem dicht besiedelten und bewirtschafteten Land ist die Flächenkonkurrenz groß. Diese Argumente für mehr Wildnis in Deutschland sind in dieser Broschüre zusammengestellt.

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Wilder Wald im Nationalpark Hunsrück-Hochwald

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Wildnis ist ein „wilder“ Begriff, der sich leicht selbstständig macht. Er ist kultu-rell geprägt und bedeutet ursprünglich, dass überall Wildnis herrscht, wo keine Ordnung greift. Auch im Naturschutz ist es nicht immer einfach, sich darauf zu verständigen, worüber wir sprechen, wenn wir über Wildnis in Deutschland diskutieren. Klar ist allerdings, dass es in Deutschland so gut wie keine ursprüngliche Wildnis mehr gibt. Wir können und wollen aber die Bedingun-gen schaffen, dass wieder mehr neue Wildnis entstehen kann.

Wildnis entsteht überall, wo die Natur ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgt – wo Natur Natur sein darf: auf einem Felsen oder umgestürzten Baumstamm ebenso wie in großflächi-gen Gebieten. Je mehr Zeit und Raum wir der Natur geben, desto wilder wird sie. Dabei ist Wildnis gleichzeitig ein Prozess und ein Zustand.

In der Nationalen Biodiversitätsstrate-gie der Bundesregierung (NBS) gibt es entsprechend mehrere Wildnisziele, die die natürliche Entwicklung zum Beispiel in Wäldern, an Küsten und in Mooren aufgreifen. Die NBS enthält aber auch ein ganz spezifisches Wild-nisziel, das sogenannte Zwei-Prozent-Ziel, das sich auf großflächige Wildnis-gebiete bezieht:

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Was ist Wildnis in Deutschland?

Bis zum Jahre 2020 kann sich die Natur auf mindestens zwei Prozent der Fläche Deutschlands wieder nach ihren eigenen Gesetzmäßig-keiten entwickeln, beispielsweise in Bergbaufolgelandschaften, auf ehemaligen Truppenübungsplätzen, an Fließgewässern, an den Mee-resküsten, in Mooren und im Hochgebirge. […] Bei einem Großteil der Wildnisgebiete handelt es sich um großflächige Gebiete (NBS, Kapitel B 1.1.3 und B 1.3.1).

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Wildnisentwicklung im ehemaligen Braunkohletagebau Goitzsche

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Bundesumweltministerium und Bundesamt für Naturschutz haben sich mit den Naturschutzfachbehörden der Länder darauf verständigt, was die Wild-nisgebiete ausmacht, die im Sinne der NBS einen Beitrag zum Zwei-Prozent-Wildnis-Ziel leisten. Diese „Qualitätskriterien zur Auswahl von großflächigen Wildnisgebieten im Sinne des Zwei-Prozent-Ziels der Nationalen Biodiversitäts-strategie“ beinhalten unter anderem folgende Punkte:

→ Großflächige Wildnisgebiete im Sinne der NBS sollen vorzugsweise eine Größe von mindestens 1.000 Hektar, in flussbegleitenden Auwäldern, in Mooren und an Küsten von mindestens 500 Hektar aufweisen.

→ Wildnisgebiete sind dauerhaft rechtlich gesichert.

→ Wildnisgebiete haben die Voraussetzung dafür, dass in der Regel auf der gesamten Fläche spätestens nach Ablauf von zehn Jahren ausschließlich natürliche Prozesse wirken.

→ Wo immer dies möglich ist, sollen Wildnisgebiete für die Menschen erlebbar sein.

Alle Kernzonen von Nationalparks sowie großflächige, zusammenhängende Kernzonen der Biosphärenreservate werden als Wildnisgebiete im Sinne der NBS eingestuft.

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Viele kleinere Wildnisflächen leisten ebenfalls einen wertvollen Beitrag zur Umsetzung wichtiger Wildnisziele der NBS. Das vollständige Kriterienset für Wildnisgebiete im Sinne der NBS finden Sie auf den unten genannten Internet-seiten.

In Deutschland liegen dauer-haft gesicherte Wildnisgebiete im Sinne der NBS bisher vor allem in den Kernzonen der Nationalparks und einiger Bio-sphärenreservate. Auch einige große Flächen des Nationalen Naturerbes (NNE) sowie einige große Flächen im Eigentum von Naturschutzverbänden und -stiftungen kön-nen dem Erreichen des Zwei-Prozent-Wildnis-Zieles dienen. Bisher sind etwa 0,6 Prozent der Landesfläche Deutschlands als großflächige Wildnisgebiete im Sinne der NBS dauerhaft gesichert.

Mehr lesen unter:www.bfn.de/themen/biotop-und-landschaftsschutz/wildnisgebiete.htmlwww.bmu.de/themen/natur-biologische-vielfalt-arten/naturschutz- biologische-vielfalt/wildniswww.wildnis-in-deutschland.de

„In Deutschland gibt es wieder faszinierende Wildnisgebiete […], in denen Entwicklungsprozesse natürlich und ungestört ablaufen.“ (Vision der NBS für Wildnisgebiete)

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Alpenstrandläufer im Wattenmeer

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Wildnis schützt

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Nationalpark Berchtesgaden

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Wildnisgebiete schaffen Nischen und Lebensräume, die in der Kulturland-schaft und manchmal auch in den „klassischen“ Schutzgebieten kaum zu finden sind.

Wildnisgebiete eröffnen spezialisierten Arten und solchen mit großem Raum-bedarf Möglichkeiten, langfristig stabile Populationen zu bilden, und tragen so zu deren Erhalt bei. Arten, Lebensräume und Gene können sich weitgehend ungestört entwickeln – Evolution pur.

Dass viele Arten tatsächlich große Flächen benötigen, zeigen Ergebnisse aus dem Bayerischen Wald, wo sich spezialisierte Totholzkäferarten auf zu kleinen Flächen nicht halten konnten. Handelt es sich um sensible Arten, bei denen eine hohe Störungsempfindlichkeit und ein großer Raumbedarf zusam-mentreffen, sind großflächige Wildnisgebiete zwingend notwendig, um ihr Überleben in der Natur zu sichern. Diese Gebiete bieten ihnen ein ausreichend großes Habitat sowie den Rückzugsraum, von dem aus diese Arten sich in die Fläche ausbreiten können. So benötigt eine Bechsteinfledermauskolonie bis zu 40 Wechselquartiere. Einzelne Habitatbäume oder Biotopflächen in einem Wirtschaftswald reichen entsprechend für eine stabile Population nicht aus.

Lebensräume bleiben zum Beispiel in wilden Wäldern länger erhalten und verändern sich langsamer als in bewirtschafteten Wäldern (sogenannte Habi-tatkontinuität). Viele Arten, zum Beispiel viele Fledermausarten, haben eine Traditionsbindung an ihre Lebensräume. Sie sind darauf angewiesen, dass sich ihr Lebensraum nur langsam verändert.

Gleichzeitig ist Wildnis Dynamik. In Wildnisgebieten können die natürlichen Prozesse ungestört ablaufen. Nur in Wildnisgebieten ist erleb- und erforschbar, welche Prozesse und welche jeweils standorttypische Vielfalt ergebnisoffene Dynamik hervorbringt. Große Waldwildnisgebiete können unsere Urwälder der Zukunft werden.

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Wildnisgebiete können bei entsprechender Ausstattung das EU-Schutzgebiets-netz (Natura 2000) ergänzen und unterstützen.

Denn in vielen Lebensraumtypen ist der Schutz natürlicher Prozesse nicht nur leicht umsetzbar, sondern auch die sinnvollste Strategie zum Erhalt eines „günstigen Erhaltungszustands“, wie ihn die EU-Naturschutzrichtlinie fordert. Von den 92 in Deutschland vorkommenden Lebensraumtypen dieser Richtlinie benötigen lediglich zwölf ein umfassendes Management für den Erhalt, wohin-gegen 60 vom Nutzungsverzicht profitieren oder ihn sogar benötigen.

Wildnisgebiete sind auch besonders geeignet, die Rolle der großen Kernflä-chen des nationalen Biotopverbunds einzunehmen, da sie durch ihre Größe ausreichend Individuen beherbergen können, um weitere Flächen zu besiedeln (Quellpopulationen) und somit einen intakten regionalen Artbestand (Metapo-pulation) zu entwickeln.

Wildnis vernetzt

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Pulsnitzaue im Wildnisgebiet NSG Königsbrücker Heide

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Wildnisgebiete leisten einen Beitrag zum Klimaschutz ebenso wie zur Anpas-sung von Ökosystemen an den Klimawandel.

Denn intakte Moore, Auen und Wälder fungieren als Kohlenstoffdioxid-Sen-ken, indem sie Kohlenstoff in der lebenden und in der toten Biomasse sowie im Boden speichern. Da zum Beispiel in alten Wäldern nicht nur die Menge des gebundenen Kohlenstoffs, sondern auch die Bindungsrate mit der Zeit wächst, ist es wichtig, solche Ökosysteme unter einen langfristigen Schutz zu stellen. Nach dem vierten Report des Weltklimarats (IPCC) gehen zum Beispiel über 17 Prozent der jährlichen Kohlenstoffemissionen auf die Zerstörung natürli-cher Wälder, Moore und Feuchtgebiete zurück. Die Sicherung von Wildnisge-bieten kann hier entgegenwirken.

Eine standorttypische Artenvielfalt erhöht die Widerstandskraft (Resilienz) des gesamten Ökosystems. Die Auswirkungen sich verändernder Umweltbedin-gungen wie Klimaschwankungen oder einwandernde Arten können abgemil-dert werden und die betroffenen Ökosysteme können sich stabilisieren und anpassen. Darüber hinaus fördern eine angepasste und standorttypische Bio-diversität sowie das Vorhandensein von ökologischen Nischen in hinreichend großen Gebieten die Populationsdichte und die genetische Vielfalt innerhalb der Arten. Dies wiederum ermöglicht eine bessere Anpassung der einzelnen Art an sich verändernde Umweltbedingungen.

Wildnis stabilisiert

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Alte Buche im Wildnisgebiet Hohe Schrecke

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Wildnis heilt

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Pfingstnelke im Nationalpark Kellerwald-Edersee

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In Zeiten der Reizüberflutung kann insbesondere der Aufenthalt in großen Wild-nisgebieten, in denen man keine akustischen oder optischen Signale der techni-sierten Umwelt wahrnimmt, positive Auswirkungen auf die Gesundheit haben.

Neuere Studien haben ergeben, dass sich ein Aufenthalt in der Natur positiv auf den Blutdruck, auf den Verlauf von Erkrankungen wie Diabetes sowie auf die psychische Verfassung auswirkt. Die Anzahl der sogenannten Killerzellen erhöht sich, der Spiegel des Stresshormons Cortisol im Blut sinkt. So eröff-nete im März 2017 in Heringsdorf auf Usedom der erste Kur- und Heilwald in Europa. Je ungestörter die Natur, desto stärker die Effekte.

Die Naturbewusstseinsstudie 2015 ermittelte, dass eine intakte Natur für 94 Prozent der Bürgerinnen und Bürger zu einem guten Leben dazugehört. Als Orte, an denen sich die Natur in Deutschland frei entwickeln kann, nehmen Wildnisgebiete eine her-ausragende Rolle ein. Da darüber hinaus zwei Drittel der Befragten Natur umso besser gefällt, je wilder sie ist, lässt sich hieraus auf einen breiten Wunsch der Bevölkerung nach Wildnis als Teil der Lebensqualität schließen.

„Die Natur ist die beste Apotheke.“ (Sebastian Kneipp)

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Wildnispfad im Wildnisgebiet Lieberose

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Wildnis ist gut für unsere Seele. Es kann geheimnisvoll und sogar mystisch sein, inmitten eines Wildnisgebiets zu stehen und keine Anzeichen von Zivi-lisation mehr zu sehen und zu hören.

Wildnis ist Atempause

„Die Natur muss gefühlt werden.“ (Alexander von Humboldt)

Ein solches Erlebnis kann uns eine Atempause von unserem täglichen Leben verschaffen. Wild-nis in ihrer Ungezähmtheit, in ihrer Ursprüng-lichkeit und in ihrer Schönheit vermittelt uns ein Gefühl von Freiheit und Selbstbestimmung und lässt uns durchatmen und entspannen.

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Der Freizeit-, Erholungs- und Erlebniswert von Natur ist für Menschen von enormer Bedeutung. Nach der Naturbewusstseinsstudie 2015 macht es neun von zehn Befragten glücklich, in der Natur zu sein. Ungenutzte Gebiete erzeu-gen dabei eine besondere Spannung und werden mit zunehmender Größe positiver aufgenommen, da hierdurch der Kontrast zu urbanen und Nutzflä-chen spürbarer wird. Speziell zu Wildnisgebieten gefragt, sehen 89 Prozent der Befragten diese als Freiraum in der technisierten Welt.

Exemplarisch zeigt das Besuchermonitoring im Nationalpark Kellerwald-Eder-see, dass das „Naturerlebnis“ innerhalb des Nationalparks den Befragten beson-ders wichtig ist. Ähnliches gilt für den Aspekt „Entspannung und Erholung“. Für 93 Prozent der Befragten ist die „Einsamkeit und Ruhe“ ein wichtiger Grund für den Besuch des Nationalparks. Auf die offene Frage „Was hat Ihnen heute am besten gefallen?“ antworteten viele der Befragten mit „die Stille“.

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Weststrand, Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft

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Wildnisgebiete ermöglichen aufgrund der Dynamik natürlicher Prozesse Grund-lagenforschung, die in Mitteleuropa im Allgemeinen nicht mehr möglich ist.

Ursprüngliche, primäre Wildnis gibt es im dicht besiedelten und seit Tausenden von Jahren anthropogen geprägten Deutschland nicht mehr. Unsere wissen-schaftlichen Kenntnisse über Abläufe in der Natur sind daher normalerweise nicht unabhängig von Nutzungseinflüssen zu sehen. Ohne Wildnisgebiete gehen Möglichkeiten zur Forschung unwiederbringlich verloren, da nur sie einen unverfälschten Einblick in eine vom Menschen unbeeinflusste Entwick-lung von natürlichen Ökosystemen gewährleisten.

Wildnis ist Blaupause

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In Wildnisgebieten können unter anderem Erkenntnisse über die ökologischen Wechselwirkungen von großen Säugetieren in der Naturlandschaft, wie zum Beispiel Biber, Wildkatze und Luchs, oder die Wehrhaftigkeit natürlicher Sys-teme gegenüber neu einwandernden Arten gewonnen werden. Neue Strategien für Naturschutz oder Hochwasserschutz können aus den Prozessen in Wildnis-gebieten abgeleitet werden. Die Beobachtung natürlicher Prozesse in Waldwild-nisgebieten kann einen Einfluss auf Managementstrategien des naturnahen Waldbaus zum Beispiel vor dem Hintergrund des Klimawandels oder großflä-chiger Störungen wie Feuer und Borkenkäferkalamitäten haben.

Wildnisgebiete sind einzigartige Lernorte nicht nur für die Wissenschaft, sondern auch für jede und jeden Einzelnen. Nur hier können wir Wildnis erleben und verstehen.

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Riedbruch im Nationalpark Hunsrück-Hochwald

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Viele der durch Wildnisgebiete zur Verfügung gestell-ten Ökosystemleistungen könnten – wenn überhaupt – nur durch kostspielige Maßnahmen ersetzt werden.

Durch die sogenannten Ökosystemleistungen wirken sich natürliche Systeme positiv auf verschiedenste Bereiche des menschlichen Lebens und Wirtschaftens aus. Beispiele von Ökosystemleistungen, die von Wild-nisgebieten in besonderem Maße erbracht werden, sind die Senkenwirkung für Treibhausgase in Wäldern und Mooren, eine stabilisierende und damit positive Aus-wirkung auf das örtliche Klima, die Selbstreinigungs-fähigkeit von Gewässern, saubere Luft, Bestäubung auf benachbarten Flächen der Landwirtschaft durch größere Insektenvorkommen, Genpool für dem Men-schen nützliche Tiere und Pflanzen, Retentionsraum für Wasser in Auen und damit Hochwasserschutz oder auch die Erholungs- und Umweltbildungsfunktion.

Alle deutschen Nationalparks generieren zudem ins-gesamt eine Wertschöpfung von 2,1 Milliarden Euro. Nach einer Studie der Deutschen Sporthochschule Köln und der Universität für Bodenkultur Wien ent-standen zum Beispiel durch den Nationalpark Eifel 674 Vollzeitbeschäftigungsäquivalente und ein Brut-toumsatz von 30 Millionen Euro. Dass 48 Prozent der Besucher die Region insbesondere wegen des Natio-nalparks aufsuchten und 70 Prozent der Besucher erst nach der Nationalparkgründung im Jahr 2004 erst-malig in die Region reisten, ist ein deutliches Indiz für die Attraktivitätssteigerung durch Großschutzgebiete. Hinzu kommt der Vorteil, dass das Geld überwiegend regional verbleibt, sodass ein positiver Einkom-menstransfer direkt in die Region hinein stattfindet. Vor allem in strukturschwachen Regionen kann Wild-nis somit ein relevanter Wirtschaftsfaktor sein und die ländliche Entwicklung vorantreiben.

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Wildnis ist wertvoll

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Auerhahn im Nationalpark Schwarzwald

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Die Anerkennung des Eigenwertes der Natur, wie sie das Bundesnaturschutz-gesetz vorgibt, bezieht sich nicht nur auf den Schutz von einzelnen Arten und Lebensräumen, sondern auch auf den Erhalt der natürlichen Dynamik in Ökosystemen. Diese Art des Schutzes benötigt ausreichend große Raum- und Zeitskalen, wie sie nur durch Wildnisgebiete realisierbar sind.

Die Naturbewusstseinsstudien von 2013 und 2015 belegen, dass die Bevöl-kerung hinter dem Eigenwert der Natur steht. Der Aussage, die Natur nur in dem Umfang zu nutzen, dass die Vielfalt an Arten und Lebensräumen sowie die Eigenart der Natur erhalten bleiben sol-len, stimmten 93 Prozent der Befragten zu oder eher zu. Ein ebenso hoher Anteil sieht den Menschen in der Pflicht, die Natur an sich zu schützen.

„Ein Land darf sich erst dann wirklich als kultiviert oder zivilisiert bezeichnen, wenn es seiner Wildnis genug Bedeutung schenkt.“(Aldo Leopold)

Der Staat hat laut Grundgesetz den Auftrag, auch in Verantwortung für künf-tige Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen, was neben Gefahrenabwehr auch Vorsorge beinhaltet. Wir sind verpflichtet, mit den natürlichen Ressourcen schonend umzugehen, um sie langfristig zu sichern und im Interesse künftiger Generationen zu erhalten. Wildnis ist ein Ort der Sicherung natürlicher Ressourcen und in diesem Sinne ist auch die Bewahrung und Wiederherstellung von Wildnis ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit.

International drängt Deutschland gegenüber Drittstaaten immer wieder dar-auf, Nutzungen, die die natürlichen Lebensgrundlagen beeinträchtigen, zu unterlassen und große Schutzgebiete einzurichten. Naturschutzvorhaben wer-den auch im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit finanziell unterstützt. Parallel dazu ist es unerlässlich, dass auch in Deutschland der natürlichen Ent-wicklung großflächig Raum gegeben wird, um international nicht an Glaub-würdigkeit zu verlieren und einen Teil zur globalen Gerechtigkeit beizutragen.

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Wildnis ist Verantwortung

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Blaueisgletscher, Nationalpark Berchtesgaden

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Bund und Länder haben eine gemeinsame Verantwortung für den Erhalt unse-rer Natur mit all ihren Facetten, insbesondere auch vor dem Hintergrund der Verpflichtungen aus den Zielen für eine nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen (Agenda 2030).

Nachhaltigkeitsziel 15 der Agenda 2030 fordert zum Beispiel den Erhalt und die Wiederherstellung der ter-restrischen und Binnengewässeröko-systeme. Auch das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die bio-logische Vielfalt (CBD) enthält mehrere Ziele mit Relevanz für Wildnisentwick-lung. So legt Ziel 5 des Strategischen Plans der CBD einen besonderen Fokus auf die Reduzierung der Zerschneidung von Lebensräumen. Diese internationalen Verpflichtungen werden durch großflächige Wildnisentwicklung in besonderer Weise umgesetzt.

„Die Wildnis ist nicht ein Ort, den wir besuchen – sie ist unsere Heimat.“ (Gary Snyder)

Wildnis ist Pflicht

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Die Nationale Biodiversitätsstrategie (NBS) setzt die CBD in Deutschland um. Insofern hat die Bundesregierung durch die Aufnahme von Wildnisentwick-lung in die Ziele der NBS ein wichtiges Instrument gewählt, um den Verlust der biologischen Vielfalt aufzuhalten und möglichst umzukehren. Daneben unterstützt die Etablierung von Wildnisgebieten die Umsetzung der Biodiversi-tätsstrategie der Europäischen Union.

Untermauert und konkretisiert werden diese programmatischen Ansätze durch das Bundesnaturschutzgesetz (BNatSchG). Hierin heißt es zum einen: „[...] bestimmte Landschaftsteile sollen der natürlichen Dynamik überlassen bleiben“ (Paragraf 1, Absatz 2, Nummer 3), und zum anderen, dass der Ent-wicklung sich selbst regulierender Ökosysteme auf hierfür geeigneten Flächen Raum und Zeit zu geben sind (Paragraf 1, Absatz 3, Nummer 6). Das BNatSchG verpflichtet alle Akteure somit, den Prozessschutz- und Wildnisgedanken umzusetzen und die natürliche Dynamik der Ökosysteme zuzulassen.

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Frühling im Nationalpark Hainich

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Abkürzungsverzeichnis

BMU Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare SicherheitBNatSchG BundesnaturschutzgesetzCBD Convention on Biological Diversity (Übereinkommen der Vereinten Nationen über die biologische Vielfalt)EU Europäische Union IPCC Intergovernmental Panel on Climate Change (Weltklimarat)NBS Nationale BiodiversitätsstrategieNNE Nationales Naturerbe NSG Naturschutzgebiet

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Baumpilze im Biosphärenreservat Rhön

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Bildnachweise

Titelseite: Nationalparkamt Müritz / Barbara Lüthi Herrmann (Mühlensee bei Speck, Nationalpark Müritz) Seite 4/5: Konrad FunkSeite 6/7: Falko Heidecke Seite 8/9: Martin Stock / Landesbetrieb für Küstenschutz, Nationalpark und Meeresschutz Schleswig-Holstein Seite 10: Nationalpark Berchtesgaden Seite 12: Dirk SynatzschkeSeite 13: Thomas StephanSeite 14: Nationalpark Kellerwald-Edersee Seite 15: Stiftung Naturlandschaften Brandenburg Seite 16/17: Klaus Herbert Schröter Seite 18/19: Konrad FunkSeite 21: Cornelia Neukirchen Seite 23: Nationalpark Berchtesgaden Seite 24/25: Thomas StephanSeite 26: Karl-Friedrich Abe

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