Was den Menschen zum Menschen macht

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2|09 Forschung & Lehre BILDUNG 121 Bildungsvorstellungen Was ist Bildung? „Wissen“, so wie es der Bestseller „Bildung. Alles was man wissen muss“ behauptet? Oder „Her- zensbildung“, also eher Gefühl und aus- geprägte Emotionale Intelligenz, nicht nur IQ sondern auch EQ? Oder ist Bil- dung mit dem französischen Soziologen Pierre Bourdieu ein „kulturelles Kapi- tal“? Demnach besteht Bildung aus Wissen und Fertigkeiten, die durch Er- ziehungs- und Bildungsaktivitäten er- worben werden und nicht kurzfristig weitergegeben werden können, wie z.B. Titel und Bildungsabschlüsse, aber auch die Lektüre nicht berufsbezogener Lite- ratur und bestimmter Zeitungen, Thea- ter-, Museums- und Galeriebesuche etc. Bildung als Wissen, Herzensbildung oder kulturelles Kapital? Alles ein biss- chen zu einseitig. Gehen wir einmal zu- rück zu Wilhelm von Humboldt: „Es gibt schlechterdings gewisse Kenntnis- se, die allgemein sein müssen, und noch mehr eine gewisse Bildung der Gesin- nungen und des Charakters, die keinem fehlen darf. Jeder ist offenbar nur dann ein guter Handwer- ker, Kaufmann, Sol- dat und Geschäfts- mann, wenn er an sich und ohne Hinsicht auf seinen be- sonderen Beruf ein guter, anständiger und seinem Stande nach aufgeklärter Mensch und Bürger ist“. Bildung der Gesinnung und des Charakters definiert er als „… die Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu ei- ner sich selbst bestimmenden Indivi- dualität und Persönlichkeit führen“. Erst auf dieser Grundlage erfolgt dann die Ausbildung zu einer spezifischen Profession. „Das ist wohl recht schwer?“ – Grenzarbeit Im Humboldtschen Bildungsbegriff ist demnach beides enthalten: Wissen und Herzensbildung. Man kann also das ganze Bücher auswendig kennen und dennoch nicht gebildet sein. Und man kann ein grundgütiger, warmherziger, anständiger, aber leider ebenfalls unge- bildeter Mensch sein. Beides zusammen ist notwendig, um die angestrebte „Bil- dung der Gesinnungen und des Charak- ters“ zu erreichen. Und selbst das ist nur eine notwendige, keine hinreichende Voraussetzung. Das Besondere an den Humboldtschen Ideen ist nämlich, dass sie auch etwas darüber sagen, wie man sich Wissen und Herzensbildung aneig- nen soll, also auch eine Sozialisations- theorie umfasst. Der Mensch wird in seinem Bil- dungssystem dadurch zum Menschen, dass er von en- gagierten Leh- rern je nach seinen Bega- bungen gezielt gefordert und gefördert wird. Mit anderen Worten: Man wird nicht gebildet, sondern man bildet sich. Insbesondere für die Universität ent- stand daraus das Konzept der Einheit von Forschung und Lehre. Humboldt schuf auch ein einheitliches Schulsys- tem: In der Elementarschule sollte all- gemeine Bildung, in der Gelehrtenschu- le philosophisch grundierte, wissen- schaftliche Bildung erworben werden. Letztere war die Voraussetzung für die höchste Form von Bildung, die zweck- freie und ergebnisoffene Beschäftigung vor allem mit Philologie, Philosophie und Geschichte an der Universität. Politisch hatte er dafür ein günstiges Zeitfenster erwischt: Das offenkundige politische und militärische Versagen des preußischen Adels in der Auseinander- setzung mit Napoleon erlaubte eine kurze Zeit lang eine neue Bildungspoli- tik, bevor sich wieder eine stärker stän- dische Bildungspolitik durchsetzte. Die Humboldtsche Bildungsidee und ihre institutionelle Realisierung standen von Anfang an unter dem Druck der ge- sellschaftlichen Verhältnisse. Zum einen strebten immer mehr Menschen nach sozialem Aufstieg durch Bildung. Auch die Arbeiterklasse hatte sich „Wissen ist Macht“ auf ihre Fahnen geschrieben. Zum anderen begannen die Naturwis- senschaften ihren Siegeszug und mit ih- nen die industrielle Revolution. Die Fol- ge: Das ‚Brotstudium’ trat in Konkur- renz zur Philosophie, der ‚Brotgelehrte’ zum ‚philosophischen Kopf’, die realisti- sche zur humanistischen Bildung. Bil- dungsinhalte und Vermittlungskonzepte sind immer auch Ausdruck sozialer und ökonomischer Veränderungen. Humboldt und der Bologna- Prozess Und Humboldt heute, Bildung heute? Für die Hochschulen steht bei dieser Was den Menschen zum Menschen macht Sozialisation und Bildung | P ETER W INTERHOFF -S PURK | Von den Univer- sitäten erwarten Politik,Wirtschaft und Staat heute vor allem eine Ausbildung, die den Menschen auf Fertigkeiten begrenzt, die seiner beruflichen Qualifikation und den Interessen von Wirtschaft und Staat dienen. Ist aber Bildung und das, was den Menschen zum Menschen macht, nicht weitaus mehr? »Man wird nicht gebildet, sondern man bildet sich.« AUTOR Professor Peter Winterhoff- Spurk leitet die Arbeitseinheit Medien- und Organisations- psychologie an der Universität des Saarlandes.

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Bildungsvorstellungen

Was ist Bildung? „Wissen“, so wie esder Bestseller „Bildung. Alles was manwissen muss“ behauptet? Oder „Her-zensbildung“, also eher Gefühl und aus-geprägte Emotionale Intelligenz, nichtnur IQ sondern auch EQ? Oder ist Bil-dung mit dem französischen SoziologenPierre Bourdieu ein „kulturelles Kapi-tal“? Demnach besteht Bildung ausWissen und Fertigkeiten, die durch Er-ziehungs- und Bildungsaktivitäten er-worben werden und nicht kurzfristigweitergegeben werden können, wie z.B.Titel und Bildungsabschlüsse, aber auchdie Lektüre nicht berufsbezogener Lite-ratur und bestimmter Zeitungen, Thea-ter-, Museums- und Galeriebesuche etc.

Bildung als Wissen, Herzensbildungoder kulturelles Kapital? Alles ein biss-chen zu einseitig. Gehen wir einmal zu-rück zu Wilhelm von Humboldt: „Esgibt schlechterdings gewisse Kenntnis-se, die allgemein sein müssen, und nochmehr eine gewisse Bildung der Gesin-nungen und des Charakters, die keinemfehlen darf. Jeder ist offenbar nur dannein guter Handwer-ker, Kaufmann, Sol-dat und Geschäfts-mann, wenn er ansich und ohne Hinsicht auf seinen be-sonderen Beruf ein guter, anständigerund seinem Stande nach aufgeklärterMensch und Bürger ist“. Bildung derGesinnung und des Charakters definierter als „… die Anregung aller Kräfte desMenschen, damit diese sich über dieAneignung der Welt entfalten und zu ei-ner sich selbst bestimmenden Indivi-

dualität und Persönlichkeit führen“.Erst auf dieser Grundlage erfolgt danndie Ausbildung zu einer spezifischenProfession.

„Das ist wohl recht schwer?“ –

Grenzarbeit

Im Humboldtschen Bildungsbegriff istdemnach beides enthalten: Wissen undHerzensbildung. Man kann also dasganze Bücher auswendig kennen unddennoch nicht gebildet sein. Und mankann ein grundgütiger, warmherziger,anständiger, aber leider ebenfalls unge-bildeter Mensch sein. Beides zusammenist notwendig, um die angestrebte „Bil-dung der Gesinnungen und des Charak-ters“ zu erreichen. Und selbst das ist nureine notwendige, keine hinreichendeVoraussetzung. Das Besondere an denHumboldtschen Ideen ist nämlich, dasssie auch etwas darüber sagen, wie mansich Wissen und Herzensbildung aneig-nen soll, also auch eine Sozialisations-theorie umfasst.

Der Mensch wird in seinem Bil-dungssystem dadurch zum Menschen,

dass er von en-gagierten Leh-rern je nachseinen Bega-

bungen gezielt gefordert und gefördertwird. Mit anderen Worten: Man wirdnicht gebildet, sondern man bildet sich.

Insbesondere für die Universität ent-stand daraus das Konzept der Einheitvon Forschung und Lehre. Humboldtschuf auch ein einheitliches Schulsys-tem: In der Elementarschule sollte all-gemeine Bildung, in der Gelehrtenschu-

le philosophisch grundierte, wissen-schaftliche Bildung erworben werden.Letztere war die Voraussetzung für diehöchste Form von Bildung, die zweck-freie und ergebnisoffene Beschäftigungvor allem mit Philologie, Philosophieund Geschichte an der Universität.

Politisch hatte er dafür ein günstigesZeitfenster erwischt: Das offenkundigepolitische und militärische Versagen despreußischen Adels in der Auseinander-setzung mit Napoleon erlaubte einekurze Zeit lang eine neue Bildungspoli-tik, bevor sich wieder eine stärker stän-dische Bildungspolitik durchsetzte.

Die Humboldtsche Bildungsidee undihre institutionelle Realisierung standenvon Anfang an unter dem Druck der ge-sellschaftlichen Verhältnisse. Zum einenstrebten immer mehr Menschen nachsozialem Aufstieg durch Bildung. Auchdie Arbeiterklasse hatte sich „Wissen istMacht“ auf ihre Fahnen geschrieben.Zum anderen begannen die Naturwis-senschaften ihren Siegeszug und mit ih-nen die industrielle Revolution. Die Fol-ge: Das ‚Brotstudium’ trat in Konkur-renz zur Philosophie, der ‚Brotgelehrte’zum ‚philosophischen Kopf’, die realisti-sche zur humanistischen Bildung. Bil-dungsinhalte und Vermittlungskonzeptesind immer auch Ausdruck sozialer undökonomischer Veränderungen.

Humboldt und der Bologna-

Prozess

Und Humboldt heute, Bildung heute?Für die Hochschulen steht bei dieser

Was den Menschenzum Menschen machtSozialisation und Bildung

| P E T E R W I N T E R H O F F - S P U R K | Von den Univer-sitäten erwarten Politik, Wirtschaft und Staat heute vor allem eine Ausbildung,die den Menschen auf Fertigkeiten begrenzt, die seiner beruflichen Qualifikationund den Interessen von Wirtschaft und Staat dienen. Ist aber Bildung und das,was den Menschen zum Menschen macht, nicht weitaus mehr?

»Man wird nicht gebildet,sondern man bildet sich.«

A U T O R

Professor Peter Winterhoff-Spurk leitet die Arbeitseinheit

Medien- und Organisations-

psychologie an der Universität

des Saarlandes.

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Frage der Bologna-Prozess im Mittel-punkt. „Wunderbar“, würde Wilhelmvon Humboldt sagen, „vieles davon istmit meinem Bildungsideal vereinbar:Mobilität, europäische Zusammenar-beit, Weltbürgertum.“ Aber ein genauerBlick in die Bologna-Protokolle würdeihn belehren: In Tat und Wahrheit ist esdas Ende seiner Idee. Formen, Inhalteund Funktionen der Universität werdenvöllig neu bestimmt. Besonders deutlichwird das am Bachelor-Studium. „Mitdem Bachelor ist ein Studienabschlusseingeführt“, erläutert das Bundesminis-terium für Bildung und Forschung, „derbereits nach drei bis vier Jahren zu ei-nem berufsbefähigenden Abschlussführt, so dass früher als bisher ein Be-rufseinstieg möglich ist.“

Humboldt? Die „… Anregung allerKräfte des Menschen, damit diese sichüber die Aneignung der Welt entfaltenund zu einer sich selbst bestimmendenIndividualität und Persönlichkeit füh-ren“ ist in diesem Modell eindeutignicht mehr Funktion der Universität.Jetzt kommt zuerst – und für viele auchausschließlich – die fachspezifische, be-rufsqualifizierende Ausbildung – Hum-boldt von den Füßen auf den Kopf ge-stellt.

In schöner Klarheit wird das im„Nationalen Bildungsbericht 2008“ imAuftrag der KMK und des BMBF fest-gestellt: „Unter den Bedingungen wis-sensgesellschaftlicher Modernisierungwird die Hochschule mehr und mehr zueiner zentralen Institution beruflicherQualifizierung.“ Wie weit die ökonomi-sche Betrachtung von Bildung im ‚Na-tionalen Bildungsbericht’ gediehen ist,zeigt die Berechnung vonsog. Bildungsrenditen: Dortist zu lesen, dass der durch-schnittliche Renditezu-wachs eines Hochschulstu-diums gegenüber einemVollzeitbeschäftigten mit abgeschlosse-ner dualer Berufsausbildung rund 46Prozentpunkte beträgt.

Was sich schon zu Zeiten Hum-boldts andeutete, findet sich nun als do-minantes Merkmal: Bildung wird kon-sequent in den Dienst des Wirtschaftsle-bens genommen. Ein besonders deutli-ches Beispiel dafür sind die sog. Stif-tungsprofessuren des Stifterverbandsfür die deutsche Wissenschaft. Der Ver-band zahlt für fünf Jahre das Gehalt so-wie 15 000 Euro an Sachmitteln – rund200 Professuren hat er seit 1985 geför-dert. Auf seiner Homepage liest mandazu ziemlich unverhüllt: „Stiftungs-

lehrstühle sind … nicht an Auftragsfor-schung gekoppelt. Doch ein förderndesUnternehmen kann durch den von ihmbestimmten Zuschnitt der Professur diefür sich wichtigen Themen an derHochschule verankern – und frühzeitigNachwuchskräfte erkennen.“

Humboldt würde zu alledem sagen:„Fängt man aber von dem besonderenBerufe an, so macht man (den Men-schen) einseitig und er erlangt nie dieGeschicklichkeit und die Freiheit, dienotwendig ist, um auch in seinem Beru-fe allein nicht bloß mechanisch, was an-dere vor ihm getan, nachzuahmen, son-dern selbst Erweiterungen und Verbes-serungen vorzunehmen. Der Menschverliert dadurch an Kraft und Selbstän-digkeit…“.

Anwendungsorientierung statt allge-meiner Bildung ist das Eine. Das Ande-re ist, auch schon zu Humboldts Zeitenerkennbar, die Öffnung der Universitä-ten für soziale Gruppen, denen sie bis-lang kaum zugänglich war. Wie seiner-zeit der abolutistische Staat nicht ohneein gebildetes Bürgertum auskam, sofunktioniert jetzt die Wirtschaft nichtohne gut ausgebildete Akademiker ausder Mittel- und Unterschicht.

Auch wenn der Prozess das kulturel-le Kapital der Bildungseliten entwertet,aus der Humboldtschen Perspektive ei-ner allgemeinen Menschenbildung istdiese Öffnung ohne ‚wenn’ und ‚aber’

zu begrüßen. Leider gibt es einige‚wenns’ und ‚abers’ hinsichtlich der Fol-gen: Bis heute sind die Universitätendafür finanziell und personell nicht ent-sprechend ausgestattet: Allein die Be-treuungsrelation beträgt heute – knappzwei Millionen Studenten und 38 000Professoren – 1:52. Bei den Geisteswis-senschaften liegt sie bei über 100.

So ist eine allgemeine Menschenbil-dung nicht zu erreichen und so gesehenist die Verschulung des Studiums imBolognaprozess durchaus konsequent.Mit solchen Massen kann die Universi-tät nur fertig werden, wenn sie Bildungneu definiert und sich als Studentenfa-

brik organisiert. Folgerichtig müssenzukünftig alle Studiengänge in sog. Mo-dulhandbüchern nach Form und Inhal-ten beschrieben werden, andernfallswerden sie von den eigens eingerichte-ten Akkreditierungsagenturen nicht zer-tifiziert. Zwischen 10 000 und 15 000Euro kostet das pro Studiengang.

Und wenn die Universität schonverschult wird, dann kann man die Pro-fessorengehälter eigentlich auch denender Lehrer anpassen: Nach einer Unter-suchung des Wirtschaftshistorikers Jan-Otmar Hesse erhielten die Professorenin der Weimarer Republik noch dasZehnfache des Durchschnittseinkom-mens als Besoldung, in der Bundesrepu-blik der 50er und 60er Jahre noch dasFünffache, in den siebziger Jahren das

Zweieinhalbfache und heute ver-dient eine W-2-Professor an derTU Dresden mit rund 3 700 Euro(Ostbezüge) nur noch das 1,6fa-che des durchschnittlichen Ost-gehalts, und damit etwa so viel

wie ein 41jähriger Oberstudienrat amhiesigen Bertolt-Brecht-Gymnasium.

Aber ich will auch die Professorennicht vergessen. Mich hat in letzter Zeitoft irritiert, wie kritiklos Kollegen denBologna-Prozess durchgeführt haben.Allzu häufig fühlte ich mich an diesesBonmot erinnert: Wenn von der EU ei-ne Neuerung kommt, fragen die Fran-zosen zuerst „Warum?“, die Deutschen„Bis wann?“. Inzwischen deutet sichaber auch ein Wandel im Meinungskli-ma an. Der Deutsche Hochschulver-band sagt: „Der Bologna-Prozess inDeutschland ist nur noch zu retten,wenn massiv gegengesteuert wird. Miteinem bloßen Nachsteuern ist es nichtgetan“.

Die Interessen der Wirtschaft, derWunsch kultureller Aufsteiger nach ge-hobenen und einkommensförderndenBildungsabschlüssen und die politischeZurückhaltung vieler Hochschullehrerbilden hier eine mächtige Allianz. Überdie Bildungspolitiker will ich gar nichterst sprechen. Aber natürlich darf manauch die Frage stellen: Ist das wirklichso schlecht? Humboldts Bildungsre-form ist 200 Jahre alt, jetzt muss docheinfach ein neues Bildungsideal her.

Die Antwort ist erstmal eine Gegen-frage: Muss es das wirklich? Auch dieIdeale der französischen Revolutionoder die ‚Virgina declaration of rights’der Vereinigten Staaten von Amerikasind so alt – und sie gelten bis heute.Klar, was den Menschen zum Men-schen macht, Bildung und Sozialisation,

»Fängt man von dem besonde-ren Berufe an, so macht man(den Menschen) einseitig.«

»Was jetzt an den Universitätengeschieht ist die Begrenzung desMenschen auf Fertigkeiten.«

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ist historischen Veränderungen unter-worfen, gleichwohl bleiben doch aucheinige Grundsätze über längere Zeiträu-me hin gültig. Dazu zählt aus meinerSicht ganz gewiss die HumboldtscheIdee von der allgemeinen Bildung undvon deren Priorität gegenüber der be-ruflichen Ausbildung.

Dafür sprechen zum einen schlichteNützlichkeitserwägungen: Wie er-wähnt, kann der allgemein gebildeteMensch sich besser an unterschiedlicheUmwelten adaptieren als der zu frühspezialisierte. Auch zivilisationstheore-tisch ist der gebildete Mensch in der Re-gel einer, der eine höhere Affektkon-trolle hat. Das erleichtert – etwa bei denAggressionen – das soziale Zusammen-leben. Schließlich braucht jedes demo-kratische Gemeinwesen hinreichendgebildete Bürger, um auf Dauer beste-hen und funktionieren zu können. Zu-dem veraltet berufliches Expertenwis-sen vergleichsweise schnell.

Für mich persönlich gibt es darüberhinaus auch christlich-humanistischeGründe. Sie kennen ja das biblischeGleichnis von den Talenten (Matthäus25, 20): „Herr, fünf Talente hast du mirübergeben, siehe, andere fünf Talentehabe ich zu denselben gewonnen.“ DasWort „Talent“ verstehen wir heute als‚von Gott anvertraute Fähigkeiten’. Da-mit ist man nicht mehr ferne von Lu-ther, für den humanistische Bildungund ein gutes Schulwesen notwendigwaren, damit die Bibel richtig verstan-den wird und das Gemeinwesen richtigfunktioniert: „Nun liegt einer Stadt Ge-

deihen nicht alleine darin, dass mangroße Schätze sammle, feste Mauern,schöne Häuser, viel Büchsen und Har-nisch zeuge; ... sondern das ist einerStadt bestes und allerreichstes Gedei-hen, Heil und Kraft, dass sie viel feiner,gelehrter, vernünftiger, ehrbarer, wohl-erzogener Bürger hat ...“

Vorrang der allegemeinen vor

der Berufsausbildung

Sowohl aus utilitaristischen wie ausethischen Überlegungen heraus halte iches nach allem für unabdingbar, den

Humboldtschen Grundgedanken deszeitlichen und logischen Vorrangs einerallgemeinen Bildung gegenüber der be-rufsbezogenen Ausbildung nicht aufzu-geben. Allerdings ist die Diskussion im-mer wieder neu darüber zu führen, wel-che Inhalte zur allgemeinen Bildung zuzählen sind. Dass es heute nicht mehrnur Philologie, Philosophie und Ge-schichte sein können, versteht sich vonselbst. Die an den Universitäten zu be-obachtende Umkehrung dieser Idee unddie Ökonomisierung der Bildungsideehalte ich aus den skizzierten Gründenfür eine ganz fatale Fehlentwicklung.

Was jetzt im Bildungsbereich – undbesonders an den Universitäten – ge-schieht, ist die Begrenzung des Men-schen auf Fertigkeiten und Begabungen,

die seiner beruflichen Qualifikation unddarüber hinaus den Interessen der Wirt-schaft und des Staates dienen. DenPreis dafür werden die nächsten Studie-rendengenerationen – und später wir al-le – zahlen müssen. Was den Menschenzum Menschen macht, ist aber weitausmehr, nämlich – so zum Schluss nocheinmal Wilhelm von Humboldt –

„...dass die wahre Vernunftdes Menschen keinen ande-ren Zustand als einen solchenwünschen kann, in welchemnicht nur jeder Einzelne derungebundensten Freiheit ge-

nießt, sich aus sich selbst, in seiner Ei-gentümlichkeit zu entwickeln, sondernin welchem auch die physische Naturkeine andere Gestalt von Menschen-händen empfängt, als ihr jeder Einzelnenach dem Maß seines Bedürfnisses undseiner Neigung, nur beschränkt durchdie Grenzen seiner Kraft und seinesRechtes selbst und willkürlich gibt.“

Stark gekürzte Fassung eines Vortrages gehaltenbei der Ringvorlesung ‚Der Mensch ist das Maßaller Dinge’ der Akademie für Palliativmedizinund Hospizarbeit Dresden in Kooperation mitdem Deutschen Hygiene-Museum Dresden,dem Zentrum für Weiterbildung der TU Dresdenund der Dresdner Seniorenakademie am 13. Ja-nuar 2009. Die ungekürzte Fassung kann beider Redaktion von Forschung & Lehre angefor-dert werden.

»Mich hat oft irritiert, wiekritiklos Kollegen den Bologna-Prozess durchgeführt haben.«

Gleichnis von den anvertrauten

Zentnern, Kupferstich, 1670, von Pierre

Mariette nach Merian

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