Warum sind die deutschen Arbeiter so wenig kampfbereit? · eine große Rolle. So wurde z. B. der...

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„Für Dialektik in Organisationsfragen“ 24 K 313 Eine brennende Frage, die viele linke Gewerk- schafter, jeden der die Arbeiterbewegung auch nur ein Stück nach vorne bringen will und jede und jeden, die/der gegen Erwerbslosigkeit, gegen die ganzen Hartz-Schweinereien, gegen steigende Armut, Rassismus, Krieg usw. aktiv ist, beschäftigt. Hierbei äußern insbesondere junge, engagierte Menschen ihr Unverständnis und teilweise ihre Wut und Verzweiflung über das Verhalten, das Nichtstun und Nichtaufmucken der Mehrheit der deutschen Arbeiter. Das umso mehr, als in den letzten Jahren immer wieder von größeren Streiks, von Generalstreiks der Arbeiterklasse in Frank- reich, Italien, Griechenland und sogar in Israel (wurde in den Medien besonders klein gehalten) und in anderen Ländern in Presse, Funk und Fern- sehen berichtet wurde. Über sechs Millionen wa- ren in Italien vor rd. drei Jahren auf der Straße, als der korrupte Regierungschef Berlusconi den Ar- beitern den gesetzlichen Kündigungsschutz neh- men wollte. In Frankreich, Griechenland und Is- rael war es ähnlich, als die Regierungen versuch- ten, die Bedingungen für die Renten zu verschlech- tern. Hierbei bedurfte es keiner größeren Aufrufe der Gewerkschaften, um die dortigen Arbeiterin- nen und Arbeiter dazu zu bringen, die Angriffe von Kapitalisten und Regierungen auf ihre Klasse auch gemeinsam als Klasse abzuwehren. Ganz anders in diesem Lande. Hier sind die Streiks der Arbeiter in den anderen Ländern noch kein sich in der Praxis auswirkendes Beispiel da- für, dass es unbedingt notwendig ist, sich als Klas- se zu wehren. Abgesehen von wenigen Streiks in einzelnen Betrieben werden „Schröder Agenda 2010“, Hartz I-IV, die ganzen Angriffe auf die So- zialversicherung, auf Rentenalter, Renten- und Lohnkürzungen usw. und die damit verbundenen gegen die ganze Klasse gerichteten Grausamkeiten, Demütigungen und Erniedrigungen ohne ernsthaf- te Gegenwehr hingenommen. So zu sagen, als wä- ren sie unabänderliches „Schicksal“, in das man sich zu fügen hat. Eine keinen Widerstand dulden- de „Strafe und Buße“, um das „Unrecht“ wieder gut zu machen, welches den Kapitalisten in der Vergan- genheit mit den ihnen im Kampf abgerungenen Rechten und Tarifverträgen angetan wurde. Ganz in diesem Sinne verhalten sich große Teile der Ar- beiterklasse. Wie die Medizinmänner, die den „Göt- tern der Finsternis“ auf dem Altar der Unwissen- heit Menschenopfer u. a. brachten, um sie „freund- lich zu stimmen“, servieren sie den Kapitalisten in „Zusammenarbeit“ mit den Gewerkschaftsführun- gen (auf sie kommen wir noch zurück) ihre Löhne und Tarifverträge auf dem Silbertablett. Wie ehe- mals die Götter sollen auch die Kapitalisten durch die Lohnopfer, Arbeit ohne Lohn usw. „freundlich gestimmt“, vom guten Willen der Arbeiter und Ge- werkschaften überzeugt werden. Dafür sollen sie das im Kapitalismus Unmögliche wahr machen – die Arbeitsplätze sichern! Mit der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplat- zes, wie das sehr häufig als Ursache für die feh- lende Gegenwehr, für das Nichtstun angeführt wird, können die deutschen Arbeiter ihr Verhal- ten alleine nicht rechtfertigen. Diese Angst und Be- fürchtung gibt es in anderen Ländern auch und trotzdem kommt es zu Massenaktionen von gro- ßen Teilen oder der ganzen Arbeiterklasse. Dass dies in diesem Lande angeblich nicht möglich ist bzw. den Arbeitern wesentlich schwerer fällt, dafür gibt es Gründe, die in der nicht gerade „ruhm- reichen“ Entwicklungsgeschichte der Deutschen, des deutschen Volkes liegen. Dabei geht es um u. a. Jahrhunderte lang anerzogene Denk- und Ver- haltensweisen, die von den Herrschenden gerne als so genannte „preußische Tugenden“ bezeich- net, gelobt und durch entsprechende „Menschen- dressur“ eingeimpft wurden und werden. Es han- delt sich hierbei immer noch um eine weit verbrei- tete Staats- und generell um Obrigkeitshörigkeit. Was in der Praxis heißt, immer warten auf den Be- fehl von „oben“. Ohne ihn oder dagegen geht nichts. Z. B. ohne Streikaufruf der Gewerkschafts- führung kein Streik! Ohne den Betriebsratsvorsit- zenden, ohne oder gegen die Meinung des Be- triebsrates kann die Belegschaft nichts machen. „Tugenden“ wie „Gehorsam ist die erste Bürger- pflicht“, „Ordnung muss sein“, „Wohlverhalten“ bis zum „geht nicht mehr“, spielen hierbei ebenso eine große Rolle. So wurde z. B. der ehemalige IGM-Vorsitzende Zwickel 2004 von den Strei- kenden im Osten nicht dafür zur Rechenschaft gezogen, dass er ohne auch nur ein Wort mit ih- nen darüber gewechselt zu haben, vor die Presse trat und ihren Streik für die Durchsetzung der 35- Stunden-Woche in selbstherrlicher Manier ein- fach abbrach. Die Grenze zur Unterwürfigkeit, zum Untertanengeist bis zum Stramm stehen vor der Gewerkschaftsbürokratie, den „Hauptamtli- chen“ oder beim Anblick eines Polizisten, einer Uniform oder vor Beamten und Angestellten auf Ämtern, ist hierbei fließend. Dabei geht der Le- galismus, die Gesetzesgläubigkeit, „alles muss ge- setzlich geregelt, legal sein“, über alles. Auch beim Kampf um Lohn oder gegen Entlassungen, gegen den Existenzverlust Hunderter Arbeiterinnen und Arbeiter muss die Straßenverkehrsordnung einge- halten, die Straße für den „freien Bürger“, den Warum sind die deutschen Arbeiter so wenig kampfbereit?

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  • „Für Dialektik in Organisationsfragen“24 K 313

    Eine brennende Frage, die viele linke Gewerk-schafter, jeden der die Arbeiterbewegung auch nurein Stück nach vorne bringen will und jede undjeden, die/der gegen Erwerbslosigkeit, gegen dieganzen Hartz-Schweinereien, gegen steigendeArmut, Rassismus, Krieg usw. aktiv ist, beschäftigt.Hierbei äußern insbesondere junge, engagierteMenschen ihr Unverständnis und teilweise ihreWut und Verzweiflung über das Verhalten, dasNichtstun und Nichtaufmucken der Mehrheit derdeutschen Arbeiter. Das umso mehr, als in denletzten Jahren immer wieder von größeren Streiks,von Generalstreiks der Arbeiterklasse in Frank-reich, Italien, Griechenland und sogar in Israel(wurde in den Medien besonders klein gehalten)und in anderen Ländern in Presse, Funk und Fern-sehen berichtet wurde. Über sechs Millionen wa-ren in Italien vor rd. drei Jahren auf der Straße, alsder korrupte Regierungschef Berlusconi den Ar-beitern den gesetzlichen Kündigungsschutz neh-men wollte. In Frankreich, Griechenland und Is-rael war es ähnlich, als die Regierungen versuch-ten, die Bedingungen für die Renten zu verschlech-tern. Hierbei bedurfte es keiner größeren Aufrufeder Gewerkschaften, um die dortigen Arbeiterin-nen und Arbeiter dazu zu bringen, die Angriffe vonKapitalisten und Regierungen auf ihre Klasse auchgemeinsam als Klasse abzuwehren.

    Ganz anders in diesem Lande. Hier sind dieStreiks der Arbeiter in den anderen Ländern nochkein sich in der Praxis auswirkendes Beispiel da-für, dass es unbedingt notwendig ist, sich als Klas-se zu wehren. Abgesehen von wenigen Streiks ineinzelnen Betrieben werden „Schröder Agenda2010“, Hartz I-IV, die ganzen Angriffe auf die So-zialversicherung, auf Rentenalter, Renten- undLohnkürzungen usw. und die damit verbundenengegen die ganze Klasse gerichteten Grausamkeiten,Demütigungen und Erniedrigungen ohne ernsthaf-te Gegenwehr hingenommen. So zu sagen, als wä-ren sie unabänderliches „Schicksal“, in das mansich zu fügen hat. Eine keinen Widerstand dulden-de „Strafe und Buße“, um das „Unrecht“ wieder gutzu machen, welches den Kapitalisten in der Vergan-genheit mit den ihnen im Kampf abgerungenenRechten und Tarifverträgen angetan wurde. Ganzin diesem Sinne verhalten sich große Teile der Ar-beiterklasse. Wie die Medizinmänner, die den „Göt-tern der Finsternis“ auf dem Altar der Unwissen-heit Menschenopfer u. a. brachten, um sie „freund-lich zu stimmen“, servieren sie den Kapitalisten in„Zusammenarbeit“ mit den Gewerkschaftsführun-gen (auf sie kommen wir noch zurück) ihre Löhneund Tarifverträge auf dem Silbertablett. Wie ehe-

    mals die Götter sollen auch die Kapitalisten durchdie Lohnopfer, Arbeit ohne Lohn usw. „freundlichgestimmt“, vom guten Willen der Arbeiter und Ge-werkschaften überzeugt werden. Dafür sollen siedas im Kapitalismus Unmögliche wahr machen –die Arbeitsplätze sichern!

    Mit der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplat-zes, wie das sehr häufig als Ursache für die feh-lende Gegenwehr, für das Nichtstun angeführtwird, können die deutschen Arbeiter ihr Verhal-ten alleine nicht rechtfertigen. Diese Angst und Be-fürchtung gibt es in anderen Ländern auch undtrotzdem kommt es zu Massenaktionen von gro-ßen Teilen oder der ganzen Arbeiterklasse. Dassdies in diesem Lande angeblich nicht möglich istbzw. den Arbeitern wesentlich schwerer fällt,dafür gibt es Gründe, die in der nicht gerade „ruhm-reichen“ Entwicklungsgeschichte der Deutschen,des deutschen Volkes liegen. Dabei geht es um u.a. Jahrhunderte lang anerzogene Denk- und Ver-haltensweisen, die von den Herrschenden gerneals so genannte „preußische Tugenden“ bezeich-net, gelobt und durch entsprechende „Menschen-dressur“ eingeimpft wurden und werden. Es han-delt sich hierbei immer noch um eine weit verbrei-tete Staats- und generell um Obrigkeitshörigkeit.Was in der Praxis heißt, immer warten auf den Be-fehl von „oben“. Ohne ihn oder dagegen gehtnichts. Z. B. ohne Streikaufruf der Gewerkschafts-führung kein Streik! Ohne den Betriebsratsvorsit-zenden, ohne oder gegen die Meinung des Be-triebsrates kann die Belegschaft nichts machen.„Tugenden“ wie „Gehorsam ist die erste Bürger-pflicht“, „Ordnung muss sein“, „Wohlverhalten“bis zum „geht nicht mehr“, spielen hierbei ebensoeine große Rolle. So wurde z. B. der ehemaligeIGM-Vorsitzende Zwickel 2004 von den Strei-kenden im Osten nicht dafür zur Rechenschaftgezogen, dass er ohne auch nur ein Wort mit ih-nen darüber gewechselt zu haben, vor die Pressetrat und ihren Streik für die Durchsetzung der 35-Stunden-Woche in selbstherrlicher Manier ein-fach abbrach. Die Grenze zur Unterwürfigkeit,zum Untertanengeist bis zum Stramm stehen vorder Gewerkschaftsbürokratie, den „Hauptamtli-chen“ oder beim Anblick eines Polizisten, einerUniform oder vor Beamten und Angestellten aufÄmtern, ist hierbei fließend. Dabei geht der Le-galismus, die Gesetzesgläubigkeit, „alles muss ge-setzlich geregelt, legal sein“, über alles. Auch beimKampf um Lohn oder gegen Entlassungen, gegenden Existenzverlust Hunderter Arbeiterinnen undArbeiter muss die Straßenverkehrsordnung einge-halten, die Straße für den „freien Bürger“, den

    Warum sind die deutschen Arbeiter sowenig kampfbereit?

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    Autofahrer frei gehalten werden. Demonstrationenoder Kundgebungen ohne Aufforderung, das Be-treten der Straße ohne behördliche Genehmigungsind nicht möglich. Dafür gibt es den „Bürgersteig“.Bevor etwas gemacht werden kann, muss abgesi-chert sein, dass es auch „legal“ und nicht gegen dieallgemein gültige „Ordnung“ verstößt. Und für denStreik gilt z. B. bei manchen: „Wer bezahlt mir denLohnausfall, wenn ich dabei mit mache?“ DieseArt von Versicherungsdenken ist weit verbreitet.Bei vielen hat sie sich tief in die Köpfe eingegra-ben und zum großen Hemmnis bei zu treffendenEntscheidungen entwickelt. Besonders, wenn esdarum geht, für die eigenen Interessen zu kämp-fen und „auf die Straße zu gehen“. (Einige Beispie-le dazu weiter unten.)

    Besonderheiten der historischenEntwicklung Deutschlands

    Die oben angeführten Geisteshaltungen undVerhaltensweisen wie Stillhalten, Leiden und Er-dulden sind Eigenschaften des feigen deutschenund antidemokratischen Bürgertums, des Unter-tanengeistes des deutschen Spießbürgers, wie sieweiter unten beschrieben werden. Offensichtlichhat eine große Masse der deutschen Arbeiter beiihrer Entwicklung und Organisierung zur Klassenicht verhindern können, dass solche Eigenschaf-ten auf sie abgefärbt sind. Sie so zu sagen trotz allerrevolutionären und heldenhaften Kämpfe von Ver-haltensweisen des Bürgertums infiziert und„krank“ gemacht wurden, wobei sich dieser mit-geschleppte, reaktionäre Ballast gemeinsam mitden Nachwirkungen bei Kämpfen erlittener Nie-derlagen bis heute zu in „Lähmungserscheinun-gen“ beim Klassenkampf auszudrücken scheint.

    Friedrich Engels und Karl Marx haben sich in-tensiv mit in der historischen EntwicklungDeutschlands liegenden Besonderheiten ausei-nandergesetzt und die Ursachen erlittener Nieder-lagen und o. g. Denk- und Verhaltensweisen nach-gewiesen. Danach geriet das deutsche Volk in al-len entscheidenden Momenten seiner Entwick-lung, als es vor der lebenswichtigen Lösung vonGrundfragen gestanden war, nach einem vorüber-gehenden revolutionären Aufschwung immer wie-der unter den Einfluss der Reaktion. Mit dem Er-gebnis, dass dies dann zu einer Restauration derfrüheren konservativen Ordnung führte. Im ge-schichtlichen Entwicklungsverlauf wird diese vonKarl Marx aufgedeckte Besonderheit im Ausgangder größten Bewegungen der deutschen Geschich-

    te deutlich. So in der Reformation und im Bauern-krieg, in den Ereignissen zur Zeit der französi-schen Revolution und der Napoleonischen Krie-ge, in der Revolution von 1848 und der Bewegungzur nationalen Einigung Deutschlands. In all die-sen Bewegungen erwies sich letzten Endes dasÜbergewicht auf Seiten der reaktionären Klassen.

    Der deutsche Bauernkrieg undder Dreißigjährige Krieg

    Im Bauernkrieg von 1524 bis 1525 traten dieBauern und Plebejer (Besitzlosen) für die Gleich-heit der Menschen, gegen die feudalistische Bedrük-kung und Ausbeutung durch Kirche und Fürsten an.Nach den Worten von Friedrich Engels erhobensich die Bauern hierbei zu einem Aufstand, der„den Gipfelpunkt dieser ganzen revolutionärenBewegung bildet“ (zitiert nach: Marx und Engelsüber das reaktionäre Preußentum, Moskau 1947,S. 8). Doch während sich in England die Bourgeoi-sie bei dieser Bewegung an die Spitze stellte, schlugsich das zu dieser Zeit noch wenig entwickelte deut-sche Bürgertum auf die Seite der Fürsten. Beden-kenlos verriet es seine eigene Revolution gegen diefeudalen Kräfte und bekämpfte gemeinsam mit demAdel die fortschrittlichen Bauern. Ihr Aufstandwurde auf grausamste Art und Weise, durch Mas-senausrottung, durch die Verwüstung ganzer Land-striche, von Städten und Dörfern von den Fürstenunterdrückt. Rücksichtslos wurde hierbei das Landin tiefstes Elend gestoßen, seine ökonomischenGrundlagen vernichtet und die Volksmassen in denZustand großer Verzweiflung getrieben.

    Auf diesem Wege endete die erste große revolu-tionäre Schlacht des deutschen Volkes mit seinerNiederlage. Sieger waren die von den feigen Bür-gern massiv unterstützten Fürsten, das ganze adeli-ge Unterdrücker- und Ausbeuterpack. In seinenfrühen Schriften nannte Engels den Adelsstand inPreußen, dessen Hauptberufung, „ein fortwähren-des Schlachten“ ist, ein Geschlecht von „Schläch-tern und Knochenhauern“ (Über das reaktionärePreußentum, S. 20). Die „Schlächter und Knochen-hauer“ rissen sich die reichsten Kirchengüter undLändereien als Kriegsbeute unter die Nägel. Dasdeutsche Bauerntum, das in dieser ruhmreichenSchlacht eine Niederlage erlitten hatte, wurde jetztdoppelt unterdrückt. Die Kräfte der reaktionärenKlassen in Deutschland nahmen noch mehr zu,während das Land verwüstet und die revolutionä-ren Kräfte des deutschen Volkes auf lange Zeit hin-aus gebrochen und erschöpft waren.

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    Durch den Dreißigjährigen Krieg von 1618 bis1648 wurden Ruin und Verwüstung des Landes so-wie die Schwächung der fortschrittlichen Kräftein Deutschland noch weiter vorangetrieben. Derjahrzehntelang währende Krieg zwischen der zen-tralen deutschen Reichsgewalt und den einzelnendeutschen Fürsten hatte dazu geführt, dass sich ausso genannten Landsknechten und Söldnern bekrie-gende Heere entstanden waren. Ihr Beruf war derKrieg, der mit den barbarischsten, mittelalterli-chen Formen der Verheerung des Landes, mitMord, Raub, Plünderung und Gewaltanwendungjeglicher Art gegen die friedliche Bevölkerunggeführt wurde.

    Engels schrieb dazu: „Eine Klasse von Leutenhatte sich gebildet, die vom Krieg und für denKrieg lebte ... Zentraleuropa wurde von ,Kondot-tieri’ aller Art überschwemmt, denen der religiö-se und politische Streit als Vorwand diente, umdas ganze Land zu plündern und zu verheeren.“(F. Engels, Infantry, The New American Cyclopa-edia, Vol. IX, 1860, S. 518. dem Englischen, zit.nach: Über das reaktionäre Preußentum, S. 10)

    Einer der Teilnehmer am Dreißigjährigen Kriegschilderte wie folgt die „Heldentaten“ der Söld-ner in den von ihnen unterworfenen Gebieten:„Wo der Wirt mit Weib und Kind verjagt ist, da

    haben Hühner, fette Gänse, Kühe, Ochsen,Schweine und Schafe böse Zeit. Dann teilt mandas Geld mit Hüten, misst Samt, Seidenzeug undTuch mit langen Spießen aus, schlachtet eineKuh um der Haut willen, schlägt Kisten undKasten auf, und wenn alles geplündert undnichts mehr da ist, steckt man das Haus inBrand. Das ist das rechte Landsknechtfeuer,wenn fünfzig Dörfer und Flecken in Flammenstehen. Dann zieht man in ein ander Quartierund fängt’s ebenso an.“ (Zitiert nach: F. Mehring,Kriegsgeschichtliche Streifzüge, „Die Neue Zeit“,1914/15, Bd. I, S. 464)

    Als Folge der Niederlage des deutschen Volkesim Bauernkrieg und der durch den dreißigjähri-gen Krieg vollendeten Verwüstung war das deut-sche Volk ausgeblutet und auf Jahrhunderte der re-volutionären Energie verlustig gegangen. Der Drei-ßigjährige Krieg „hatte zur Folge, dass Deutsch-land für zweihundert Jahre aus der Reihe der po-litisch tätigen Nationen Europas gestrichenwurde“ (F. Engels, Über historischen Materialis-mus in: MEW Bd. 22, S. 300)

    Das reaktionäre PreußentumHierbei wurden durch diesen Krieg selbst die

    schwachen Bindungen gelockert, durch welchedie zahlreichen deutschen Fürstentümer im Rah-men des Reiches zusammengehalten wurden.Deutschland stellte jetzt ein buntscheckiges Ge-menge faktisch voneinander unabhängiger Staatendar, die von kleinen despotischen Fürsten regiertwurden. Engels schrieb über sie: „Und dabei, je-der dieser 1000 Fürsten absolut rohe ungebilde-te Lumpen, von denen Zusammenwirken nie zuerwarten. Launen stets in Masse ... Doch ihregrößte Schandtat war ihre bloße Existenz.“ (F.Engels, Varia über Deutschland)

    In diesem Haufen wurde Preußen einer derreaktionärsten deutschen Staaten, das Preußentum(Marx: „... etwas Lausigeres hat die Weltgeschich-te nie produziert ...“), zur Hauptstütze und Ver-körperung der Reaktion. Es ist die GeschichtePreußens, die eine Antwort auf die Frage gibt,warum die reaktionären Klassen auch in der nach-folgenden Entwicklungsgeschichte Deutschlandsdie Oberhand behielten.

    Die Herrschaft der Reaktion in diesen damalsexistierenden deutschen Staaten wurde nochdurch eine besondere Form des Absolutismus(Diktatur der Adelsklasse) verstärkt, die dieser inDeutschland angenommen hatte. „Während inEngland und Frankreich die absolutistischeMonarchie eine zentralisierende Rolle spielte,die Bildung eines einheitlichen Nationalstaatesförderte und dem bürgerlichen Fortschritt dien-te, artete der Absolutismus in Deutschland inDespotismus aus. Die Träger der absolutisti-schen Gewalt waren hier die Regenten der klei-nen und kleinsten Staaten, die deutschen Für-sten, die in ihrer Politik die Interessen der reak-tionären Klassen widerspiegelten. Der Absolu-tismus in Deutschland, der in die engen Rahmender Kleinstaaten gezwängt war, und keine fort-schrittlichen gesamtnationalen Aufgaben hat-te, verwandelte sich in eine Tyrannei, die jedesAufkommen einer Initiative und Aktivität derMassen unterdrückte, in eine kleinliche gehäs-sige Bevormundung, die alle lebendigen Kräfte

    Karikatur von 1848 auf dieDeutsche Kleinstaatereimit ihren zahlreichen En-klaven (= innerhalb eineStaatsgebietes liegendefremde kleine Gebiete). Dieletzen Zollschranken soll-ten erst 1888, 17 Jahrenach der Reichgründung,fallen.

    Überfallene Bauern imKampf mit Landsknechten(Holzschnitt von H. S. Be-ham, 1500-1550)

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    des Volkes fesselte. Das Produkt dieses so be-schaffenen Absolutismus war eine sich maßlosverbreitende Bürokratie, eine Macht des Beam-tentums, das hier immer mehr Einfluss auf denGang des Staatslebens gewann. Das bürokrati-sche System hat der Entwicklung Deutschlandsso fest seinen Stempel aufgedrückt, dass ein spe-zifisch deutscher bürokratischer Beamtengeistentstanden ist mit seiner Verbeugung vor demBuchstaben des Gesetzes, mit seiner sklavischenUnterwürfigkeit vor der Macht der Besitzenden.Diese bürokratische Maschine lastete mit ihrerganzen Schwere auf den fortschrittlichen und re-volutionären Elementen des deutschen Volkesund verstärkte die Kräfte der Reaktion.“ (Überdas reaktionäre Preußentum, S.7/8)

    Die hohe Beamtenschaft rekrutierte sich eben-falls aus der Schicht der Junker (ostelbische Groß-grundbesitzer, d. AG) Sie übertrugen auch auf die-ses Gebiet den Geist des Preußentums, einen kal-ten, abstoßenden Hochmut und eine völlige Miss-achtung der Volksinteressen. Die Beamten unterden preußischen Junkern verwandelten dieseMerkmale in den besonderen preußischen „Stil“des kleinlich pedantischen Bürokratismus. DerAusdruck „preußischer Bürokrat“ wurde zumSynonym für den widerlichen, alles Lebendige ab-tötenden Beamtengeist des seelenlosen Mechanis-mus, der in „genauer Übereinstimmung mit den be-stehenden Gesetzen“ wirkt.

    Der preußisch-deutsche Staat umgab diesen see-lenlosen Beamten mit der Aureole einer unanfecht-baren Autorität und forderte von seinen Unterta-nen widerspruchslose Befolgung der Vorschriftenund Verfügungen der Bürokratie. Marx schrieb:„Jeder ihrer Schritte, selbst eine einfache Ortsver-änderung wird durch den allmächtigen Eingriffder Bürokratie, dieser zweiten Vorsehung echtpreußischer Herkunft geregelt. Sie können wederleben noch sterben noch heiraten, weder Briefeschreiben noch denken noch drucken, noch einGeschäft beginnen, weder unterrichten noch ler-nen, noch eine Versammlung einberufen, wedereine Fabrik bauen noch auswandern noch irgend-etwas anderes tun ohne ‚obrigkeitliche Erlaub-nis’.“ (K. Marx, Affairs in Prussia, „New York Dai-ly Tribune“ Nr. 5471 vom 3. 11. 1858)

    „Der preußische Despotismus… stellt mir indem Beamten ein höhres, geheiligtes Wesen ge-genüber… Der preußische Beamte bleibt für denpreußischen Laien, d. h. Nichtbeamten stets Prie-ster.“ („Neue Rheinische Zeitung“ Nr. 221 vom 14.Februar 1849.)

    Der Gendarm in der BrustDie bürokratische Ordnung wird vom preußi-

    schen Gendarmen, von der preußischen Polizeibewacht, die den Deutschen auf seinem ganzenLebenswege, bei all seinen Handlungen und Ge-danken, gleich einem Schatten begleitet: „Polizeibeim Denken, Polizei beim Sprechen, Polizeibeim Gehen, Reiten und fahren ...“(F. Engels, zit.nach: Über das reaktionäre Preußentum, S.77).

    Diese ständige Bevormundung durch die Poli-zeiordnung und ihre Allmacht fesseln den deut-schen Bürger derart, dass er das allsehende Augeder Polizeigewalt sogar dann auf sich gerichtetfühlt, wenn er mit sich allein ist. Mit beißendemHumor zitiert Engels die Worte eines preußischen

    Ministers, dass der Musterpreuße „seinen Gen-darmen in der Brust trägt“.

    „Der Gendarm in der Brust“ – das ist die höch-ste Moral des deutschen Philisters (Spießbürgers),für den der Gehorsam gegenüber der Obrigkeit alsdie größte Tugend gilt. Das preußisch-deutscheReich ist in den Augen des feigen Philisters dieVerkörperung von Gesetz und Ordnung. Hierzuschrieb Friedrich Engels: „Der deutsche Philisterist die inkorporierte Feigheit, er respektiert nurden, der ihm Furcht einflößt. Wer sich aber lie-bes Kind bei ihm machen will, den hält er fürseinesgleichen und respektiert ihn nicht mehrals seinesgleichen, nämlich gar nicht.“ (KarlMarx, Ausgewählte Schriften, Bd. II, S. 650)

    In einem Brief vom 5. Juni 1890 an Paul Ernstschrieb Engels: „In Deutschland ist das Spieß-bürgertum Frucht einer gescheiterten Revolu-tion, einer unterbrochenen, zurückgedrängtenEntwicklung und hat seinen eigentümlichen,abnorm ausgebildeten Charakter der Feigheit,Borniertheit, Hilflosigkeit und Unfähigkeit zujeder Initiative erhalten durch den Dreißigjäh-rigen Krieg und die ihm folgende Zeit – wo gra-de fast alle anderen großen Völker sich raschemporschwangen. Dieser Charakter ist ihmgeblieben auch als die historische BewegungDeutschland wieder ergriff…“ (zit. nach: Überdas reaktionäre Preußentum, S.11/12) Und be-zogen auf die kleinbürgerliche Spießer- und Phi-listergesinnung schrieb er an E. Bernstein, dasssie „seit dem dreißigjährigen Krieg ausgebildet,alle Klassen in Deutschland ergriffen, deutschesErbübel, Schwester der Bedientenhaftigkeitund Untertanendemut und aller deutschenErblaster geworden ist. Sie hat uns im Auslandlächerlich und verächtlich gemacht“. (Briefevon Friedrich Engels an Eduard Bernstein, Ber-lin 1925, S. 115)

    Karl Marx assistierte Engels mit der folgendenCharakterisierung dieses Systems: Es entstand„mit dieser lausigen Landeshoheit die spezielledeutsche ‚Untertanenschaft’, welche Bauer undBürger gleichmäßig zu ‚Leibeigenen’ des Lan-desherrn macht und nach außen hin… Deutsch-land dem Ausland gegenüber zu lächerlicherFigur macht“ (zit. nach: Über das reaktionärePreußentum, S.8).

    Wie eine tolle Meute gegendie Franzosen ...

    Als sich das französische Volk 1789 zur Revo-lution erhob (Sturm auf die Bastille am 14. Juli1789) und dabei war, die Fundamente des reak-tionären monarchistischen Systems nieder zu rei-ßen und zu zerstören, herrschte in Deutschlandnach wie vor die Reaktion. Und wer geglaubt hat-te, die revolutionäre Entwicklung in Frankreichkönnte auch für Deutschland, für das deutscheVolk ein Beispiel sein, sich von der Herrschaft derReaktion zu befreien, wurde bitter enttäuscht. DasGegenteil war der Fall. Ermuntert und aufgefor-dert durch andere reaktionäre Mächte in Europa,trat Preußen dem revolutionären französischenVolk in seiner Rolle als Gendarm gegenüber. Dasvor der Revolution in Frankreich nach Deutsch-land geflüchtete adelige und andere reaktionäreGesindel wurde mit deutschem Geld bewaffnet

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    und für den Überfall aufs eigene Land und Volkvorbereitet. Hierzu schrieb Karl Marx: „Als dieerste Französische Revolution losbrach, warenes abermals die Deutschen, die sich wie eine tol-le Meute gegen die Franzosen hetzen ließen, diemit einem brutalen Manifest des Herzogs vonBrandenburg ganz Paris bis auf den letzten Steinzu schleifen drohten, die sich mit den ausgewan-derten Adligen gegen die neue Ordnung inFrankreich verschworen...“ (Marx-Engels-Ge-samtausgabe, erste Abteilung, Bd. 7, S. 136, zit.nach: Über das reaktionäre Preußentum, S.32)

    Immer wieder kritisierten Marx und Engels dasNichtstun, die Passivität der Deutschen, das Ver-halten des deutschen Bürgertums, welches sich imUnterschied zu anderen Völkern nicht zum revo-lutionären Kampf zur Beseitigung der Herrschaftdes Adels, der reaktionären Kräfte erheben woll-te. In diesem Sinne schrieb Karl Marx bezogen aufdie Entwicklungsgeschichte des deutschen Volkesim Verhältnis zu anderen Völkern: „Wir habennämlich die Restaurationen der modernen Völ-ker geteilt, ohne ihre Revolutionen zuteilen…Wir, unsere Hirten an der Spitze befan-den uns immer nur einmal in der Gesellschaftder Freiheit, am Tag ihrer Beerdigung.“ (Marx-Engels-Gesamtausgabe, Erste Abteilung, Bd. 1,Erster Halbband., S. 608/609, zit. nach: Über dasreaktionäre Preußentum, S.4/5)

    Die Revolution von 1848Vor ihrem Ausbruch im März schrieb Friedrich

    Engels 1848 im Februar: „Alle Völker schreitenfort, die kleinsten, schwächsten Nationen findenin den europäischen Verwicklungen immer ei-nen Moment, wo sie trotz ihrer großen, reaktio-nären Nachbarn eine moderne Institution erha-schen können. Nur die 40 Millionen Deutschenrühren sich nicht … Daher müssen die Deutschenerst vor allen übrigen Nationen gründlich kom-promittiert sein, sie müssen noch mehr, wie siees schon sind, zum Gespött von ganz Europawerden, sie müssen gezwungen werden, die Re-volution zu machen. Dann aber werden sie auchaufstehen, nicht die feigen deutschen Bürger,sondern die deutschen Arbeiter; sie werden sicherheben, der ganzen unsauberen, verworrenenoffiziellen deutschen Wirtschaft ein Ende ma-chen und durch eine radikale Revolution diedeutsche Ehre wiederherstellen.“ (Marx-Engels-Gesamtausgabe, 1. Abt., Bd. 6, S. 586, zitiert nach:Über das reaktionäre Preußentum, S. 46/47)

    Immer wieder hatten Marx und Engels er-klärt, wovon sich das deutsche Volk in einer Re-volution befreien muss. Dabei zählen sie ein lan-ges Sündenregister der Verbrechen Deutschlandsan anderen Völkern auf, denen gegenüber dieDeutschen immer wieder als Scharfrichter ihrerFreiheit aufgetreten sind. Beispielhaft werden dieVölker Frankreichs, der Schweiz, Ungarns, Grie-chenlands, Spaniens, Polens aufgeführt, die dieunerhörte Schwere dieser Verbrechen zu spürenbekamen. Zu Italien stellen sie hierbei fest, dassseine gesamte Geschichte ein einziger Anklage-punkt gegen Deutschland ist: „Mit Hilfe deut-schen Geldes und Blutes die Lombardei undVenedig geknechtet und ausgesogen, mittel-oder unmittelbar in ganz Italien jede Freiheits-bewegung durch Bajonett, Galgen, Kerker undGaleeren erstickt.“ Doch damit ist die Liste dervon Deutschland begangenen Verbrechen nochnicht erschöpft. „Das Sündenregister“, schrei-ben Marx und Engels, „ist viel länger; schlagenwir es zu.“ (Zit. nach: Über das reaktionäre Preu-ßentum, S.54)

    Die Schuld für diese Verbrechen fällt jedochnicht allein den deutschen Regierungen, sondern zueinem großen Teil auch dem deutschen Volke selbstzur Last. „Ohne seine Verblendungen, seinen Skla-vensinn, seine Anstelligkeit als Landsknechte undals ‚gemütliche’ Büttel und Werkzeuge der Her-ren ‚von Gottes Gnaden’ wäre der deutsche Nameweniger gehasst, verflucht, verachtet im Auslan-de, wären die von Deutschland aus unterdrück-ten Völker längst zu einem normalen Zustand derEntwicklung gelangt.“ (MEW Gesamtausgabe, Er-ste Abteilung, Bd. 7, S. 136/137, zit. nach: Über dasreaktionäre Preußentum, S.54)

    Marx und Engels, die gemeinsam mit dem vonihnen gegründeten „Bund der Kommunisten“ ak-tiv in der Revolution gekämpft haben, stellten dar-auf bezogen fest: „Soll Deutschlands Blut undGeld nicht länger gegen seinen eigenen Vorteilzur Unterdrückung anderer Nationalitäten ver-geudet werden: so müssen wir eine wirklicheVolksregierung erringen und das alte Gebäudemuss bis auf seine Grundmauern weggeräumtwerden. Erst dann kann die blutig-feige Politik desalten, des wieder erneuten Systems Platz machen

    Sturm auf das Zeughaus inBerlin, 14. Juni 1848

    Angriff preußischer Kaval-lerie auf Kölner Bürger,August 1846

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    der internationalen Politik der Demokratie.“ (Zit.nach: Über das reaktionäre Preußentum, S.55)

    Doch die bürgerlich-demokratische Revoluti-on von 1848/1849 konnte die in sie gesetzten Er-wartungen nicht erfüllen. Sie endete mit einerNiederlage. Eine wichtige Ursache dafür war derZustand Deutschlands, der durch die Revolutionüberwunden werden sollte. Sie lag in der Zerris-senheit des Landes. Im Unterschied zu Frankreich,wo die revolutionären Klassenkämpfe in Paris je-weils Entscheidungen für das ganze Land brach-ten, fehlte in Deutschland dieses einigende Zen-trum. Die Hauptschuld am Scheitern der Revolu-tion trug „jedoch die philisterhaft beschränktefeige preußische Bourgeoisie. Sie erwies sich alspolitisch ohnmächtig und unfähig, um das deut-sche Volk im entscheidenden Moment im Kampfgegen die Reaktion zu führen“. (Über das reak-tionäre Preußentum, S. 55) Im Gegenteil. Sie fielden revolutionären Kräften, den Arbeitern, Kom-munisten und demokratischen Bürgern vom erstenTag an in den Rücken, weil sie nicht bereit war,dem Volk bürgerlich-demokratische Freiheiten zugewähren. Ihre Oberschicht, die Großbourgeoisieschloss stattdessen einen Pakt mit der Reaktiongegen die Freiheitsbestrebungen des Volkes.

    Unter diesen Umständen wurde das „alte Ge-bäude nicht bis auf die Grundmauern niedergeris-sen“, wie Marx und Engels es gefordert hatten. DieRevolution konnte viele der vor ihr stehenden Auf-gaben nicht lösen. Der größte Fehler hierbei war,dass die reaktionären Kräfte, der reaktionäre Feu-dalabsolutismus und die reaktionäre preußische,konterrevolutionäre Militärclique als Vorausset-zung für den Sieg der Revolution nicht gestürzt undentmachtet wurden. Ein Versäumnis, was sich mitdem späteren Sieg, dem Wüten und Morden derKonterrevolution unter den revolutionären Kräf-ten im deutschen Volk auf furchtbare Weise rä-chen sollte. Die Bildung eines bürgerlich-demo-kratischen Nationalstaates wurde dadurch nichterreicht, die fortschrittliche bürgerliche Gesell-schaftsordnung nicht zur herrschenden Ordnungin Deutschland. Eine Neugestaltung des gesamtengesellschaftlichen und politischen Lebens im Sin-ne der bürgerlichen Demokratie ließ sich dadurchnicht verwirklichen.

    Und doch: ein Hoffnungs-schimmer

    Das waren jedoch nicht die einzigen Resultateder Revolution. Zum ersten Mal in ihrer Geschich-te sammelten deutsche Arbeiter, noch die Hand-werksgesellen an der Spitze, Erfahrungen mit demStreik als Kampfmittel, um ihre sozialen Forderun-gen durchzusetzen. Das wichtigste Ergebnis einervon Ende März bis Anfang Juni 1848 in vielen gro-ßen Städten, wie Berlin, Frankfurt a. M., Hamburg,Köln und München währenden Streikwelle wardie Gründung zahlreicher lokaler Gewerkverei-ne. Für die Entwicklung des deutschen Proletari-ats zur selbständig handelnden Klasse war dieseerste Form von Klassenorganisationen neben derExistenz des „Bunds der Kommunisten“ ein gro-ßer Fortschritt im Klassenkampf.

    Zu den Ergebnissen der Revolution schriebFriedrich Engels: „Die Resultate der Revolutionwaren: auf der einen Seite die Volksbewaffnung,

    das Assoziationsrecht, die faktisch errungeneVolkssouveränität; auf der anderen die Beibe-haltung der Monarchie und das MinisteriumCamphausen-Hansemann, d. h. die Regierungder Vertreter der hohen Bourgeoisie.

    Die Revolution hatte also zwei Seiten von Re-sultaten, die notwendig auseinander gehen muss-ten. Das Volk hatte gesiegt, es hatte sich Freihei-ten entschieden demokratischer Natur erobert;aber die unmittelbare Herrschaft ging über nichtin seine Hände, sondern in die der großen Bour-geoisie. Mit einem Wort, die Revolution war nichtvollendet. Das Volk hatte die Bildung eines Mini-steriums von großen Bourgeois zugelassen, unddie großen Bourgeois bewiesen ihre Tendenzensogleich dadurch, dass sie dem altpreußischen Adelund der Bürokratie eine Allianz anboten. Arnim,Kanitz, Schwerin traten ins Ministerium.

    Die hohe Bourgeoisie, von jeher antirevolutio-när, schloss aus Furcht vor dem Volk, d. h. vor denArbeitern und der demokratischen Bürgerschaft,ein Schutz- und Trutzbündnis mit der Reaktion.

    Die vereinigten reaktionären Parteien be-gannen ihren Kampf gegen die Demokratie da-mit, dass sie die Revolution in Frage stellten. DerSieg des Volks wurde geleugnet; die berühmteListe der „siebzehn Militärtoten“ wurde fabri-ziert; die Barrikadenkämpfer wurden in jedermöglichen Weise angeschwärzt … “ (MEW Wer-ke, Bd. 5, S. 64/65)

    Auch wenn die Revolution 1848 verloren ging,ist ihr Beginn am 18. März 1848 als heldenhafter„Berliner Barrikaden Kampf“ als Beispiel für dieim ganzen Land geführten Befreiungskämpfe in dieGeschichte der Arbeiterbewegung eingegangenen.In einer 16 Stunden lang währenden kriegerischenAuseinandersetzung schlugen hierbei die BerlinerArbeiter gemeinsam mit mutigen, demokratischgesinnten Bürgern diepreußische Armee indie Flucht.

    Mit dem Fall der Fe-stung Rastatt am 23. Juli1849, als letzter Bastiondes Widerstandes gegendie Reaktion, war dasEnde der deutschen Re-volution vom März 1848besiegelt. Mit ihren Er-gebnissen blieb sie weithinter denen der franzö-sischen Revolution von1789 zurück. Bei einemVergleich beider Revo-lutionen kommt Leninzu folgender Feststel-lung: „Worin bestehtder Hauptunterschiedzwischen den beidenWegen? Darin, dass diebürgerlich demokrati-sche Umwälzung, die1789 von Frankreich,1848 von Deutschlandverwirklicht wurde,dort vollendet wurde,hier aber nicht; im er-sten Falle ging die Um-wälzung bis zur Repu-blik und zur vollen Frei-

    In Berlin schlug das Volknach erbitterten Barrika-denkämpfen die preußischeSoldateska zurück. Kampfin der Brüderstraße, 18.März 1848

  • „Für Dialektik in Organisationsfragen“30 K 313

    heit, im zweiten machte sie halt, ohne die Mon-archie und die Reaktion gebrochen zu haben… eskam rasch zur ‚Beruhigung’ des Landes, d. h. zurUnterdrückung des revolutionären Volkes undzum Triumph des ‚Polizeiwachtmeisters und desFeldwebels’.“ (W. I. Lenin, sämtliche Werke, Bd.VIII, S. 253/254, zit. nach: Über das reaktionärePreußentum, S. 57)

    Marx und Engels verweisen auf einen tiefenGegensatz hin, auf jenes „geschichtliche Parado-xon“, das im Verlaufe der deutschen Revolutionmit großer Schärfe aufgetreten ist. In demselbenAugenblick, wo die Deutschen um ihre Freiheitmit ihren Regierungen ringen, unternehmen sieunter dem Kommando derselben Regierungen „ei-nen Kreuzzug gegen die Freiheit Polens, Böh-mens, Italiens“. (Marx-Engels-Gesamtausgabe,Erste Abteilung, Bd. 7, S. 181, zit. nach: Über dasreaktionäre Preußentum, S.51)

    Revolution 1918In der Revolution von 1918 hatte sich erneut

    bewiesen, welchem massiven, vor keiner Schand-tat und keinem Verbrechen zurückschreckendenmassiven Block reaktionärer Kräfte die deutscheArbeiterklasse in ihrer Geschichte gegenüberstand (und bis heute zu steht). Wie schon 1848 dasAssoziationsrecht, konnten die Arbeiter langjäh-rige Forderungen nur mit revolutionärer Gewalt(siehe Kasten), mit der Gewalt der Revolution ge-gen die herrschende Klasse durchsetzen. So wur-de das nach der Revolution von 1848 dekretiertereaktionäre preußische Dreiklassenwahlrecht, dasdie Ungleichheit der Wähler nach Einkommenfestschrieb und den Frauen das Wahlrecht aus-drücklich absprach, beseitigt. Und das deutscheMonopolkapital wurde unter dem unmittelbarenEindruck der revolutionären Ereignisse in Berlin

    und des Zusammenbruchs des kaiserlich-imperia-listischen Regimes gezwungen, sozialpolitischeZugeständnisse zu machen. Dadurch konnte dieRegierung Verbesserungen auf sozialem und ar-beitsrechtlichem Gebiet einführen. So wurde alserste Maßnahme eine Erwerbslosenfürsorge ausstaatlichen Mitteln geschaffen. Auch für Kurzar-beiter wurde bei Nachweis der Bedürftigkeit eineUnterstützung gewährt. Unmittelbar nach Kriegs-ende war das von großer Bedeutung, weil durchdie Demobilisierung der Truppen die Arbeitslo-sigkeit ungeheuer anwuchs. Als zulässige täglicheHöchstarbeitszeit musste die Regierung dabei denAchtstundentag gesetzlich festlegen. Außerdemverbot sie die Nacht- und Sonntagsarbeit im Bä-cker- und Konditorgewerbe und richtete staatli-che Arbeitsnachweisstellen ein.

    Die Arbeiterklasse wirdentwaffnet

    Jedoch bereits am 15. November 1918 schlos-sen die rechten Gewerkschaftsführer in sich schonseit 1917 hinziehenden Verhandlungen mit demdeutschen Monopolkapital ein Bündnis, was un-ter dem Namen „Zentralarbeitsgemeinschaft“ be-kannt wurde. Die Konzernherrn der Elektro- undder Chemieindustrie sowie auch die reaktionär-sten Kräfte des Monopolkapitals, die Kanonenkö-nige und Schwerindustriellen von Rhein und Ruhr,hatten an dieser Vereinbarung mit den Gewerk-schaften großes Interesse. Wie der Geschäftsfüh-rer des Vereins Deutscher Eisen- und Stahlindu-strieller, Dr. Johann Reichert, berichtet hatte, wardamit beabsichtigt, die Gewerkschaften als Bun-desgenossen zu gewinnen, um „das Unternehmer-tum vor der drohenden, über alle Wirtschafts-zweige hinwegfegenden Sozialisierung, der Ver-staatlichung durch die Revolution zu bewah-ren.“ (Zit. nach Geschichte der deutschen Arbei-terbewegung, hrsg. ZK der SED, Berlin 1966,Bd. 3, S. 135)

    Auf der Grundlage der Vereinbarungen derPartner der „Zentralarbeitsgemeinschaft“, in wel-chen das deutsche Monopolkapital den Gewerk-schaften u. a. die volle Koalitionsfreiheit zusicher-te, erließ das Reichsarbeitsamt als Vorläufer desheutigen Tarif- und so genannten „Arbeitskampf-rechts“ eine einheitliche gesetzliche Regelung desTarifvertrags- und Schlichtungswesen. Der Ver-such, den Klassenkampf, den Streik, in einen ge-ordneten „gesetzlichen Rahmen“ zu pressen. Sowie wir das heute mit der „Fortentwicklung zurVermeidung des Streiks“, zu Urabstimmung, „Ab-kühlungsphasen“, Schlichtung usw. kennen.

    Als ein weiteres Ergebnis der Revolution wur-de die Sozialversicherungspflicht für zusätzlicheSchichten der Werktätigen eingeführt und die Un-fallversicherung auf Berufskrankheiten ausge-dehnt. Hierbei wurden außerdem die Leistungender Krankenkassen erhöht.

    Die Führungen der SPD und Gewerkschaftenpriesen das „Arbeitsgemeinschaftsabkommen“ unddie sozialpolitischen und arbeitsrechtlichen Maß-nahmen als große Erfolge ihrer Politik. Infolge ih-res langjährigen opportunistischen Einflusses undder dadurch hervorgerufenen parlamentarisch-de-mokratischen Illusionen konnten sie viele Arbei-ter damit beeinflussen und aufs Kreuz legen. Die

    „Für Herrn Dühring ist die Gewalt das absolut Böse, der erste Gewalts-akt ist ihm der Sündenfall, seine ganze Darstellung ist eine Jammerpre-digt über die hiermit vollzogne Ansteckung der ganzen bisherigen Ge-schichte mit der Erbsünde, über die schmähliche Fälschung aller natür-lichen und gesellschaftlichen Gesetze durch diese Teufelsmacht, die Ge-walt. Daß die Gewalt aber noch eine andre Rolle in der Geschichte spielt,eine revolutionäre Rolle, daß sie, in Marx’ Worten, die Geburtshelferinjeder alten Gesellschaft ist, die mit einer neuen schwanger geht, daßsie das Werkzeug ist, womit sich die gesellschaftliche Bewegung durch-setzt und erstarrte, abgestorbne politische Formen zerbricht - davonkein Wort bei Herrn Dühring. Nur unter Seufzen und Stöhnen gibt erdie Möglichkeit zu, daß zum Sturz der Ausbeutungswirtschaft vielleichtGewalt nötig sein werde - leider! denn jede Gewaltsanwendung demo-ralisiere den, der sie anwendet. Und das angesichts des hohen morali-schen und geistigen Aufschwungs, der die Folge jeder siegreichen Re-volution war! Und das in Deutschland, wo ein gewaltsamer Zusammen-stoß, der dem Volk ja aufgenötigt werden kann, wenigstens den Vor-teil hätte, die aus der Erniedrigung des Dreißigjährigen Kriegs in dasnationale Bewußtsein gedrungne Bedientenhaftigkeit auszutilgen. Unddiese matte, satt- und kraftlose Predigerdenkweise macht den An-spruch, sich der revolutionärsten Partei aufzudrängen, die die Geschich-te kennt?“Friedrich Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft,MEW Bd. 20, S. 171 ff.

    Engels über die Rolle der Gewalt in der Geschichte

  • K 313 „Für Dialektik in Organisationsfragen“ 31

    große Mehrheit der Arbeiterklasse verstand nochnicht die Grundfragen des Staates und der Revolu-tion. Vom Sozialismus und den Mitteln und Metho-den, wie er zu verwirklichen ist, waren zumeist nurunklare Vorstellungen vorhanden. So glaubten vieleArbeiter mit dem Sturz der Monarchie, der Errin-gung der Republik und des allgemeinen Wahlrechtsbereits die politische Macht erobert und die Vor-aussetzungen für den Sozialismus geschaffen zuhaben. Dabei vergaßen sie ganz, dass die entschei-dende Voraussetzung für eine wirksame Verbesse-rung und Veränderung ihrer Lage die Befreiung vonkapitalistischer Ausbeutung war. Was sich darinausdrückte, dass sie sich vor allem von den Phra-sen der rechten Führer von SPD und USPD, von„Demokratisierung“, „Sozialisierung“, oder „derSozialismus marschiert“ einlullen ließen. Dabeikämpften sie weder konsequent für die Entwaff-nung der reaktionären Polizei und des Militärs nochfür die Säuberung des Staatapparates und auchnicht für die Enteignung und Bestrafung der Kriegs-verbrecher. Hierbei gelang es noch nicht einmal,Aufgaben aus der bürgerlich-demokratischen Re-volution zu verwirklichen. Nämlich: die Groß-grundbesitzer zu enteignen und zu entmachten (daswurde erst nach 1945 durch die Befreiung vom Fa-schismus im Osten Deutschlands möglich) und dasJunkerpack aus dem Staatsapparat zu vertreiben.Forderungen, die immer wieder von den Kommu-nisten erhoben wurden.

    Die Revolution wird liquidiertDie rechten sozialdemokratischen Führer för-

    derten die bei den Arbeitern vorhandenen Illusio-nen und nutzten sie für ihre konterrevolutionärePolitik. Mit allen Mitteln versuchten sie hierbeizu verhindern, dass die Arbeiterklasse die Revo-lution über den bürgerlich-demokratischen Rah-men hinaus zur sozialistischen Umwälzung führ-te. Sie sahen deshalb ihre Aufgabe zunächst dar-in, die alte kaiserlich-imperialistische Staatsma-schinerie, vor allem ihren militaristischen Macht-apparat, soweit wie möglich zu erhalten und zu fe-stigen. Besonders deutlich wird dies an einemSchurkenstreich des Sozialdemokraten FriedrichEbert. Während er sich am 10. November 1918 inder Vollversammlung der Berliner Arbeiter- undSoldatenräte zum Mitglied der „Revolutionsregie-rung“ wählen ließ, vereinbarte er noch am gleichenTage mit General Wilhelm Groener, dem Vertre-ter der obersten Heeresleitung, ein gemeinsamesVorgehen gegen die Revolution. Wie dieser Gene-ral im Münchener Dolchstoßprozess von 1925aussagte, war das Ziel dieser Vereinbarung „dierestlose Bekämpfung der Revolution, Wieder-einsetzung einer geordneten Regierungsgewalt,Stützung dieser Regierungsgewalt durch dieMacht einer Truppe und baldigste Einberufungeiner Nationalversammlung … “ In einem Tele-gramm vom 10. November teilte daraufhin Gene-ralfeldmarschall Paul von Hindenburg, spätererReichspräsident, allen Heeresgruppen und Armee-oberkommandos mit, dass die oberste Heereslei-tung mit Friedrich Ebert zusammengehen werde,„um die Ausbreitung des terroristischen Bol-schewismus in Deutschland zu verhindern“. Mitdem Ergebnis, dass die Regierung am 12. Novem-ber auf Verlangen der obersten Heeresleitung an-ordnete, dass die Befehlsgewalt der kaiserlichen

    Offiziere in der Armee wiederherzustellen sei. Diein der Revolution entstandenen und von den re-volutionären Soldaten gewählten Soldatenrätesollten nur noch beratende Stimme in Fragen derVerpflegung, des Urlaubs und der Verhängung vonDisziplinarstrafen haben.

    Der Pakt von Ebert und anderen rechten Füh-rern der SPD mit dem Militarismus beweist, dasssie von Anfang an entschlossen waren, gemeinsammit den kaiserlichen Generälen und Offizieren ei-nen Bürgerkrieg zu entfesseln, um die Revolutiongewaltsam zu unterdrücken.

    Karl Marx und Friedrich Engels hatten voraus-gesehen, dass die Führer der Arbeiterbewegung,die sich auf den Standpunkt der Bourgeoisie be-geben, zwangsläufig im Lager der Konterrevolu-tion landen müssen. Voller Ironie schrieben siedeswegen 1879 an die Adresse der Sozialdemokra-tie gerichtet: „Wenn Berlin wieder einmal soungebildet sein sollte, einen 18. März zu ma-chen, so müssen die Sozialdemokraten, statt als,barrikadensüchtige Lumpe’ am Kampf teilzu-nehmen, vielmehr den ,Weg der Gesetzlichkeit’beschreiten, abwiegeln, die Barrikaden wegräu-men und nötigenfalls mit dem herrlichen Kriegs-heer gegen die einseitigen, rohen, ungebildetenMassen marschieren.“ (Zirkularbrief an Bebel,Liebknecht, Bracke u a. in MEW Bd. 19, S. 161)

    oben: Bewaffnete Arbeiterauf dem Marsch in das Ber-liner Zeitungsviertel in derLindenstraße, 5. Januar1919unten: Friedrich Ebert(SPD) half als Präsidentder Weimarer Republik,die Herrschaft des deut-schen Imperialismus undMilitarismus zu festigen

  • „Für Dialektik in Organisationsfragen“32 K 313

    „Einer muss der Bluthundwerden“

    Bei ihrem Schreiben konnten Marx und Engelsnoch nicht ahnen, dass ihre Voraussage 40 Jahrespäter auf schreckliche Weise in Erfüllung ging.Dass, rechte Führer der SPD durch ihre Politik derUnterordnung unter die Interessen der Bourgeoi-sie bereits so tief hinab gesunken waren, dass sienicht einmal mehr davor zurückschreckten, auchnoch den konterrevolutionären Bürgerkriegsgene-ral zu stellen, um die Revolution im Blut großerTeile der Arbeiterklasse zu ersticken. Anfang Ja-nuar 1919 übertrug die Regierung dem Sozialde-mokraten Gustav Noske den Oberbefehl über diekonterrevolutionären Truppenverbände. Mit denzynischen Worten: „Meinetwegen! Einer mussder Bluthund werden, ich scheue die Verantwor-tung nicht!“ ging er in die Geschichte ein undübernahm das Amt des Henkers der Revolution.

    Nach vorangegangenen Massenstreiks der Ar-beiter, schweren Zusammenstößen mit Polizeiund Militär in den letzten Wochen des Jahres 1918endeten 1919 „die Januarkämpfe“ zur Rettung derRevolution mit einer schweren Niederlage der re-volutionären Vorhut und der ganzen deutschen Ar-beiterklasse. Die erst Ende 1918, Anfang 1919 ge-gründete noch junge kommunistische Partei besaßnoch nicht genügend Kampferfahrung, und ihreVerbindungen mit den breiten Massen des Prole-tariats und der anderen Werktätigen waren nochschwach. Die Partei war daher nicht imstande, dieMehrzahl der Arbeiter zur Abwehr der konterre-volutionären Provokationen zusammenzufassenund im Kampf zu führen und den Einfluss der rech-ten Führer der SPD, der USPD und der Gewerk-schaften auf die Mehrheit der Arbeiterklasse zuüberwinden. Die Mehrheit der Arbeiterklasse hat-te deswegen auch den Kampf zum Sturz der Re-gierung Ebert-Scheidemann nicht unterstützt. Siesah in der SPD noch immer eine sozialistischePartei, deren Führer lediglich Fehler machten. DieArbeiter erkannten nicht, dass sich die Bourgeoi-sie auf ihre rechten sozialdemokratischen Führerstützte, um die Revolution und ihre Errungenschaf-ten systematisch zu beseitigen. Hierbei wurden diebesten der revolutionären Kräfte, Rosa Luxemburg,Karl Liebknecht und viele andere ermordet, ein-gekerkert oder in die Illegalität gezwungen. Le-nin schrieb in diesen Tagen: „Man findet keineWorte für die ganze Abscheulichkeit und Nie-

    dertracht dieser Henkertaten der Pseudosozia-listen … “ (Brief an die Arbeiter Europas und Ame-rikas, LW Bd. 28, S. 446/447)

    Mit den am 19. Januar 1919 durchgeführtenWahlen zur Nationalversammlung war die Nieder-lage der Arbeiterklasse besiegelt und die Novem-berrevolution von 1918 beendet. Die imperialisti-sche deutsche Bourgeoisie konnte sich dabei mitder Hilfe der rechten SPD-Führer die Vorausset-zungen für die aus Terror und Mord gegen Arbei-terklasse und Nation hervorgegangene Konstituie-rung der bürgerlich-parlamentarischen Form ihrerKlassenherrschaft schaffen. Die Grundlage der „Le-galität“, mit der die deutsche Bourgeoisie ihre Aus-beuterordnung retten und erhalten konnte.

    Die revolutionären Erhebun-gen von 1923, Massen- undGeneralstreiks, der „Hambur-ger Aufstand“ und seineErgebnisse

    Abgesehen von der Oktoberrevolution 1917 inRussland sind die revolutionären Kämpfe, die zahl-reichen Aktionen und Massenstreiks der deut-schen Arbeiterklasse zur Durchsetzung ihrer For-derungen und zum Sturz der Bourgeoisie 1923 iminternationalen Vergleich in der Geschichte derArbeiterbewegung beispiellos geblieben. So wa-ren z. B. seit Februar und März gegen den massi-ven Widerstand der rechten VSPD-Führer unterder Führung der KPD und der revolutionären Be-triebsräte „proletarische Hundertschaften“ alsSelbstschutzorganisationen gegen die aufkom-mende faschistische Gefahr und das Militär ge-gründet worden. Sie marschierten erstmalig am 1.Mai 1923 an den Spitzen der Demonstrationszü-ge. Ca. 380.000 Berg-, Hütten- und Metallarbei-ter befanden sich am 29. Mai 1923 im Streik.Durch Lohnversprechungen der Deutschen Me-tallarbeiterverbandsführung gelang es die Metall-arbeiter aus der gemeinsamen Streikfront heraus-zulösen. Der so geschwächte Streik musste da-durch abgebrochen werden. Trotzdem hatte erAuswirkungen auf andere Gebiete. Anfang Junifolgte ihm der Streik von über 100.000 ober- undniederschlesischer Berg- und Hüttenarbeiter.Gleichzeitig übten die Bergarbeiter im Steinkoh-lenrevier von Zwickau-Oelsnitz passiven Wider-stand. Vorausgegangen war in Schlesien der mitvier Wochen Dauer größte Landarbeiterstreik inder Krise der revolutionären Nachkriegsphase.120.000 Landarbeiter waren daran beteiligt. Über-all war die Streikbewegung der Arbeiter von De-monstrationen und Kundgebungen gegen die Ver-teuerung der Lebenshaltungskosten begleitet. Mitzehntausenden Bau- und Holzarbeitern gemein-sam traten dabei Anfang Juli 130.000 Berliner Me-tallarbeiter in den Streik.

    Internationale SolidaritätWie wichtig hierbei diese Kämpfe für den in-

    ternationalen Kampf des Proletariats eingeschätztwurden, drückte sich im Herbst 1923 in entspre-chenden Solidaritätsaktionen aus. In vielen euro-päischen Ländern riefen die kommunistischenParteien und andere revolutionäre Organisationen

    Der rechte Sozialdemokratund Volksbeauftragte Gu-stav Noske (Mitte) mit kon-terrevolutionären Soldaten

  • K 313 „Für Dialektik in Organisationsfragen“ 33

    der Arbeiterklasse bei Demonstrationen, Kundge-bungen und anderen Aktionen zur Solidarität mitden gegen die Anschläge der imperialistischenBourgeoisie auf ihre Lebensrechte kämpfendendeutschen Arbeitern auf. Die werktätigen Massenin der Sowjetunion zeigten dabei ihre Verbunden-heit mit der kämpfenden deutschen Arbeiterklas-se nicht nur in der Organisierung großer Demon-strationen und Kundgebungen, sondern ebenso inpraktischer Unterstützung. Im Frühjahr 1923wurden dabei den Ruhrarbeitern 10.000 TonnenBrotgetreide übersendet. Als die Klassenauseinan-dersetzungen in Deutschland im Oktober 1923ihren Höhepunkt erreichten, organisierte die fran-zösische Kommunistische Partei ebenfalls Mas-senkundgebungen und rief die französischen Ar-beiter und Soldaten auf, einer etwaigen Interven-tion der französischen Imperialisten gegen einedeutsche Revolution in den Arm zu fallen.

    Im Zusammenhang mit den zahlreichen revo-lutionären Aktionen der deutschen Arbeiterklas-se im Jahre 1923 zählt als Vorläufer des „Ham-burger Aufstands“ der Generalstreik gegen die da-malige Regierung Cuno. Dabei musste Regie-rungschef Wilhelm Cuno am 12. August 1923seinen Rücktritt erklären. Durch die Massen-streiks der Arbeiter sahen sich die Sozialdemo-kraten gezwungen, im Reichstag für den Sturz derRegierung zu stimmen. Was sie in der Folge da-für nutzten, sich den Sturz der Regierung an dieBrust zu heften, um den Generalstreik der Arbei-terklasse runter zu spielen und die vorhandenenIllusionen in den Parlamentarismus zu nähren.Dabei kam es in einer für den Wechsel von Re-gierungen vollkommen unbekannten Schnellig-keit, bereits am 13. August 1923 zur Bildung ei-ner großen Regierungskoalition. Unter der Lei-tung des Führers der Deutschen Volkspartei,Gustav Stresemann zählten dazu Angehörige derDeutschen Volkspartei, des Zentrums, der Deut-schen Demokratischen Partei und rechte Sozial-demokraten. Der hinter Stresemann stehende Teilder herrschenden Klasse, hatte in dieser Situati-on die Regierungsbeteiligung der Rechtssoziali-sten für das beste Mittel zur Spaltung der Mas-senbewegung gehalten, um die volksfeindlichePolitik des Monopolkapitals fortsetzen zu kön-nen. Das erleichterte es den rechten sozialdemo-kratischen Führern aktiv an allen reaktionärenAnschlägen der großen Koalition auf die Volks-massen mit zu wirken. Warum Stresemann so gro-ßen Wert auf die Bindung der rechten sozialde-mokratischen Führer an den imperialistischenStaat legte, erklärte er später mit den Worten: „...dass es für die Durchführung vieler der dama-ligen Gesetze und Aktionen von größter Bedeu-tung für die Beruhigung der Massen war, dasssie mit der Sozialdemokratie geschah und nichtgegen die Sozialdemokratie“.

    Ganz in diesem Sinne zahlte sich die Beteili-gung der rechten Sozialdemokraten an der Regie-rung fürs Monopolkapital direkt aus. Die Berli-ner Arbeiter hatten den Generalstreik nach demSturz der Regierung Cuno zur Durchsetzung allerihrer Forderungen fortgesetzt. Ab dem 13. und 14.August wurden sie durch die Arbeiter Hamburgs,der Lausitz, Mitteldeutschlands, großer Teile ausSachsen und Thüringen und aus vielen anderenGebieten unterstützt. Rund 3 Millionen Arbeiterund Angestellte befanden sich damit im Streik und

    weitere Hunderttausende waren bereit, sich ihnenanzuschließen. Doch die rechten sozialdemokra-tischen Führer spalteten in Zusammenarbeit mitden revisionistischen Gewerkschaftsführen über-all in den Gebieten, wo sie den entsprechendenEinfluss auf die Arbeiter hatten, den Streik. Durchdie dadurch bewirkte Schwächung der notwendi-gen Geschlossenheit der Streikfront kamen dieStreiks zum Erliegen, ohne dass weitere Forderun-gen durchgesetzt werden konnten.

    Mit ihrer Regierungsbeteiligung stärkten undfestigten die opportunistischen Führer der Sozi-aldemokratie erneut die Machtpositionen derGroßbourgeoisie gegenüber den Interessen der Ar-beiterklasse.

    Die weitere Verschlechterung der Lebenslageder breiten Massen und die immer mehr zuneh-mende Schärfe des Klassenkampfes führten jedochschon im September 1923 zu einer erneutenStreikwelle. In Baden kam es hierbei zu einem,durch den Streik der Textilarbeiter, ausgelöstenGeneralstreik, der von der Polizei blutig nieder-geschlagen wurde. Das führte mit dazu, dass sichdie Lage in Deutschland Mitte Oktober weiter zu-spitzte. In zahlreichen Städten kam es zu ausge-dehnten Hungerunruhen. Bei diesen Demonstra-tionen gegen den Hunger ging die Polizei in Ber-lin, Frankfurt (Main), Gelsenkirchen, Köln, Mann-heim, Solingen und in anderen Orten brutal gegendie Demonstranten vor. Dabei tötete und verletz-te sie viele Werktätige.

    Der Hamburger AufstandSchon in seinen „Lehren des Moskauer Auf-

    standes“ im Jahre 1906 hatte Lenin festgestellt,„dass sich der Generalstreik als selbständige undhauptsächliche Kampfform überlebt hat, dassdie Bewegung mit elementarer, unwiderstehli-

    Barikaden in HamburgBarmbeck, dem Zentrumdes Aufstandes vom 23. bis26. Oktober 1923

  • „Für Dialektik in Organisationsfragen“34 K 313

    cher Gewalt diesen engen Rahmen durchbrichtund eine höhere Kampfform, den Aufstand, ge-biert.“ (Lenin Werke Bd.11, S.157)

    In diesem Sinne handelten die Hamburger Ar-beiter, als die Situation für einen erneuten revo-lutionären Kampf der deutschen Arbeiterklassegegeben zu sein schien. Am Dienstag, dem 23. Ok-tober 1923 durchbrachen sie gewaltsam die so ge-nannte Bannmeile und begannen ihren Aufstandgegen die Bourgeoisie. Hierbei überfielen und be-setzten sie ab 5 Uhr morgens mit revolutionärenKampftrupps 26 Polizeiwachen in den Hambur-ger Außenbezirken, entwaffneten die überrasch-ten Polizisten und nahmen die vorhandenen Vor-räte an Waffen und Munition in ihren Besitz. Alsdie Überfallkommandos aus dem Polizeipräsidi-um mit von außen herbei gerufener Verstärkunganrollten, hatten die Arbeiter die Kampfbezirkebereits in Festungen verwandelt. Hunderte Arbei-ter und Arbeiterfrauen errichteten in den StraßenBarrikaden. Bekannt wurde hierbei insbesonde-re der Kampf um das „Rote Barmbeck“. Die inKompanien und Bataillonen anrückenden Poli-zeitruppen wurden von den Arbeitern immerwieder zurückgetrieben und ihre Verluste wur-den bei jedem Sturmangriff größer. „Die Barm-becker Arbeiter“, schreibt Ernst Thälmann, „hat-ten Bäume gefällt, das Straßenpflaster aufgeris-sen, mit Baumstämmen, Steinen und Sand dieStraßenzugänge verbarrikadiert. Hinter dieserSchutzwehr kämpften sie wie Tiger….300 Mannstanden im Schnell- und Trommelfeuer von6000 Söldnern der Polizei, der Reichswehr undMarine. Sie standen drei Tage und drei Näch-te. Sie schossen drei Tage und drei Nächte. Siegriffen an, sie fielen, sie wichen zurück, aber sieergaben sich nicht. Sie retteten die Ehre derKommunistischen Partei Deutschlands. Siewaren die Preisfechter der deutschen Arbeiter-klasse“ (Thälmann, Reden und Aufsätze 1919 bis1928 Bd. I, S. 258/259, Die Lehren des Hambur-ger Aufstands, Frankfurt/M 1972)

    Der heldenhafte Aufstand der Hamburger Ar-beiter, der als das Zeichen für den revolutionärenAufstand der Arbeiterklasse in ganz Deutschlandbegonnen wurde, führte zu einer Niederlage. Ab-gesehen von wenigen zersplitterten Aktionen undStreiks in anderen Landesteilen blieb er isoliert.Mit dem disziplinierten Rückzug der Kampfgrup-pen der Arbeiter wurde der Hamburger Aufstandam 25. Oktober abgebrochen.

    „Arbeiterregierungen“ inSachsen und Thüringen

    Zur Unterstützung und Stärkung zu erwarten-der Massenkämpfe hatte die Zentrale der KPD inÜbereinstimmung mit dem EKKI (Exekutivkomi-tee der kommunistischen Internationale, d. Red.)Anfang Oktober beschlossen, in die RegierungenSachsens und Thüringens einzutreten. Auf diesemWege wurden am 10. Oktober in Sachsen und sechsTage später in Thüringen Arbeiterregierungen ge-bildet. Sie bestanden aus einer Koalition von lin-ken Sozialdemokraten und Kommunisten. Mini-sterpräsidenten dieser Arbeiterregierungen warendie Sozialdemokraten Erich Zeigner und AugustFrölich. Hierbei wurden die Kommunisten PaulBöttcher und Fritz Heckert in Sachsen und Karl

    Korsch und Albin Tenner in Thüringen zu ihrenMinistern. Heinrich Brandler wurde Leiter dersächsischen Staatskanzlei und Theodor Neubau-er Staatsrat in Gotha.

    In seinen Betrachtungen über die Ursachender Niederlage des Hamburger Aufstandes stelltErnst Thälmann u. a. fest: „Die Führung unsererPartei versagte in der entscheidenden Stunde.Der Eintritt führender Kommunisten gemein-sam mit den ,linken’‚Sozialdemokraten in diesächsische Regierung war nur dann richtig,wenn dieser Schritt einem einzigen Ziel dien-te: der Organisierung der Revolution, der Be-wegung der Massen, der Aufnahme des Kamp-fes in ganz Deutschland. Gerade dieses Zielverlor die damalige Leitung unserer Partei ausden Augen. Unsere Führer benutzten ihre Stel-lung in der sächsischen Regierung nicht zurEntfesselung, sondern zur Vermeidung desKampfes. Koalitionspolitik war es nicht, dass siein die sächsische Regierung eintraten, sondern,dass sie sich in dieser Regierung übertölpelnund führen ließen, anstatt die Arbeitermassenin den Kampf gegen die Reichsregierung zu füh-ren. Sie vergaßen, dass die Bewegung ’in einehöhere Kampfform‚ übergehen musste. Sie be-schränkten sich auf den ,engen Rahmen’, ja sieversuchten sogar, den engen Rahmen der wirt-schaftlichen und politischen Teilkämpfe noch,enger’ zu spannen. Sie gaben den Auftrag, be-stehende Streikbewegungen abzubrechen, da,der entscheidende Kampf‚ bevorstehe.’“ (ErnstThälmann, Reden und Aufsätze 1919 bis 1928Bd. I, S.256 f.)

    In seinen Ausführungen „Über die Regierungder Einheitsfront“ erklärt Georgi Dimitroff: „Wirziehen es sogar vor, auf die Bezeichnung ,Arbei-terregierung’ zu verzichten und ,sprechen voneiner Regierung der Einheitsfront’, die ihrem po-litischen Charakter nach etwas ganz anderes,prinzipiell anderes ist, als alle sozialdemokrati-schen Regierungen, die sich ,Arbeiterregierun-gen’, zu nennen pflegen …

    Im Jahre 1923 konnte man in Sachsen undThüringen ein anschauliches Bild der rechts-opportunistischen Praxis einer ,Arbeiterregie-rung’ sehen. Der Eintritt der Kommunisten indie sächsische Regierung zusammen mit denlinken Sozialdemokraten (Zeigner-Gruppe)war an und für sich kein Fehler, im Gegenteil,dieser Schritt wurde durch die revolutionäre Si-tuation in Deutschland vollauf gerechtfertigt.Aber als die Kommunisten sich an der Regie-rung beteiligten, hätten sie ihre Positionen vorallem zur Bewaffnung des Proletariats ausnüt-zen müssen. Sie haben das nicht getan. Sie ha-ben nicht einmal eine einzige Wohnung derReichen beschlagnahmt, obwohl die Woh-nungsnot der Arbeiter so groß war, dass vielevon ihnen mit Frau und Kind kein Obdachhatten. Sie unternahmen auch nichts, um dierevolutionäre Massenbewegung der Arbeiter zuorganisieren. Überhaupt verhielten sie sich wiegewöhnliche parlamentarische Minister ,imRahmen der bürgerlichen Demokratie’. Wiebekannt, war das das Resultat der opportuni-stischen Politik Brandlers und seiner Gesin-nungsgenossen. Das Endergebnis war ein sol-cher Bankrott, dass wir auch heute noch ge-zwungen sind, die sächsische Regierung als

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    klassisches Beispiel dafür anzuführen, wie sichRevolutionäre in der Regierung nicht verhal-ten dürfen.“ (Georgi Dimitroff, Arbeiterklassegegen Faschismus, hrsg. ZK des Arbeiterbundesfür den Wiederaufbau der KPD, München 1991,S. 85/86)

    Rachefeldzug Die Sachsenpolitik endete mit dem kampflo-

    sen Rückzug. Die Reichsexekutive, der Einmarschder weißen Generäle, besiegelte die Niederlage.Mit der Besetzung Sachsens und dem anschließen-den Einmarsch der Reichswehr in Thüringen be-gann die Konterrevolution in ganz Deutschlandeinen blutigen Terrorfeldzug gegen die Arbeiter-klasse. Bei der Besetzung Freibergs eröffnetenTruppen rücksichtslos das Feuer auf die gegen denReichswehrterror demonstrierenden Arbeiter. 34von ihnen wurden ermordet und über 50 schwerverwundet und zu Krüppeln geschossen. Auch invielen anderen Orten und Städten schossen dieReichswehrtruppen ohne Rücksicht auf die Werk-tätigen. Überall kam es zur Ermordung und Ver-folgung revolutionärer Arbeiter. Tausende Kom-munisten, Sozialdemokraten und Parteilose wur-den hierbei eingekerkert und in der folgenden Zeitzu langjährigen Zuchthaus- und Festungsstrafenverurteilt. Die kommunistische Presse wurde ver-boten. Besonders rücksichtslos gingen die Staats-organe in Hamburg gegen die Arbeiter vor. RundTausend von ihnen wurden verhaftet und der größ-te Teil davon vor Gericht gestellt. Für den Versuch,Reaktion und Bourgeoisie zu stürzen, um sichdamit von Ausbeutung und Unterdrückung zubefreien, wurden sie dort von der Klassenjustizabgeurteilt.

    In keinem imperialistischen Land der Weltgab es um diese Zeit vergleichbare revolutionäreKämpfe der Arbeiterklasse wie in Deutschland.Und in keinem dieser Länder gab es eine ver-gleichbare organisierte Konterrevolution, diesolch ein Blutbad unter den Arbeitern angerich-tet hätte wie in Deutschland 1923. Auf diese Wei-se rächte sich wie schon so oft in der Geschichteder deutschen Arbeiterbewegung, dass die Arbei-terklasse sich entwaffnen ließ durch das von denrechten Sozialdemokraten und Gewerkschafts-führern genährte Vertrauen in die bürgerlicheDemokratie. So stand sie wehrlos dem hasserfüll-ten Lumpenpack gegenüber, das als Stütze derbesonders aggressiven und feigen deutschenBourgeoisie bereit stand zur blutigen Einschüch-terung der Arbeiterklasse. In dieser zugespitztenSituation hatten Legalismus und Opportunismusauch vor den Kommunisten in der Regierung nichthalt gemacht.

    Die Machtübertragung an denFaschismus

    „Die reaktionärste Spielart des Faschismus istder Faschismus deutschen Schlages. Er hat dieDreistigkeit, sich Nationalsozialismus zu nen-nen, obwohl er nichts mit Sozialismus gemeinhat. Der Hitlerfaschismus ist nicht bloß bürger-licher Nationalismus, er ist ein tierischer Chau-vinismus. Das ist ein Regierungssystem des po-litischen Banditentums“, schreibt Georgi Dimi-

    troff, „ein System der Provokationen und Folte-rungen gegenüber der Arbeiterklasse und den re-volutionären Elementen der Bauernschaft, desKleinbürgertums und der Intelligenz. Das istmittelalterliche Barbarei und Grausamkeit, zü-gellose Aggressivität gegenüber anderen Völkernund Ländern.

    Der deutsche Faschismus spielt die Rolle desStoßtrupps der internationalen Konterrevoluti-on, des Hauptanstifters des imperialistischenKrieges, des Initiators eines Kreuzzuges gegendie Sowjetunion, das große Vaterland der Werk-tätigen der ganzen Welt.“ (Dimitroff, Arbeiter-klasse gegen Faschismus, S. 6/7)

    1933 wird die Machtübertragung an den Fa-schismus in Deutschland nicht verhindert. Wiedersind es die rechten sozialdemokratischen Führer,die durch ihre Politik der Klassenzusammenarbeitund der Spaltung der Arbeiterklasse maßgebli-chen Anteil an dieser Niederlage haben. Selbstnachdem die KPD ihre Fehler gegenüber der SPDkorrigiert hat, lehnen sie deren Forderung nach derEinheitsfront der Arbeiterklasse gegen die Faschi-sten ab. Gleichzeitig weigern sich die revisioni-

    Reichswehr in Freiberg/Sachsen, Oktober 1923

    Die sozialdemokratisch ge-führte Polizei in Berlin zer-schlägt die Maidemonstrati-on 1929 mit Waffengewalt.Rechts im Bild mit weißerArmbinde Wilhelm Pieck.

  • „Für Dialektik in Organisationsfragen“36 K 313

    stischen, rechten sozialdemokratischen Gewerk-schaftsführer, die Arbeiteraristokraten, die Arbei-ter zum Kampf, zum Generalstreik gegen dieMachtergreifung des Faschismus aufzurufen. DieErgebnisse dieser Politik sind bekannt. Die Ge-werkschaften wurden zerschlagen und die Arbei-terklasse und die Völker der Welt mussten im vonden Faschisten angezettelten 2. Weltkrieg mit demResultat verwüsteter Dörfer, Städte und Ländersowie 55 Millionen Toten durch die Rote Armee,durch die Antihitlerkoalition vom Faschismusbefreit werden.

    Wie konnte es dazu kommen? Es war nur zueinem Teil die Einschüchterung durch die nachdem 1.Weltkrieg sich organisierende, morden-de, buntscheckige, vom Junker und intellektu-ellen Antisemiten bis zum verlumpten Achtgro-schenjungen und SA-Mann reichende faschisti-sche Bewegung, die die Arbeiterklasse lähmte.Viel wichtiger sind noch unsere „deutschen“ Ei-genschaften, die uns der deutsche Polizeiknüp-pel, deutsche Landsknechte, deutsche Bürokra-ten eingetrichtert haben. Der (keineswegs linke)Sozialdemokrat Wilhelm Högner, nach 1945erster Bayrischer Ministerpräsident schrieb zuder Niederlage der Arbeiter 1933 eine Analyse,in der er zwar seine eigene Partei sehr über-schätzte, die aber sonst sehr viele bittere Wahr-heiten enthält: „Unter der zermürbenden Aus-wirkung der Weltwirtschaftkrise war ihnen derGlaube an den revolutionären Schwung desProletariats, wie er beim Kapp-Putsch aufge-flammt war, verloren gegangen. Im täglichenKampf gegen Lohnherabsetzungen, um Ein-zelheiten der Tarifverträge und des Arbeits-rechts waren sie gewöhnt, nur das Nächstlie-gende und jede Möglichkeit eines Ausgleichswiderstrebender Interessen zu sehen. Das er-zog nicht zur Zusammenschau der politischenVorgänge, nicht zur geistigen Erfüllung des-sen, was entwicklungsgemäß kommen musste.Jetzt rächte sich an der deutschen Arbeiter-schaft, dass man entgegen den WarnungenBebels die freien Gewerkschaften der Sozial-demokratischen Partei neben- und nicht un-tergeordnet hatte. Im entscheidenden Augen-blick stand sich der verschiedene Geist, der inihnen herrschte, unvereinbar gegenüber. DerGeist der Gewerkschaften, der Vorsicht, Ver-antwortungsbewusstsein, Zähigkeit, aberauch eine begreifliche Scheu vor großen Ent-scheidungen erfordert, und der Geist der Poli-tik, der im richtigen Augenblick oft kühneEntschlüsse und gefährlichen Wagemut ver-langt. Am 30. Januar 1933 siegte der Geist derGewerkschaften über den Geist der politi-schen Partei. Die letzte Stunde, die der deut-schen Sozialdemokratie noch einmal gegebenwar, entweder das Schicksal zu wenden oderehrenvoll unterzugehen, blieb ungenutzt.Vergebens warteten die Millionen draußen imLande auf den Angriffsbefehl. Er blieb aus;den Deutschen aber liegt es nicht, etwas ohneBefehl der Führung, aus eigenem Entschlusszu tun. So scharten sich noch Millionenstumm und treu um die rote Fahne des Prole-tariats. Aber die Massen hatte eine große Läh-mung befallen. Wie sie immer wieder in derdeutschen Geschichte von den Schlachten ausder Römerzeit bis zum Bauernkrieg und zur

    oben: Erwerbslosendemonstration, 1930Mitte: Polizeieinsatz gegen demonstrierende Erwerbslose in Berlin, Anfang der30er Jahreunten: Demonstrationsverbote, Verhaftungen und Misshandlungen von Arbei-tern nahmen ab 1930 zu

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    Sendlinger Mordweihnacht überliefert ist. DieHaufen, die früher einer Welt von Feindengetrotzt hatten, ließen sich im Zustand derLähmung willenlos, ohne Gegenwehr nieder-hauen. Wiederum, wie in der Zeit des Soziali-stengesetzes sollte sich zeigen, dass die Größedes einfachen Volkes in Deutschland nicht imHandeln, sondern im Leiden und Duldenliegt.“ (Wilhelm Hoegner, Die verratene Repu-blik, Neuausgabe München 1979, S. 374)

    Sind wir noch zu retten?Man sieht: es ist nicht so, dass die deutschen

    Arbeiter nicht kämpfen können. Und auch un-sere Vorfahren, die Bauern und Plebejer, warennicht feige gewesen im deutschen Bauernkrieg.Es hat gigantische Klassenkämpfe gegeben indiesem Land, und wir hatten das Zeug dazu,auch so etwas hinzukriegen wie die russischeOktoberrevolution – und wenn wir sie hinge-kriegt hätten, sähe heute die ganze Welt wohlanders aus. Die deutsche Arbeiterklasse hat har-te revolutionäre, bewaffnete Kämpfe geführt,und hatte dabei immer Aufgaben der bürgerli-chen Revolution nachzuholen. Es gab bei unsimmer diesen Nachholbedarf, weil das deutscheBürgertum in einem Ausmaß die bürgerlicheDemokratie verraten hat wie es sonst nirgendsin den entwickelten kapitalistischen Ländernder Fall war (dazu findet man nicht nur in die-sem Artikel viel Material. Auch zu diesem The-ma hat eine andere Arbeitsgruppe in der KAZNr.300 unter dem Thema „Stoppt die Kontinui-tät des deutschen Antisemitismus“ einiges ge-schrieben). Diese Rückständigkeit der herr-schenden deutschen Zustände hat die deutscheArbeiterklasse im internationalen Maßstab nachvorn geboxt. Die Novemberrevolution 1918, dieRote Ruhrarmee als Antwort auf den Kapp-Putsch 1920, die revolutionären Bewegungendes Jahres 1923 bis hin zum Hamburger Auf-stand – all das sind Beweise, dass die deutscheArbeiterklasse die größte Barbarei in der Ge-schichte der Menschheit, den deutschen Faschis-mus, hätte verhindern und aus eigener Kraft einesozialistische Gesellschaft erkämpfen können.Dass das nicht der Fall war, lag hauptsächlicham Opportunismus und Legalismus in der Arbei-terbewegung unter Federführung der deutschenSozialdemokratie. Die Rache dafür war fürch-terlich – der Auswurf dieser politisch halb nochim Mittelalter stehenden kapitalistischen Ge-

    Käthe Kollwitz, Solidari-tät, 1931/32

    sellschaft in Deutschland, die faschistischeSammlungsbewegung in- und außerhalb desStaatsapparats, schlug so erbarmungslos zu, dassauf die deutschen Arbeiter umso mehr Feigheit,Obrigkeitshörigkeit und Kleinkrämerei desdeutschen Bürgertums abfärben mussten. Auchin der Brust der deutschen Arbeiter steckt derGendarm. Deshalb besteht die reale Gefahr, dasswir wieder einmal vor lauter Gewaltlosigkeit ge-genüber unseren Ausbeutern für diese Herrenandere Länder überfallen und morden.

    Der Gendarm in unserer Brust gehört heraus-gerissen und endgültig vertrieben.

    Im Sinne dieser Aufgabenstellung hat sich un-sere Arbeitsgruppe vorgenommen, in loser Folgedie Frage „Warum sind die deutschen Arbeiter sowenig kampfbereit?“ zu bearbeiten. Dazu habenwir uns folgende Themen vorgenommen:– Besonderheiten der deutschen Sozialdemo-

    kratie,– der Kampf der Arbeiter ab 1945 um das Pots-

    damer Abkommen,– reformerische Politik („Mitbestimmung“) im

    Zusammenhang mit der Restauration des deut-schen Imperialismus,

    – politische Entwaffnung der Arbeiter durchSelbstbeschränkung der Gewerkschaften aufden Kampf um Tarifverträge,

    – Kampf der westdeutschen Gewerkschaftsfüh-rungen gegen den FDGB und die DDR, Anti-kommunismusbeschlüsse,

    – Siebziger Jahre: Ostverträge, sozialdemokra-tische Losung „Wandel durch Annäherung“,die Arbeiter kämpfen mehr, sind politischer,haben aber auch eine starke Bindung an dieSozialdemokratie und an die sozialdemokra-tische Regierung,

    – Chauvinismus der Gewerkschaftsführungen imDienste des deutschen Imperialismus,

    – ab 80er Jahre absolute Verelendung in allen im-perialistischen Ländern – speziell bei uns (inOst und West) Willen- und Waffenlosigkeit(„Gegen eine gewählte Regierung streiken wirnicht!“),

    – der Sinn des westdeutschen Sozialstaats (imGegensatz zu Großbritannien und Schweden):Zerstörung der DDR, Anlocken von Fachkräf-ten aus der DDR.Das sieht nach viel Arbeit aus, und wer uns

    dabei helfen will, ist herzlich willkommen (Kon-taktmöglichkeiten siehe Seite 2).

    Arbeitsgruppe „Stellung des Arbeiters in derGesellschaft heute“