Walter Benjamins Ideenlehre
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1. Gutachter: Prof. Dr. Gnther Figal
(Philosophisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universitt Freiburg i. Br.)
2. Gutachter: Prof. Dr. Andrea Poma
(Dipartimento di Filosofia, Universit di Torino)
Tag der Promotion: 4. Oktober 2005
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In Erinnerung an meinen Vater
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I
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung S.1
Kapitel I
ERFAHRUNG UNDERKENNTNIS S.8
1. Wissenschaftliche Erfahrung und unmittelbare Erfahrung S.8
2. Die Beziehung Erkenntnis Erfahrung und der Untergang des Subjektes S.11
2.1 Erkenntnis und Erfahrung: die Termini eines Doppelbegriffes S.12
2.2 Der Untergang des Subjektes S.14
3. Eine hhere Erfahrung: die metaphysische Erfahrung S.17
4. Die konkrete Totalitt der Erfahrung: Was nie geschrieben wurde S.20
5. Erfahrung und Religion S.25
6. Wahrheit als Symbol. Die Zweideutigkeit der Erkenntnis S.32
7. Erkenntnis ist Erfahrung S.36
Kapitel II
DAS ZWEIDEUTIGEANTLITZ DER WAHRHEIT. DER URSPRUNG EINER THEORIE DERIDEEN S.38
1. Probleme, Fragen. Allgemeine Linien S.38
2. Der Kunstinhalt: Die wahre Natur S.40
3. Die Rezeption des Urphnomens. Der Ort der Wahrheit S.42
4. Das zweideutige Antlitz der Wahrheit S.46
4.1 Idee als unendliche Aufgabe: Neukantianismus Cohens S.46
4.2 Der Funktionalismus der Idee S.504.3 Idee: unmittelbare Erfahrung der Einheit S.54
Kapitel III
DIEIDEENLEHRE IMURSPRUNG DES DEUTSCHENTRAUERSPIELS S.58
1. Probleme, Fragen, Allgemeine Linien S.58
2. Die Erkenntnis in der Vorrede zum Trauerspielbuch S.59
3. Das Objekt der Philosophie S.61
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II
3.1 Idee ist Einheit S.61
3.2 Idee ist Monade S.65
3.3 Idee ist Ursprung S.66
3.4 Idee ist Name S.71
4. Die Temporalitt der Idee S.75
5. Das Darstellungsproblem S.78
6. Eine neue philosophische Einstellung S.82
Kapitel IV
DIEROLLE DERIDEE NACH DEMTRAUERSPIELBUCH S.88
1. Probleme, Fragen. Allgemeine Linien S.88
2. Erkenntnis und Erfahrung S.89
3. Das dialektische Bild S.97
3.1 Die Dialektik S.98
3.2 Das dialektische Bild und die Lesbarkeit der Vergangenheit S.105
4. Die Wahrnehmung der Idee S.111
5. Die Aufgabe des Intellektuellen: die Rettung der Phnomene S.118
Kapitel V
DIEROLLE DERIDEE IN DERPRAKTISCHENPHILOSOPHIEWALTERBENJAMINS S.125
1. Probleme, Fragen. Allgemeine Linien S.125
2. Die Ethik und die Idee in den Studentenschriften (1914): Die Religion
als neue Moral S.126
3. Die Hoffnung und die Ethik: Goethes Wahlverwandtschaften S.128
3.1 Der Mythos (d.h. das natrliche Leben) und der ethischeKampf gegen den Mythos S.129
3.2 Die Vershnung aus dem Mythos S.133
3.3 Erlsung und Vershnung S.144
4. Intellektuelle Vershnung als existentielle Antizipation der
eschatologischen Erlsung S.147
5. Die doppelte ethische Wahrheit: die komplementre Welt S.151
6. Der Mythos und die Vergessenheit S.154
6.1 Die zwei Bedeutungen des Vergessens und die Weisheit der Erinnerung S.158
7. Ethik als Utopie S.161
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III
Literaturverzeichnis S.163
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Der Apparat der vorliegenden Arbeit verwendet im weiteren die folgenden Abkrzungen fr
die Schriften Benjamins:
B = GesammelteBriefe, hrg. Von Christoph Gdde und Henri Lonitz, Suhrkamp, Frankfurt am Mein 1995-2000:Bd. I (1995): Briefe 1910-1918.
Bd. II (1996): Briefe 1919-1924.
Bd. III (1997): Briefe 1925-1930.
Bd. IV (1998): Briefe 1931-1934.
Bd. V (1999): Briefe 1935-1937.
Bd. VI (2000): Briefe 1938-1940.
BW = WALTERBENJAMIN GERSHOM SCHOLEM, Briefwechseln1933-1940, hrg. von G. Scholem, Suhrkamp,
Frankfurt am Mein 1980.
GS = Gesammelte Schriften, hrg. Von R. Tiedemann und H. Schweppenhuser, Suhrkamp, Franfurt am Main
1972-1989:
Bd. I (1974): I 1; I 2; I 3.
Bd. II (1977): II 1; II 2; II 2.
Bd. III (1972): III.
Bd. IV (1972): IV 1; IV 2.
Bd. V (1982): V 1; V 2.
Bd. VI (1985): VI.
Bd. VII (1989): VII 1; VII 2.
In dem Text folgt die Bandnummer und die Seite der Abkrzung GS.
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EINLEITUNG
Es ist bekannt, dass sich das Leben Walter Benjamins zwischen den Grenzen verschiedener
Nationen abspielt, und dass eine Grenze gemeint ist diejenige zwischen Frankreich und
Spanien auch der Ort ist, an dem diese Erfahrung endet. Ausgerechnet an eben einee
Grenze, knnte man sagen, hat Benjamin seine Gedanken gefhrt, denn schon beim ersten
Aufschlagen der Lektre dieses Autors gewinnt man nmlich den Eindruck, sich in
Anwesenheit eines Denkens zu finden, das zwischen einer Grenze und deren berschreitung
schwankt. Das berschreiten der Grenzen spiegelt sich zunchst in der ueren Form des
Denkens Benjamins wider. Dies ist ein Denken im weitesten Sinne des Wortes, weil es ber
vielerlei Themen nachdenkt: von Kunst bis Kinematographie, von Politik bis Kindermrchen,
von Dichtung bis Religion. Somit berschreitet es die Grenzen der traditionellen
philosophischen Forschung. Die Grenze hat aber auch eine konzeptuelle Bedeutung. In
diesem Fall bewahrt, bestimmt die Grenze die tiefste Struktur von Benjamins Philosophie:
diese befindet sich an der Grenze zwischen dem Phnomen und der Idee, welche den Horizont
seiner Forschung ausmachen. Es gibt weder blo die Idee noch das Phnomen allein.
Dennoch gibt es eine Bewegung, die von der einen zum anderen geht. Die Philosophie
Benjamins ist die Darstellung des Phnomens in seiner kontinuierlichen Spannung zur Idee
und in seiner kontinuierlichen Konzentration zur berwindung des Phnomenalen. Die
Unmglichkeit, die Grenze zu berschreiten, bedeutet, dass die Philosophie Benjamins
genauso wie jegliche andere phnomenale Manifestation darauf angewiesen ist, in dem
Profanen zu bleiben; aber ihr Wert und ihre Aktualitt werden von der Anerkennung einer
Realitt bestimmt, welche ber die des Phnomens hinausgeht. Die beiden Extreme d.h. das
Phnomen und die Idee knnen nicht vereint werden, weil zwischen ihnen eine unendliche
Distanz bestehen bleibt, die niemals ausgefllt werden kann. Zwischen diesen beiden
Extremen wirkt und arbeitet die Philosophie. Das Vorhaben dieser Arbeit ist es ber diese
Grenze nachzudenken und dementsprechend das Thema der Idee oder besserdas Problem
der Idee und deren Beziehung mit dem Endlichen zu entwickeln.
Die Ideenlehre, welche Benjamin vorschlgt, bleibt aber bezglich mehrerer Fragenoffen: wie gelangt nmlich der Philosoph zu der Idee? Wozu dient die Idee? Und
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schlielich: was ist die Idee? Benjamin systematisiert niemals seine Ideenlehre. Erwendetsie
aber wie wir sehen werden innerhalb seiner Schriften an. Darum ist es vorrangig die
Absicht dieser Forschung, die benjaminschen Ideenlehre aus seinen Texten zu extrahieren.
In den frheren Jahren seiner philosophischen Aktivitt wie die Briefen an Scholem
beweisen hatte Benjamin ein Projekt ber Kant und Cohen formuliert. Dieses war auf die
Mglichkeit zentriert, eine neue Theorie der Erkenntnis im Bezug auf den Begriff der
Erfahrung auszudenken. Das Bedrfnis die Integritt und die Einheit der Erfahrung zu
bewahren, bringt aber Benjamin dazu sich von Cohen zu entfernen und solche Problematiken
in eine andere Richtung zu entwickeln, indem er zu einem Begriff der Erkenntnis und zu
einem Begriff der Erfahrung gelangt, die wenig mit denen der Marburger Schule zu tun
haben. Die Erfahrung wird nmlich bei Benjamin zu einer hheren Erfahrung: d.h. eine
Erfahrung als Totalittverstanden, die folglich die wissenschaftliche Ausschlielichkeit des
Neukantianismus berwinden will, um in sich jede Art von Erfahrung einzuschlieen,
inklusive der Religisen. Der Leser der Programmschrift findet sich aber vor einer
Schwierigkeit: die Totalitt der Erfahrung, von welcher bei Benjamin die Rede ist, stellt sich
nmlich auf der einen Seite als ein utopisches Ideal vor, welches, um erreicht zu werden, ein
unendliches Streben verlangt. Andererseits wird aber auf die Mglichkeit einer unmittelbaren
Wahrnehmung hingewiesen, die eine solche Totalitt augenblicklich wahrzunehmen
ermglicht. Genau die selbe Schwierigkeit begegnet uns bei dem Begriff der Erkenntnis: diese
letzte meint nicht mehr blo die wissenschaftliche Erkenntnis, wie es bei Kant und den
Neukantianern der Fall war; vielmehr wird sie zum Inbegriff aller Erkenntnisse, indem sie
wenigstens in der Absicht Benjamins die Grenze des bloen wissenschaftlichen Begriffes
der Erkenntnis berwindet und erneut auf eine Totalitt hinweist, die einerseits ein
asymptotisches Prinzip ist, andererseits aber auf eine unmittelbare Wahrnehmung verweist.
Benjamin beginnt also mit den Kantischen und Neukantischen Begriffen der Erkenntnis und
der Erfahrung jedoch kehrt er deren ursprnglichen Bedeutung um. Erkenntnis undErfahrung verweisen beide auf eine Totalitt und ideelle Einheit. Bewahrt Benjamin
einerseits das Prinzip der unendlichen Verfahren - d.h. der Aufgabe - in Annhrung zu dieser
Totalitt, taucht aber andererseits bereits in den jugendlichen Schriften die Mglichkeit einer
unmittelbaren Wahrnehmung dieser Totalitt auf.
Die Ambivalenz, die diesen beiden Begriffen zugrunde liegt, hngt meiner Meinung
nach von der Zweideutigkeit des Benjaminschen Begriffes der Idee ab, um welchen sich die
Erkenntnis und die Erfahrung drehen. Die Idee prsentiert sich im Denken Benjamins inder Bedeutung des regulativen Ideals. Bereits in den jugendlichen Schriften und
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Fragmenten wird die Idee als Fhrer und Aufgabe des erkenntnistheoretischen Verfahrens des
Philosophen bernommen. Wie bei Kant ist die Idee bei Benjamin eine Einheit, die niemals
gegeben wird, sondern als regulative und deshalb logische Einheit der Erkenntnis fungiert.
Zugleich erwirbt aber die Idee die Bedeutung der Wahrheit und des Ursprungs in einem
ontologischen Sinne. Die Idee, die ontologisch anders als das Phnomen ist, grndet das
Phnomen selbst, indem sie es in einer originren Beziehung bestimmt. Mit anderen Worten,
die Ambivalenz, vor der man den Eindruck hat zu stehen, ist, dass die Idee nicht nur im
Kantischen Sinne ein Ideal ist, an dem das Denken sich orientieren soll, sondern auch der
Terminus der ontologischen Beziehung, die das Phnomen konstituiert. Die phnomenale
Welt, d.h. die Welt des Scheins, ist die Manifestation der Idee, die sich - selbst wenn sie
jenseits der empirischen Realitt bleibt in dem Phnomen verkrpert. D.h. sie tritt in die
ontologische Konstitution des Phnomens ein. Das ist aber nicht alles. Ist die Idee einerseits
konsequent im Sinne der Marburger Schule eine unendliche Aufgabe, die eine progressive
aber niemals vollendete Annhrung zu ihr impliziert (nach dem berhmten Satz Hermann
Cohens1, nach dem die grte Gabe, die je dem Menschen gegeben wurde, nicht die Wahrheit
selbst ist, sondern die unendliche Suche nach der Wahrheit), manifestiert Benjamin
andererseits das Bedrfnis eines unmittelbaren Ansatzes zu der Idee, der sich in den Begriffen
der Betrachtung, der Darstellung und der Wahrnehmung konkretisiert. Die Wahrheit,
oder die Idee da die beiden Begriffe nicht von dem Autor zu unterschieden werden scheinen
, findet ihr Zugangsorgan: nmlich die Wahrnehmung. Wir haben also mit einer nicht-
wissenschaftlichen Wahrheit zu tun, zu der man etwa durch Zufall oder mittels einer
Illumination, allerdings ohne die Anwendung jeglicher etablierten Methode, gelangt. Diese
Inkongruenz oder Korrelation zweier gegenstzlicher Gedanken ber die Wahrheit
manifestiert sich bereits in der Programmschrift und in den jugendlichen Fragmenten, in
denen z.B. die Wahrheit nicht als systematisch, sondern als knstlerisch bezeichnet wird.
Der Doppelbegriff der Wahrheit hat mich dazu gebracht, der Hypothese einer anderenQuelle nachzugehen, welche Benjamin fr die Konstruktion seiner Erkenntnistheorie
inspiriert hat: die Lektre Goethes. Freilich wie ein Teil der Sekundrliteratur feststellt
wurde Benjamin in einem gewissen Masse von den mystischen Theorien des Judentums
beeinflusst (die er durch seinen Freund Gershom Scholem kennen gelernt hatte). Meiner
Meinung nach ist aber eben durch die Lektre Goethes dessen Begriff des Urphnomens
wichtig ist, um den der Idee bei Benjamin zu begreifen zu erklren, dass Benjamin
1 Vgl. HERMANN COHEN,Ethik des reinen Willens,Hildesheim- New York 1981, I Kap.
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schlielich dazu gelangt, den Begriff der unmittelbaren und wahrgenommenen Wahrheit zu
thematisieren.
Die scheinbare Duplizitt der Idee wird also das Hauptthema, an dem ich die
vorliegende Arbeit orientieren werde: bleibt diese Zweideutigkeit in den spteren Schriften
Benjamins erhalten? Welche Bedeutung hat sie letztlich? Meine Auslegungshypothese ist,
dass diese Ambivalenz tatschlich existiert. Jedoch ist sie nur scheinbar eine Ambivalenz. In
der Entwicklung dieses Problems spielt der Begriff des Lesens eine grundstzliche Rolle.
Die Aussage Benjamins, welche auch der Titel eines frheren Fragmentes ist ,
Wahrnehmung ist Lesen ist die Spur gewesen, die mich dazu gebracht hat diese
Ambivalenz der Idee zu beleuchten. Eben diese Ambivalenz erweist sich als der theoretische
Kern der Philosophie Benjamins und verweist bedeutungsvoll auf jene zwischen der Idee und
dem Phnomen bestehende Grenze, die problematisch war. Der Satz Wahrnehmung ist
Lesen - wo sich der Begriff der Wahrnehmung auf die unmittelbare Wahrnehmung der Idee
bezieht hat mich eben zu der Hypothese gefhrt, welche meine Arbeit beweisen will: die
Idee, die in Ursprung des deutschen Trauerspiels bedeutungsvoll als Bild definiert wird, ist
die Auslegendenstruktur der phnomenalen Welt. Und das Lesen welches die
Wahrnehmung der Idee mit sich bringt ist das unendliche und immer fr neue
Entwicklungen offene Verfahren dieser Interpretation. Dies bedeutet, dass die Unmittelbarkeit
der Wahrnehmung und die Idealitt der unendlichen Aufgabe nicht einen Widerspruch in der
Philosophie Benjamins bilden, sondern vielmehr deren Originalitt bestimmen.
Die dialektische Bewegung zwischen dem Phnomen und der Idee ist die Grenze,
auf welche sich die Philosophie bewegt und arbeitet. Von dem Phnomen geht man aus, um
es im Licht der Idee zu analysieren und zu lesen; von dieser steigt man in die phnomenale
Welt hinab. Diese Bewegung, die meiner Meinung nach der Leseschlssel des Benjaminschen
Denkens ist, verweist auf einen anderen bekannten Begriff Benjamins: die Rettung der
Phnomene, welchen Benjamin in dem Trauerspielbuch einfhrt und der auch in seinenspteren Schriften vorkommt. Die gleiche unendliche Bewegung, die das Verfahren des
Lesens (als Auslegungsaktivitt) charakterisiert, ist in einer radikalen Weise in den
Begriff der Rettung der Phnomene anwesend. Ein solcher Begriff hat Anlass zu
theologischen Interpretationen der Schriften Benjamins gegeben. Die letzten beiden Kapitel
dieser Arbeit sind diesem Begriff gewidmet: sie beabsichtigen zu zeigen, dass dieser, selbst
wenn er ein religises Fundament hat und selbst wenn er auf dem jdischen Begriff der
Erlsung hinweist, in dem Denken Benjamins zunchst eine operative Aufgabe ist. DieRettung der Phnomene hat bei Benjamin also zuerst eine methodisch-intellektuelle
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Bedeutung, die zu der eschatologischen zurckfhrt, indem die erste die letzte antizipiert. Mit
dem Begriff der - (eben Rettung der Phnomene) theoretisiert
Benjamin das, was ich als die Methode seiner Philosophie definieren will. Die Rettung, als
intellektuelle Rettung ist fr Benjamin die Aufgabe des Intellektuellen, welche in dem Zitat
von Karl Kraus, das als Epigraph anfangs der vierzehnten These ber die Geschichte
erscheint, synthetisiert ist: Ursprung ist das Ziel. DieAufgabe der Philosophie besteht also
darin, unendlich von dem Phnomen zu der Idee hinaufzusteigen, die zugleich das Ziel und
der Ausgangspunkt des Denkens ist. Dies bedeutet, dass die Aufgabe d.h. das Ziel der
Philosophie darin besteht, die ursprngliche Bedeutung des Phnomens zu finden. Wir
werden also die Stellen zutage bringen, in denen Benjamin die Methode der Rettung
thematisiert und jene Stellen, in denen er sie anwendet.
Die Methode der intellektuellen Rettung hat aber auch eine weitere Bedeutung, die ich
als moralisch bezeichnen mchte. In dem letzten Kapitel dieser Forschung wird durch die
Analyse des Essays Goethes Wahlverwandtschaften gezeigt, in welchem Sinne es mglich ist,
dass in der Philosophie Benjamin von einem ethischen Denken die Rede sein kann. Mein
Vorhaben ist es zu beweisen, dass wenn einerseits die Erlsung eine religise Bedeutung hat,
welche eine eschatologische Ethik grndet, andererseits der Begriff der Erlsung auf eine
Ausshnung zwischen der Idee und dem Menschen hinweist, die aber eine Ethik der
Hoffnung grndet. Diese letzte ist also das moralische Streben des Phnomens, um seinen
Ursprung in der Idee zu anerkennen und an dieser letzten orientiert zu handeln.
Die Aktualitt der Philosophie Walter Benjamins, die in den letzten Jahren
zugenommen hat, ist vor allem auf die Originalitt zurckzufhren, mit der er die Rnder der
technischen Gesellschaft und deren Entstellungen beschrieben hat. Die Moderne und deren
existentielles Synonym: der Mythos ist die historische (sowohl theoretische als auch
moralische) Situation der Verblendung der Idee. D.h. die Idee in dem Phnomen zu erblicken,
und das eben ist, was in der Welt der Moderne eben immer schwieriger wird , ermglichtdas Phnomen emporzuheben und es vor dem bloen Schein, zu dem es als Phnomen
verurteilt ist, zu retten. Das gleiche Prinzip gilt auch in der Moral: das Phnomen soll zu der
Idee emporgehoben werden, um somit einen Sinn und einen moralischen Wert zu erwerben.
Es darf also nicht von menschlichem Leben die Rede sein, sondern nur von natrlichem
Leben, wenn dem Menschlichen die von der Idee gegebene ethische Bedeutung fehlt: Eine
Person wird eben zu einer solchen, wenn sie sich zur Idee der Menschlichkeit und zu dem,
was diese impliziert d.h. die Verantwortung und die Wahl erhebt. Die Rettung des
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Phnomens wird also in der Benjaminschen Ethik nicht nur die Aufgabe des Intellektuellen,
sondern jedes Menschen.
Impliziert die Erlsung eine vllige und radikale Befreiung von dem Schein, ist jedoch
die Vershnung (also die intellektuelle und menschliche Erlsung), als Mglichkeit die Idee
in dem Schein zu anerkennen, nur das Symbol der eigentlichen Erlsung. Sie ist also deren
Antizipierung. Wir knnen noch sagen, dass, wenn die Hoffnung der Erlsung ein Streben zu
der vollendeten Resolution des Phnomens in der Idee ist, eine solche Hoffnung nur
denjenigen zu eigen sein kann, denen der ontologische Unterschied zwischen der Idee und der
phnomenalen Realitt bewusst ist. Also denjenigen, die dazu gelangen, die Realitt als eine
bloe Manifestation der Idee zu sehen. Dann taucht erneut das folgende Problem auf: wem
manifestiert sich die Idee? Und wie? Diesbezglich erweist sich das Denken Benjamins als
elitr. Die Mglichkeit, die Idee im Zeitalter ihrer Verblendung wahrzunehmen, sieht
Benjamin nmlich fr einen begrenzten Kreis der als komplementre Welt bezeichnet
wird von Intellektuellen und Knstler vor, die eben die einzigen sind, die noch imstande
sind die Idee in ihren mittlerweile vagen phnomenalen Manifestationen wahrzunehmen.
Im Laufe der Arbeit beabsichtige ich, ber die Benjaminschen Konzeption der Zeit
nachzudenken, in welcher der Begriff des Jetzt zwar von zentraler Bedeutung ist, wie auch
in der Sekundrliteratur immer wieder betont wird. Denn es kreisen auch noch zwei Elemente
um ihn herum, die ebenso grundstzlich zum Begreifen der Benjaminschen Temporalitt sind:
die Vergangenheit, in ihrer besonderen Form des Gewesenen, und die Zukunft, in ihrer
besonderen Form des Wartens. Das alles hat, wie wir sehen werden, eine sehr deutliche
jdische Herkunft. Die Zeit der Idee verweist auf die Dialektik des Begriffes der Rettung,
erneut in der Formel Ursprung ist das Ziel ausgedrckt. Dieser Ausdruck zeigt nmlich eine
zeitliche und zugleich ideelle Zirkularitt: die Vergangenheit des Ursprungs ist auch die
Zukunft des Zieles. Die Vergangenheit ist nicht die bereits gestorbene und vergessene
Vergangenheit, sondern sie erwirbt die ideale Bedeutung einer Vergangenheit, diewiederaktualisiert werden kann (und muss): d.h. vor dem Vergessenen gerettet. Zugleich ist
die Zukunft nicht die knftige kommende Zeit, sondern sie ist die unendliche Bewegung der
Rettung des Phnomens, das wieder zur Idee gefhrt wird. Das Benjaminsche Gewesene ist
bedeutungsvoll mit dem Begriff des Eingedenkens verbunden, d.h. mit einem aktiven
Erinnern, das die vergangene Zeit wiedererleben will. Die Zukunft ist mit dem Begriff der
Hoffnung verbunden, der die stndige Spannung des Phnomens zur Idee ausdrckt.
Der Begriff der Zeit bringt uns auerdem dazu zu beweisen, inwiefern die Rettungauch eine existentielle Bedeutung hat. Die bekannte Figur des Benjaminschen Engels, der in
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die Zukunft aufbricht, dessen Blick aber melancholisch der Vergangenheit starrt, als ob er sie
mit ihm in seiner Reise Richtung Zukunft mitnehmen wollte, ist etwa das Symbol dieser
existentiellen Rettung. Der Heimweg, auf dem sich die Hoffnung des Engels konzentriert,
ist der metaphorische Ausdruck des existentiellen Bedrfnisses der Mglichkeit, die
Vergangenheit wiederzuerlangen, da fr Benjamin die Vergnglichkeit des Menschen die
Unmglichkeit, die vergangene Zeit wiederzuleben, ausdrckt. Nur die Rettung, im
eschatologischen Sinne verstanden, rettet die Menschheit fr immer vor der Grenze ihrer
Endlichkeit und vor dem, was ewig vergeht. Dennoch ist die intellektuelle Rettung blo das
Symbol des eschatologischen Endes, und auerdem deren Antizipierung. Die Erlsung zu
antizipieren bedeutet, sowohl die existentielle Mglichkeit in den dem Menschen gestatteten
Grenzen - d.h. durch die Erinnerung - zur Vergangenheit zurckzukehren als auch die
(ethische und theoretische) Mglichkeit einen neuen Begriff der Geschichte (anders als der
der Tradition) zu erschaffen, aber auch die existentielle Mglichkeit in der Erinnerung die
bereits erlebte Vergangenheit wiederzuerlangen. Die intellektuelle Erlsung ermglicht also
dem Menschen nicht nur die Hoffnung auf ein neues historisches Gedchtnis, sondern auch
die Hoffnung auf ein existentielles Gedchtnis zu haben.
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ERSTES KAPITEL
ERFAHRUNG UND ERKENNTNIS
1. Wissenschaftliche Erfahrung und unmittelbare Erfahrung
Ich mchte meine Arbeit mit einer Analyse der Begriffe Erkenntnis und Erfahrung
innerhalb des Fragmentes 19, ber die Wahrnehmung, der Gesammelte Schriften anfangen.
Benjamin hat gegen 1917 das Fragment geschrieben, das von den Herausgebern der Werke
Benjamins als Vorstudium1 der berhmten Schrift ber das Programm der kommenden
Philosophie aus dem Jahr 1917 betrachtet wird. Zunchst muss man den Titel beachten:
ber die Wahrnehmung. Es ist nmlich interessant, dass Benjamin das Fragment bezglichder Wahrnehmung betitelt, whrend seinem Inhalt nach der sich vllig um die Begriffe der
Erfahrung und der Erkenntnis dreht die Wahrnehmung nur am Ende des Textes erwhnt
wird. Es ist aber wichtig sich daran zu erinnern, dass dieses Fragment von Benjamin nicht zur
Verffentlichung gedacht wurde, genauso wenig wie die folgende und kompliziertere
Programmschrift. Das erklrt die hufige Inkonsequenz Benjamins bei der Analyse der
Begriffe und den Mangel an Definitionen derselben, die die Begegnung mit dem Text extrem
schwierig machen.Man erinnert oft daran, dass das Fragment 19 zu der Reihe der Kantischen und
Neukantischen Studien gehrt, die Benjamin von 1917 an begann. Er hatte nmlich die
Absicht, als Promotionsarbeit ein Projekt ber Kant und Cohen zu schreiben, die als
Hauptthema den Begriff unendliche Aufgabe haben sollte. Daher war Benjamin in den
Jahren 1917 und 1920 wie vor allem der Briefwechsel mit Scholem beweist - mit einer
grndlichen Untersuchung dieser Autoren und besonders ihrer Erkenntnistheorie beschftigt.
1 Vgl. GS VI 657.
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Aber inwiefern ist Benjamin in seinen Reflexionen ber die Begriffe Erfahrung und
Erkenntnis tatschlich Kant und Cohen gefolgt?
Das Fragment ber die Wahrnehmungfngt mit einer Auseinandersetzung des Autors
mit den Kantischen Begriffen Erfahrung und Erkenntnis an, ohne aber dass diese Begriffe
deutlich bezeichnet werden. Benjamin schreibt, dass Kant der erste Philosoph war, der eine
Trennung zwischen Erfahrung und Erkenntnis der Erfahrung macht, wobei man unter
Erkenntnis die apriorische Naturerkenntnis versteht, die Kant Metaphysik der Natur nennt:
mit Metaphysik meint Kant also eine reine und apriorische Erkenntnis der Konstitution der
Naturdinge, die direkt und nur aus dem Verstand hervorgeht, whrend die Materie der
Empfindung das aposteriorische Element darstellt, das als Materie fr die Konstruktion der
Erfahrung dient. So macht Kant, laut Benjamin, eine Trennung zwischen Erfahrung und
Erkenntnis der Erfahrung, da die erste aposteriorische Elemente enthlt, die zweite hingegen
rein ist und ausschlielich aus dem Verstand herausgeht. Darber hinaus gibt es noch einen
wichtigen Punkt, den Benjamin in dem Fragment hervorhebt, nmlich: der Begriff, mit dem
sich Kant und die Aufklrer beschftigten, ist ein leerer Begriff,gottlos2. Er hat nmlich die
ursprngliche Flle verloren, die er bei den vorkantischen Philosophen hatte. Auch in diesem
Fall erklrt und vertieft Benjamin den Begriff der gottlosen Erfahrung nicht, sondern er
bezeichnet ihn sozusagen negativ, indem er ihn auf den Begriff der Erfahrung, der derAufklrung eigen ist, bezieht und entgegensetzt: die einzige Erfahrung, die fr die Aufklrung
Wert hatte und sich von daher zu betrachten und zu ergrnden gelohnt hat, ist diejenige
(Erfahrung), die mit der Erfahrung zusammenfllt, die Objekt der Wissenschaften ist. Der
Begriff der Erfahrung, den Kant in Erwgung zieht, ist also ein reduzierter Begriff, weil er
eben blo demjenigen der wissenschaftlichen Erfahrung entspricht. Mit anderen Worten, nach
Benjamins Ansicht muss, von der Aufklrung her und insbesondere von Kant her die
Erfahrung, die zu ergrnden und zu rechtfertigen ist, die mechanische sein, die Objekt derWissenschaft ist und eben nicht dieganze Erfahrung in ihrer Flle und Vielfltigkeit.
Die Schlussfolgerungen, die Benjamin im Fragment 19 zieht, sind also die Folgenden:
der Kantische Begriff der Erfahrung ist ein reduzierter Begriff, weil er dem Gegenstand der
Wissenschaft entspricht. Darber hinaus unterscheidet er sich nicht genug von derErkenntnis
der Erfahrung selbst: die Erfahrung als Gegenstand der wissenschaftlichen Erkenntnis ist eben
nichtmehr etwas auerhalb der letzteren und doch nichtmehretwas Neues fr sie:
2 Vgl. GS VI 36.
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Fr den Begriff der Erkenntnis ist nmlich die Erfahrung nichts auer ihrliegendes Neues, sonder nur sie selbst in einer anderen Form, die Erfahrungals Gegenstand der Erkenntnis ist die Einheitliche und KontinuierlicheMannifaltigkeit der Erkenntnis. Die Erfahrung selbst kommt, so paradoxdies klingt, in der Erkenntnis der Erfahrung gar nicht vor, eben weil diese
Erkenntnis der Erfahrung, mithin ein Erkenntniszusammenhang ist3.
Benjamin beschreibt die Beziehung zwischen Erfahrung und Erkenntnis mit einer Metapher:
Die Erfahrung selbst ist das Symbol dieses Erkenntniszusammenhangesund steht mithin in einer vllig anderen Ordnung als dieser selbst. Vielleichtist der Ausdruck Symbol sehr unglcklich gewhlt, er soll lediglich dieVerschiedenheit der Ordnungen ausdrcken die vielleicht auch in einemBilde zu erklren ist: Wenn ein Maler vor einer Landschaft sitzt und sie wie
wir zu sagen pflegen abmalt, so kommt diese Landschaft selbst auf seinemBilde nicht vor; man knnte sie hchstens als Symbol seines knstlerischenZusammenhanges bezeichnen und freilich wrde man ihr damit eine hhereDignitt als dem Bilde zusprechen, und auch gerade das wrde sichrechfertigen lassen4 .
Wenn Kant und die Aufklrung den Ansto zu einer Verwirrung zwischen Erfahrung und
Erkenntnis der Erfahrung gegeben haben, bemht sich Benjamin dennoch ich wiederhole,
indem er eine Theorie entwirft, ohne aber deren Schlussfolgerungen zu rechtfertigen zwischen Erkenntnis und Erfahrung zu unterscheiden, indem er als Beweis dazu die
Tatsache nutzt, dass die Erfahrung, die sich als Symbol in derErkenntnis offenbart, also eben
nicht die wissenschaftliche Erfahrung ist, sondern die unmittelbare und natrliche Erfahrung5
- anders als die wissenschaftliche und ursprnglicher, da letztere blo eine Ableitung, eine
Reduktion davon ist. Von dieser unmittelbaren und natrlichen Erfahrung, schreibt Benjamin,
entfernt man sich im Laufe der Geschichte der Philosophie.
Was meint nun Benjamin mit der unmittelbaren und natrlichen Erfahrung? Wieso
wird sie als Symbol bezeichnet? Am Ende des Fragments schreibt Benjamin:
Philosophie ist Absolute Erfahrung deduziert im systematischsymbolischen Zusammenhang als Sprache. Die absolute Erfahrung ist, frdie Anschauung der Philosophie, Sprache; Sprache jedoch als symbolisch-systematischer Begriff verstanden. Sie spezifiziert sich in Spracharten, dereneine die Wahrnehmung ist; die Lehren ber die Wahrnehmung sowie ber
3 GSVI 36.4 GSVI 36f.5 Es ist nmlich der unmittelbare und natrliche Begriff der Erfahrung zu unterschieden von demErfahrungsbegriff des Erkenntniszusammenhanges (GSVI 36).
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alle unmittelbaren Erscheinungen der absoluten Erfahrung gehren in diePhilosophischen Wissenschaftlichen im weiteren Sinne. Die ganzePhilosophie mit Einschluss der philosophischen Wissenschaften ist Lehre6.
Benjamin endet also das Fragment, indem er die ursprngliche Erfahrung als absolute
Erfahrung bezeichnet. Er fgt hinzu, dass sie Sprache ist, als systematischsymbolischer
Zusammenhang gemeint; gleichzeitig ist aber der ursprnglichere Begriff der Erfahrung, an
den Benjamin denkt, und der sich von dem Begriff der Aufklrung unterscheidet und
insbesondere von dem Kantischen der Erfahrung, eine unmittelbare Erfahrung. Sehen wir uns
hier mit einer Zweideutigkeit konfrontiert? Wie ist es mglich, dass die absolute Erfahrung
ein systematischer Zusammenhang ist und gleichzeitig eine unmittelbare Erfahrung? Es ist
auerdem zu bemerken, dass in der Definition der absoluten Erfahrung der Begriff
Wahrnehmung eingefhrt wird, und dass die Wahrnehmung eine Sprachart ist.
Was meint nun Benjamin mit Wahrnehmung? In welchen Sinn ist die Wahrnehmung
eine Sprachart? In welchen Sinn kann also die Erfahrung Wahrnehmung sein und als solche
Sprachart?
2. Die Beziehung Erkenntnis - Erfahrung und der Untergang des Subjektes
Sehen wir fr den Moment von der oben gestellten Frage ber die Beziehung zwischen dem
Begriff der Erfahrung und dem der Wahrnehmung ab, um das Verfahren des Gedankenganges
Benjamins in dem Passage vom Fragment 19 zu derProgrammschriftzu verfolgen7. Auch,
und vor allem, in diesem Text, setzt sich Benjamin mit Kant und teilweise mit Cohen
bezglich der Begriffe Erfahrung und Erkenntnis auseinander, und auch in diesem Textfinden wir die selben begrifflichen Zweideutigkeiten des oben betrachteten Fragments wieder.
Wie ich schon oben gesagt habe, ist es zunchst wichtig die Aufmerksamkeit
Benjamins seit den frhen Schriften fr diese beiden Begriffe, die man knnte sagen
einen Doppelbegriff formen, zu unterstreichen: insbesondere in der Programmschrift bezieht
Benjamin sie aufeinander und er betont, dass, wenn sich die Bedeutung des einen Elementes
des Doppelbegriffes ndert, sich auch die des zweiten ndert. Dann werde ich ein zweites
6 GS VI 38.7 Dieser Text reicht November 1917 zurck und wird eine Entwicklung des Fragments 19 betrachtet (vgl.Funote 1).
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Problem betrachten, das mit der Erkenntnistheorie verbunden ist, und zwar Benjamins
Absicht einen neuen Begriff der Erkenntnis zu erfinden, der aber nicht in der traditionellen
Beziehung Subjekt Objekt gegrndet wird. Also werde ich versuchen, diese beiden Themen
die in der Tat untrennbar sind die von der Auseinandersetzung Benjamins mit Kant und
mit dem Neukantianismus herrhren, zu beleuchten.
2.1 Erkenntnis und Erfahrung: die Termini eines Doppelbegriffes
Benjamin schreibt am Anfang der Programmschrift, dass Kant der erste und der einzigePhilosoph nach Platon war, fr den die wichtigste Aufgabe der Philosophie in der
Rechtfertigung der Erkenntnis bestand, und der erste Philosoph, der die Existenz einer engen
Beziehung zwischen den Begriffen Erkenntnis und Erfahrung behauptet. Kant wollte die
Realitt finden, deren Erkenntnis begrndet sein und gewiss werden sollte: einerseits also galt
sein Interesse der Gewissheit der zeitlosen Erkenntnis, andererseits der zeitlichen und
kontingenten Erfahrung8. Es war ihnen aber nicht klar schreibt Benjamin weiter weder
Kant noch den Philosophen der Aufklrung, dass der Begriff der Erfahrung, den es zugrnden galt, in Wirklichkeit die singulre, zeitliche und primitive Erfahrung war9. Nun,
whrend Benjamin im Fragment 19 schreibt, dass der Begriff der Erfahrung bei Kant leer
war, weil er auf jenen der wissenschaftlichen Erfahrung reduziert war, behauptet Benjamin
jedoch in der Programmschrift, dass, obwohl der Begriff der Erfahrung von Kant in Bezug
auf die wissenschaftliche Erfahrung formuliert wird, in ihm eine Bindung mit dem Begriff der
primitiven Erfahrung, d.h. kontingent und singulr, bleibt, der nicht mit dem reinen
Bewusstsein, sondern mit dem empirischen verbunden ist.Kants Verdienst, schreibt Benjamin, war ja eben, dass er die Frage nach der Dignitt
einer Erfahrung die vergnglich war10 stellte. Trotzdem wird, whrend im Fragment 19 die
als natrliche und unmittelbare bezeichnete Erfahrung als ursprngliche und demzufolge
gottvoll und von ihr entfernt man sich allmhlich in der Geschichte der Philosophie
betrachtet wird, in der Programmschrift genau diese zeitliche, singulre und begrenzte
8 Vgl. GS II/1 158.9 Vgl.Ibidem.10Ibidem.
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Erfahrung ein Wert, der sich der Null nherte11. ndert sich also die Ansicht Benjamins
ber die Bedeutung der natrlichen Erfahrung, die sich in der Programmschrift genauso leer
wie die der wissenschaftlichen Erfahrung gibt? Wie werden darber hinaus die Begriffe
Erfahrung und Erkenntnis verbunden?
Benjamin schreibt:
Es ist von der hchste Wichtigkeit fr die kommende Philosophie, zuErkennen und zu sondern welche Elemente des Kantischen Denkensangenommen und gepflegt, welche umgebildet und welche verworfen werdenmssen [...]. Und das eben soll zum Thema der zu erwanderten Philosophiegemacht werden, dass eine gewisse Typik im Kantischen System aufzuzeigenund klar aufzuheben ist die hhern Erfahrung gerecht zu werden vermag [...].Allein nicht nur von der Seite der Erfahrung und Metaphysik muss derknftigen Philosophie die Revision Kants angelegen sein. Und methodisch,d.h. als eigentliche Philosophie berhaupt nicht von dieser Seite sondern vonSeiten des Erkenntnisbegriffes her. Die entscheidenden Irrtmer derKantischen Erkenntnislehre sind wie nicht zu bezweifeln ist auch auf dieHohlheit der ihm gegenwrtigen Erfahrung zurckzufhren, und so wird auchdie Doppelaufgabe der Schaffung eines neuen Erkenntnisbegriffes und einerneuen Vorstellung von der Welt auf dem Boden der Philosophie zu einereinziger werden12.
Die Kantische Philosophie, oder besser, die Kantische Erkenntnistheorie, ist also, lautBenjamin, der Ausgangspunkt, von dem man anfangen muss, um nicht nur einen neuen
Begriff Erfahrung zu formulieren, sondern gleichzeitig einen neuen Begriff Erfahrung,
welche tiefund metaphysisch13 sei: die beiden Begriffe sind nmlich aufeinander bezogen, so
dass, wenn sich der Sinn des ersten Terminus ndert, ndert sich auch jener des zweiten. Laut
Benjamin ist es Kants Verdienst, (als erster) die Verbindung von Erkenntnis mit der Erfahrung
erkannt zu haben, und als erster behauptet zu haben, dass sich die Philosophie darauf grndet,
dass in der Struktur der Erkenntnis die der Erfahrung liegt und aus ihr zu entfalten ist14.
Kant hat aber die Erfahrung nur als Faktum betrachtet, von dem man anfangen muss, eine
reine Erkenntnistheorie zu theoretisieren, die Rechenschaft ber dasselbe Faktum geben
knnte. Benjamin vertritt jedoch eine richtige gegenseitige Abhngigkeit zwischen den
Begriffen Erfahrung und Erkenntnis. Die Philosophie grndet sich nmlich nicht nur auf
die Voraussetzung, dass die Struktur der Erkenntnis auch die der Erfahrung enthlt und dass
11 GS II/1 159.12 GS II/1 160.13 Vgl. GS II/1 160, 163.14 GS II/1 163.
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die erste aus der zweite abgeleitet werden knnte, sondern dass eben die Bedingungen der
Erkenntnis die selben der Erfahrung seien. Mit anderen Worten, bei dem Benjamin der
Programmschrift existiert nicht wie aber bei Kant eine richtige Begrndung der Erfahrung
in der Erkenntnis, weil der Leser der Programmschrift den Eindruck hat, dass diese beiden
Begriffe ich wiederhole: vom Autor nicht deutlich genug in ihrer Beziehung zueinander
geklrt in einer Korrelation zueinander und in einem zu wenig klaren gegenseitigen
Verhltnis stehen. Diese Korrelation, die Benjamin aber nicht vertieft, wird eben als die
theoretische Voraussetzung der knftigen Philosophie bezeichnet und betrachtet, und in
diesem Sinn ist es daher mglich, dass bezglich der Begriffe Erkenntnis und Erfahrung
von einen Doppelbegriff die Rede ist.
Die knftige Philosophie hat also alsAufgabe die Begrndung eines hheren Begriffes
Erfahrung, eines metaphysischen Begriffes Erfahrung, der seine Rechenschaft in einem
ebenso hheren Begriff Erkenntnis findet, der wie Benjamin schreibt der logische Ort15
der Mglichkeit der Metaphysik sei; eine gegenseitige Begrndung zwischen Erkenntnis und
Erfahrung bercksichtigend. Um das alles zu verwirklichen, ist es aber Benjamin nach
notwendig, die beiden Begriffe von ihrem traditionellen Bindung zu lsen.
2.2 Der Untergang des Subjektes
Ich lasse mich nun auf das zweite Problem ein, das die Programmschrift stellt: die
berwindung des Subjektes; ein Thema, mit dem ich mich in diesem Paragraph nur kurz
auseinander setze, weil es in dem frhen Fragment enthalten und thematisiert ist, aber noch
nicht richtig von Benjamin entwickelt wird. Die Anwesenheit dieser Problematik in derProgrammschrift, selbst wenn nur angedeutet, ist eine Besttigung ihrer Zentralitt schon in
dem Denken des jungen Benjamin. Sie wird trotzdem vor allem in den spteren Werken des
Autors auftauchen. Selbst Adorno sieht in den verschiedenen Phasen der Philosophie
Benjamins die Mhe, die Metaphysik durch die Abschaffung des Subjektes zu berwinden:
In all seinen Phasen hat Benjamin den Untergang des Subjektes und die Rettung des
Menschen zusammengedacht16.
15 GS II/1 161.16 TH. W. ADORNO, Charakteristik Walter Benjamins in ber Walter Benjamin, Suhrkamp, Frankfurt 1970, S.11.
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In der Programmschrift viel mehr als im Fragment 19 werden nicht so sehr die
Verdienste Kants als die Lcken seines Denkens zutage gebracht, von denen Benjamin
anfangen will die Kantische Philosophie zu reinigen und damit ihre wichtigsten Aspekte
aufhebend und die metaphysischen Fehler, die sie enthlt, berwindend. Er nennt zwei solcher
Fehler: die Konstruktion einer auf Subjekt und Objekt begrndeten Erkenntnistheorie und die
Beziehung von Erkenntnis und von Erfahrung mit dem empirischen Bewusstsein:
Die wichtigsten dieser Elemente sind: erstens die bei Kant trotz allerAnstze dazu nicht endgltig berwundene Auffassung der Erkenntnis alsBeziehung zwischen irgendwelchen Subjekten und Objekten oderirgendwelchem Subjekt und Objekt; zweitens: die ebenfalls nur ganzansatzweise berwundene Beziehung der Erkenntnis und der Erfahrung aufmenschlich empirisches Bewusstsein17.
Die zweite18 Aufgabe der knftigen Philosophie ist es, einen neuen Begriff Erkenntnis zu
finden, der aber nicht auf der metaphysischen Struktur Subjekt-Objekt begrndet ist:
Es ist die Aufgabe der kommenden Erkenntnistheorie fr die Sphre totaler
Neutralitt in Bezug auf die Begriffe Objekt und Subjekt zu finden; mitandern Worten die Autonomie ureigne Sphre der Erkenntnis auszumittelnin der dieser Begriff auf keine Weise mehr die Beziehung zwischen zweimetaphysischen Entitten bezeichnet19.
Wir finden den selben Hinweis auf die berwindung dieses metaphysischen Status der
Philosophie in einem anderen Fragment der den Herausgebern der Werke Benjamins
zufolge zwischen 1920 und 1921 geschrieben wurde, also nach der Programmschrift mit
dem Titel Erkenntnistheorie. Auch in diesem Kontext schlgt Benjamin als Aufgabe der
Philosophie die berwindung in zwei Punkten vor: der erste, Die falsche Disjunktion:
Erkenntnis sei entweder im Bewusstsein eines erkennenden Subjekts oder im Gegenstand
17 GSII/1 161.18 Die erste, wenn eine Nummerierung mglich ist, ist, wie im vorherigem Paragraph gesagt wurde, die der Suchenach einer metaphysischen Erfahrung.19 GSII/1 163.
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(bzw. mit ihm identisch)20; der zweite, Der Schein eines erkennenden Menschen (z.B.
Leibniz, Kant)21.
In welchem Sinne nun versteht Benjamin den Untergang des Subjektes und welche
Vorschlge gibt es fr die Lsung dieses traditionellen philosophischen Problems? Des
weiteren schreibt er in der Programmschrift:
So lsst sich also die Aufgabe der kommenden Philosophie fassen als dieAuffindung oder Schaffung desjenigen Erkenntnisbegriffes, der indem erzugleich auch den Erfahrungsbegriffausschlielich auf das transzendentaleBewusstsein bezieht, nicht allein mechanische sondern auch religiseErfahrung logisch ermglicht22.
Es fallen uns sofort zwei Sachen auf. Zunchst verbindet Benjamin im Kontext der
Programmschrift das Problem der berwindung der Erkenntnistheorie des Subjektes mit dem
Begriff eines transzendentalen Bewusstseins. Zweitens muss dieses transzendentale
Bewusstsein die logische Mglichkeit einerErfahrung nicht nur mechanisch, aber auch
religis sichern. Die Lsung des Problems wird also anfangs und scheinbar durch einen
Versuch angesetzt, um einen neuen Begriff Erkenntnis zu theoretisieren, der einen neuen
Begriff Erfahrung ermglicht. Ich erinnere aber daran, dass Benjamin nicht konsequent mit
einem solchen Ansatz ist, weil vielmehr wie wir oben gesehen haben eine Reziprozitt
zwischen Erfahrung und Erkenntnis auftaucht, statt einer Begrndung der einen durch die
andere. Was sich aber klar innerhalb dieser komplizierten Schrift ergibt, ist, dass die beiden
Begriffe jener der Erkenntnis und jener der Erfahrung von dem traditionellen Verhltnis
mit dem empirischen Bewusstsein befreit werden und in dem transzendentalen Bewusstsein,
d.h. absolut rein, begrndet werden mssen.
Sicherlich ist die Programmschrift als Programm gedacht, also als ein Vorschlag, in
dem der einzuschlagende Weg fr die Lsung der gestellten Problemen nur gezeigt wird, was
dazu dient, die begriffliche Undeutlichkeit des Autors zu erklren. Das ist auch der Fall des
transzendentalen Bewusstseins. Es knnte so scheinen, dass Benjamin als Lsung der
Erkenntnistheorie des Subjektes an die Philosophie Hermann Cohens denkt, und dennoch
schreibt Benjamin hat der Neukantische Versuch einen der metaphysischen Elemente
lediglich radikalisiert, das erkennende Bewusstsein aber immer seinen Charakter des
20 GS VI 46.21Ibidem.22 GS II/1 164.
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Subjektes behlt, weil es analog zu dem empirischen23 ist. Gewiss haben Cohen und der
Neukantianismus das Problem der Erkenntnistheorie Kants geahnt, das laut Benjamin nicht
ausreichend radikal und konsequent gewesen ist. Trotzdem haben sie an der Begrndung einer
eben auf das Subjekt grndeten Erkenntnistheorie festgehalten, das unvermeidbar in der Form
des empirischen Bewusstseins gedacht wird. Benjamin nach mssten wir nun sogar den
Terminus Bewusstsein abschaffen24. In welche Richtung muss man also vorgehen, um einen
Begriff der Erkenntnis zu formulieren, der aber vllig von Elementen der rudimentren
Metaphysik frei ist?
Bemerken wir noch, dass Benjamin, in dem schon erwhnten Fragment
Erkenntnistheorie, auf das ich bereits oben kurz hingewiesen habe, in einer schematischen Art
eine Theorie der Erkenntnis vorschlgt, die sich in zwei Punkten entwickeln muss: 1) die
Konstitution der Dinge im Jetzt der Erkennbarkeit und 2) die Einschrnkung der Erkenntnis
im Symbol sind die beiden Aufgaben der Erkenntnistheorie25. Also fhrt Benjamin im diesen
Kontext bezglich einer positiven Definition des Begriffes Erkenntnis zwei neue Elemente
ein: Das Symbol, das wir schon in Bezug auf den Begriff Erfahrung im Fragment ber die
Wahrnehmung getroffen haben, und das Jetzt26 der Erkennbarkeit. Vor der Analyse dieser
beiden Begriffe ist zunchst ntig, den in der Programmschrift von Benjamin gesuchten
Begriff Erfahrung zu untersuchen.
3. Eine hhere Erfahrung: die metaphysische Erfahrung
Nach was fr einer Art der Erfahrung sucht Benjamin? Welche Art der Erkenntnis ist in derLage, die hhere Erfahrung zu grnden? Und noch weiter: wie beziehen sich die Begriffe der
Erfahrung und der Erkenntnis aufeinander, die, wie wir vorher gesagt haben, zueinander in
Korrelation zu stehen scheinen und sich gegenseitig begrnden? Im Laufe der
Programmschrift wird mehrere Male auf das Bedrfnis hingewiesen, eine neue Art der
23 Vgl. GS VI 161.24 Vgl. GS VI 162f.25 GS VI/ 46.26 Ich gehe davon aus, dass Benjamin in seinen Schriften keinen Unterschied zwischen den Termini Jetzt,Augenblick und Aufblitzen macht, da er sie nicht nher erlutert. Darum werde ich in diesem Kapitel nichtdiese mgliche Unterscheidung bercksichtigen.
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Erfahrung aufzufinden und zu rechtfertigen. Um dies zu tun, muss man notwendigerweise von
einem Begriff Erkenntnis ausgehen, der aber von den Aspekten der rudimentren
Metaphysik, die wie Benjamin schreibt jede andere vermeidet, befreit ist. Cohen hatte, laut
Benjamin, einen Kantischen Mangel zu radikalisieren versucht, indem er die apriorischen
Formen der Wahrnehmung abschaffte. So reduziert er die Erkenntnis auf das Subjekt und
demzufolge den Begriff Erfahrung, der auf die wissenschaftliche Erfahrung reduziert und
begrenzt ist, modifiziert. Der Begriff der Erfahrung, an den Kant denkt, war jedoch immer
noch mit der primitiven und unmittelbaren Erfahrung verbunden. Oben haben wir die Frage
ber die zweideutige Einstellung Benjamins fr diese letztere Art der Erfahrung gestellt. In
der Programmschrift nmlich sucht man bezglich der Revision der Kantischen
Philosophie eine andere Art der Erfahrung: eben als metaphysisch bezeichnet und
unterschieden sowohl von der wissenschaftlichen als auch von der primitiven Erfahrung.
Versuchen wir also die Bedeutung der metaphysischen Erfahrung zu vertiefen.
Nur ein neuer Begriff Erkenntnis, schreibt Benjamin, kann der logische Ort eines
neuen Begriffes Erfahrung, die metaphysisch ist, sein. Dieser neue Begriff der Erkenntnis
muss aber von dem empirischen Bewusstsein befreit werden und muss eine kontinuierliche
und einheitliche Erfahrung ermglichen: also erstens eine nicht in den verschiedenen
Objekten der Naturwissenschaften verrissene Erfahrung und zweitens eine Erfahrung, die dieverschiedenen Bereiche des Denkens und der Forschung, die von der Kantischen und
Neukantischen Philosophie vernachlssigt werden, umfassen kann: als erstes den Bereich der
Religion.
Benjamin schreibt:
Diese Erfahrung umfasst denn auch die Religion, nmlich als die wahre,
wobei weder Gott noch Mensch als Objekt oder Subjekt der Erfahrung ist,wohl aber diese Erfahrung auf der reinen Erkenntnis beruht als deren Inbegriffallein die Philosophie Gott denken kann und muss27.
Im Laufe der Exposition weist Benjamin blo kurz auf die neue Funktion der Philosophie hin,
die von einem neuen Begriff Erkenntnis ausgehend Gott denken knnen muss. Es ist
interessant festzustellen, dass Benjamin kurz auf die Rolle der Religion hindeutet, und er
macht das im Bezug auf das Problem der berwindung einer in dem empirischen Bewusstsein
begrndeten Erkenntnistheorie. Von dem her, was er in der Programmschrift schreibt, wrde
27 GS II/1 163.
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es scheinen, dass wenn nur die Erkenntnistheorie und der ihr entsprechende Begriff
Erkenntnis in derwahren Religion28 begrndet wird, also wenn die reine Erkenntnis Gott
als Gegenstand hat, es mglich ist, das Problem der Gnoseologie des Subjektes zu
berwinden. Wenn nun Benjamin ber wahre Religion spricht, meint er die Mglichkeit der
Philosophie, Gott zu denken: weder als Subjekt noch als Objekt des Denkens, sondern als
Inbegriff der Erkenntnis29, bzw. als eine ideale Totalitt, nmlich als eine Idee; wir knnten
sogar sagen als die Idee der Totalitt. Gegen Ende des Textes schlielich weist Benjamin kurz
eben auf diese Idee hin. Schon in der Kantischen Dialektik hatte die Idee eine zentrale Rolle,
da sich auf sie die Einheit der Erfahrung grndete - jetzt aber gilt fr die Begrndung eines
hheren Begriffes Erfahrung die Kontinuitt und die Einheit der Erfahrung als
unerbehrliche Bedingung: Diese letzte, so unterstreicht Benjamin, ist weder die vulgre
Erfahrung noch die wissenschaftliche, sondern die metaphysische Erfahrung.
Die Idee wird im Rahmen der Programmschrift also dargestellt, selbst wenn nur als
Andeutung, als mgliches Zentrum einer neuen Erkenntnistheorie, die darauf zielt, die
traditionale Metaphysik zu berwinden und daher einen neuen Begriff Erfahrung mit einer
neuen metaphysischen Bedeutung zu begrnden, die den Prinzipien der Einheit und der
Kontinuitt entspricht. Es scheint gerade die Beziehung die es immer noch zu bestimmen
gilt zwischen dem Begriff der Idee und dem der Gottheit, der wie wir oben gesehenhaben mit einer Idee vergleichbar ist oder, um genau zu sein, mit der Idee der Totalitt der
Erkenntnis, interessant zu sein.
Aber der Gott der Programmschrift gewinnt noch eine andere Bedeutung, die
Benjamin dieses Mal an dem Begriff der metaphysischen Erfahrung bindet. Mit dem
Ausdruck metaphysische Erfahrung muss man zunchst die Metaphysik im traditionellen
Sinne ausschlieen, da die Art der Metaphysik einem leeren und rudimentren Begriff, der
berwunden werden muss, entspricht. Wenn also Benjamin in der Programmschrift berMetaphysik - sie auf die Erfahrung beziehend - redet, hat er folglich die Ansicht, diesen
Begriff zu erneuen, genauso wie er die Begriffe Erkenntnis und Erfahrung zu erneuen
meint. Die metaphysische Erfahrung ist, wenigstens in der Programmschrift, die
kontinuierliche und einheitliche Erfahrung: Erfahrung ist die einheitliche und kontinuierliche
Mannigfaltigkeit der Erkenntnis30. Eine solche Erfahrung wird aber auch als eine konkrete
Totalitt der Erfahrung definiert, die von der Erkenntnis niemals erreicht werden kann; und
28 GS II/1 163.29 Vgl. GS II/1 168.30Ibidem.
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doch, schreibt Benjamin, existiert eine Form der einheitlicher Erfahrung, die erreichbar ist und
auf die sich die Erkenntnis richten kann: diese ist die religise Erfahrung.
Also knnte man vorlufig abschlieen, dass der gesuchte Begriff Erfahrung, die
hhere und metaphysische Erfahrung, eine Totalitt, eine nie erreichbare Einheit ist, die
Religion jedoch eine Form jener Erfahrung darstellt, zu der die Erkenntnis irgendwie einen
Zugang hat. Genau wie in dem Fall des Inbegriffes der Erkenntnis, ist die Totalitt der
Erfahrung auf die Religion bezogen und auf deren hheren Begriff: Gott.
4. Die konkrete Totalitt der Erfahrung: Was nie geschrieben wurde
Nun kehren wir zu den Fragen und zu den Problemen, die in den vorangegangenen Seiten
gestellt worden sind, zurck. Zunchst haben wir gesehen, dass Benjamin den Begriff der
Erfahrung in der Programmschrift und im Fragment 19 anders zu behandeln scheint. Wir
haben gesagt, dass whrend im Fragment 19 die zu suchende Erfahrung, auf welche sich die
Philosophie beziehen muss, die natrliche und unmittelbare ist, die in der Erkenntnis alsSymbol vorkommt; in der Programmschrift ist sie jedoch die metaphysische Erfahrung, die
sich sowohl von der primitiven und natrliche Erfahrung als auch von der blo
wissenschaftlichen unterscheidet. Aber nur scheinbar widerspricht sich Benjamin. Der Begriff
der Erfahrung des Fragments 19 entspricht nmlich nicht der - sozusagen - vulgren
Erfahrung; sie ist also nicht die primitive Erfahrung, die ein jeder in dem alltglichen Leben
macht. Vielmehr scheint Benjamin an einen Begriff, der einer Idee entspricht, oder besser, an
ein Ideal, zu denken.Oben haben wir gesehen, dass Benjamin durch eine Metapher erklrt, dass sich die
Erfahrung auf deren Erkenntnis als Symbol bezieht: sie ist nmlich blo als Symbol innerhalb
der Erkenntnis der Erfahrung zu denken. Darber hinaus wird uns gesagt, dass ursprnglich
der Begriff dessen was Erfahrung genannt wird, d.h. das Symbol der Erkenntniseinheit,
hher und gottvoll war. Aus dieser Flle wird die von der Aufklrung eingefhrte Erfahrung
dann entbehrt. Schlielich ist jene ursprngliche Erfahrung, die Symbol ist und gottvoll ist,
auch irgendwie mit der Wahrnehmung verbunden. Das Wort Wahrnehmung, das, icherinnere daran, der Titel des Fragmentes ist, erscheint als Begriff aber nur am Ende desselben,
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eben in Bezug auf die Definition eines hheren Begriffes Erfahrung. Genauso wie die
natrliche und unmittelbare Erfahrung dem Begriff der vulgren Erfahrung nicht entspricht,
sondern einem hheren, so dass, wenn Benjamin von Wahr-Nehmen spricht, er sich nicht auf
die Wahrnehmung im allgemeinen Sinne bezieht, sondern auf eine hhere Art das Wahr(e) zu
begreifen.
Die drei Fragmente Wahrnehmung ist Lesen, ber die Wahrnehmung in sich und
Notizen zur Wahrnehmungsfrage, geschrieben um das Jahr 1917, sind manchen ziemlich
komplexen Reflexionen ber die Wahrnehmung gewidmet. Zunchst wird dort gesagt, dass
die Wahrnehmung Lesen ist. Insbesondere in denNotizen zur Wahrnehmungsfrage behauptet
Benjamin, indem er die Wahrnehmung von dem Zeichen unterscheidet, dass erstere nicht die
unendliche Nummer der mglichen Bedeutungen, sondern die endliche Nummer der
mglichen Deutungen31 ist. Die Wahrnehmung wird also als die Fhigkeit, durch die Deutung
Bedeutung zu geben, prsentiert, und sie ist zunchst Lesen. In dem kurzen Fragment 16,
bedeutungsvoll Wahrnehmung ist Lesen betitelt, deutet Benjamin darber hinaus auf die
Unfhigkeit der Menge hin, die Erkenntnis von der Wahrnehmung zu unterscheiden, und er
fgt hinzu, dass diese letzte sich auf Symbole32 bezieht. Die Wahrnehmung ist also auch in
diesen Fragmenten ein Wahr-Nehmen, und zwar als Fhigkeit gemeint, die Wahrheit, die sich
als Symbol offenbart, zu begreifen zu lesen.Interessant sind auch die spteren zwei FragmenteLehre vom hnlichen und ber das
mimethische Vermgen, geschrieben um das Jahr 1933. In ihnen wird die Wahrnehmung als
eine Fhigkeit aufgefasst, hnlichkeiten und Korrespondenzen unter der Sachen zu finden. In
ber das mimethischen Vermgen eine berbearbeitung des Fragmentes Lehre vom
hnlichen behauptet Benjamin, dass, die Alten die Gabe hatten, magische
Korrespondenzen und Analogien33 unter der Sache zu erkennen; dann hat sich diese
Fhigkeit im Laufe der Geschichte so sehr gewandelt und allmhlich vermindert, dass dermoderne Mensch sie blo im niedrigsten Grade besitzt. Die Alten schreibt Benjamin
konnten den Gestirnstand im Himmel lesen und in sie die Korrespondenzen mit dem
menschlichen Schicksal, konnten in dem Tanz die Bedeutungen und symbolischen
hnlichkeiten begreifen: sie konnten schlielich was nie geschrieben wurde34 lesen und
deuten. Das ist die erste, die lteste und, man knnte auch sagen, die ursprngliche Form vom
Lesen: das ist das Lesen, das jeder Sprache vorangeht, es ist die Auslegung der Gesten und der
31 Vgl. GS VI 33.32 Vgl. GS VI 32.33 GS II/1 211.
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Zeichen in dem Aufblitzen. Benjamin versucht hervorzuheben, dass diese Wahrnehmung der
Alten notwendigerweise mit dem Aufblitzen verbunden sei: nur in dem Aufblitzen offenbaren
sich die Verbindungen und die magische Korrespondenzen unter den Sachen, und nur in dem
Augenblick ist die Wahrnehmung der unsinnlichen hnlichkeiten mglich. Das interpretative
Lesen der Alten war also ein Wahrnehmen, das, wie Benjamin schreibt, an ein Aufblitzen
gebunden ist, das vorbei huscht .35
Dem Menschen der Moderne, der diese Fhigkeit fast vllig verloren hat, ist aber eine
andere Quelle, oder, wie Benjamin schreibt, ein Archiv der unsinnlichen hnlichkeiten,36
geblieben. Mit anderen Worten, obwohl der Moderne die Wahrnehmung der Alten zumeist
verschlossen ist, bleibt ihr trotzdem die Sprache und die Mglichkeit, in der Sprache eben
was nie geschrieben wurde zu lesen. Benjamin betont darber hinaus, dass nicht so sehr die
gesprochene Sprache wie die geschriebene erlaubt, Korrespondenzen und hnlichkeiten unter
den Sachen zu finden: jedes Wort ist - und die ganze Sprache, so hat man wohl behauptet,
ist onomatopoetisch.37
Ohne im Moment uns mit der Sprache und mit der Bedeutung, die die Sprache in der
Philosophie Benjamins hat, zu beschftigen, kehren wir aber zu dem Fragment ber die
Wahrnehmungzurck, in dem gesagt wird, dass die absolute Erfahrung Sprache ist und, dass
eine Form deren die Wahrnehmung ist: Wir knnen nun zunchst feststellen, dass Sprachein diesem Kontext in dem breiteren Sinne des interpretativen Lesens genutzt wird, und dass
der Terminus Wahrnehmung, den Benjamin benutzt, dem gerade analysierten Begriff der
Wahrnehmung entspricht. Also, der Begriff der ursprnglichen Erfahrung fllt nicht mit der
alltglichen Erfahrung, natrlichen und primitiven, zusammen, sondern mit einer Form des
Lesens - die ursprngliche Sprache - welche Wahrnehmung der Symbole in dem Augenblick
ist. Benjamin bemerkt nmlich, dass, whrend die vorkantische Erfahrung bedeutungsvoll
und Gottvoll war, die nchste die der Moderne degeneriert ist; sie hat die Bedeutungund die ursprngliche Flle verloren. Ebenso hat sich im Fragment ber die mimetischen
Vermgen die Moderne allmhlich von der ursprnglichen Wahrnehmung entfernt. In ber
die Wahrnehmungist dieErfahrungder Moderne, die langsam ihre ursprnglichen Bedeutung
verliert, unfruchtbar und leer werdend.
Von daher kann man zwei Hypothesen wagen: erstens, die eines Zusammenfalles
zwischen den Begriffen der Wahrnehmung und der absoluten Erfahrung (diejenige wovon
34 GS II/1 213.35Ibidem.36Ibidem.
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man im Fragment 19 spricht); zweitens, da wie wir gerade gesehen haben der Moderne die
ursprngliche Wahrnehmung verschlossen ist, bleibt ihr als einzige Mglichkeit dieses Archiv
der Korrespondenzen, das die Sprache ist. Man kann wohl behaupten, dass es eine sehr starke
Beziehung zwischen Erfahrung, Wahrnehmung und Sprache gibt und, dass diese Beziehung
durch die Tatsache begrndet und gerechtfertigt ist, dass sich eben und ausschlielich,
mindestens fr den Benjamin dieser Jahre fr die Moderne gerade in der Sprache die
Mglichkeit offenbart, die Wahrheit wahrzunehmen und zu begreifen.
Nun kehren wir zu der Beziehung zwischen Erfahrung und Wahrnehmung zurck. Ein
weiteres interessantes Element, das uns denken lsst, dass diese Beziehung in Wirklichkeit ein
Zusammenfall ist, ist der Begriff des Augenblicks. Man hat gesagt, dass in den oben
betrachteten Fragmenten ber das mimetische Vermgen der Augenblick das zeitliche
Element zu sein scheint, in dem man das Symbol wahrnehmen kann. Im Fragment ber die
Wahrnehmung Benjamin ist die unmittelbare und natrliche Erfahrung der aufklrerischen
entgegensetzt. Halten wir uns nun an den Sinnen der Unmittelbarkeit einer solchen Erfahrung
auf. Was ist also eine unmittelbare Erfahrung? Ganz im Gegensatz zu der Erfahrung der
einzelnen Wissenschaften, die notwendigerweise durch mehrere Faktoren, wie z.B. die
Beobachtung und die Messinstrumente, gemittelt ist38, ist die unmittelbare Erfahrung eine
vermittlungslose Erfahrung der Symbole, die in dem Augenblick geschieht: also eininterpretatives Lesen, das erlaubt, die vom Anfang an verborgene Bedeutungen zutage zu
frdern. Wir knnten uns nun noch fragen, ob diese Unmittelbarkeit auch von der Vermittlung
der Vernunft und des Verstandes entbunden ist, und ob der Augenblick, von dem Benjamin
redet, eben nicht der zeitlichen Extension entnommen ist, sondern ob er vielmehr ein Element
auerhalb der Zeit ist.
An dieser Stelle bleibt nur zu sehen, ob diese Verwandtschaft, oder besser gesagt,
dieser Zusammenfall zwischen Erfahrung und Wahrnehmung, auch in derProgrammschrift, wo - ich wiederhole - die zu grndende Erfahrung als metaphysisch und
nicht mehr absolut bezeichnet ist, zu finden ist, und schlielich in welchem Sinne Benjamin
in der Programmschrift von metaphysischer Erfahrung als konkrete Totalitt der Erfahrung,
die niemals von der Erkenntnis erreichbar ist, spricht.
Auch in der Programmschrift finden wir den Hinweis auf die Sprache: Benjamin endet
nmlich den Text der Programmschrift, indem er behauptet, dass nur eine Reflexion ber das
sprachliche Wesen der Erkenntnis diesen Begriff erweitern kann und ihm alle Bereiche zu
37 GSII/ 212.
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umfassen erlaubt, die ein durch die Mathematik oder durch die Logik begrndeter Begriff der
Erkenntnis notwendigerweise vernachlssigen muss. Diesem erweiterten Begriff der
Erkenntnis entspricht also ein erweiterter Begriff der Erfahrung, der nicht mehr auf die
Erfahrung der einzelnen Wissenschaftlichen begrenzt ist. Die sprachliche Reflexion ber die
Erkenntnis ist durch die Tatsache gerechtfertigt, dass alle unsere Erkenntnisse sich durch die
Sprache und nicht durch mathematische Formeln aussprechen lassen. In der Programmschrift
finden wir auch den Hinweis auf den Augenblick,39 auf die Unmittelbarkeit wieder. Aber
gerade an dieser Stelle wird der Gedankengang Benjamins komplizierter. Er fhrt nmlich
seinen Gedankengang ber die Sprache nicht weiter, sondern hlt sich an dem Verhltnis
Philosophie-Religion auf, das in dem Nachtrag der Programmschrift der sich aber schwer
verstehen lsst, weil er, verglichen mit dem Rest des Textes, auf eine ganz andere Stufe
gestellt ist thematisiert, oder besser, entworfen worden ist.
Benjamin behauptet eben in diesem Nachtrag dass der Begriff der Erkenntnis,
den er jetzt Stammbegriff oder Urbegriff nennt, eine Doppelfunktion hat. Die erste, die der
eigentlichen erkenntnistheoretischen Funktion entspricht, besteht in einer Spezifikation eines
solchen Begriffes in den einzelnen Erkenntnissen und Erfahrungen. Diese Funktion, schreibt
Benjamin, kommt nie dazu, weder eine konkrete Totalitt der Erfahrung noch einen Begriff
des Daseins zu begreifen, sondern bezieht sich auf die Gesetze der Dinge: mit anderenWorten, diese erste Funktion der Erkenntnis scheint dem traditionellen Begriff Erkenntnis,
der sich in den mannigfaltigen und einzelnen Wissenschaften spezifiziert, zu entsprechen. Sie
wird aber auch negativ beschrieben und definiert, nmlich als die gnoseologische Funktion,
die nicht in der Lage ist, wedereine konkrete Totalitt der Erfahrung noch irgendeinen Begriff
des Daseins zu begreifen. Sie ist also nicht imstande, weder das unendlich Groe (die
Totalitt) noch das unendlich Kleine (das Dasein der Einzeldinge) zu begreifen, sondern bleibt
mit den Gesetzen der Dinge verbunden. Man wrde nun erwarten, dass Benjamin genau andieser Stelle auch die zweite Funktion des Urbegriffes Erkenntnis beschreiben wrde, und
dass diese demzufolge durch die Fhigkeit gekennzeichnet ist, irgendwie die konkrete
Totalitt der Erfahrung und das Dasein zu erreichen. Aber der Diskurs Benjamins verluft
anders weiter. Er behauptet, dass es eine konkrete Totalitt der Erfahrung gibt, auf die sich die
Erkenntnis unmittelbar (und zwar im doppelten Sinne, also ohne Vermittlung und in dem
Augenblick) bezieht, und dass solch eine Totalitt die Religion ist. Also der neue Begriff
Erkenntnis hat - wenn er sich nicht spezifiziert, sondern wenn er sich wie eine
38 Vgl. GS VI 40ff.
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kontinuierliche Einheit entfaltet, wenn erLehre40 ist - die Fhigkeit, eine konkrete Totalitt
der Erfahrung zu erreichen, auf die er sich unmittelbarund ohne Vermittlung bezieht: Diese
Funktion des Erkenntnisbegriffes ist diejenige, die von Benjamin eigentlich als
metaphysisch definiert wird, und die Totalitt, auf die sie sich bezieht, ist die Religion.
Versuchen wir nun in der Programmschrift uns das problematische Verhltnis
zwischen Erfahrung und Wahrnehmung vor Augen zu fhren, das, wie wir schon gesehen
haben, von den Begriffen des Augenblicks und des Symbols her analysiert werden muss. Um
dies zu tun, mssen wir zunchst beleuchten, was Benjamin mit Religion meint, weil gerade
die Religion die hhere Erfahrung, die metaphysische, ist, auf die sich der Stammbegriff
Erkenntnis bezieht.
5. Erfahrung und Religion
Es wurde schon gesagt, dass Benjamin in der Programmschrift einige Probleme hervorhebt,
die nur entworfen, nicht aber gelst werden, weil er diesen Text nur als ein Programm und als
eine Arbeitshypothese betrachtete. Die wohl undeutlichsten Hauptpunkte sind: der Vorschlageiner berwindung der auf der Beziehung Subjekt-Objekt begrndeten traditionellen
Erkenntnistheorie; die Suche nach einer nicht nher spezifizierten metaphysischen Erfahrung;
und schlielich, der vielleicht komplizierteste Aspekt, das Verhltnis zwischen Philosophie
und Religion, der nur in dem spt hinzugefgten Nachtrag der Programmschrift angedeutet
wird. Auf dieses letzte Argument mchte ich nun in diesem Abschnitt eingehen, in soweit es
mir scheint, dass die Problematiken, die er hervorhebt, hinweisend fr ein besseres
Verstndnis der oben erwhnten Punkte sein knnen.Wir haben in dem vorherigen Abschnitt gesehen, dass Benjamin dem Urbegriff
Erkenntnis zwei Bedeutungen zuschreibt, von denen nur die metaphysische in der Lage ist,
zu einer konkreten Totalitt der Erfahrung zu gelangen. Zunchst muss man sich fragen,
was in diesem Ausdruck das Wort konkret heit. Wieso also bezeichnet Benjamin die
metaphysische Erfahrung, als konkret; und zwar diese Art von Erfahrung - die im Unterschied
zu der Kantischen - einheitlich, total und kontinuierlich ist? Es zeigt sich deutlich, dass bei
Benjamin die Erfahrung eine andere Bedeutung und eine andere Funktion hat als bei Kant;
39 Vgl. GS II/1 170
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nicht nur insofern als dass diejenige Erfahrung, nach der Benjamin sucht, eine totale
Erfahrung ist d.h. nicht nur eine wissenschaftliche wie bei Kant , sondern auch da wir uns
folglich fragen knnten, ob er die Mglichkeit eines a priori der Geschichte, der Kunst usw.,41
auf die kurz in der Programmschrift hindeutet worden ist theoretisiert, er den Begriff des a
priori ablehnt, oder er gar dem a priori eine andere Bedeutung zuschreibt. Doch das Wort
konkret scheint ein deutlicher Hinweis auf Kant zu sein. Das ist weder seltsam noch
unplausibel, da Benjamin in der Programmschrift selbst und in dem Briefwechseln mit
Scholem, der genau in diese Jahre zurckreicht, erklrt, dass Kant unwiderlegbar der
Ausgangspunkt fr das Ausdenken einer neuen Philosophie und eines neuen Begriffes
Erfahrung ist. Es ist interessant festzustellen, dass das Wort konkret, mit dem Begriff
Erfahrung verbunden, nur in dem Nachtrag vorkommt, whrend es vorher im Verlaufe der
Programmschrift nie verwendet wird: man spricht von der metaphysischen, totalen,
einheitlichen Erfahrung, nie aber von der konkreten Totalitt der Erfahrung. Dieses Wort
knnte nun ein Hinweis auf die Transzendentale Dialektik sein, wo Kant den Ausdruck in
concreto bezglich der Ideen der Vernunft42 verwendet, und genauer, im Bezug auf die Idee
der Welt, die bei Kant die unbedingte Totalitt der objektiven Bedingungen ist. In den
Paragraphen ber die Antinomie der Vernunft schreibt Kant, dass die Idee keine Darstellung
in concreto hat, d.h. ihr tatschlich kein Gegenstand entspricht. Also knnen wir auch keineErfahrung davon haben. Die Idee bleibt so ein asymptotischer Punkt, ein Ursprung und ein
ideales Ziel, von dem her und zu dem hin man die intellektuelle Forschung ausrichten muss.
Benjamin verwendet nun den Terminus konkret im Bezug auf die Totalitt der
Erfahrung. Whrend einerseits das als ein Hinweis auf Kant und auf die Idee der Vernunft
erscheinen wrde da auch bei Benjamin die konkrete Totalitt der Erfahrung eine Idee ist,
vielmehr ein Ideal, von der Erkenntnis niemals konkret erreichbar entstehen andererseits
jedoch Probleme, als Benjamin in dem Nachtrag behauptet, dass der Stammbegriff, oderUrbegriff, Erkenntnis sich unmittelbarzu einerkonkreten Totalitt der Erfahrung, die die
Religion ist, wendet. In diesem Fall scheint Benjamin also - im Gegensatz zu Kant - zu
behaupten, dass es mglich sei, unmittelbar auf die Totalitt der Erfahrung einzugehen, d.h.,
dass eine Erfahrung der Idee irgendwie mglich ist.
40 GS II/1 170.41 Vgl. GSVI 167. Benjamin deutet kurz auf das Bedrfnis hin, die Lehre der Kategorie Kants auch zur Kunst,zum Recht und zur Geschichte zu wenden.42 Vgl. IMMANUEL KANT,Kritik der reinen Vernunft, hg. Benno Erdmann, Berlin 1900, S. 360ff
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Ein anderes Wort, das zum Nachdenken anregt, ist Lehre, das mehrere Male in der
Programmschrift verwendet wird, genauer gesagt in dem Nachtrag bezglich des
Verhltnisses zwischen Religion, Erfahrung und Philosophie:
Es gibt aber eine Einheit der Erfahrung die keineswegs als Summe vonErfahrungen verstanden werden kann, auf die sich der Erkenntnisbegriff als
Lehre in seiner kontinuierliche Entfaltung unmittelbar bezieht. DerGegenstand und Inhalt dieser Lehre, diese konkrete Totalitt ist dieReligion, die aber die Philosophie zunchst nur als Lehre gegeben ist. DieQuelle des Daseins liegt nur in der Totalitt der Erfahrung und erst in der
Lehre stt die Philosophie auf ein Absolutes, als Dasein, und damit auf jene Kontinuitt im Wesen der Erfahrung in deren Vernachlssigung derMangel des Neukantianismus zu vermuten ist43.
Der Begriff der Lehre wird hier auf die Erkenntnis und gleichzeitig auf die Einheit der
Erfahrung bezogen, als Religion bezeichnet. Derselbe Begriff der Lehre befindet sich auch in
dem Brief vom 22. Oktober 1917 aus dem schon erwhnten Briefwechsel zwischen Benjamin
und Scholem:
Ohne bisher dafr irgendwelche Beweise in der Hand zu haben bin ich desfesten Glaubens dass es sich im Sinne der Philosophie und damit der Lehre,
zu der diese gehrt, wenn sie sie nicht etwa sogar ausmacht, nie und nimmerum eine Erschtterung, eine Sturz des Kantischen Systems handeln kannsondern vielmehr um eine seine granitne Festlegung und universaleAusbildung. Die tiefste Typik des Denkens der Lehre ist mir bisher immerin seinen Worten und Gedanken aufgegangen, und wie unermesslich vielvom Kantischen Buchstaben auch mag fallen mssen diese Typik seinesSystems die innerhalb der Philosophie nur mit der Platos meines Wissensverglichen werden kann muss erhalten bleiben. Einzig im Sinne Kants undPlato und wie ich glaube im Wege der Revision und Fortbildung Kants kanndie Philosophie zur Lehre oder mindestens ihr einverleibt werden [...]. Aber
es ist meine berzeugung: wenn nicht in Kant das Denken der Lehre selbstringen fhlt und wer daher nicht mit uerster Ehrfurcht ihn mit seinenBuchstaben als ein tradendum, zu berlieferndes erfasst (wie weit man ihnauch spter umbilden msse) wei von Philosophie gar nichts44.
Die Bedeutung des Begriffes Lehre ist, in beiden Fllen, die des Systems, oder besser, die
der Totalitt. Wir knnen dazu sagen, dass er eine wichtige religise Valenz gewinnt: die
Lehre ist nicht nur ein System, sondern eine mit Ehrfurcht zu liefernde Totalitt. Diese
43 GSII/1 170 (der Kursiv ist von mir).44 GB I 389.
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religise Bedeutung weist auf den hebrischen Sinn von Lehre hin, nach welchem die Torah
nicht nur eine Sammlung von Lehren enthlt, sondern das gttliche Wort selbst ist. In dem
Brief an Scholem wendet Benjamin nun die Bedeutung von Lehre in ihrem religisen Sinn
auf die Philosophie an, um das Bedrfnis eines Denkens, das eine lebendige Totalitt ist wie
eben die Torah fr das Judentum und gleichzeitig ideal, d.h. unmglich auf einmal und fr
immer zu lehren und zu liefern, zu zeigen und auszudrcken. Diese Lesart des Terminus
Lehre und seines Hinweises auf die Philosophie, hilft das schon erwhnte Fragment 19 (s. o.
S.4;GS VI 38) zu begreifen, in dem Benjamin schreibt, dass dieganze Philosophie Lehre ist.
Auch in diesem Kontext wird der Begriff Lehre auf die Philosophie angewendet, oder
besser gesagt, auf die ganze Philosophie, d.h. auf die Philosophie in ihrer Totalitt, um auf
eine Ganzheit zu verweisen, d.h. eine Einheit der Philosophie, die als solche nichts anderes als
ideal sein kann.
Kehren wir jetzt zu dem Nachtrag der Programmschrift zurck, um dort den Begriff
der Lehre zu untersuchen. Auch hier wird der Stammbegriff der Erkenntnis, - also die
Philosophie, die kantisch als Erkenntnistheorie konzipiert wird , zwar als Lehre bezeichnet,
aber nur in dem Moment, in dem die Philosophie eben in ihrer metaphysischen Funktion
aufgefasst wird. Mit anderen Worten - man kann an dieser Stelle feststellen, dass die
Erkenntnis nur in dem Moment, in dem sie sich nicht in den einzelnen und mannigfaltigenErkenntnissen spezifiziert, eine kontinuierliche Einheit bleibt; sie gerade dann Philosophie ist.
Und als solche wendet sie sich unmittelbar der konkreten Totalitt der Erfahrung zu und ist
folglich in der Lage, die Totalitt und das Dasein zu begreifen. In diesem einzigen Fall ist die
Erkenntnis Lehre.
Haben wir nun hier mit einem Begriff der Philosophie zu tun, die als ideale und nie
vllig erreichte Erkenntnis gemeint ist? Oder handelt es sich vielmehr um eine Art von
Erkenntnis, die gleichzeitigErfahrungder Wahrheit ist wie brigens im Falle der religisenLehre aber doch nie Erfahrung derganzen Wahrheit, d.h. der Wahrheit als einEin-fr-alle-
Mal-Gegebenes?
Doch mit dieser Frage enden nicht die Probleme des Verstndnisses des Nachtrages.
Es bleibt nmlich nicht nur zu verdeutlichen, was die Religion ist, sondern auch was ihr
Verhltnis zu der Philosophie ist. Was ist also die Religion fr den Benjamin der
Programmschrift? Man kann eine Hypothese wagen, indem man behauptet, dass Benjamin in
der Programmschrift den Begriff der Religion in zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet.Die erste Bedeutung weist, meiner Meinung nach, auf die historische, anerkannte Religion
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hin: Benjamin, einen neuen Begriff der Erfahrung vorschlagend, schreibt, dass dieser
Begriff jeden Bereich der Erfahrung umfassen muss, die von Kant und vom Neukantianismus
vernachlssigt wurden: zu erst den der Religion45- in diesem Fall schliet Benjamin folglich
die Religion innerhalb des ausgedehnteren Begriffes der Erfahrung mit ein. Die zweite
Bedeutung der Religion, die interessanter, vielleicht aber gerade die problematischere ist,
findet sich in dem Nachtrag, wo Benjamin die Religion mit der konkreten Totalitt der
Erfahrung identifiziert. Die Religion wird also, im Gegensatz zum ersten Fall, nicht als Teil
des Erfahrungsfeldes aufgefasst, sondern fllt mit der Erfahrung selber in ihrer Totalitt
zusammen. Meiner Meinung nach drfen wir nun doch von zwei Bedeutungen der Religion,
einer beschrnkten und einer ausgedehnten, sprechen. Wenn wir ja vermuten, dass dieser
Unterschied einen Sinn hat, was heit dann der Begriff der Religion in seiner zweiten
Bedeutung? Bzw. was heit die Religion als konkrete Totalitt der Erfahrung?
Wenn, wie wir gesehen haben, die konkrete Totalitt der Erfahrung als Lehre, d.h. als
Erfahrung der Wahrheit jene aber nie vllig besitzend zu erfassen ist, dann hat der
Terminus Religion hier nicht eine historische Bedeutung, sondern eine ideale, symbolische.
Mit anderen Worten, sie ist nicht als Summe von Dogmen oder von im Voraus gebildeten
Regeln zu denken und zu begreifen, sondern als ein Zusammenhang, eine Einheit der
Symbole, und als Wahrheit im allgemeinen Sinne, d.h. nicht blo mit einer besonderenReligion identifizierbar. Es ist einleuchtend, was Benjamin bezglich der konkreten Totalitt
der Erfahrung, die eben die Religion ist, schreibt:
Es gibt aber eine Einheit der Erfahrung die keineswegs als Summe derErfahrung verstanden werden kann, auf die sich der Erkenntnisbegriff als
Lehre in seiner kontinuierlichen Entfaltung unmittelbar bezieht. DerGegenstand und Inhalt dieserLehre, diese konkrete Totalitt der Erfahrung istdie Religion, die aber der Philosophie zunchst nur als Lehre gegeben ist46
Es ist noch interessant festzustellen, dass bei Benjamin Lehresowohldie konkrete Totalitt
der Erfahrung, als auch die Philosophie in dem Moment, in dem diese letztere eine
kontinuierliche Entfaltung ist ist. Von daher knnen wir zwei Schlussfolgerungen ziehen:
die erste besttigt die Tatsache, dass die Religion, wenigstens in der Programmschrift, die
Bedeutung von Lehre in dem oben betrachteten Sinne als Wahrheit, d.h. als Totalitt im
45 GSVI 163.46 GSVI 170.
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Werden und nie ganz eingngig, hat; und die zweite, dass die Erkenntnis, nmlich die
Philosophie, Lehre ist, aber nur dann, wenn sie selber auch in ihrer idealen Totalitt betrachtet
wird. Folglich kann man wohl zunchst, dem Begriff der Lehre nach, behaupten, dass die
Philosophie nicht tout court die Erkenntnis ist, sondern jener einheitliche und darum
metaphysische Begriff der Erkenntnis; und darber hinaus, dass die Philosophie und die
metaphysische Erfahrung in dem Moment zusammenfallen, wenn sie beide als Lehre
verstanden und begriffen werden.47 Mit anderen Worten, wenn sich die Erkenntnis nicht
spezifiziert, in die diskontinuierliche Pluralitt der einzelnen Erkenntnisse zersplitternd, dann
ist sie in der Lage, die kontinuierliche Totalitt der Erfahrung zu begreifen, die ihrerseits nicht
in der Summe von einzelnen Erfahrungen besteht, sondern sie die Einheit der Erfahrung, oder,
wir knnten sagen, dieIdee ist:
Eine Erkenntnis ist metaphysische heit im strengen Sinne: sie bezieht sichdurch den Stammbegriff der Erkenntnis auf die konkrete Totalitt derErfahrung, d.h. aber aufDasein48.
Benjamin geht schlielich von den Begriffen Erkenntnis und Erfahrung aus, die er bei
Kant findet, kommt jedoch dazu, die Grundstze der Kantischen Theorie zu revolutionieren:
weil whrend bei Kant die Erfahrung ein Faktum ist, das in der Erkenntnis zu begrnden ist,deren a priori ihm Rechenschaft geben muss es bei Benjamin hingegen kein a priori mehr
gibt, das die Aufgabe hat, eine faktische Erfahrung zu begrnden. Freilich hlt Benjamin es
fr mglich, den Verweis der Kategorienlehre auch auf die Bereiche der Geschichte, des
Rechts und der Kunst49 zu erstrecken. Er setzt sich aber nicht mit dem Hauptproblem der
Kantischen Theorie auseinander, bzw. dem Unterschied zwischen der Kategorie der Kausalitt
und der Freiheit (freie Kausalitt) - d.h. die Unterscheidung zwischen dem theoretischen
Bereich und dem praktischen, in dem die theoretische Kausalitt sozusagen von der
menschlichen Freiheit ergnzt wird. Schlielich ist das a priori, von dem Benjamin spricht,
nicht das Kantische; es scheint vielmehr so zu sein, dass die Idee die Aufgabe hat, eine
Erfahrung und eine Erkenntnis zu begrnden, die als metaphysisch bezeichnet werden knnte:
47 Benjamin endet bedeutungsvoll den Nachtrag, indem er vorschlgt, die Beziehung zwischen Religion undPhilosophie fr denen er eine virtuelle Einheit annimmt zu vertiefen (GS VI 171).48 GS II/1 171.49 Vgl. GS II/1 167.
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Fr den vertieften Begriff der Erfahrung ist aber, wie schon gesagt,Kontinuitt nchst der der Einheit unerlsslich und in den Ideen muss derGrund der Einheit und der Kontinuitt jener nicht vulgren und nichtwissenschaftlichen sondern metaphysischen Erfahrung aufgewiesenwerden50.
Darber hinaus schreibt Benjamin in dem Nachtrag in Bezug auf Kant, dass die Philosophie
aus einem dogmatischen Teil und aus einem kritischen besteht. In dem Moment aber, wenn er
auf eine Theorie des a priori der Erkenntnis und auf ein aposteriorisches brigbleibsel, das
die Erfahrung charakterisiert, verzichtet, ergibt folglich eine solche Teilung der Philosophie
keinen Sinn.
Welche Art der Erfahrung und der Erkenntnis theoretisiert also Benjamin? In dem
Vergleich mit Kant, auf den er den Text der Programmschrift grndet, taucht zunchst auf,
dass die Begriffe der metaphysischen Erfahrung und der Erkenntnis gar nicht im Kantischen
Sinne zu verstehen sind. Die Erkenntnistheorie Benjamins, wenigstens in den jugendlichen
Schriften scheint sich jedoch an eine Hermeneutik des Symbols anzunhern, d.h. an ein
interpretatives Lesen, das eben als Zweck hat, einen nicht nher erklrten Begriff der
Wahrheit zu begreifen.
Doch mssen wir nun uns fragen, ob es mglich ist, eine Beziehung zwischen dem
Begriff der metaphysischen Erfahrung der Programmschrift und der Wahrnehmung, im Sinne
der Wahrnehmung des Wahren, dem wir bereits in den Fragmenten ber die Wahrnehmung
die in diese Jahre der Programmschrift zurck reichen begegnet sind, oder ob zwischen
beiden Begriffen nur hnlichkeiten und Analogien bestehen, ohne eine effektive Verbindung.
Die Begriffe Lehre und Symbols sind fr eine mgliche Lsung dieses Problems
bedeutungsvoll.
Die Wahrnehmung, wie wir bereits gesehen haben, ist ein interpretatives Lesen, das
sich zu den Symbolen wendet und das, laut Benjamin, ursprnglich eine Fhigkeit jedes
Menschen war; er schlgt eine Brcke die scheinbar wie ein Bruch aussieht zwischen der
Welt der Alten und der der Moderne: nach dieser Ansicht betrifft die Wahrnehmung, im
tiefsten Sinne, die Fhigkeit, die den Alten zu eigen ist, whrend sie der Moderne die
unfhig geworden ist, die Symbole und die Korrespondenzen zu begreifen versperrt bleibt.
Also fllt der Anbruch der Moderne mit dem Verlust der alten und ursprnglichen Fhigkeit,
das Symbol wahrzunehmen, d.h. mit der ursprnglichen Fhigkeit, das Wahre in seinen
phnomenalen Manifestationen zu begreifen, zusammen. In der Programmschrift nun spricht
50 GSII/1 167.
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man nicht von der Wahrnehmung, sondern von einem Begriff der Erfahrung, der gesucht
und definiert sein muss: die aufklrerische Erfahrung ist degeneriert, sie ist leer geworden
genauso wie im Fragment 19 die Wahrnehmung, die der Moderne zu eigen ist whrend die
metaphysische Erfahrung, also die totale, kontinuierliche und einheitliche Erfahrung, ein Ideal
ist, an das sich die Philosophie wenden muss, genauso wie der Begriff der Wahrnehmung
ein Archetyp ist, an den sich die Moderne richten muss.
Der Schlssel nun, um eine Verbindung zwischen der Wahrnehmung und der
metaphysischen Erfahrung zu finden, scheint eben der Begriff des Symbols, zu sein.
6. Wahrheit als Symbol. Die Zweideutigkeit der Erkenntnis
Es handelt sich jetzt darum, den Begriff des Symbols zu vertiefen. Nicht nur weil er ein
erleuchtender Moment fr das Verstndnis des Begriffes der Wahrnehmung zu sein scheint
soweit wir gesehen haben, behauptet Benjamin im Fragment 16 - Wahrnehmung ist Lesen -,dass die Wahrnehmung eine Wahrnehmung der Symbole ist sondern auch wie es in den
vorherigen Paragraphen auftaucht dieser Begriff oft in den frhen Texten Benjamins
vorkommt und seine Funktion sicherlich der zentrale Punkt ist, zu dem die Theorie der
Erkenntnis und der Erfahrung fhrt.
Um ber das Symbol reden zu knnen, ist es darum noch einmal notwendig, auf den
Begriff Erkenntnis zu verweisen, der wie