Wahrhe t .. rz · 2015. 8. 10. · Wild-West-Helden Leutnant Blueberry oder des Rennfahrers Michel...
Transcript of Wahrhe t .. rz · 2015. 8. 10. · Wild-West-Helden Leutnant Blueberry oder des Rennfahrers Michel...
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iWie Die Ärzte zur
besten Band der Welt wurden
Marc Frohner
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VorwortGutes wird gerne kopiert, und wer Erfolg hat, fi ndet schnell Nachah-
mer. Das trifft auf die Musik ebenso zu wie auf zahllose andere Berei-
che. Jedem erfolgreichen Interpreten wird nachgeeifert, jede gefeierte
Band kopiert. Mit einer Ausnahme: Seit mehr als 30 Jahren feiern die
ärzte immer wieder neue Erfolge, besetzen Spitzenplätze der Charts
und spielen ausverkaufte Tourneen. Doch in all diesen Jahren und
Jahrzehnten gab es kaum einen nennenswerten Versuch, dem Stil die-
ser Band etwas abzuschauen, ihn gar zu imitieren. Natürlich existieren
diverse sogenannte Coverbands, die auf Volksfesten oder Familienfei-
ern ihre bekannten Hits einfach nachspielen, aber niemand hat sich
die ärzte zum Vorbild genommen und ihnen wirklich nachgeeifert.
Und wenn es doch jemanden gab, dann ist er kläglich gescheitert. Was
natürlich zu der Frage nach dem Warum führt, auf die es wiederum
eine klare Antwort gibt: Weil es nicht geht. Nur die ärzte können Mu-
sik machen, wie sie die ärzte spielen. Nur die ärzte können Texte
schreiben und Reime reimen, wie es die ärzte tun. Denn kaum eine
andere Musikgruppe ist so eng mit den Persönlichkeiten der Macher
verfl ochten, wie es bei der Band aus Berlin der Fall ist. Ohne Farin
Urlaub, ohne Bela B und auch ohne Rodrigo González wird es nie © d
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möglich sein, die ärzte zu kopieren – nur diese drei Köpfe gemeinsam
können das machen, was die ärzte tun.
Weil die ärzte nicht nur eines der erfolgreichsten, sondern gemein-
sam auch das wohl ideenreichste und intelligenteste Musikprojekt
Deutschlands seit Jahrzehnten darstellen. Diese Aussage mag Außen-
stehende so überraschen, wie sie Fans eventuell verstört. Gerade intel-
ligente Pop- oder Rockmusik ist schließlich ein Thema, das eher für
die Grönemeyers dieser Welt steht. Und damit für eine musikalische
Art und Weise, die weder die ärzte noch deren Anhänger mögen. Ge-
rade dieser Band Intelligenz vorzuwerfen, hat aber damit zu tun, dass
sie eben nicht das tun, was normalerweise unter solch intelligenter
Rockmusik verstanden wird. Sie quälen ihre Zuhörer nicht mit ge-
wollt verkopften Inhalten oder schwermütig grüblerischen Texten.
Ihre Schläue verbirgt sich hinter einem »Leck mich«: Sie machen ihr
Ding und halten sich nicht an Konventionen. Als Deutschland in den
Neunzigerjahren nach der Wiedervereinigung unter Ausländergewalt
und einer wachsenden rechten Szene ächzte, mühten sich Musiker im
ganzen Land, die passende Antwort auf dieses Problem zu fi nden. Die
meisten scheiterten, weil sie mit bleiernem Ernst an die Sache heran-
gingen. Das war verständlich, aber eben nicht zielführend. Die ärzte
machten es anders und zwar wesentlich schlauer. Das Ergebnis kennt
auch mehr als 20 Jahre nach Veröffentlichung noch jeder. »Schrei nach
Liebe« wurde zu einem kaum alternden Klassiker deutscher Rockmu-
sik – und zu jenem Titel, der den Ausruf »Arschloch!« radiotauglich
machte. Es gibt viele ähnliche Beispiele für die nur auf den ersten Blick
oberfl ächliche Umgangsweise mit komplexen Themen, die erst auf den
zweiten Blick ihre wahre Tiefe erkennen lässt. »Manchmal haben
Frauen …« etwa, das in wenigen Strophen mehr über Emanzipation, © d
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Vorwort
Chauvinismus und Gewalt gegen Frauen aussagt, als es manche Bü-
cher tun. Oder das weniger bekannte Stück »Meine Freunde«, das in
vollkommener Lockerheit von der Selbstverständlichkeit der Homose-
xualität erzählt – und daneben auch unbeschwert das Thema Sado-
masochismus behandelte, als verklemmte Großstädter nicht ahnten,
dass sie einmal in Scharen ein Buch mit dem Titel Shades of Grey
kaufen würden.
Trotz alledem werden die inzwischen zu Mittfünfzigern gereiften
Gründer der Gruppe bis heute vielfach nicht als erwachsen wahrge-
nommen. Was auch damit zusammenhängt, dass sie sich niemals Mühe
gaben, das zu sein, was der Durchschnittsmensch als erwachsen und
reif akzeptiert. In Interviews alberten und albern sie gern herum. Was
anderen Musikern als fast schon anarchisches Statement abgenommen
würde, wird bei diesem Trio traditionell als pubertäres Gehabe gewer-
tet. So war es noch in den Neunzigerjahren einfach unvorstellbar, dass
im Fernsehen oder dem Radio das Wort »fi cken« zu hören sein würde.
Auch die ärzte kannten natürlich diese Regel – und nutzten eine
Live-Übertragung eines ihrer Konzerte zu einem Protest dagegen. Ei-
nem Protest, der ohne Protestieren auskam: In fast jeder Pause zwi-
schen den einzelnen Titeln sagten sie genau dieses Wort und begingen
damit einen Tabubruch, den Tausende Zuhörer live verfolgen konn-
ten. Als wäre das nicht genug, überzeugten sie auch noch die Zuhörer,
die ebenfalls vielstimmig den Menschen an den Radios und natürlich
den Verantwortlichen des Senders eben jenes Wort zuriefen. Kritiker
mögen nun sagen, dass sich dahinter keine intellektuelle Großtat ver-
birgt. Was sicher richtig ist. Trotzdem steht auch dieser Fall dafür, dass
die ärzte eben eine Band sind, die eine eigene Meinung hat und sich
nicht scheut, genau diese zu äußern.© d
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Das ist die ganze Wahrheit
Was am Ende auch zu einem weiteren Thema führt, das Anhängern
ebenso wie Gegnern ein ablehnendes Schaudern vermitteln dürfte:
Kunst. Natürlich ist Musik an sich immer auch eine Kunstform. Nur
hat der Begriff Kunst im Allgemeinen oftmals einen eher zähen und
tranigen Beigeschmack, der sich nur schwer mit einer Band wie die
ärzte in Einklang bringen lässt. Tatsächlich aber haben gerade die ärzte
von ihrer Gründung an mit dem Begriff Kunst gespielt, indem sie ihn
auf ihre eigene Art und Weise überhöht und damit ins Absurde umge-
kehrt haben. Immer wieder wurde gesagt und geschrieben, dass sich die
ärzte anfangs als Parodie auf zeitgenössische Popgruppen der Achtzi-
gerjahre sahen – und genau so verhielten sie sich auch. In frühen Inter-
views sagten sie aber ebenfalls, dass sie wohl als Dadaisten durchgehen
könnten, wenn sie nicht so erfolgreich wären. Und kaum ein Begriff
trifft besser auf die ärzte zu als der des Dadaisten. Waren es doch gera-
de die Dadaisten, die bürgerliche Klischees und herkömmliche Kunst-
formen ablehnten und die das taten, indem sie diese parodierten.
Niemand muss jedoch fürchten, dass sich dieses Buch in Ergüssen
über intelligente Rockmusik oder eine längst vergessene Kunstform
ergeht. Denn im Endeffekt sind die ärzte vor allem auch eine Band mit
einer äußerst spannenden und kurzweiligen Geschichte. Sie galten als
meistindizierte Musikgruppe der westlichen Welt, sie wurden von
manchen schon totgesagt, als sie ein Gründungsmitglied schlicht und
einfach rauswarfen. Die ärzte lösten sich sogar auf, als sie glaubten,
dass sie alles erreicht hatten – nur um sich wenige Jahre danach wie-
derzuvereinigen und Erfolge zu feiern, die alles Bisherige in den Schat-
ten stellten. Und das alles nur, weil sich zwei Teenager zufällig über
den Weg liefen und weil der eine einen Gitarristen suchte, während der
andere immerhin eine Gitarre besaß.© d
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Teil 1: Die Ärzte früher!
Westberlin
Ho! Ho! Ho Chi Minh! vs. Geh doch rüber! – Ho! Ho! Ho Chi Minh! vs. Geh doch rüber! – Wie alles begannWie alles begann
Die Geschichte der Band, die sich anfangs Die Ärzte und später die
ärzte schreiben sollte, begann an einem Freitag – dem 14. Dezember
1962. In jenem Jahr erlebte Deutschland einen der strengsten Winter
des 20. Jahrhunderts, seit dem November herrschte Dauerfrost und
daran sollte sich bis zum kommenden März auch nichts ändern. Für
die Familie Felsenheimer in Berlin dürfte das allerdings zweitrangig
gewesen sein. Denn hier erwartete man Nachwuchs. Nicht nur ein
Kind sollte an jenem Tag auf die Welt kommen, sondern ein Zwillings-
paar, Mädchen und Junge. Letzterer erhielt die Vornamen Dirk Albert, © d
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und niemand hätte wohl im Traum daran gedacht, dass er sich einmal
das Pseudonym Bela B. zulegen und zu einem der bekanntesten
Rockstars des Landes werden sollte.
Denn die Felsenheimers waren keine Menschen, die nach Höherem
strebten, sie waren bodenständige Leute, die hart arbeiteten, um über
die Runden zu kommen. Man lebte nicht in bitterer Armut, war je-
doch Lichtjahre von etwas entfernt, das man als wirklichen Wohlstand
bezeichnen könnte. Erschwert wurde die Situation noch dadurch, dass
die Ehe der Eltern nicht eben glücklich war und man sich trennte, als
die Kinder gerade fünf Jahre alt waren. Von nun an lebte der junge
Dirk mit der alleinerziehenden Mutter und seiner Schwester in Ber-
lin-Spandau. Dirk Felsenheimer alias Bela B. beschrieb die Umstände
später einmal so, dass die fi nanziellen Umstände es nicht zuließen, dass
an jedem Tag der Woche Fleisch auf den Tisch kam – was ihm aber
vergleichsweise wenig ausgemacht habe, da er als Kind eine Vorliebe
für Milchreis entwickelt habe, erzählte er dem Obdachenlosenmaga-
zin Hinz&Kunzt.
Doch so bürgerlich das Leben der Familie auch war, fand es doch
gleichzeitig in einem ausgesprochen aufgewühlten Umfeld statt. Gera-
de das zu jener Zeit noch von einer Mauer umschlossene Westberlin
stand zwischen 1966 und 1969 im Mittelpunkt der Proteste der deut-
schen Studentenbewegung. Immer wieder kam es zu Demonstrationen
und zu Zusammenstößen der Demonstranten mit der Polizei. Im Juni
1967 erschoss ein Polizist den Studenten Benno Ohnesorg, kaum ein
Jahr später wurde der Studentenführer Rudi Dutschke auf dem Kur-
fürstendamm bei einem Attentat von drei Schüssen lebensgefährlich
verletzt. Es war eine Zeit voller Extreme, zu denen jeder seine Mei-
nung hatte und zu denen die Meinungen der Menschen extrem ausei-© d
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Teil 1: Die Ärzte früher!
nanderklafften. Die einen hetzten gegen die Staatsmacht, die anderen
schüttelten den Kopf über langhaarige Studenten. Im Haus Felsenhei-
mer stand die Meinung ebenfalls fest. Wie wohl fast jeder Berliner er-
lebte auch der junge Bela B die eine oder andere Demonstration mit
eigenen Augen, und er konnte klar hören, was seine Mutter von der
Sache hielt. Nämlich äußerst wenig. Sie habe sich vielmehr empört
über die Demonstranten und auch jene Worte gesagt, die der bürgerli-
che Teil der deutschen Gesellschaft zu jener Zeit gerne sagte, um mut-
maßliche Aufwiegler abzukanzeln: Die Leute sollten doch »rüberge-
hen«, wenn es ihnen hier im Land nicht passe. Gemeint war damit
natürlich, dass sie nicht im Westen demonstrieren, sondern am besten
gleich in den sozialistischen Osten und damit in die damalige Deutsche
Demokratische Republik auf der anderen Seite der Berliner Mauer
wechseln sollten.
Mit dem Beginn der Siebzigerjahre beruhigte sich die Situation auf
den Straßen in Maßen wieder, und für den jungen Dirk standen ohne-
hin andere Dinge im Mittelpunkt. Längst hatte er sein Interesse für
Comics entdeckt, von denen es in den frühen Siebzigerjahren einige an
den Kiosken gab. Neben Micky Maus oder Fix & Foxi fanden sich da
die Lucky-Luke-Hefte, Tim und Struppi und nicht zuletzt natürlich
die Asterix-Hefte, deren deutsche Übersetzungen vor allem in den
Siebzigern auf den Markt kamen. 1972 erschien dann als Highlight
für die Jungs noch das Comic-Magazin Zack, das in Form gezeichne-
ter Fortsetzungsgeschichten die Erlebnisse fi ktiver Figuren wie des
Wild-West-Helden Leutnant Blueberry oder des Rennfahrers Michel
Vaillant erzählte, die zu einem Stück Jugendkultur jener Ära wurden.
Auch sein Faible für Horror und Horrorgeschichten entdeckte
Bela B. schon in jungen Jahren. Allerdings über einen Umweg, der aus © d
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heutiger Sicht nicht wirklich als eine Art Einstiegsdroge angesehen
werden dürfte. Es handelte sich dabei nämlich um einen Film, der
schon zu Beginn der Siebzigerjahre eigentlich alt und überholt war:
Sindbads siebente Reise, ein Abenteuerfi lm aus dem Jahre 1958. Die
Handlung ist dem Genre entsprechend recht simpel oder gar absurd.
Seefahrer Sindbad ist gemeinsam mit seiner geliebten Prinzessin per
Schiff auf der Reise nach Bagdad, wo er eben diese Prinzessin heiraten
will. Bei einem Zwischenstopp auf einer griechischen Insel wird ein
Magier von Zyklopen angegriffen, dann geht auch noch eine Wunder-
lampe verloren und zu allem Überfl uss wird die Prinzessin in einen
Zwerg verwandelt – aber am Ende geht dann natürlich doch alles gut
aus. Die Handlung also war es wohl kaum, die in Bela B. eine lebens-
lange Leidenschaft für das Horrorgenre entfachte. Tatsächlich ist der
Film nicht in erster Linie wegen seines Plots bekannt geworden, son-
dern wegen der Arbeit eines gewissen Ray Harryhausen. Der 1920
geborene Amerikaner war nicht nur für das Drehbuch mitverantwort-
lich, vor allem erweckte er mit einer Stop-Motion genannten Technik
die Monster zu fi lmischem Leben, und zwar in einer für die damalige
Zeit erstaunlichen Qualität. Mit seiner Hilfe und seinem Können war-
fen Zyklopen Helden in Gitterkäfi ge oder hoben Sindbad mit den klo-
bigen Fingern in die Luft. Was auf dem Umweg über das noch kindli-
che Gemüt nun die bereits zweite lebenslange Leidenschaft des Bela B.
schon früh weckte. Die dritte Leidenschaft dagegen ließ sich etwas
Zeit und nahm dabei auch den einen oder anderen Umweg. Wenn
Bela B. heute von seinen frühen Kontakten zur Musik berichtet, dann
erzählt er, so in einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt, von
einem Gemeinschaftsplattenspieler, den er und seine Schwester nutz-
ten und für den die Geschwister immerhin jeweils eine eigene Schall-© d
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Teil 1: Die Ärzte früher!
platte erhielten. Was sich grundsätzlich nach einer guten Idee anhört,
wären die Platten nicht vom gleichen Interpreten gewesen. Denn als
ersten Tonträger gab es für beide etwas, das so manchem den Musik-
genuss dauerhaft verderben dürfte: eine Single von Tony Marshall.
Mancher Spätgeborene wird von diesem Namen noch nie etwas ge-
hört haben, was auch keinerlei Verlust bedeutet. Trotzdem kann ein
wenig Wissen über den Schlagersänger nicht schaden: Tony Marshall
ist heute noch aktiv und gilt in Deutschland als eine Art Star. Doch
sein Starruhm beruht im Grunde auf einem einzigen Titel, der im Jahr
1971 erschien und sich in den Charts rund ein Jahr lang festbiss:
»Schöne Maid«, ein Stimmungslied, das sich weltweit drei Millionen
Mal verkaufte – das aber schon zu seiner Zeit gerade von Jugendli-
chen inbrünstig verachtet wurde.
Tony Marshall war daher sicher auch nicht derjenige, der Bela B.
den Rockmusiker in sich spüren ließ.
Doch deutschsprachige Stimmungslieder standen in den beginnen-
den Siebzigern längst nicht mehr allein an den Spitzen der Charts.
Vielmehr hatte sich gerade in dieser Zeit in der weltweiten Musikszene
einiges getan, vor allem etwas, das Bela B. wirklich zeitlebens ähnlich
wie der spätere Punk prägen sollte. Denn bevor dieser Punk die Jugend
und ihre Musik revolutionierte, gab es noch ein weiteres Phänomen,
das später unter dem Begriff Glam Rock, oder im Deutschen Glitter-
rock, zusammengefasst wurde.
Dahinter verbarg sich einerseits ein Auftreten der Musiker und
Bands in auffälliger Kleidung, gleichzeitig ging es auch um das Spiel
mit den Geschlechtern und darum, sich eben mit Glitter und Make-up
vom Prototypen des Macho-Rockers oder intellektuell abgehobenen
Bands wie Pink Floyd und Co. abzugrenzen. Hinzu kam eine Musik, © d
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die auf meist eingängige Melodien in Kombination mit sehr rhythmi-
schem Rock setzte. Der Glam Rock brachte gleich eine ganze Reihe an
Stars hervor: Teenie-Idole wie The Sweet und Slade oder T. Rex mit
dem Frontmann Marc Bolan und natürlich David Bowie. Glam Rock
war in erster Linie eine britische Erfi ndung, hatte aber weltweit Ein-
fl uss auf Musiker, die wenig später von sich reden machen sollten. Wie
etwa die amerikanische Gruppe Kiss. Gerade Kiss sollte für Bela B. zur
Initialzündung werden und er verehrt sie bis heute.
Kiss veröffentlichten ihr erstes Album im Jahr 1974, doch erst mit
ihrer vierten Langspielplatte Destroyer schafften sie es auch in
Deutschland in die Charts. Trotzdem blieben sie vielen Menschen
nicht wegen ihres Hardrock, sondern wegen ihrer Optik im Gedächt-
nis. Bis 1983 zeigten sich Kiss in der Öffentlichkeit ausnahmslos mit
den typischen aufgeschminkten Masken, die individuell auf jedes ein-
zelne Gruppenmitglied zugeschnitten waren. Für den jungen Dirk Fel-
senheimer wiederum war eben diese Verkleidung zweitrangig. Für ihn
war es tatsächlich die Musik, die ihn faszinierte und die ihn erste
Schritte auf seinem späteren Weg zum Schlagzeuger machen ließ. Spä-
ter erzählte er, dass er zu Hause »mit irgendwelchen Klöppeln« auf
Kissen eindrosch und damit das Spiel des damaligen Kiss-Schlagzeu-
gers Peter Criss nachahmte. Trotzdem war das Schlagzeug zu diesem
frühen Zeitpunkt nicht das einzige Instrument, das ihn begeisterte.
Mangels echter Instrumente griff er auch mal zum Tennis- oder Feder-
ballschläger, um vor dem Spiegel stehend den Gitarristen zu geben.
Das führte schließlich auch zu einem ersten Auftritt als Musiker – oder
besser als jemand, der so tut, als wäre er ein Musiker. In der sechsten
Klasse, so Bela B., stellte er mit Freunden im Fasching die Band von
Suzi Quatro nach. Was im Endeffekt nichts anderes hieß, als dass man © d
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Teil 1: Die Ärzte früher!
im Hintergrund eine Musikkassette mit einem Titel der Gruppe laufen
ließ und selber das tat, von dem man annahm, dass es ein Musiker
machen würde. Bela B. selbst schlüpfte dabei übrigens in die Rolle der
Bandleaderin, die mit Titeln wie »Can the Can« oder »48 Crash« zu
einer weiteren Ikone der Glam-Rock-Ära aufstieg – obwohl man sie
zunächst nicht zu diesem Genre zählte.
Doch Dirk alias Bela B. interessierte sich nicht nur für die Stars aus
der ersten Reihe, sondern auch für jene Künstler, die eher im Hinter-
grund blieben. Ein Beispiel ist Chris Spedding, von dem ein Poster in
seinem Zimmer hing, wie er erzählte. Spedding gelang zwar 1975 mit
»Motor Bikin’« ein Top-Ten-Hit. Doch den größten Teil seiner Karri-
ere verbrachte er als gefragter Studiomusiker beziehungsweise Studio-
gitarrist für Größen wie Roxy Music, Elton John oder auch Tom Waits.
Dass er ungern im Vordergrund stand, das unterstreicht die Tatsache,
dass er 1974 sogar das Angebot ablehnte, bei den Rolling Stones ein-
zusteigen.
Das Wesentliche im Hinblick auf Dirk Felsenheimer besteht aller-
dings darin, dass Spedding eben ein Gitarrist war und damit ein weite-
res Beispiel dafür darstellt, dass die endgültige Vorliebe für ein Instru-
ment noch nicht feststand. Als seine Schwester später Gitarrenunterricht
nahm, befand sich sogar ein echtes Instrument im Haus der Familie.
Doch dann kam es der oft erzählten Legende nach zu einem Ereignis,
das alles Kommende prägen sollte. Auch wenn dieses Ereignis gar nicht
von ihm selbst ausgehen sollte.
Diese Legende besagt, dass Dirks Schwester mit einem älteren Mit-
glied der Schülerband »zusammen« war. Als die beiden in dessen El-
ternhaus verabredet waren, hegte Mutter Felsenheimer gewisse Zwei-
fel, was das unbeaufsichtigte Paar dort anstellen würde. Natürlich © d
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Das ist die ganze Wahrheit
wäre ein Verbot des Treffens dem Verhältnis zwischen Mutter und
Kind nicht zuträglich gewesen, daher wurde ein Plan gefasst, der im
Wesentlichen darin bestand, den Bruder Dirk als Aufpasser mit zu der
Verabredung zu schicken. Aus offensichtlichen Gründen hatte das jun-
ge Paar wenig Interesse daran, geplante Zweisamkeit durch einen Be-
obachter zu beeinträchtigen, und fasste daher ebenfalls einen Plan,
dessen Auswirkungen niemand voraussehen konnte. Man entledigte
sich des Problems, indem der Bruder im Übungskeller der Schülerband
geparkt wurde.
Zum Wesen eines Übungskellers einer Band zählt natürlich, dass
dort Instrumente auf ihren Einsatz warten. In diesem Fall vor allem
ein Schlagzeug, das nun ausgiebig genutzt wurde. Damit war im Grun-
de der weitere Weg als Musiker festgelegt. Mit einer entscheidenden
Einschränkung: Der Übungskeller stand nicht dauerhaft für das
Nicht-Mitglied der Schülerband zur Verfügung, und das Herumklop-
fen auf häuslichen Kissen eignete sich kaum zur Perfektionierung des
Spiels. Ein eigenes Schlagzeug musste also her, was schließlich mit fa-
miliärer Finanzhilfe auch gelang. Nach einer Weile kam es dann zu
Kontakten mit anderen Musikern, die wiederum in der Gründung ei-
ner ersten Band namens Empire mündeten, die allerdings nur einen
einzigen Auftritt beim Schulabschlussfest erlebte.
Genau dieser Schulabschluss hätte dann den eingeschlagenen Weg
als Schlagzeuger noch einmal beenden können. Eltern halten bekannt-
lich wenig davon, wenn der Nachwuchs sich im Überschwang der Be-
geisterung für eine äußerst unsichere Karriere als Musiker entscheidet.
Dirk Felsenheimers Mutter bildete da keine Ausnahme: Der Junge
brauchte eine sichere Anstellung, was eben diesen Jungen dann auch
derart überzeugte, dass er sich früh für eine solche sichere Stelle be-© d
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Teil 1: Die Ärzte früher!
warb. Ausgerechnet die Polizei sollte es sein. Nicht aus ideologischen
oder idealistischen Gründen, sondern einfach deshalb, weil es dort im
ersten Lehrjahr das meiste Geld gab. Zu allem Überfl uss bestand der
Anwärter auch noch die Aufnahmeprüfung. Das Ende der Polizeikar-
riere war indessen schnell eingeläutet. Später berichtete Bela B., dass er
sich bei der Polizei vom ersten Tag an unglücklich gefühlt habe. Dieses
Gefühl hielt zwei Wochen an, bevor er die Ausbildung beendete, indem
er kündigte – und sich umgehend wieder gut fühlte.
Weniger gut fühlte sich seine Mutter, die den Wunsch nach einer
sicheren Anstellung ihres Sohns den Bach runtergehen sah. Was wiede-
rum der Sohn nicht mitansehen wollte und sich daher auf die Suche
nach einem Job und einem neuen Ausbildungsplatz machte. Das mün-
dete nach einer Weile schließlich in einer Lehrstelle als Dekorateur bei
einer Kaufhauskette. Einem Beruf also, bei dem es im Wesentlichen
darum geht, Schaufensterpuppen an- und auszuziehen, zu Weihnach-
ten die Verkaufsräume festlich zu schmücken und vielleicht auch mal
eine Leuchtstoffröhre auszutauschen, wenn der Hausmeister keine
Zeit oder keine Lust hat. Keine Spur von dem Rock ’n’ Roll also, der
den jungen Dirk Felsenheimer so begeisterte. Und schon gar keine
Spur von Punk, der gerade die Begeisterung noch einmal verstärkte.
Dieser Punk beeinfl usste bald auch ein Leben, das am 27. Oktober
1963 ähnlich unspektakulär wie das des angehenden Dekorateurs aus
Spandau begann. An jenem Herbsttag kam ebenfalls in Berlin ein Kind
auf die Welt, das den Namen Jan Ulrich Max Vetter tragen sollte. Des-
sen frühes Leben sollte einige Parallelen zu dem des Dirk Felsenheimer
aufweisen, gleichzeitig jedoch sehr unterschiedlich ausfallen. Eine Pa-
rallele bestand darin, dass sich auch die Eltern des jungen Jan sehr
früh trennten. Doch das Kind wuchs nicht in einem so ausgewiesen © d
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bürgerlichen Umfeld auf, wie es bei den Felsenheimers der Fall war.
Vielmehr lebte die alleinerziehende Mutter mit ihrem Sohn in einer
Wohngemeinschaft und damit quasi auf der anderen Seite der Gesell-
schaft. Während Dirk Felsenheimer sich an die Ablehnung der De-
monstrationen linksgerichteter Studenten vonseiten seiner Mutter er-
innert, bestehen frühe Erinnerungen Jan Vetters beziehungsweise Farin
Urlaubs darin, dass er mit seiner Mutter zu eben diesen Demonstrati-
onen ging. Natürlich wusste er als kleines Kind nicht wirklich, worum
es bei den Märschen ging. Er habe aber, wie er später erzählte, gerne
die typischen Protestrufe wie »Ho! Ho! Ho Chi Minh!« mitgegrölt.
Nicht weil er sich wie die Erwachsenen mit dem vietnamesischen Re-
volutionär und späteren Präsidenten solidarisieren wollte, sondern
weil sich die Rufe einfach gut anhörten und man sie eben auch gut
brüllen konnte. Man wird es nie sicher sagen können, aber theoretisch
ist es durchaus möglich, dass Jan Vetter rufend mit den Demonstran-
ten durch die Straßen zog, während am Rand Dirk Felsenheimer ne-
ben seiner Mutter stand, die den Protestlern zurief, sie sollten doch
»rübergehen«, wenn es ihnen hier nicht passe.
Auch über die Lebensumstände der Vetters hätte eine Frau Felsen-
heimer durchaus den Kopf schütteln können: Nicht nur, dass man in
einer Wohngemeinschaft lebte, zu der zählten zu allem Überfl uss auch
noch Ausländer aus dem arabischen Raum – und dann bezeichneten
diese Menschen sich selbst sogar noch als Kommunisten.
Zu fi nden war diese Wohngemeinschaft im Stadtteil Moabit und
damit recht zentral im Herzen des damaligen Westberlin. Obwohl Jan
Vetter dort nur die ersten Jahre seines Lebens zubrachte, kann er sich
an das Umfeld gut erinnern. So erzählte er einmal davon, dass zu der
Wohnung auch ein Balkon gehörte, von dem aus er einen guten Blick © d
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auf den Stadtteil hatte. Wobei gut nicht gleichzeitig auch schön bedeu-
tete. Schräg gegenüber, so Farin Urlaub, sah er auf den Knast – ge-
nauer gesagt auf die Justizvollzugsanstalt Moabit, in der schon im
19. Jahrhundert Straftäter in ihren Zellen saßen. Ebenfalls im Blick-
feld: ein großes Jugendheim, in dem zu jener Zeit Waisen und schwer
erziehbare Kinder untergebracht waren. Auch dieses Haus hatte be-
reits eine lange Geschichte, die im 19. Jahrhundert begann, es ist mitt-
lerweile allerdings abgerissen. Zu Zeiten der Wohngemeinschaft wur-
de es noch betrieben, was auch der kleine Jan mitbekam, etwa als die
Heimkinder dem nicht einmal Fünfjährigen den Roller wegnehmen
wollten. Noch eine weitere Institution befand sich in der Nähe: Gleich
um die Ecke lag eine Schule, die der Junge allerdings nur kurz besu-
chen sollte.
Bald nämlich sollte es zu einer Veränderung im Leben von Mutter
und Sohn kommen. Die Mutter lernte einen Mann kennen und heira-
tete ihn. Der bislang weitgehend ohne Vater aufgewachsene Jan Vetter
bekam also einen Stiefvater. Was allerdings nicht eitel Sonnenschein
bedeutete. Oder wie es der Sohn später einmal im Gespräch mit dem
Radiosender 1Live beschrieb: Seine Mutter habe es geschafft, ein noch
größeres Arschloch als ihren ersten Mann zu heiraten.
Hatte die Mutter als Studentin die Kleinfamilie unter anderem da-
durch versorgt, dass sie nachts als Rosenverkäuferin durch das Vier-
tel zog, war sie nun eine frischgebackene Beamtin – und bald schon
machte sie sich mit ihrem ebenfalls verbeamteten Mann auf die Suche
nach einer geeigneteren Unterkunft für die nun wieder komplette Fa-
milie. Was einen radikalen Wechsel bedeutete. Fand das Leben des Jan
Vetter bislang inmitten der geschäftigen Metropole statt, zog man nun
an den Rand der Stadt nach Frohnau. Das hieß, dass man zwar weiter-© d
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hin in Berlin lebte – doch wie jede Großstadt besteht auch Berlin aus
sehr unterschiedlichen Teilen. Und Frohnau war nichts anderes als
eine Art Gegenentwurf zu Moabit. Der Stadtteil liegt am nordwestli-
chen Rand Berlins und entstand erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts
aus dem Projekt einer sogenannten Gartenstadt – also einem mit sehr
viel Grün versehenen Teil einer Großstadt. Das viele Grün und der
Umstand, dass hier vor allem Ein- statt Mehrfamilienhäuser standen,
machte Frohnau zu einem Viertel, das eine eher wohlhabende Klientel
anzog. Nicht die wirklich Reichen, aber diejenigen, die es in ihrer be-
rufl ichen Laufbahn durchaus zu etwas gebracht hatten. Oder wie Jan
Vetter es zusammenfasste, als er längst Farin Urlaub war: »Häuser mit
Gärten und Mercedessen davor.« Den Mercedes allerdings gab es bei
Familie Vetter nicht. Denn im Grunde hatte man sich mit dem Kauf
des Zwanzigerjahre-Baus an die Grenzen der fi nanziellen Belastbar-
keit gebracht. Dass die Vetters das Geld überhaupt aufbringen konn-
ten, hing nach der Erinnerung des Sohnes vor allem damit zusammen,
dass der Status als Beamte ihnen das Aufnehmen des entsprechenden
Kredits erlaubte. Viel mehr ging dann nicht. Fuhr man in der Nachbar-
schaft Mercedes, so reichte es hier meist nur zu Mobilen der Marke
Fiat.
Zur Zeit des Umzugs war Jan Ulrich Max Vetter sieben Jahre alt.
Das Thema Musik nahm bis zu diesem Zeitpunkt eher begrenzten
Raum ein. Die Beschäftigung damit geschah in den ersten Lebensjah-
ren eher passiv, wie der ehemalige Leiter des Die-Ärzte-Fanclubs, Mar-
kus Karg, in der 2001 erschienenen offi ziellen Band-Biografi e Ein
überdimensionales Meerschwein frisst die Erde auf schrieb. Gehört
wurde Musik vor allem in der Form, dass der Sohn einfach mitbekam,
was die Mutter auf den Plattenteller legte. Die habe zunächst gerade © d
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einmal eine Handvoll Platten besessen – eine davon seien die Branden-
burgischen Konzerte von Johann Sebastian Bach gewesen, die restli-
chen von den Beatles. Die Musik der Liverpooler Band kannte er also
in- und auswendig, ohne jedoch bewusst etwas über die Gruppe zu
wissen. Das führte zu einem merkwürdigen Moment, in dem Jan Vet-
ter später eine Radiosendung über eben diese Beatles hörte und sich
wunderte, dass er alle gespielten Titel bereits kannte.
Das erste Instrument trat ins Leben des Jan Vetter, als der laut der
Band-Biografi e neun Jahre alt war. Es war eine Gitarre, die er auf dem
Sperrmüll entdeckte und die weit von einem perfekten Zustand ent-
fernt war. Außerdem war es nicht so, dass die bloße Gegenwart des
Instruments schon eine gewisse Virtuosität des späteren Musikers ans
Tageslicht brachte. »Die Gitarre hat’s mir nicht leicht gemacht. Ich
war nicht einer von denen, die sich rangesetzt haben und dann konn-
ten sie Gitarre spielen«, fasste Farin Urlaub die Anfänge im Interview
mit dem Radiosender 1Live zusammen. Er habe vielmehr zunächst
einige Monate alleine »vor sich hin gebastelt«, allerdings ohne nen-
nenswerte Fortschritte – vielmehr konnte er auch danach nicht wirk-
lich Gitarre spielen. Bis seine Mutter schließlich ein Einsehen hatte,
oder es vielleicht einfach leid war, die unmelodischen Versuche ihres
Sohnes weiter zu ertragen.
Wozu hat man Nachbarn: Jans Mutter nahm Kontakt zu einer be-
nachbarten Musiklehrerin auf, die nach wechselnden Erinnerungen
des Sohnes zwischen 147 und 200 Jahre alt war. Was sie natürlich
nicht war, sondern schlicht und einfach schon etwas betagt. Verbun-
den mit dem Alter war zudem eine Strenge, die manchem Musiklehrer
eigen ist. Die Dame hielt nichts davon, einfach irgendwie das Spiel des
Jungen zu verbessern. Zum Gesamtpaket zählten auch die korrekte © d
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Körperhaltung des heranwachsenden Musikanten und nicht zuletzt
die passende Musik, die es zu üben galt. Der mittlerweile zehnjährige
Schüler durfte nicht einfach üben, was ihm gefi el, auf dem Schulungs-
plan standen vielmehr Volkslieder und ähnliches Musikgut. Das än-
derte sich auch nicht, als der Schüler eines Tages zum Unterricht mit
dem Buch The Beatles Complete auftauchte, das angehenden Gitarris-
ten das Spielen von Songs der Band vermitteln sollte.
Zu diesem Zeitpunkt lag bereits rund ein Jahr strengen Gitarrenun-
terrichts hinter Jan Vetter. Mehr sollte es dann aber auch nicht wer-
den – nach der Ablehnung der Beatles-Titel schien ein weiteres Studi-
um volkstümlichen Liedguts kaum mehr sinnvoll.
Nach dem Ende dieser Episode wurde es im Leben des Jan Vetter
dann politisch und gleichzeitig vollkommen unpolitisch, vor allem
aber wesentlich musikalischer. Der politische Teil zeigte sich in Form
der Sozialistischen Jugend Deutschlands – Die Falken. Dabei handelte
es sich um einen Kinder- und Jugendverband, der aus der sozialisti-
schen Arbeiterbewegung hervorgegangen war. Der Name mag sich aus
heutiger Sicht stark nach der ehemaligen DDR anhören. Tatsächlich
war das Gegenteil der Fall: Im Osten Deutschlands waren die Falken
sogar verboten und Sympathisanten wurden verfolgt. Im Westen und
nicht zuletzt in Westberlin konnten die Falken dagegen unbeschwert
agieren und ihre Ziele verfolgen. Die bestanden und bestehen vor al-
lem darin, Kinder und Jugendliche zu kritischen und selbstbewussten
Personen zu erziehen – auf einer sozialistischen Grundlage. Das hört
sich natürlich arg nach politischem Gutmenschentum an, zeigte sich
jedoch in der Realität, die Jan Vetter erlebte, in einer ganz anderen
Form. Für ihn stellten gerade die sommerlichen Zeltlager der Falken
ein Highlight in der Zeit des Heranwachsens dar – vor allem wenn © d
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auch die Gitarre dabei war. Denn die Realität dieser Zeltlager zeigte
sich weit entfernt politischer Theorie und zeichnete sich vielmehr
durch viele Freiheiten aus. Außerdem gehörten zu einem Zeltlager
auch die Abende, an denen die Jugendlichen am Lagerfeuer saßen und
eigentlich immer jemand Gitarre spielte, während die anderen mitsan-
gen.
Das hatte als Nebeneffekt zur Folge, dass auch Jan Vetter sich et-
was vom Spiel der anderen abgucken konnte und mehr oder weniger
fachmännische Tipps zur Verbesserung seines eigenen Könnens erhielt.
Was dazu führte, dass er die Standards jener Zeit beherrschte. In seiner
Erinnerung war eines der ersten Stücke der 1971 von der Gruppe
America veröffentlichte Titel »A Horse with No Name«, weil es im
Grunde nur aus zwei Akkorden bestand, die sich daher auch recht
einfach lernen ließen. Als nächster Titel folgte Deep Purples Klassiker
»Smoke on the Water« aus dem Jahr 1972 und später dann das 1975
veröffentlichte »Wish you were here« von Pink Floyd.
Auch abseits des reinen Gitarrespielens erweiterte sich der musika-
lische Horizont nach und nach. Farin Urlaub berichtete später, dass er
über die Plattensammlung seiner Eltern auf Frank Zappa stieß, der die
Rockmusik durch seine außergewöhnlichen Kompositionen stark be-
einfl usste. Von seinem gleichaltrigen Umfeld wiederum wurde er auf
die Glam Rocker von The Sweet aufmerksam gemacht. Zusammen
führte das schließlich zu Farin Urlaubs erster selbst gekaufter Lang-
spielplatte: Deep Purples Live-Doppelalbum Made in Japan, das in
Europa erstmals im Dezember 1972 erschien. Die zweite Platte war
ebenfalls ein Live-Album, nämlich Strung up von The Sweet, das im
November 1975 und damit nur kurz nach Jan Vetters zwölftem Ge-
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Genau zu jener Zeit vollzog sich in der Musikszene jedoch ein Wan-
del, der von entscheidender Bedeutung für die noch gar nicht gegrün-
deten Die Ärzte sein sollte. Inzwischen war ein nicht geringer Teil der
Musikfans ermüdet von dem Bombast-Rock, den Pink Floyd oder
auch Genesis zelebrierten. Auf der anderen Seite lief auch die Ära des
Glam Rock langsam ab. Es war Zeit für etwas Neues, und das ent-
stand zunächst im amerikanischen und britischen Musik-Untergrund.
Lange aber dauerte es nicht, bis diese Punk genannte Musik den ganz
großen Durchbruch erlebte. Mitentscheidend für diesen Durchbruch
war eine frisch gegründete Band, die im November 1975 erstmals
unter dem Namen Sex Pistols live auftreten sollte. Ein Jahr später
erschien im November 1976 dann auch die erste Single: »Anarchy in
the U.K.«.
Zu jener Zeit kannte Jan Vetter natürlich schon so manches andere
Stück Pop- und Rockmusik, musste aber immer noch auch häufi g fest-
stellen, dass er selber diese Titel nicht auf der Gitarre spielen konnte.
Dann kam jener Moment, in dem er erstmals eines der neuen Punk-Stü-
cke bewusst wahrnahm, und das trug fast schon selbstverständlich
den Titel »Anarchy in the U.K.«. Schnell merkte er, dass diese Punk-
songs anders waren und anders klangen, dass sie sich wohl auch ein-
facher auf der Gitarre spielen ließen. Trotzdem war es nicht so, dass
der spätere Dauerpunk quasi ein Erweckungserlebnis durchmachte
und von einem Moment auf den nächsten zum überzeugten Punk-Jün-
ger wurde, der nicht mehr ohne Sicherheitsnadel oder Nietenarm-
band-Accessoire auf die Straße ging.
Schließlich drehte es sich im Leben des Jugendlichen inzwischen
auch gar nicht mehr ausschließlich um die Musik der anderen und da-
rum, diese Musik nachzuspielen. Verstärkt ging es auch um die eigene © d
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Musik. Der offi zielle Band-Biograf Markus Karg berichtet davon, dass
Jan Vetter mit zwölf Jahren begonnen hat, eigene Lieder zu schreiben.
Was später auch dazu führte, dass er daheim auf einem Kassettenrekor-
der diese eigene Musik aufnahm und die Musikkassetten dann auf dem
Schulhof verkaufen wollte – was sogar in einigen Fällen gelungen ist.
Doch dann kam jenes Jahr, in dem der sechzehnjährige Jan Vetter
doch zu jenem Punk wurde, der schließlich in Farin Urlaub münden
sollte.
Zur Folklore der Vorgeschichte der Band, die einmal Die Ärzte hei-
ßen sollte, zählt ein London-Aufenthalt des jungen Mannes aus Froh-
nau im Jahr 1980. Die britische Hauptstadt war als Ziel einer Klassen-
fahrt ausgewählt worden. Jan Vetter und ein Schulfreund fassten
jedoch den Plan, diesen Aufenthalt noch etwas auszudehnen, und reis-
ten daher schon zwei Wochen vor dem eigentlichen Klassenfahrtter-
min nach Großbritannien. Die Zeit nutzten sie nicht nur zum Erkun-
den der Stadt, sondern vor allem auch dazu, ein wenig Geld zu
verdienen. Sie traten als Straßenmusiker auf und übten sich als Pfl as-
termaler. Vor allem aber verdienten sie auf diese Weise auch tatsäch-
lich Geld – wie es in der Meerschwein-Biografi e heißt allerdings nicht
allein wegen der Qualität ihrer Auftritte, sondern weil es die Londoner
allem Anschein nach gewohnt waren, solchen augenscheinlich mittel-
losen Menschen etwas Geld in die Hand zu drücken oder in den Hut
zu werfen. In dem landeten daher bereits Münzen, als der Musiker
noch dabei war, die Gitarre zu stimmen.
Zu dieser Zeit war aus den Anfängen des Punk längst eine Jugend-
bewegung entstanden. Die Band The Clash hatte im Januar 1980 ihr
bahnbrechendes Album London Calling veröffentlicht, außerdem fei-
erten im Sog der Punk-Bewegung auch neu entstandene Ska-Bands wie © d
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The Specials Erfolge, die in jenem Jahr mit »Too Much Too Young« die
Spitze der britischen Charts erreichten. Punk war also überall, und ge-
rade in London war Punk auch ein Lebensgefühl, das die Metropole
prägte. Der Aufenthalt in der Stadt hatte zur Folge, dass Jan Vetter
immer faszinierter war von dem, was den Punk ausmachte. Und dazu
zählte neben der Musik auch eine Mode, die manche Eltern verzweifeln
ließ. Bunte und gerne auch zerrissene Klamotten, dazu Haare, die aus-
schließlich in Richtungen zeigten, die nicht mit einem Scheitel in Ein-
klang zu bringen waren. Nicht nur die Erzählungen und Berichte über
die Vorgeschichte der späteren Band Die Ärzte, sondern auch erhaltene
Fotos belegen, dass der London-Aufenthalt den Teenager Vetter grund-
legend veränderte. Aus dem dunkelblonden Jan wurde ein Punk mit
zunächst schwarz-rot gefärbten Haaren, die mit Unterstützung geläufi -
ger Stabilisierungshilfen den Gesetzen der Schwerkraft trotzten.
Nach der Rückkehr in die Berliner Heimat wurde dann auch die
Kleidung zunehmend der nun äußerst punkigen Attitüde angepasst.
Obwohl Punk inzwischen schon zahllose Jugendliche erreichte, lag die
Zeit noch in weiter Ferne, in der die entsprechende Kleidung zum
Standardsortiment jedes Kaufhauses zählte. Ein Punk der beginnen-
den Achtzigerjahre machte sich noch selber an die Arbeit, um den Kla-
motten den passenden Schliff zu verleihen. In Jan Vetters Fall führte
das unter anderem dazu, dass eine einfarbig gelbe Hose mithilfe eines
schwarzen Filzstiftes von einem Netz von Karos überzogen wurde.
Ergänzt wurde diese Hose von einer Lederjacke, die Punk-typisch auf
der Rückseite eigenhändig beschriftet wurde – später unter anderem
mit dem Slogan »Verschwende Deine Jugend«, der auf dem gleichna-
migen Titel beruhte, den das Elektropunk-Duo Deutsch Amerikani-
sche Freundschaft – kurz D.A.F. – im Jahr 1981 veröffentlichte.© d
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Für Jan Vetter war der Aufenthalt in London also ein Stück voran
auf dem Weg der individuellen Persönlichkeitsentwicklung. Allerdings
kollidierte dieser Fortschritt nach der Rückkehr auch wieder mit einer
spießigen deutschen Realität. Noch immer war der Punk vor allem ein
Gymnasiast, der bei seinen Eltern wohnte. Und der musste nun auch
einige Realitäten des Frohnauer Umfeldes neu erleben, in dem er als
erster und zunächst auch einziger offensichtlicher Punk sein Leben
verbrachte. Wenn Farin Urlaub über die Zeit erzählt, dann kommt in
den Berichten auch ein Taxifahrer vor. Der hatte hart dafür geschuftet,
im wohlhabenden Frohnau leben zu können, und wusste so gar nichts
damit anzufangen, dass ein junger Mann schon optisch alle bürgerli-
chen Regeln brach und diese dann auch noch durch die Sprüche auf
seiner Lederjacke in den Dreck zog. Dieser Taxifahrer, so Farin Ur-
laub, habe ihn jeden Morgen abgepasst, wenn er auf dem Weg zum
Bus war, und habe ihn immer wieder übelst beschimpft. Weil er es
nicht verstehen konnte, dass ein junger Mensch schon vor dem Beginn
einer wie auch immer gearteten berufl ichen Laufbahn seine Lebensein-
stellung mit Sprüchen wie eben »Verschwende deine Jugend, solange
du noch kannst« zum Ausdruck brachte.
Den jungen Punker beeindruckten derartige Beschimpfungen we-
nig. Jedenfalls nicht in dem vom Schimpfenden gewünschten Sinn –
vielmehr zeigte eine solche Konfrontation, dass Punk genau das richti-
ge Mittel war. Etwas, mit dem man aneckte. Doch noch immer waren
Punk und Anecken nicht alles im Leben des Jan Vetter. Zwar genoss er
beides in gewisser Weise, er ging aber nicht so weit, dass er sein bishe-
riges Leben komplett abschüttelte und ein anderes begann. Der Gym-
nasiast besuchte weiter die Schule, brachte weder erschreckende noch
begeisternde Noten nach Hause. Immerhin reichten die Leistungen © d
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