Vitalisierung betrieblicher Mitbestimmung und ... · Magdeburg, 16. Mai 2018. Gliederung 1....
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Vitalisierung betrieblicher Mitbestimmung und Gefährdungspotenziale im Ausblick auf die Betriebsratswahlen 2018
Silke Röbenack
Tagung
„Betriebliche Mitbestimmung und politische Handlungsfähigkeit unter
veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und im Ausblick
auf die Betriebsratswahlen 2018“
Magdeburg, 16. Mai 2018
Gliederung
1. Zentrale Ergebnisse der OBS-Studie
2. Gefährdungspotentiale bzw. Gefährdungsszenarien (Rückgriff auf Befunde der HBS-Projekte „Betriebsratsgründungen“
und „Gewerkschaftsferne Betriebsräte“)
3. Fazit
Röbenack 2017
1. Zentrale Ergebnisse der OBS-Studie
Röbenack 2017
Datenbasis der Studie (Juni 2014 - Mai 2015)
• Qualitative Interviews in 19 ostdeutschen Betrieben in
den Zuständigkeitsbereichen der IG Metall und IG BCE
• Expertengespräche mit Gewerkschaftsfunktionären
beider Industriegewerkschaften
• Standardisierte schriftliche Befragung aller ostdeutschen
Geschäftsstellen (IG Metall) und Bezirke (IG BCE)
• Analyse der Mitgliederdatenbanken beider
Gewerkschaften
(1) Anstieg von Betriebsratsgründungen
(2) Zunahme von Aktivierungen (v.a. im Zuge von
Generationswandel)
(3) Vergleichbare Konstellationen / Motivationen bei
Gründungen und Aktivierungen
(4) ‚Gelegenheitsfenster‘ für Vitalisierung
Röbenack 2017
(1) Es gibt eine Zunahme von Betriebsratsgründungen in der
Wahlperiode 2010 im Vergleich zur Wahlperiode 2006.
Quelle: Mitgliederdatenbanken IG Metall und IG BCE
Wahlperiode
(Jahr d. regulären
Betriebsratswahl)
Anzahl neu gegründeter
Betriebsräte in der
ostdeutschen Metall- und
Elektroindustrie
(Anteil der neuen Betriebsräte
an allen Betriebsräten)
Anzahl neu gegründeter
Betriebsräte im
Zuständigkeitsbereich der IG
BCE
(Anteil der neuen Betriebsräte
an allen Betriebsräten)
2005 - 2009 (2006) 157
(17% an allen BR)
59
(8% an allen BR)
2009 - 2013 (2010) 248
(24% an allen BR)
89
(13% an allen BR)
3/2013 – 3/2015
(2014)
125 54
Röbenack 2017
Röbenack 2017
Verarbeitendes
Gewerbe
West-
deutschland
2013
Ost-
deutschland
2013
West-
deutschland
2015
Ost-
deutschland
2015
Betriebe mit
Betriebsrat (%) 16 11 16 13
Beschäftigte in
Betrieben mit
Betriebsrat (%)
69 48 67 51
Quelle: IAB-Betriebspanel (Ellguth/Kohaut WSI 4/2014, S. 294 und Ellguth/Kohaut WSI 4/2016, S. 290)
Die Zunahme von Betriebsräten im verarbeitenden Gewerbe
ist auch statistisch im IAB-Betriebsratspanel sichtbar.
Anteil der Betriebe mit Betriebsrat und Anteil der Beschäftigten in
Betrieben mit Betriebsrat 2013 und 2015
ABER der Anstieg von Betriebsratsgründungen ist kein
flächendeckender Trend, sondern uneinheitlich!
Gründungen finden v.a. statt in:
• Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt
• traditionellen Industriezentren und neuen, kleinen Subzentren
• Betrieben, die nach 1990 neu angesiedelt wurden
• Betrieben mit 50 bis 200 Beschäftigten
• der Metall- und Elektroindustrie, Kunststoffindustrie, insb. in der
Automobilzulieferindustrie
Quelle: Mitgliederdatenbanken IG Metall, IG BCE
Röbenack 2017
(2) Es finden verstärkt ‚Aktivierungen‘ von bestehenden
Betriebsräten statt.
• Mehr und andere Betriebsratsarbeit oft mit anderen Personen -
Generationswandel
• Neues Selbstverständnis und neue Ziele des Betriebsrates -
Tarifbindung
• Intensivierung von Kontakten zwischen Gewerkschaft und Betriebsrat
Röbenack 2017
(3) Vergleichbare Konstellationen und Motivationen bei
Neugründungen und Aktivierungen
Ziele: Schutz, Gerechtigkeit, Transparenz, Verlässlichkeit, Professionalität
Problemfelder:
Entlohnung (zu niedrig, ungerecht, ‚Wildwuchs‘),
Arbeitszeitgestaltung (ungeregelt, Überstunden, Wochenendarbeit,
Schichtsysteme),
gesundheitsgefährdende Arbeitsbedingungen,
Führungsverhalten des Managements (Willkür, Druck, mangelnde Professionalität)
und nach wie vor (Drohung mit) Arbeitsplatz(un)sicherheit
2 grundlegende Konstellationen:
• Kurzfristige, unerwartete Ereignisse
• Dauerhafte bzw. wachsende Problemlagen im Betrieb (und mit dem Betriebsrat)
→ zunehmende Unzufriedenheit, ‚Fass läuft über‘
Quelle: Interviews mit Betriebsräten und Gewerkschaftsfunktionäre*innen
Röbenack 2017
Konstellationen im Überblick
Vitalisierungvon Betriebsräten
Neugründung von Betriebsräten
Kurzfristige Ereignisse
(Krisengründung)
Outsourcing,Verkauf,
Kündigungen
Längerfristige Problemlagen
Bruch des Aufbaupaktes
Verletzung der Fürsorge-
pflicht
Aktivierungbestehender Betriebsräte
Kurzfristige Ereignisse
(Krisen-mobilisierung)
Outsourcing,Verkauf,
Kündigungen
Längerfristige Problemlagen
Klärung der ‚Machtfrage‘
nach Neugründung
Generations-wandel
Röbenack 2017
(4) ‚Gelegenheitsfenster‘ für mehr Mitbestimmung
Seit 2005 eine stabil positive (aber regional ungleiche) wirtschaftliche und
Arbeitsmarktentwicklung: Stabilisierung ehemaliger DDR-Betriebe,
Neuansiedlung, Beschäftigungsaufbau, Rückgang der Arbeitslosigkeit,
Wirtschaftswachstum; jedoch keine Ost-West-Angleichung
Relative Verbesserung des politischen bzw. öffentlichen Klimas gegenüber
Betriebsräten und Gewerkschaften (erfolgreiche Krisenbewältigung
2008/2009, Arbeitskräfteengpässe → Förderung ‚Guter Arbeit‘ durch alle
Landesregierungen)
Veränderte Strategie der IG Metall und IG BCE mit Projekten zu
Betriebsratsgründungen (‚Erschließungsprojekte‘)
Generationswandel in den Belegschaften → neue, junge Beschäftigte
bringen andere Sichtweisen, Erfahrungen und Ansprüche an Arbeit und
Entlohnung mit in die Betriebe, Generationenwandel in den Gremien
ABER trotz guter wirtschaftlicher Lage und Arbeitskräftenachfrage - relativ
wenig Verbesserung der ‚Qualität der Arbeit‘ (IAB) → Gerechtigkeitslücke
Röbenack 2017
2. Gefährdungspotenziale bzw. -szenarien
Was kann man aus den bisherigen Betriebsratsprojekten an der FAU lernen?
1. Die fragile Stabilität des Gelegenheitsfensters
Die ‚Vorzeichen‘ der wirtschaftlichen und Arbeitsmarktentwicklung sind (im
Vergleich zu 2013/14) immer noch positiv.
Wirtschaftswachstum und Generationswandel erzeugen weiter
Arbeitskräftenachfrage, damit wahrscheinlich auch Zugeständnisse seitens
der Politik und Wirtschaft.
ABER es handelt sich um ‚nachgelagertes‘ (abhängiges) und damit immer
auch gefährdetes Wachstum, denn die strukturellen Nachteile in
Ostdeutschland bestehen weiter: Zulieferindustrie, verlängerte Werkbänke,
keine Konzernzentralen, geringe F&E-Leistungen, Kleinbetrieblichkeit ...
D.h. jede Produktionsschwankung, jeder Markteinbruch wird sofort an die
Zulieferindustrie ‚durchgereicht‘.
Es sieht derzeit nicht so aus, als würde sich an den strukturellen Nachteilen
substanziell etwas ändern!
Röbenack 2017
Zunahme regionaler Unterschiede zwischen Bundesländern anhand
ausgewählter Kennziffern
Quelle: MBWi, Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit, Berlin 2016
2015 West NL BR MV ST SN TH
Arbeitslosenquote % 5,7 9,2 8,7 10,4 10,2 8,2 7,4
Anteil des verarb.
Gewerbe an Brutto-
wertschöpfung %
24,0 16,0 14,0 11,0 19,9 20,7 23,4
Industriebetriebe je
100.000 Einwohner56 56 47 46 65 75 83
Beschäftigte je
Industriebetrieb 145 93 84 79 91 90 95
Exportquote des
verarb. Gewerbe %49,1 35,4 30,3 33,2 27,8 37,6 31,5
BIP je Einwohner (€) 39.270 26.453 26.493 24.909 25.198 27.776 26.364
Röbenack 2017
2. Die wachsende regionale/soziale Ungleichheit erzeugt
Benachteiligungsgefühle und vielleicht auch
Ressentiments?
Die regional ungleiche wirtschaftliche und Arbeitsmarktentwicklung in
Ostdeutschland bedeutet zugleich eine wachsende regionale Ungleichheit
der Arbeits- und Entlohnungsbedingungen.
Damit korrespondiert wiederum eine Ungleichheit hinsichtlich der
(Durchsetzungs-)Chancen von betrieblicher Mitbestimmung.
Weniger Arbeitsmarktalternativen → schlechtere Verhandlungsposition im
Betrieb + Angst der Beschäftigten
Wenig ‚gute‘, motivierende Vorbilder betrieblicher Mitbestimmung in Region
Gewerkschaft oft ‚weit weg‘ (tatsächlich und ‚gefühlt‘)
Die wahrgenommene Ungerechtigkeit mündet dann eher NICHT in einer
konstruktiven Unzufriedenheit und Mobilisierung („Voice“), sondern in Exit-
strategien v.a. (junger) gut ausgebildeter Fachkräfte und/oder in Resignation,
Frustration und vielleicht auch Ressentiment der Zurückbleibenden.
Röbenack 2017
3. Die Kehrseite der Gründungsdynamik = Ressourcenfrage
Die Zunahme von Gründungen und Aktivierungen ist positiv!
ABER Neugründungen und Re-Aktivierungen von Betriebsräten sind keine
‚Selbstläufer‘, sie erfordern einen hohen Betreuungsaufwand.
FRAGE: Wie viel Dynamik können die Geschäftsstellen realisieren?
Je intensiver/länger die Unterstützung seitens der Gewerkschaften, desto
wahrscheinlicher wird eine wirksame Betriebsratspraxis. (s. Punkt 4)
Enge, intensive Betreuung kann zu einer normativen Bindung des neuen
Betriebsrates an die Gewerkschaft führen (muss nicht), aber keine oder
wenig ‚Nachsorge‘ führt i.d.R. zur Abkehr von der Gewerkschaft. (s. Punkt 5)
FRAGE: Können temporäre Erschließungsprojekte die Lösung sein?
In Erschließungsprojekten ist die ‚Übergangspassage‘ besonders heikel!
‚Übergabe‘ vom Projekt in die Geschäftsstelle heißt Personenwechsel,
weniger Exklusivität, weniger Intensität.
Es kommt oft zu ‚Mobilisierungs-Entzugserscheinungen‘ (Enttäuschung) bei
den Aktivist*innen im Betrieb.
Röbenack 2017
4. Der lange Weg zur Wirksamkeit (und Legitimität!)
Betriebsräte werden selten zum ‚Selbstzweck‘ gegründet oder reaktiviert,
sondern um ‚Probleme zu lösen‘, d.h. um verletzte bzw. vernachlässigte
Interessen der Belegschaften durchzusetzen.
Betriebsräte müssen daher relativ schnell ‚Ergebnisse‘ liefern, nicht allen
Betriebsräten gelingt das (sofort) – typische Probleme:
Oft ‚Implosion‘ der hohen Aktivität und/oder Enttäuschung bei den
Aktivist*innen (von der ‚außeralltäglichen‘ Mobilisierung zum ‚profanen‘ Alltag
und den ‚Grenzen‘ des Handelns, häufig personeller Wechsel)
Fehlende Priorisierung, ‚Verzetteln‘ (zu viele drängende Probleme und zu
wenig Professionalität)
Interne Machtkämpfe, Spaltungen im Betriebsrat/Belegschaft (schwierige
Gründung setzt sich nach Wahl im Betriebsrat fort; Blockade und massive
Legitimationsprobleme bis hin zum Entzug der Unterstützung)
Isoliertes Gremium (die falschen Leute; fehlende Konfliktfähigkeit der
Belegschaft)
Gegenwehr der Geschäftsführung (Pattsituation/Konfliktzunahme,
Unterordnung, Stillstand bis Auflösung)
Betriebsräte brauchen daher die Unterstützung der Gewerkschaft vor Ort.
Röbenack 2017
5. Die Nähe zur Gewerkschaft ist (in Ostdeutschland?) kein
Automatismus
Aus der (teils intensiven, emotionalen) ‚Beziehung‘ während einer
Neugründung oder Re-Aktivierung entsteht nicht automatisch eine (enge)
normative Bindung.
‚Indifferenz‘ bleibt bestehen (kulturelle, traditionelle, soziale Fremdheit)
‚lose Kopplung‘ (instrumenteller Bezug, situationsabhängig,
personenabhängig)
‚Abkühlung‘ (Bsp. ‚moralische‘ Entrüstung über ‚Forderungen‘ nach
Mitgliederwerbung, Enttäuschung über nachlassende Kontaktdichte/Gefühl
der Vernachlässigung)
‚Abbruch‘ (Bsp. personeller Wechsel im Betriebsrat)
‚Abschottung‘ (Bsp. gescheitertes Organizing/Streik - Spaltung der
Belegschaft)
Eine aktive und kontextsensible Betriebspolitik verbunden mit intensiver
Bildungsarbeit ist nach unseren empirischen Befunden ein wirksames
‚Bindemittel‘.
Röbenack 2017
1) Das Gelegenheitsfenster nutzen, so lange es offen ist. Tatsachen schaffen ist
(vermutlich) besser als Warten auf bessere Zeiten.
2) Die (wachsende) soziale und regionale Ungleichheit ist ein Problem der
Gerechtigkeit und wird eventuell ein Problem der sozialen und politischen
Integration. Welche Auswege gibt es aus Sicht der Gewerkschaften?
3) Die Durchsetzung von quantitativ mehr und qualitativ wirksamer
Mitbestimmung erfordert mehr Ressourcen bei den Gewerkschaften.
Begrenzte Ressourcen erfordern ein genaues Nachdenken darüber, wie und
wo man sie sinnvoll einsetzt.
4) Die Bindung (normativ, emotional, formal) an Gewerkschaften durch
Tradition, d.h. selbstverständlich und unhinterfragt, war/ist in Ostdeutschland
nicht vorhanden. Gewerkschaften müssen als solidarisierende Akteure in
betriebspolitischen Auseinandersetzungen sichtbar und erfahrbar sein.
Gewerkschaften müssen zusammen mit den betrieblichen Aktivist*innen
Erfahrungen der Wirksamkeit/des Erfolges ‚organisieren‘.
Röbenack 2017
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Institut für Soziologie
www.soziologie.phil.uni-erlangen.de
Ausführliche Quellen- und Literaturangaben in:
Silke Röbenack/Ingrid Artus (2015): Betriebsräte im Aufbruch? Vitalisierung betrieblicher Mitbestimmung in
Ostdeutschland. Eine Studie der Otto Brenner Stiftung, OBS-Arbeitsheft 82, Frankfurt am Main