Valerie Lana Bartusch Tanz der Nacht - wg-enger.de · Wenn du schläfst, dann kommt er, pfeift ein...

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Die letzte Reise Ein Projekt zu Bilderschauen von Siegfried Baron Rumpelstilzchen-Literaturprojekt; c/o [email protected] 1 Valerie Lana Bartusch Tanz der Nacht Tote Gedanken fliegen, die auf dem Wasser liegen, in Trance gesungen, die Lieder erklungen, Lieder der Nacht, im kalten Schacht, die Feenträne müde fällt, in den leeren Traum, ein großer Baum, der ewig wächst, im bloßen Leben, Träume verkleben für immer!

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Valerie Lana Bartusch Tanz der Nacht Tote Gedanken fliegen, die auf dem Wasser liegen, in Trance gesungen, die Lieder erklungen, Lieder der Nacht, im kalten Schacht, die Feenträne müde fällt, in den leeren Traum, ein großer Baum, der ewig wächst, im bloßen Leben, Träume verkleben für immer!

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Dominic Beckendorf Ihr seid weg und das schon lange gelebt, gestorben, Qualen, Tod dieser kam zu früh es gab so viel, was ihr noch machen wolltet aber die Chance bleibt euch verwehrt für immer ihr fehlt mir, ihr, uns...uns allen dort oben seid ihr...so weit weg aber in unseren Herzen lebt ihr weiter Tag für Tag und wenn ihr auch von anderen vergessen werdet wenn eure Taten vergessen werden wir vergessen nie...euch nie ein Sonnenstrahl eine Blume ein Regentropfen alles lässt mich, uns an euch denken wir erinnern uns die Gedanken schweifen um dies und das um jenes und etwas ab zu euch wo immer ihr auch seid Ihr so weit weg und wir hier – Allein in Gedanken an euch

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Julius Berger Sie fragte mich: „Willst du deinen Opa noch einmal sehen?“ Ich dachte, Doch, das will ich. Mein Vater stellte sich hinter mich und legte seine Hände behutsam auf meine Schultern. Ich nickte leise. Die Pastorin hob den Sargdeckel an und legte ihn auf die Seite. Da lag er, in einem schwarzen Anzug, mit geschlossenen Augen. Ich habe ihn immer sehr lieb gehabt. Er ist immer nett gewesen. Er saß immer den ganzen Tag in einem Sessel, hat Geschichten erzählt und gelacht. Und jetzt, jetzt saß er nicht mehr in seinem Sessel, jetzt lag er da, jetzt war Opa tot. Die Beerdigung war vorbei. Wir verließen den Friedhof und fuhren nach Hause.

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Robin Dietrich Absolution Und ich guck aus dem Fenster, und die Sonne scheint, draußen scheint die Sonne, und wenn sie scheint, heißt es eigentlich, dass das Leben gedeiht, aber ich sitz drinnen im Zimmer und fühl‘ mich bitter, und in der Nachttischschublade liegt anstelle der Bibel das Buch von Hitler, und eigentlich weiß ich gerade gar nicht wo ich bin, die Hotelfassade... Sie ist sooo grau... Die Stille umschließt mich, macht mich taub, und draußen vor dem Fenstern liegt er da im Laub... ein Mann... er sieht mir ähnlich - ich hab‘ Angst aber ich trau mich nicht zu sprechen - ich glaub‘, er kennt mich... Um mich herum ist es kalt, und die Wände fangen an von den Wänden abzublättern, und das zerknüllte Taschentuch in meiner Hose, löst sich langsam in Stunden auf, Und ich zähle jede einzige gottverdammte Sekunde noch mal drauf, während es in eine Rose zerfällt... Und ich ertrinke, ich ertrinke im Blütemeer, und ich vergesse den Mann draußen vor dem Fenster, und diese scheiß Blagen mit den rosa Schleifen im Haar, die ich sowieso schon immer gehasst habe... Und das Ende ist nah, ich weiß es, ich spüre es... Wir trinken es morgens, mittags, abends, nachts und wenn wir schlafen du bist doch nur ein Kind, O Gott, was hat er dir angetan, O Gott Wenn du schläfst, dann kommt er, pfeift ein Lied, nur ein Pfiff, mit seinen kühlen, schwarzen Augen, seinem sanften Wesen Er klimpert dir Töne vor, O Gott, was hat er dir angetan, es ist nicht zu entschuldigen... Kind, wir trinken dich, dein „sanftes Wesen“, Kind, wir essen dich, dein totes Fleisch. Wo sind deine scheiß schwarzen Augen jetzt, Kind? An den Wänden klebt nun keine Tapete mehr, und mein geistiger Sinneszustand versucht in letzter krampfhafter Artikulation einen Versuch sich auszudrücken... Aber das einzige, was ich im Moment ausdrücken kann, ist die Zigarette im Coca-Cola-Aschenbecher, Und während ich langsam verendet vor mich hin seufze, ritze ich Herzen in die Wand mit dem Schweizer Taschenmesser... DU und ICH und DU und ICH, und ich hab schon lange eigentlich vergessen, wer du bist, und wer der scheiß Mann im Laub ist, oder war es Schnee?

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Und ich gucke aus dem Fenster, und die Sonne scheint, ich glaube, ich bin gerade der einzige Mensch, der auf das Leben scheißt Und es fühlt sich verdammt noch mal gut an

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Stefanie Göhner Letzte Reise Unbemerkbar beginnt sie Deine lange letzte Reise Begleitet von den Engeln Deiner ewigen Träume Sie Erlösen dich vom Schmerz befreien dich von Qualen Tragen dich weit hinauf in die Welt ohne Sorgen Und singen dir leise ihr wunderschönes Lied

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Carolin Grothaus Die letzte Reise – Ins Paradies Die letzten Strahlen der orange-goldenen Maisonne strichen zart über die letzten Kinder, die noch im Garten spielten. Glücklich und unbeschwert, und doch zog mein Herz sich wie jedesmal schmerzhaft zusammen, als ich meine Tochter mit ihren Freunden im Sandkasten Burgen bauen sah. Ein paar Tage hatten ihr die Ärzte noch gegeben, doch was mein schlimmster Albtraum war, würde unweigerlich kommen. Der Horizont begann bereits, den letzten Rest der Sonne zu verschlingen, als die Kinder zum Essen zurück in den Speisesaal des Hospiz‘ gerufen wurden. Schweigend folgte ich den lachenden Kleinen, lehnte mich in den Türrahmen. Hunger hatte ich nicht. Zu schwer lag das Schicksal all dieser jungen Menschen auf meinem Geist. Eine Träne rann über meine Wange, als ich sah, wie Eva kichernd nach ihrem Pudding griff. Einen Essensplan gab es hier nicht mehr, jedes Kind bekam, was es wollte, jedes Kind konnte tun, was es wollte. Die Unbeschwertheit dieses Ortes brachte einen kleinen Funken Licht in mein Herz. All die Kinder hier konnten frei und glücklich sterben, jeden Abend wurde ihnen Geschichten über das Leben im Paradies nach dem Tod erzählt. Ein Paradies, in dem sie für immer leben würden, zusammen mit ihren Verwandten, Freunden und Bekannten, wenn diese starben. Einige der Älteren standen schon wieder auf, liefen hinüber zum Basteltisch, wo Eva gestern noch ein Bild für mich gemalt hatte. Wehmütig verfolgten meine Augen, wie ein neunjähriges Mädchen sich bunte Papierfetzen an den Pullover klebte, als jemand an meinem Ärmel zupfte. Langsam wanderte mein Blick zu Eva, die mich aus plötzlich unsicheren, hilflosen Augen anblickte. „Papa?“ „Ja? Was ist los, mein Schatz?“ „Papa, ich fühl mich so komisch. So anders. Irgendwas ist anders.“ Tränen bahnten sich den Weg über mein Gesicht, als ich begriff, was los war. Dass der Moment, den ich mehr als alles andere fürchtete, bald da sein würde. Sanft hob ich sie auf meinen Arm, hielt sie ganz fest. „Schatz… mein Schatz… Eva…“ Meine Stimme war nicht mehr als ein heiseres Schluchzen. „Was ist los, Papa? Warum weinst du jetzt?“ Eine Spur von Angst schwang in ihrer Stimme mit. Ich antwortete nicht, ich hätte es auch gar nicht gekonnt. Mühsam zwang ich die Tränen zurück. Nein, ich wollte vor ihr nicht um sie weinen. Sie sollte sorglos und unbeschwert sterben, in Armen, die sie schützten, in Armen, in denen sie sich geborgen und wohl fühlte. Vorsichtig trug ich sie aus dem Zimmer in den hinteren Teil des Hospiz‘, den Teil, in dem das Zimmer lag, in dem viele der Kinder hier ihre letzte Reise antraten. Gerade öffnete sich die Tür, eine der Betreuerinnen kam heraus. Auf ihren fragenden Blick nickte ich nur. „Ja. Ich glaube, es ist soweit.“ Ich konnte sehen, wie sie schluckte. In den Tagen, in denen die Kinder hier waren, wurden sie rundum betreut und verwöhnt, ihnen wurde geholfen und oft entstand eine enge Bindung zwischen Betreuer und Kind. Eva war nun sechs Tage hier gewesen. Mit gesenktem Blick hielt sie mir dir Tür auf, ich trug meine Tochter in den großen Raum, wo ich sie auf die weiche Liege legte. Ängstlich fand ihr Blick den meinen, sie wusste wohl, was das zu bedeuten hatte. Wieder kämpfte ich mit den Tränen. Ich wollte und konnte sie nicht einfach so gehen lassen, und doch musste ich es. Bedrückt setzte ich mich zu ihr, nahm ihre Hand fest in meine. „Papa? Ich… ich… ich werde jetzt sterben, oder?“

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Ich konnte nicht antworten, meine Kehle war wie zugeschnürt. Lediglich ein verzweifeltes Nicken brachte mein gequältes Hirn zustande. Ich schrie innerlich, als sie anfing zu weinen. „Papa, ich will noch nicht gehen! Ich hab Angst!“ Ich wusste, ich musste für sie stark sein. Ich wusste, ich musste ihr Schutz geben, ihre Angst nehmen. Sanft zog ich sie halb auf meinen Schoß, schlang wieder die Arme um sie. Nur mit viel Mühe schaffte ich es, meine Kehle frei zu bekommen, zu reden. „Das brauchst du nicht, Schatz. Wirklich.“ Ich musste die Worte mühsam aus mir herauspressen, ohne dabei in Tränen auszubrechen. WARUM SIE? WARUM MEINE TOCHTER?! Sie war doch noch ein Kind! „Wirklich?“ Vielleicht war es in einer Hinsicht gut, dass sie erst fünf Jahre alt war. Sie vertraute mir unendlich, sie glaubte mir und das, obwohl ich selbst Angst hatte. Nachdenklich, noch immer etwas ängstlich blickte sie mich aus rehbraunen Augen an. „Papa? Gibt es wirklich ein Paradies? So wie Larissa immer erzählt? Wo ich Mama wiedersehe?“ Mit jeder Sekunde kostete es mehr Kraft, den Tränen standzuhalten. „Ja. Ja, es gibt wirklich ein Paradies.“ „Und wie ist es da? Auch so wie Larissa sagt?“ „Ja. Genau so. Man kommt durch ein großes, goldenes Tor hinein und dahinter führen Wege zu den Dörfern und in einem davon wohnt deine Mutter in einem großen, schönen Haus mit einem großen Garten und einem Planschbecken, einem Sandkasten und mit einer weißen Katze, genau so einer, wie du sie immer haben wolltest. Und es gibt viele große Spielplätze, wo man auch Ponyreiten kann, und große Wiesen mit wunderschönen Blumen und Wälder mit vielen Tieren, die alle ganz lieb sind und mit Kindern spielen wollen. Und alles, was du dir wünschst, geht in Erfüllung.“ Ihre großen Augen versetzten mir einen weiteren Stich ins Herz. „Wirklich? Gibt es da auch einen Schokoladenbaum? Und Kakaoflüsse? Und Erdbeereisfelder?“ „Wenn du dir das wünschst, wirst du das bekommen. Dann kannst du die Schokolade von einem Baum direkt in eurem Garten essen.“ Ich hätte fast geschrien, als eine neue Welle Schmerz meine Seele überschwemmte. Nur der Gedanke daran, dass sie sorglos sterben sollte, gab mir die Kraft, ruhig zu bleiben. „Aber… was ist mit dir? Ich will nicht ohne dich da hin.“ Traurig und besorgt kuschelte sich Eva an meine Brust. „Ich komme auch bald nach. Du wirst sehen, die Zeit vergeht dort ganz schnell und ehe du dich versiehst, bin ich schon wieder bei dir und dann werden du, Mama und ich ein wunderschönes Leben zusammen führen.“ Ein leises Nicken kam von meinem Kind, ehe es die Augen schloss und sich an mich drückte. Immer fester zog ich sie an mich. Plötzlich schlug sie die Lider wieder auf, ihr Blick war wieder ängstlich. „Papa? Wird es wehtun?“ „Sterben? Nein, mein Schatz. Sterben tut nicht weh. Es ist wie Einschlafen, aber es geht leichter und schneller. Und Einschlafen tut doch auch nicht weh, oder?“ Erleichtert schüttelte sie den Kopf. „Wann kommst du denn, Papa? Ich will nicht zu lange ohne dich sein.“ „Bald, mein Engel, bald. Wenn du es dir wünschst, vergeht die Zeit dort so schnell, dass ich eine Woche später auch da bin. Eine Woche kannst du doch ohne mich leben, oder? Und Mama wird sich gut um dich kümmern. Sie liebt dich. Sie ist jetzt auch hier und will dir helfen. Du kannst sie nicht sehen, aber sie passt auf dich auf und das hat sie dein ganzes Leben lang getan.“ Der Kloß in meinem Hals wuchs ins Unermessliche. Wieder nickte sie nur, schloss lächelnd und glücklich die Augen.

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„Aber ich glaube, du musst jetzt gehen. Mama wartet schon auf dich, sie will dir dein neues Zuhause zeigen.“ Zärtlich drückte ich ihr einen letzten Kuss auf die Stirn, ein letztes Mal blinzelte sie mich an. „Bis bald, Papa. Ich hab dich lieb.“ „Ich dich auch, mein Engel. Mehr als alles andere auf der Welt.“ Ein letztes Mal sahen wir uns in die Augen, bevor sich ihre wieder schlossen. Langsam beruhigte sich ihre Atmung, ihr Körper entspannte sich in meinen Armen.

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Marvin Koltzsch Todgeist Zwei Straßen kreuzen sich im Nimmerland Die Rabentochter schreit verlass mich nicht Die Rabenmutter spricht ich hasse dich Am Vogelgalgen stürzt im Abendlicht mein Sinnloskörper tot in Finsternis und mit mir stirbt die Frage Gibt es dich?

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Vivian Kowatsch Erlöschendes Licht so jung und schön voller Leidenschaft erfüllt von Kraft doch das Ende naht schleicht sich an … die Unschuld heran so jung und schön so viel nicht geseh‘n so viel nicht erfahren doch das Ende naht überfällt die Schönheit erfüllt sie mit Leid ein geliebtes Kind Asche verstreut im Wind schneller als erwartet zu früh viel zu früh

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Susanne Laermann Wie die Zeit vergeht „Mama, Papa! Wie lange braucht ihr denn noch?“, Lilly sprang aufgeregt den Weg entlang, während ihre Eltern noch am Auto standen und ihre inzwischen stehen gebliebene Tochter mit schweren Schritten einholten. Lilly fiel auf, dass sie nicht wie sonst lächelten, sie hatten einen seltsamen Gesichtsausdruck, den Lilly noch nie zuvor auf ihren Gesichtern gesehen hatte. Die Tür ging auf, als die Familie sich dem Eingang näherte und den ungewohnten Geruch des Gebäudes einatmete. „Mama?“ „Ja, mein Schatz?“ „Warum riecht es hier so komisch?“ „Weil hier alles desinfiziert wird.“ „Was ist desuntifiert?“ „Desinfiziert heißt das. Wenn man etwas desinfiziert, tötet man die Bakterien und Viren darauf ab.“ „Was ist das?“ „Was? Bakterien und Viren?“ „Ja.“ „Das sind ganz kleine Lebewesen, die dafür sorgen können, dass du krank wirst.“ „So klein?“, Lilly zeigte mit ihrem Zeigefinger und Daumen die Größe eines Marienkäfers. Mama lächelte für einen Augenblick: „Nein, viel kleiner. So klein, dass du sie gar nicht sehen kannst.“ Lilly sah sie erstaunst an: „Ich kann sie gar nicht sehen?!“ Papa kam wieder und sagte eine Nummer, Lilly hatte gar nicht mitbekommen, dass er weg gewesen war. Die eben erlangte gute Laune der Mutter war auch schon wieder verschwunden, als sie zusammen mit ihrer Familie in den Aufzug stieg und ihre Hand in Richtung Schalter bewegte. „Oh, Mama! Ich will drücken!“ Die Mutter nahm die Hand weg und nickte ihrer Tochter zu. „Welche Zahl?“ Das Mädchen sah fragend ihre Eltern an. „Zwei.“, antwortete Papa. Mit einem Grinsen im Gesicht suchte Lilly den richtigen Knopf und drückte diesen, woraufhin der Aufzug sich in Bewegung setzte und Lilly aufgeregt auf und ab sprang. Papa legte eine Hand auf ihre Schulter und sah sie ernst an: „Schätzchen, sei bitte etwas ruhiger, okay?“ Seine Tochter wollte gerade ansetzen zu fragen warum, als sein Blick sie zum Schweigen brachte. Sie kamen in der richtigen Etage an, stiegen aus und gingen durch einen langen Gang mit vielen Türen. Ihre Schritte wurden langsamer und ruhiger, als ein Jugendlicher ihnen entgegen kam. „Mama?“ „Was ist Süße?“ „Warum hat der eine Glatze?“ Ihre Mutter schnappte nach Luft, als Lilly auf einen Krebspatienten zeigte. „Lilly, er ist krank. So etwas fragt man nicht.“ Ihr scharfer Ton ließ das Mädchen leicht erschrecken, so kannte sie ihre Mutter gar nicht. Leicht bedrückt fragte sie nicht weiter nach und blieb vor einer Tür stehen, als ihre Eltern dies ebenfalls taten. Mama atmete tief ein, dann öffnete sie die Tür nach einem kurzen Klopfen und Lilly stürmte in das Zimmer hinein. „Opa!“, glücklich rannte sie zu dem alten Mann, der auf einem Krankenbett lag und sie lachend in den Arm nahm. „Na, mein Schätzchen? Du bist aber schon wieder groß geworden.“ Lilly lachte, während Mama und Papa vor Opas Bett traten. „Opa, warum bist du eigentlich hier und nicht zu Hause?“ „Weil ich einen Herzinfarkt hatte.“ „Was ist das?“

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Opa deutete auf seine Brust. „Das ist, wenn das Herz nicht mehr so schlägt, wie es sollte, dann muss man ganz schnell ins Krankenhaus, damit die Ärzte es wieder ganz machen können.“ „Wow, aber du kommst doch morgen zu meinem Geburtstag, oder?“ „Klar doch, der Alte darf schließlich nicht auf einem sechsten Geburtstag fehlen.“ 12 Jahre später: Es war Lillys 18. Geburtstag, als sie früh morgens alleine aus dem Haus ging. Auch wenn sie an diesem Tag volljährig geworden war, dachte sie gar nicht daran, glücklich zu sein. Genau zwei Jahre war es nun her. Zwei Jahre, in denen sie zwar, um ehrlich zu sein, nicht nur getrauert hatte, aber zwei Jahre, die ihren Geburtstag in einen Trauertag verwandelt hatten. Sie starrte aus dem Fenster des Busses, als die Landschaft an ihr vorbei sauste. Als schließlich der Bus an ihrer Haltestelle hielt, stieg sie mit schweren und langsamen Schritten aus, blieb einen Moment stehen, bis der Bus an ihr vorbei gefahren war und ging den ihr viel zu bekannten Weg. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Sie wollte umdrehen und ihren Opa in die Arme schließen, aber das war nicht möglich, nie wieder. Inzwischen war sie schon an dem Grab angekommen, blieb einfach nur davor stehen und starrte auf den Grabstein. Sie wollte nicht, dass sie diesen Namen dort lesen konnte. Sie wollte nicht, dass diese beiden Daten da standen. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals und sie schaffte es nicht ihn, hinunterzuschlucken. Lilly schüttelte den Kopf: Wieso hatte so ein toller Mann sterben müssen? Wieso? Es gab so viele Arschlöcher auf dieser Welt, aber der liebevollste Mensch, den sie je kennengelernt hatte, war einfach so gestorben, anstatt zu ihrem 16. Geburtstag zu kommen. Nun war es doch dazu gekommen: Lilly konnte sich nicht mehr beherrschen und Tränen flossen über ihr Gesicht. „Hey... Alter, alles Gute zum Todestag, ich hoffe es geht dir gut.“

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Jana Lengwenus Ein ganz normaler Trauertag Leise Tränen aus dem Wolkenmeer Verhüllt im sanften Grau Wird geschleudert hin und her Lang vergang’n das schöne Blau Sie eilt davon geschwind Die Sehnsucht nach dem neuen Tag Nach dem heiligen Gottes Kind Ich nicht länger suchen mag Ein Messer schnitt mir tief ins Herz Verwundet von dem größten Feind Jeden Tag ein neuer Schmerz Gefoltert von der Einsamkeit Leise schlich ich durch den Flur Kann es beenden mit einem Schlag Doch heute ist es ja nur Ein ganz normaler Trauertag

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Jens Niedermaier Ich bin Ich, oder??

Ich bin der, der ich bin. Doch bin ich nicht… Wer bin ich?? Ich bin hier & da. Doch wenn nicht… Wo bin ich?? Ich kenne dich. Doch etwa nicht… Kennst du mich?? Ich bin Gott. Doch bin ich… Bin ich?? NEIN, ich bin der TOD. Ich kann sagen wer stirbt. Doch auch wer lebt. Willst du es wissen??

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Anna Paszehr Das Leben kommt wie die Flut; herangeweht mit dem Sturm der Freude, festgehalten mit den Strängen der Liebe. Erhalten durch das Licht der Lebenslust. Das Leben geht wie die Ebbe; entrissen den Händen der Liebenden, weggespült von den Wellen des Todes. Versunken in den Schatten des Ungewissen.

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Thea Radu Der letzte Flug Seine Finger schlossen sich enger um das kalte Geländer. Die letzten Nächte waren die Temperaturen immer weit unter den Nullpunkt gesunken und hatten alles gefrieren lassen. Selbst der große See, auf den man von hier einen guten Blick hatte, war zugefroren. Sein Atem bildete weiße Wölkchen in der Luft, und als er an sie dachte, verkrampften sich seine Hände. Die Knöchel traten weiß hervor und bildeten einen starken Kontrast zu den mittlerweile blau und rot angelaufenen Fingern. Doch die Kälte machte ihm nichts aus. Es war etwas anderes, das sein Herz gefrieren ließ. Noch vor wenigen Wochen, Tagen, sah es ganz anders aus. Da hatte es noch in Flammen gestanden vor Liebe. Immer wenn sie ihn aus ihren schokoladenbraunen Augen angesehen und so süß gelächelt hatte, dass sich Grübchen auf ihren Wangen bildeten. Sie war der Traum aller Jungen an seiner Schule. Die beiden hatten sich ein paarmal getroffen, im Kino, im Park und auf der Eisbahn, wo er sich endgültig in sie verliebt hatte. Wie sie ihre Pirouetten auf dem Eis gedreht und dabei so zart wie eine Elfe ausgesehen hatte. Die langen braunen Haare wirbelten dabei um sie herum, umhüllten sie regelrecht. Er schnaubte. Wie passend das doch war! In der Mitte der Eisbahn drehte sie sich um sich selbst. Weit weg und unantastbar für den Rest. Ihre Welt drehte sich um sie. Nicht nur er hatte sie angestarrt, nein. Er konnte die Blicke der anderen Jungs geradezu spüren, wie sie sie angestarrt hatten und der Sabber ihnen aus den Mundwinkeln getropft war. Dabei wollte er sie doch beeindrucken mit seinem Eishockeykönnen. Wie konnte er sich nur einbilden, sie könnte genauso fühlen? Nur zufällig hatte er erfahren, dass sein bester Freund sich ebenfalls mit ihr getroffen hatte. Was für ein Verräter! Er wusste, was er für das Mädchen fühlte. Heftig schüttelte er den Kopf. Zu viele Gedanken! Die Bilder strömten wieder auf ihn ein und brannten sich in seinen Kopf. Heute hatte er gesehen, wie die beiden sich küssten. Auf dem Pausenhof! In aller Öffentlichkeit! Vor seiner Nase! Erst war er wütend, wollte auf seinen Kumpel losgehen, aber dann überwog die Trauer, die Enttäuschung, der Schmerz. Um die Bilder zu verdrängen, presste er die Handballen auf die Augen, bis er weiße Punkte sah und sie widerwillig sinken ließ. Langsam klärte sich sein Blick und er konnte die Umgebung wieder erkennen. Die Wiese vor dem See war bedeckt mit Schnee. Selbst der Wald war vollkommen zugedeckt. Wie trügerisch dieser Schnee doch war! Weiß, die Unschuld selbst, bedeckte die dunkle Erde und ließ alles so friedlich aussehen. Man konnte nicht unter die Schicht blicken. Genauso wenig wie unter ihre alabasterfarbene Haut. Er hatte nie gewusst, was sie dachte… Dass sie ihm so etwas antun konnte. Langsam, ganz vorsichtig, als wären seine Glieder eingefroren, hob er erst das eine Bein und dann das andere über das Geländer, bis er sich nur noch mit den Händen daran festhielt. Seine Füße stützte er auf der Kante ab. Würde er loslassen, würde er fallen. Was machte dieses Leben noch lebenswert? Sein bester Freund hatte ihm eiskalt das Mädchen ausgespannt, für das er schon so lange schwärmte... Die große Liebe war doch nur eine einzige Lüge! Bis zum Boden waren es gut zwanzig Meter. Wenn er Glück hatte, würde er direkt sterben. Wenn nicht, würde er mit gebrochenen Gliedern dort liegen, bis sie ihn fanden oder er erfror. Man sagte, dass in den letzten sieben Sekunden, bevor man stirbt, das Leben an einem vorbei zieht wie ein Film. Gleich würde er wissen, ob das wirklich so war. In seinem Fall war es wohl ein sehr schlechter Film. Insgeheim hoffte er, dass jemand kommen und ihn aufhalten würde, aber als er sich umblickte, war das einzige Lebewesen eine Krähe, die vor ihm auf einer Baumkrone saß und ihn mit schief gelegtem Kopf anschaute. „Noch nie jemanden gesehen, der sich

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umbringen will?“, motzte er das Tier an und seine blauen Augen funkelten, wohl wissend, dass die Krähe ihn nicht verstehen konnte. Ein letztes Mal atmete er tief durch und schloss die Augen, kostete den süßen Duft des Lebens und ließ los. Mit ausgebreiteten Armen stürzte er dem Boden entgegen, wie ein Engel auf seinem letzten Flug. Der Aufprall rückte unweigerlich näher und er war bitter enttäuscht, als das einzige, was er sah, sie war, die am Fuß des Turmes stand und seinen Namen kreischte. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Zu spät.

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Stephanie M. J. Rodenbäck Kristall Tief in mir der eiserne Kristall Heraus des Blutes Schwall Tiefer, starker Schmerz Schnürt ab mein Herz Da kommt des Lebens Richter Der Todeswald wird dichter Entfliehe ihm, immer wieder Doch am Ende knie ich nieder Vor dem Schwarzen und dem Kalten. Todes Finger mein Leben halten Einsam kalt und leise stirbt, Modert weiter und verdirbt. Nicht gefunden und allein Wird meine Seel' auf ewig sein. Unerfochten leidend Herzen Kalt gestorben unter Kerzen. Entschlafen im Morgengrauen Ängstlich, Rehe um sich schauen Kalte feste schwarze Wut Gibt der Kindesseele Mut Unerkannte Todeskämpfe Erfüllt durch Schmerzes Krämpfe Laute Schreie, tiefer Schnitt Welche Qual ich litt Tiefe Spitzen In meinem Körper sitzen. Teufelsaugen, Teufelskrallen. Werd‘ ich blutend fallen, In die Tiefe, in die Schwärze Reiß ich mit die Kerze, Die mein Leben leuchtend machte, Als ich einst noch lachte, Kindesseele frei von Trauer Ungebaut die ew'ge Mauer Tränen, Wut gebrochen Herz Bin ich betäubt durch Schmerz

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Vanessa Schwarkow Der letzte Besuch

Und sie singen Vorbei, vorbei! mit hellen Stimmen.

Lass los, der Kampf ist vorüber. Gib auf und leg dich nieder.

Und ich verstehe.

Und sie singen Vorbei, vorbei! mit zarten Stimmen.

Bette dich ein und komm zur Ruh. Nicht lange und er wird kommen.

Und ich gehorche.

Und sie singen Vorbei, vorbei! mit leisen Stimmen.

Was einmal war ist nun vorbei, bereite dich vor auf das was kommt.

Und ich tue.

Und sie singen Auf Wiedersehen! mit freudigen Stimmen.

Tanzen leichten Schrittes im Kreise, summen ihre Melodien und decken mich zu.

Und ich warte.

Und da schreitet er schon heran,

von einem eisigen Luftzug begleitet, sein Haupt geheimnisvoll geneigt.

Da bist du also.

Will ihm in die Augen sehen,

ihn spüren. Ihn kennenlernen.

Und er küsst mich sanft auf die Stirn. Verschwindet und lässt mich alleine

in vollkommener Dunkelheit.

Alles verbleibt in Stille und Regungslosigkeit.

Kein Herzschlag, kein Atemzug.

Nur eine letzte Träne der Erleichterung sucht ihren Weg.

Und ich war.

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Sophie Laura Stahl Die Seele Ein Käfer war ich. Ein Igel. Ein Rind. Ein Vogel. Sogar ein Elefantenkind. So viele Tode gestorben, Dennoch immer präsent. Meine Vergangenheit reicht Jahrtausende zurück. Was ich suche? Das wahre Glück! Die Vollkommenheit, Freiheit, Ruhe! In so vielen Körpern gefangen Gibt es für mich nur ein Verlangen: Reiner werden von Leben zu Leben, Mein Nirwana zu erreichen ist das äußerste Bestreben.

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Lea Stenzel ein augenblick in jeder minute schwinden die sekunden formen sie erst kaum spürbar fließen sie durch hände die nicht greifen kaum fühlbar lassen sie uns zurück ohne zeit ohne genug zeit

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Yannik Triebel Lebenslauf (Dumm gelaufen)

Freunde, kommt, brecht alle auf!

Auf zum großen Hürdenlauf!

Jeder startet zeitversetzt. „Achtung – fertig – du kommst jetzt!“

Laut ertönt dein erster Schrei Und schon bist du life dabei!

Trommelherz und gut beschuht, stolperst du, wird prompt gebuht.

Loszusprinten bringt Applaus. Rot gesehen? Setz mal aus …

Ein paar Runden Zickzack-Trab.

Überwunden. Jetzt bergab! Sensenmann, zur Tat bereit,

grinst dich an, stoppt deine Zeit.

Leider hörst du erst im Ziel: „Sieger ist, der gern und viel Schlicht und einfach lächelte.

Nicht, wer schweißnass hechelte.“

„Schuld allein sind“, seufzt du tief, „nur die Geister, die ich rief!“

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Brinja Uphaus Lebensblume Nach außen hin schön Wie eine Blume, die noch lebt Doch sie vergeht So wie das Leben Nicht aus Alter Aus Angst und Trauer Und ihr Lebenswille erlischt Halb lebend und halb tot Das Mädchen wie die Blume Verwelkend Krank von dem Gefühl, allein zu sein Allein und ausgeblichen Die Tränen kommen Ihr Herz zerbricht Ein Loch nur bleibt Und Dunkelheit Der Tod hat sie umschlungen

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Rabea Jasmin Usling Der Mann im Café Ich traf den alten Mann im Café. Er winkte mich hinüber und ich setzte mich zu ihm. Ich war damals noch recht jung und neugierig. Er bestellte einen Kaffee, ganz schwarz, nein, doch besser zwei. Als der Kaffee kam, sah er in die dunkle Flüssigkeit, als sähe er darin Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft gleichzeitig. Dann seufzte er tief und setzte an: „Was sagst du zum Tod?“ Ich war baff. Man rechnet doch nicht mit sowas! Dass man sowas gefragt wird, das ist doch fast unverschämt! Ich starrte ihn an, zersprang innerlich fast. Der Tod... „Ehm, ehm, ich... ich...“, stotterte das kleine Mädchen. Er nickte. „Was würdest du sagen, wenn du bald sterben müsstest?“ Meine Naivität sorgte dafür, dass ich das Bedrohliche aus dem Satz nicht annähernd herauslas, sondern mit offenem Herzen einfühlsam fragte: „Müssen Sie bald sterben?“ Der Mann zog eine Augenbraue hoch. „Ich? Nein. Ich muss nicht mehr sterben.“ Ich grübelte. Der Kaffee vor mir wurde kalt. Ich trank nun mal keinen. „Was würdest du tun wollen, bevor du stirbst?“ – „Leben“, antwortete ich. Und er fragte, als ob er es nicht wüsste: „Was ist leben?“ „Naja“, begann ich zögernd, „leben ist, wenn dein Herz rast und du deinen Puls in den Ohren hörst. Wenn du einatmest und es sich anfühlt, als atmest du die ganze Welt ein. Leben ist...“ „Fühlst du jetzt gerade so?“, unterbrach er mich, „Spürst du den Puls in deinen Ohren? Rast dein Herz?“ Ich blickte zu Boden. „Nein“, gestand ich meine Niederlage ein. Dabei war die Antwort so gut gewesen! Ich ärgerte mich. „Aber du bist trotzdem nicht tot, oder?“ Die Fragen des Mannes klangen wie die eines Kindes, dabei hatte er das Antlitz eines Greises. Ich seufzte und starrte in den Kaffee. Was ist leben... Leben ist.... Leben ist nicht tot sein. Ah! „Leben ist nicht tot sein!“, meldete ich mich aus meinem gedanklichen Ausflug zurück. „Wann ist man tot?“, forderte er mich heraus. Ich zuckte zusammen. Ja, damit hatte ich nicht gerechnet. Der Tod hatte mich fest im Griff. „Warst du schon mal tot?“, bohrte er. „Weißt du, wie das ist?“ Irgendwas in seiner Frage faszinierte mich. „Siehst du“, sprach er weiter. „Wovor hast du dann solche Angst?“ Uff. Das hat gesessen. „Woher wissen Sie, dass ich Angst vorm Tod habe?“, fragte ich erschrocken. „Man sieht es dir an. Man merkt es daran, wie du mit dem Thema umgehst. Du hast dich nie damit beschäftigt, oder?“ „Nein.“, gab ich zurück. „Deshalb hast du Angst.“, er machte eine Pause und führte dann aus: „Jeder Mensch hat Angst vor dem, was ihm fremd ist, aber manchmal macht man die Erfahrung, dass das, wovor man so lange Angst hatte, das Beste ist, was einem passieren konnte. Kennst du solche Situationen?“ „Ich... ehm... aber Angst vorm Tod ist doch gut!“ „Was? Wieso? – Und ... für wen?“ Die Stirn des Mannes zog sich in Falten und die kleinen, blitzenden Augen erinnerten mich an meinen Großvater, der vor ein paar Jahren gest… Ich schluckte. „Naja, für die Menschen. Wenn alle sich auf den Tod freuten, würde niemand mehr leben wollen…“ „Du meinst, das Leben muss dem Tod das Image versauen, um nicht alle Kunden zu verlieren?“ „Ehm... ja.“ Er klang gar nicht wie ein alter Mann. Das ärgerte mich. Alte Menschen, hatte ich immer gedacht, haben eine leicht durchschaubare und einfache Weltsicht. Aber dieser

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Mann: Wieso machte er sich so viele Gedanken? Wenn alte Leute zuhause sitzen, dann gucken sie Fernsehen! Tat er das gar nicht? Dann käme er auch auf tiefsinnigere Themen als den Tod! In mir brodelte es. „Hm...“ Na, sprachlos, alter Mann?, dachte ich. „Aber wenn du lebst, tötest du doch immer.“ Ich atmete tief ein. Warum fragte der Alte mich das alles? Was interessierte es ihn, in die Gedankenwelt einer pubertierenden, nervtötenden Göre einzutreten, die sich eh nicht für den Tod interessierte, weil sie leben wollte? „Was tue ich? Ich töte niemanden!! Das wäre moralisch verwerflich.“ „Und was ist mit dem Käfer, auf den du trittst, wenn du gehst, um dich fortzubewegen, damit du überlebst? Mit der Mücke, die du einatmest, wenn du schläfst? Mit dem Kind in Afrika, das verhungert, weil du Fleisch isst? Mit dem Küken, das vergast wird, weil du Eier isst?“ Ich schluckte. „Ja, der Käfer... die Mücke... unfreiwillige Unfallopfer.“ Ich trank einen Schluck Kaffee. „Ha! Unfreiwillig!“ Ich zuckte merklich zusammen, was mehr an der Lautstärke, mit der er es sagte, als an der Bedeutung dessen, was er sagte, lag. Ich hatte nämlich keine Ahnung, was er wollte. „Unfreiwillig!“, wiederholte er. „Durch deine Existenz schränkst du die Freiheit deiner Mitlebewesen ein – bis zum Tod.“ Er sah mich eindringlich an. „Aber ich kann doch nichts dafür!“ „Es geht auch nicht um die Schuldfrage, sondern um die Tatsache. Du tötest, um zu leben. Jeder Mensch tut das.“ „Tiere auch!“ „Ich dachte immer, Menschen vergleichen sich ungern mit Tieren.“ Ich schluckte. Mist. Erwischt. Ich wartete. Er wartete. Die Uhr wartete. Der Kaffee starrte mich vorwurfsvoll an. Wieso hast du keine Antwort?! „Also... ist Leben Freiheit?“, fragte ich vorsichtig. Er lächelte. „Ich weiß es nicht. – Ist man tot, wenn man unfrei ist? Sind Menschen in Gefängnissen tot?“ Ich zögerte wieder. Jede Antwort musste gut überdacht sein... „Ich... würde sagen, ja. Wenn man tot ist, hat man keine Selbstbestimmung mehr... Und im Gefängnis.. stirbt man langsam: Isolation, Beziehungsferne, Einsamkeit...“ Ich zögerte. Er wartete. „Andererseits bedeutet der eigene Tod Freiheit für andere Existenzen... und vielleicht auch für sich selbst. Freiheit von Normen, Regeln, Grenzen.“ „...und Unfreiheit.“ „Ja, in Form von Trauer, Gedanken- und Erinnerungslosigkeit...“ Ich stockte... Makabererweise dachte ich an die beengten Verhältnisse eines Sarges. Er zog eine Augenbraue hoch. Ich hatte was gelernt. „Ist Sterben heilig oder unheilig?“ Ich wunderte mich über die Frage, worüber wollte der denn noch alles Fragen stellen! „Mord ist unheilig, denke ich. Aber ob Sterben unheilig ist... Ich würde sagen, dass Sterben... Moment; wann ist etwas heilig?“ „Hm. Heilig bedeutet doch sowas wie ‚von Gott berührt‘.“ „Ist Sterben unheilig? Ist Sterben gottgegeben?“ Ich überlegte. „Ich weiß nicht...“ „Ist Leben heilig?“

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„Ich denke schon. – Aber das muss nicht heißen, dass der Tod nicht heilig ist, oder? ... Wenn es unheilig ist, die Freiheit von jemandem einzuschränken, dann muss der Tod ja genauso unheilig sein, weil man dadurch auch die Freiheit eines anderen einschränkt.“ „Der Tod schränkt auch Freiheit ein.“ „Ja. Aber der Tod ist nunmal keine Person.“ „Was wenn doch?“ „Was ist dann?“ „Na, Himmel oder Hölle? Gut oder böse? – Ist Satan böse oder von Gott geschaffen? Ist Judas ein Verräter oder ein Wohltäter?“ Ich starrte ihn mit großen Augen an. „E...ein WOHLTÄTER?“, fragte ich zurück. „Naja, ich dachte, er hätte durch seinen Verrat Erlösung gebracht.“ „Das klingt, als wollten Sie sagen, dass Judas der eigentliche Erlöser ist.“ „‚Wahrlich ich sage euch: Einer unter euch wird mich verraten.’ – Vielleicht Mittel zum Zweck?“ „Himmel oder Hölle.. Gut oder böse... Uff.“ Ich hielt an. Ich hielt inne. Ich lief durch den Regen nach Hause. Gedanken rumorten in meinem Kopf... Gut? Böse? - Ein Weltbild auf dem Kopf gestellt... oder noch eher: Ausgelöscht. Tief in meine Gedankenwelt versunken, achtete ich nicht auf den Regen, der von oben auf mich klatschte. Ich ließ es regnen. Als ich zuhause ankam, trieften meine Klamotten und meine Haare. Ich streifte meine Kleidung von meinem Körper.

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Vanessa Usling Sieh der Wahrheit ins Gesicht…

Todesmale – Lebenszeichen

Sie saß mir genau gegenüber. Ich fragte mich, wie sie es hierher geschafft hatte, so schwach sah sie aus. Ihr schmales, blasses Gesicht mit den eingefallenen Wangenknochen war übersät mit Altersflecken und durchzogen von tiefen Falten. „Todesmale“, dachte ich. Sie hatte kleine Augen, die langsam und bedächtig umher sahen. Ihre alten, schwach wirkenden Hände griffen zitternd nach dem Henkel ihrer Teetasse und nur mit Mühe gelang es ihr, die verzierte Porzellantasse mit Goldrand langsam zum Mund zu führen. Bei jedem Schluck lief ihr ein bisschen Tee den rechten Mundwinkel hinab. Ich konnte von meinem Platz aus nicht erkennen, ob sie noch Zähne hatte, aber nachdem sie die Gabel in den Mund geführt hatte, wirkte es auf mich eher so, als würde sie jeden Bissen nicht kauen, sondern zerreiben, fast zermürben. Ich selbst brachte keinen Bissen mehr herunter, seitdem ich sie bemerkt hatte. Wie konnte sie sich noch aus dem Haus trauen? Obwohl es draußen spätsommerlich warm war, trug sie einen alten, löchrigen Wollpullover, in dem jede Andere entsetzlich geschwitzt hätte. Ich starrte sie so gebannt an, dass sie es merkte und mir direkt in die Augen blickte. Da lief mir ein Schauer über den Rücken. Als mich die alte Frau plötzlich so deutlich ansah, da schien ich selber so dazusitzen, alt und kraftlos, eingefallen und schon halb tot. Es war, als ob ich in einen Spiegel sehen und einen grausamen Blick in die Zukunft werfen würde. Ich ließ Kuchen und Kaffee stehen und ging ins Freie. Im Garten schnappte ich hastig frische Luft. Ich setze mich auf eine Bank und sah mich um. Mein Blick fiel auf einen noch jungen Kirschbaum, der bereits welke Blätter trug. „So jung…“, dachte ich und schüttelte den Kopf. Ich betrachtete den Baum noch eine Weile und dachte schließlich, dass ich gerade vor der ungeschminkten, nackten Wahrheit davongelaufen war. „Geh wieder hinein und schau die Greisin nochmal genau an! Es macht nichts, wenn es dir schaudert; das gehört zum Leben! Du bist so prüde, dass du die Wahrheit nur mit Make-up erträgst! Aber die Wahrheit ist eben hässlich!“, sagte ich mir und ging entschlossen hinein und setze mich auf meinen alten Platz, der Frau gegenüber. Mittlerweile hatte sich ein Mann neben die alte Frau gesetzt. Ich sah, wie sie ihm etwas erzählte. Vielleicht sprach sie von vergangenen Jahren, von schlechten und von guten Tagen, von abenteuerlichen und langweiligen Erlebnissen. Egal, an was sie sich erinnerte, der Mann hörte aufmerksam zu. Sie kam mir plötzlich gar nicht mehr so alt vor. Obwohl sie immer noch langsam und bedächtig sprach, war in ihren Augen ein lebendiges Flackern zu erkennen. Das Alter besitzt zwar keine leidenschaftliche, wilde, aber doch eine beruhigende, erfüllte Schönheit. Wieso war mir das eben nicht aufgefallen? Soviel hatte sie plötzlich zu erzählen, dass sie kaum pausierte. Ich konnte nicht verstehen, was sie sagte, aber ich begriff an diesem Tag so manches. Ich wollte nie wieder jemanden gering schätzen, weil er alt geworden ist, denn auch ich werde alt. Und wenn alte Menschen uns eines voraus haben, dann ist es Leben. Ich sah der alten Frau noch einmal in ihr schmales, blasses Gesicht mit den eingefallenen Wangenknochen und den Altersflecken und tiefen Falten. „Lebenszeichen“, dachte ich.

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Judith Vollmer Vergebung? Flügeltüren öffnen sich, dahinter ein Gang, am Ende Licht. Lampen flackern, spiegeln sich im Boden. Hastige Schritte hallen im Gang. Kalt und steril, der typische Geruch. Leicht vibriert der Boden, Türen fliegen vorbei, der Blick fliegt über die Nummern 408... 409... 410...411 Schritte verstummen, eine Hand auf der Klinke, ein tiefer Atemzug leichter Druck auf die Klinke Tür schwingt auf. Der Raum, weiß und leer schon fast steril ein schwaches Piepen, röchelnder Atem. Schritte zum Bett der Blick senkt sich blaue Augen starren in ein gebrochenes Gesicht ein leises Bitte verlässt die rissigen Lippen Augen voll Hoffnung Näher zum Bett die Knie stoßen an den Rand es hebt sich die Hand legt sich auf die Schulter die fast grauen Lippen verzogen zu einem leichtem Lächeln Danke

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Helena Wippermann Requiem in Weiß Ein letztes Lied will ich dir singen, den letzten Walzer für die Nacht. Ein Requiem zum Tanzen, Springen. Ich habe Geiger mitgebracht. Ich will nicht klagen, noch nicht leiden, dich halten bis zum Jüngsten Tag! Und wir malen Glückssonette auf den leeren Eichensarg. Hab Dank für Träume, Klänge, Farben, für Seelenleid und Liebesgruß. Ich werde dich im Herzen tragen, solang’ ich hier noch warten muss.

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Isabel Wittland Und ich dachte, es würde nie enden. Differenzen wurden ausgeräumt. Gedanken gereinigt. Tränen getrocknet. Doch die Zeit hat uns getrennt. Unwiderruflich! Und ich dachte, es würde nie enden.