Unwissen und Unfälle: Friedrich Dürrenmatts dramaturgisches Denken und das Gesetz der großen Zahl
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DALE ADAMS
University of Western Australia
Unwissen und Unfälle:
Friedrich Dürrenmatts dramaturgisches
Denken und das Gesetz der großen Zahl
I. Anarchie und Ordnung
In einem Interview von 1977 bezeichnet der Schweizer Dramatiker und
Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt eines seiner zentralen Motive, das Labyrinth,
als das, was ihn schon früh zur Erkenntnistheorie trieb (G 2: 220).1 Laut Rolf-Peter
Janz hat sich kein Autor “in den letzten Jahrzehnten so obsessiv mit dem Thema
Labyrinth beschäftigtwie Friedrich Dürrenmatt. [...]Man könnte sagen,daßdieser
rigorose Skeptiker im Labyrinth sein Weltmodell gefunden hat” (189). Als ein stets
mehrdeutiges Gleichnis für die Unübersichtlichkeit der Gegenwart repräsentiert es
nach Dürrenmatts eigener Formulierung nichts Geringeres als “das undurchschau-
bar gewordene Ich, die undurchschaubar gewordene Politik, die undurchschaubar
gewordene Technik, de[n] undurchschaubar gewordene[n] Kosmos” (G 3: 217). So
betont Monika Schmitz-Emans zu Recht, dass “der Terminus zum metaphori-
schen Synonym für verschiedenste Strukturen [wird], die so komplex sind, daß sie
sich einer intellektuellen Bewältigung entziehen. Die Welt ist ‘labyrinthisch’”
(532).
Ein solcher Komplex lässt sich nicht überblicken, geschweige denn abbilden,
zumal er sich in einem Prozess ständiger Ausweitung befindet. Das Labyrinthische
der Wirklichkeit spiegelt sich nicht nur in den Modellen der modernen Wissen-
schaft wider, sondern wird auch gleichzeitig von ihnen potenziert. “Ich glaube,”
erklärt der Schriftsteller, “daß die Wissenschaft, indem sie das Labyrinth nachbaut,
zu neuen Labyrinthen kommt. Sie steigert gewissermaßen das Labyrinthische” (G
3: 153). Parallel dazu beschreibt Dürrenmatt die Gegenwart wiederholt als
chaotisch. “Eine stabile Gesellschaftsordnung,” schreibt er, “ist noch nicht gefunden
worden. Es sei denn die chaotische” (WA 14: 165). “Ich lehne es ab,” heißt es
programmatisch, “das Allgemeine in einer Doktrin zu finden, ich nehme es als
Chaos hin” (WA 30: 63).
The German Quarterly 87.3 (Summer 2014) 313
©2014, American Association of Teachers of German
Nichtsdestoweniger spricht Dürrenmatt mehrmals auch von einem Gesetz, das
die Verhältnisse der Gegenwart wesentlich mitbestimmt. Zu Beginn seines 1977
verfassten Aufsatzfragments “Überlegungen zum Gesetz der großen Zahl—Ein
Versuch über die Zukunft” lesen wir:
Gesetz der großen Zahl: Wie in der Thermodynamik gewisse Gesetze erst auftreten,
wenn ‘sehr viele’ Moleküle beteiligt sind (Loschmidtsche Konstante: bei 0° Celsius und
einer Atmosphäre Druck enthalten 22415 cm3 eines idealen Gases 6.023 � 1023 Mole-
küle)—während die Bewegungen der einzelnen Moleküle dem Zufall unterworfen
sind—, so werden gewisse Gesetze erst bei ‘sehr vielen’ Menschen wirksam (Erdbevöl-
kerung 4 Milliarden) […].2 (WA 33: 108)
Der Schriftsteller bezieht sich hier auf die kinetische Gastheorie, in der sich makro-
skopische Größen wie Druck und Wärme durch die mikroskopischen Bewegungen
auf Molekularebene erklären lassen. Die Theorie besitzt, wie Pendlebury betont,
eine große ästhetische Anziehung: Aus den chaotischen Bewegungen unzähliger
Teilchen entstehen elegante Gesetze, die durch experimentelle Beobachtung mit
hoher Präzision bestätigt worden sind (viii). In ihrem Kern steht die Annahme, dass
die Geschwindigkeiten der einzelnen Moleküle im thermodynamischen Gleichge-
wicht normalverteilt sind—eine Annahme, die eine statistische Behandlung der
Molekülaggregate ermöglicht, trotz der Tatsache, dass die ungeheure Vielzahl der
einzelnen Teilchen und ihrer Kollisionen eine vollständige Systembeschreibung
undenkbar macht (siehe Pendlebury 6 ff., Krüger 375).
Obwohl Dürrenmatt behauptet, er habe “gefördert durch einen Freund” sich
während seiner Universitätszeit “intensiv mit der Physik befaßt” (G 4: 9), hat er nie
eine formale naturwissenschaftliche Ausbildung genossen. Das 1941 angefangene
Studium der Literaturwissenschaft und Philosophie in Bern und Zürich wurde
1946 abgebrochen, ohne dass eine geplante Dissertation zu Søren Kierkegaard
zustande gekommen ist. Seine fortdauernde Leidenschaft für die Fragestellungen
und Methoden der Physik und der Mathematik geht jedoch eindeutig aus Essays,
Vorträgen und Interviews hervor. In seinen Gesprächen betont er, immer wieder
den Kontakt zu Physikern gesucht (G 1: 217) und die Wissenschaft stets in sein
Denken einbezogen zu haben (G 2: 20).3 Wiederholt verkündet er, fast nur Philoso-
phisches und Naturwissenschaftliches zu lesen (G 2: 216, 222; G 3: 193, 109; G 4:
190). Rückblickend erklärt er, dass er “immer mehr zu der Einsicht gekommen” sei,
dass “eine moderne Philosophie ohne Kenntnis der exakten Wissenschaften, der
Errungenschaften auch der Mathematik” nicht möglich wäre (G 2: 286). Einerseits
geht es ihm darum, in einer Zeit, in der “die Mathematik, die Naturwissenschaften
und diePhilosophiederart ineinander verflochten sind,daßsichauch Laien mit die-
sem gordischen Knoten befassen müssen” (WA 33: 150), der wachsenden Isolation
der Fachexperten entgegenzuwirken. Andererseits wird ausdrücklich betont, dass
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die moderne Welt “ohne Beschäftigung mit der Wissenschaft” nicht “dramatur-
gisch in den Griff zu bekommen” wäre (G 4: 190).
Die Aussicht, in dem Gasmodell ein dramaturgisches Prinzip zu finden, scheint
auf den ersten Blick trotzdem nicht unbedingt vielversprechend. Eine Methodik,
die auf der Analyse der allgemeinen Eigenschaften einer Unzahl nicht direkt beo-
bachtbarer Teilchen beruht, scheint per definitionem unbrauchbar für die Bühne.
Zudem scheint die Vorstellung von berechenbarer Ordnung in der großen Zahl nur
schwer mit Dürrenmatts Labyrinth vereinbar. Wenn jedoch in Betracht gezogen
wird, dass das Gesetz der großen Zahl das Element und das Aggregat, das
Individuum und die Masse in ein Verhältnis setzt, deutet sich in dieser Wechsel-
wirkung eine Möglichkeit an, “unsere bedenkliche Welt” (WA 30: 58) mit den
Mitteln des Theaters darzustellen, ohne “den menschlichen Blickwinkel” aufzu-
geben (64).
Im Folgenden wird argumentiert, dass sich Dürrenmatts Reflexionen zum
Gesetz der großen Zahl dazu eignen, wesentliche Aspekte seines dramaturgischen
Denkens zu beleuchten und in Beziehung zu seinem Weltbild zu setzen. Der
Dramatiker war bestrebt, so die These, bestimmte Konsequenzen des Gesetzes der
großen Zahl weiter zu denken und für seine Dramaturgie fruchtbar zu machen. Im
Mittelpunkt stehen die Begriffe Unfall und Zufall. Unfall bezieht sich hier
vornehmlich auf das Katastrophenpotential äußerst komplexer, instabiler Systeme,
während der Zufall als Konsequenz der Unmöglichkeit aufgefasst wird, solche
Systeme überschauen zu können.
Im zweiten Abschnitt stelle ich die Grundzüge von Dürrenmatts Dramaturgie
vor und analysiere die spezifische Funktion, die dem Zufall zugeschrieben wird. Als
konkrete Beispiele dienen das Stück Die Physiker, von dem Dürrenmatt sagt, es
würde die Summe von Erfahrungen repräsentieren, die er aus vielen seiner früheren
Stücke bezogen hat (G 1: 147), und Der Mitmacher, in dem der Dramatiker nach
eigener Angabe ein “Übermaß an Zufall” (WA 14: 315) walten lässt. Im dritten
Abschnitt geht es im Besonderen um die Paradoxien von bestimmten
Mechanismen, die laut Dürrenmatt dann greifen, wenn Menschen in der Masse
interagieren, sowie um die Tatsache, dass auch Unwahrscheinliches in der großen
Zahl wahrscheinlich wird. Im vierten Abschnitt wird schließlich mit Rückgriff auf
einige der ersten Theorien, die die Anfälligkeit gesellschaftlicher und technologi-
scher Systeme thematisierten, eine spezifische dramaturgische Funktion analysiert,
die Dürrenmatt dem Zufallsprinzip zuweist: nämlich zielgerichtete Handlungen in
ihr Gegenteil zu wenden. Hier wird auch argumentiert, dass die dramaturgische
Rolle, die der Dramatiker dem Zufall zuschreibt, sich in vielen Aspekten mit
derjenigen deckt, die ihm später von Natur- und Sozialwissenschaftlern in der
modernen technologischen Gesellschaft eingeräumt wird.
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II. Zufall und Unwissen
Obwohl er stets die Bedeutung der Theaterpraxis hervorhebt und das eigene
Stückeschreiben als die Kunst “mit der Bühne zu dichten” auffasst (WA 30: 12),
ringt Dürrenmatt ebenfalls in einer Reihe theoretischer Texte, die vornehmlich
zwischen 1950 und 1970 entstanden sind, mit dem Problem, wie die moderne Welt
dramaturgisch zu fassen sei. Seine bekannteste Antwort auf die Frage, “wie die
Spiegel, diese Welt aufzufangen, beschaffen und wie sie geschliffen sein müssen”
(WA 30: 58), gibt er in “Theaterprobleme” (1954): “Uns kommt nur noch die
Komödie bei” (62). Hiermit verkündet er vor allem seine Überzeugung, dass die
Tragödie eine sichtbare, gestalteteWelt voraussetzt (60), in der Verantwortung und
Schuld eindeutig zu bestimmen wären (62), während das Komische und Paradoxe
Möglichkeiten bieten, “das Gestaltlose zu gestalten, das Chaotische zu formen”
(61).
Dies impliziert jedoch keineswegs, dass die Krisen der Gegenwart trivialisiert
werden sollen. Man könne auch “das Tragische aus der Komödie heraus erzielen,
hervorbringen als einen schrecklichen Moment, als einen sich öffnenden Abgrund”
(63), allerdings um den Preis der Erhabenheit. Eine solche Wirklichkeit wird nur
noch als groteskerlebt.Gerade darin sieht Dürrenmatt jedoch eine Möglichkeit, die
abstrakte Komplexität der modernen Welt sichtbar zu machen und die Zuschauer
ihr auszusetzen. Das Groteske an sich sei nämlich “ein sinnlicher Ausdruck, ein
sinnliches Paradox, die Gestalt nämlich einer Ungestalt, das Gesicht einer
gesichtslosen Welt” (62). Da das Groteske der modernen Wirklichkeit angehört,
setzt sich derjenige, der sich ihm aussetzt, der Wirklichkeit aus.
Die Tragödie fungiert in diesem Zusammenhang nicht primär als Gattungs-
begriff, sondern als Exponent eines Sinngefüges, das dem Menschen abhanden
gekommen ist, und Dürrenmatts Bekenntnis zur Komödie kann auch als Ausdruck
seiner erkenntnistheoretischen Auseinandersetzung mit der Komplexität der
Gegenwart betrachtet werden. Sein Hauptargument besteht darin, dass die Komö-
die von ihrem Wesen her kritische Distanz schafft. Einerseits entsteht solche
Distanz schon alleine dadurch, dass wir nur über etwas lachen können, wovon wir
uns distanzieren (148). Andererseits stellen die Komödie, die Parodie und auch das
Lachen an sich bewußte Trotzreaktionen gegen die Bedingtheiten des mensch-
lichen Lebens dar. Wie Dürrenmatt es formuliert: “Im Lachen manifestiert sich die
Freiheit des Menschen, im Weinen seine Notwendigkeit, wir haben heute die
Freiheit zu beweisen” (68). Vor allem wird jedoch dadurch Distanz von der
Annahme geschaffen, dass die Komödie ein schöpferisches Moment voraussetzt.
Dieses nennt Dürrenmatt den Einfall. Als freier Akt der Phantasie repräsentiert er
einerseits die Hinwendung zur reinen Fiktion, bei der die “Dramaturgie der
vorhandenen Stoffe” durch die “Dramaturgie der erfundenen Stoffe abgelöst” wird
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(68). Gleichzeitig weist er auf die Unmöglichkeit hin, alle Faktoren berücksichtigen
zu können, die einen beliebigen Vorfall bedingen, oder unendliche Kausalketten
darzustellen—ein Vorhaben, dessen Aussichtslosigkeit Dürrenmatt in “Sätze über
das Theater” mit der schlichten Aussage auf den Punkt bringt: “Alles
determinieren, heißt alles detaillieren” (WA 30: 200). Als Auftakt einer Handlung
ist der Einfall “vollkommen spontan, ich fabuliere drauflos. Das ist wie beim
Schach: in der Wahl der Eröffnung ist man völlig frei, dann determiniert die Partie
sich selbst mehr und mehr” (G 1: 205). Die Art, wie das Stück sich eigenständig
determiniert, bezeichnet Dürrenmatt auch als die “immanente Logik” des Stoffes
(WA 32: 68). In diesem Zusammenhang definiert er die Aufgabe des Dramatikers
dahin, dass er das beschreibe, “was wahrscheinlicherweise geschähe, wenn sich
unwahrscheinlicherweise etwas Bestimmtes ereignen würde” (WA 30: 207).
Diese Formulierung deutet schon auf eine weitere zentrale Eigenheit seines
dramaturgischen Denkens hin. Es handelt sich um die übergeordnete Bedeutung,
die dem Zufall beigemessen wird. Wie Ulrich Profitlich und Donald G. Daviau
gezeigt haben, gibt es kaum ein Werk Dürrenmatts, in dem der Zufall nicht seine
Wirkungskraft entfaltet.4 Wie Dürrenmatt betont, kommt (auch als Konsequenz
der Unmöglichkeit, alles restlos detaillieren zu können) auch das determinierteste
Drama nicht ohne den Zufall im weitesten Sinne aus (WA 30: 200). Er selbst
schreibt ihm jedoch bewußt und methodisch eine maßgebliche Rolle innerhalb der
immanenten Logik seiner Stücke zu. Dies wird prägnant (und provozierend) im
Anhang zu einer seiner bekanntesten Komödien artikuliert. In “21 Punkte zu den
‘Physikern’” heißt es (stark zusammengefasst), dass eine Geschichte erst dann zu
Ende gedacht sei, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen habe,
und dass diese nicht voraussehbar sei, sondern durch Zufall eintrete.5 Die Kunst des
Dramatikers bestehe darin, den Zufall möglichst wirksam einzusetzen und dies
werde gewährleistet, wenn er die Pläne rational vorgehender Menschen so durch-
kreuze, dass sie durch ihn das Gegenteil ihres Zieles erreichten (WA 7: 91–92).
In diesem Zusammenhang wirft Manfred Durzak die Frage auf, ob das Zufalls-
prinzip als “Element der subjektiven Willkür, einem Taschenspielertrick vergleich-
bar,” zu betrachten sei, “den der Autor einsetzt, um seiner Fabel die ‘schlimmst-
mögliche Wendung’ zu geben,” oder ob der Dramatiker vielmehr “eine andere,
verdeckte und von den Menschen verdrängte Gesetzmäßigkeit der Wirklichkeit
sichtbar [macht], die uns hoffnungslos stranden läßt mit allen Erklärungsmustern
und Rationalisierungsstrategien” (181 f.).
Im Folgenden tendiere ich zur zweiten Interpretation. Der Begriff Zufall
zeichnet sich gerade durch eine extreme Mehrdeutigkeit aus und wird in ver-
schiedenen Diskursen unterschiedlich verwendet. Dementsprechend kann keine
einzelne Deutung Anspruch auf Alleingültigkeit erheben, aber gerade in diesem
Zusammenhang scheinen Dürrenmatts Reflexionen zum Gesetz der großen Zahl
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nicht nur sein Bild einer ungeheuer verwickelten Welt sondern auch seine drama-
turgischen Prinzipien widerzuspiegeln.
In Die Physiker (1961)—“eine der klarsten Kompositionen Dürrenmatts”
(Knapp 94), in der Dürrenmatts Vorstellungen von der Geltung des Zufalls
vielleicht am konsequentesten umgesetzt werden—tritt nämlich die “schlimmst-
mögliche Wendung” einerseits durch die Tatsache ein, dass Möbius, der größte
Physiker aller Zeiten (WA 7: 64, 70), bei dem Versuch, sein Wissen zurückzu-
nehmen und seine gefährlichen Erkenntnisse nicht ausbeuten zu lassen, zufällig die
Klinik einer wahnsinnigen Irrenärztin als Zufluchtsort ausgesucht hat. Dass dieser
Zufall ihn am Ende in die aussichtslose Lage eines Gefangenen zu versetzen
vermag, während Mathilde von Zahnd die Weltherrschaft übernimmt, ist
allerdings die Konsequenz seiner sorgfältig durchdachten Pläne und Handlungen,
die die Sprengkraft seines eigenen Wissens unschädlich machen sollten.
“Wir sind drei Physiker,” verkündet Möbius an entscheidender Stelle. “Wir
müssen wissenschaftlich vorgehen. [...] Wir dürfen uns keinen Denkfehler leisten,
weil ein Fehlschluß zur Katastrophe führen müßte” (72). Bei dem Versuch, die
Verantwortung für seine gefährlichen Entdeckungen alleine zu übernehmen,
begeht er sogar einen Mord an einer Krankenschwester in der Überzeugung, nicht
anders handeln zu können, weil er sich im Besitz aller nötigen Informationen
wähnt. In einer komplexen Welt, so soll im Folgenden argumentiert werden,
zweifelt Dürrenmatt an der Möglichkeit des Einzelnen, jemals im Besitz
hinreichend umfassender und genauer Kenntnisse zu sein, um solche Voraussagen
und Entscheidungen verlässlich treffen zu können.
Möbius handelt logisch, folgert vernünftig, aber seine Annahmen—die derart
schlüssig zu sein scheinen, dass es ihm gelingt, zwei andere Physiker von ihrer
Gültigkeit zu überzeugen—stellen sich am Ende als fehlerhaft heraus. Eine dieser
Annahmen war es, alle Bedingungen seiner Situation zu kennen und alle relevanten
Faktoren berücksichtigen zu können, um damit seine Lage überschauen und
meistern zu können. Aber sein Unwissen manifestiert sich durch den Zufall, der ihn
in der Situation, die er aufgrund seiner Annahmen selbst geschaffen hat, endgültig
zu vernichten vermag.
In dem zwischen 1971 und 1973 entstandenen (und vielfach überarbeiteten)
Stück Der Mitmacher wird der Einsatz des Zufalls geradezu auf die Spitze
getrieben.6 Die Handlung setzt schon mit einer Zufallsbegegnung ein, als Doc
—wie Möbius ein großer Wissenschaftler, der Beachtenswertes auf dem Gebiet der
Biologie geleistethat—durch Zufall auf denGangsterchefBoss trifft (16), nachdem
er im Zuge einer Wirtschaftskrise Taxifahrer geworden ist. Somit wird er “in eine
Geschichte verstrickt” (15), in der er zum “Nekrodialytiker” wird, der Leichen
spurlos verschwinden lässt. Zufällig sind die Geschichten fast aller weiteren
Figuren—Erzeugnisse einer “chaotischen Welt” (162, 184)—ohne ihr Wissen
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miteinander verflochten. So trifft Doc zufällig Ann, die zufällig die Geliebte von
Boss ist (35 f.). “Umstände und Zufall” bringen ihn in Kontakt mit seinem Sohn
(46), Bill, der durch Zufall zum reichsten Mann des Landes geworden ist (57), und
das unterirdische Lager nur betreten kann, weil die Sicherheitsmaßnahmen zufällig
in diesem Moment gelockert wurden (181). Zufällig ist Cop, der die Fäden spinnt,
von Boss vor vielen Jahren im Krieg schwer verletzt worden.
Obwohl sie vielleicht nicht im gleichen Maße wie Möbius ein spezifisches Ziel
vor Augen haben, handeln sie im Rahmen verschiedener Lebensentwürfe, die ihren
Handlungen Sinn und Zweck verleihen sollen. So hofft zum Beispiel Bill, der den
Anarchismus zum Weltmodell erhebt, die Menschheit “durch permanente Kata-
strophen, durch künstlich erzeugte bösartige Zufälle als Ganzes zur Vernunft zu
bringen” (145), während Cop im Kampf mit Boss seinen eigenen Begriff der
Gerechtigkeit zu entwerfen sucht (198). Doc und Ann hoffen darauf, sich dem
Ganzen entziehen zu können. Der Zufall, aus dem “immer wieder Notwendigkeit
entsteht” (315), zeigt auf, wie es kein Entkommen aus ihrer Existenz als Mitmacher
gibt, und alles “mündet in die Korruption aller, ins Chaos” (195).
Im welchem Maße Dürrenmatt die Umsetzung dieses Prinzips zum Programm
macht— und vor allem welche Tragweite ihm für Dürrenmatts Konzeptualisierung
der Wirklichkeit zugeschrieben werden kann—wird auch in seinen epischen
Werken evident. Anzuführen wäre beispielsweise eine vielzitierte Stelle aus Das
Versprechen. Requiem auf den Kriminalroman (1958)—ein Roman, der nach Der
Richter und sein Henker (1952) und Der Verdacht (1953) durchaus als der
Schlussstein einer Art “Kriminalromantrilogie über die ausschlaggebende Rolle des
Zufalls in der Welt und im menschlichen Leben” betrachtet werden kann (Jambor
14). In dieser Passage, die sich gewissermaßen als Manifest von Dürrenmatts
Auseinandersetzung mit der Gattung lesen lässt, wirft ein ehemaliger Polizei-
kommandant einem Verfasser von Detektivgeschichten vor, er und seine Berufs-
genossen würden die Wahrheit stets “den dramaturgischen Regeln zum Fraße”
werfen (WA 23: 18). Während sie ihre Handlungen wie bei einem Schachspiel
logisch konstruieren wollten, verhalte sich “die Wirklichkeit” ganz anders:
Ein Geschehen kann schon allein deshalb nicht wie eine Rechnung aufgehen, weil wir
nie alle notwendigen Faktoren kennen, sondern nur einige wenige, meistens recht ne-
bensächliche. Auch spielt das Zufällige, Unberechenbare, Inkommensurable eine zu
große Rolle. Unsere Gesetze fußen nur auf Wahrscheinlichkeit, auf Statistik, nicht auf
Kausalität, treffen nur im allgemeinen zu, nicht im besonderen. (18 f.)
Die Art, wie Dürrenmatt hiermit gezielt die Konventionen der Kriminalliteratur
unterminiert, ist schon ausführlich in der Forschungsliteratur diskutiert worden.7
Der Zufall markiert hier jedoch auch eine spezifische Differenz zwischen den
“dramaturgischen Regeln” und der “Wirklichkeit”—jenen liegen Kohärenz und
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Übersichtlichkeit zugrunde, diese zeichnet sich gerade durch den unberechenbaren
Einfluss des Zufalls aus. Somit wird, so lässt sich behaupten, die Inszenierung des
Zufalls gleichsam zur Maßgabe der Inszenierung der Wirklichkeit im Theater.
Für Dürrenmatt sei die Welt nämlich für die Stückeschreiber zu kompliziert
geworden, so wie “der Mathematiker [David] Hilbert von den Physikern meinte,
die Physik sei eigentlich für sie zu schwer geworden”(WA 30: 174).). “Wir leben,”
schreibt er weiter, “in einer Welt der verlorenen Einheit, die nur immer teilweise zu
begreifen und nur immer teilweise darstellbar ist” (174). Die wesentliche Schwie-
rigkeit bringt der Dramatiker unmissverständlich auf den Punkt: “In unserer Welt
sind Ursachen und Wirkungen derart verfilzt, daß wir nicht genau festzustellen
vermögen, was wir bewirken. Auch exakte Kalkulationen führen zu ungewissen
Resultaten” (WA 33: 96). Diesem Weltbild gemäß müssen unerwartete Kon-
stellationen wegen der Unmöglichkeit, äußerst komplexe Zusammenhänge und
Wechselwirkungen überblicken zu können, der begrenzten menschlichen Per-
spektive notwendigerweise als Zufälle erscheinen. Eswird nicht geleugnet, dass eine
zum Teil unerbittliche Kausalität in den menschlichen Notlagen am Werke ist,
doch diese ist erst im Nachhinein (und dann nur teilweise) rekonstruierbar. Umge-
kehrt bedeutet dies, dass es gerade der Zufall ist, der garantiert, dass in Dürrenmatts
Dramaturgie der Kontakt zur Wirklichkeit stets aufrechterhalten wird. Mit ande-
ren Worten: Der Moment, in dem der Zufall in einer dramatischen Handlung die
Pläne rational vorgehender Menschen durchkreuzt, ist auch der Moment, in dem
die verwickelte Komplexität der modernen Welt anschaulich auf der Bühne in
Erscheinung tritt. In diesem Sinne ist es (paradoxerweise) gerade der mit der
subjektiven Wahrnehmung unlösbar verbundene Zufall, der die rein subjektive
Perspektive in dem Grad auflöst, als er das Subjekt mit der Unmenge externer
Einflüsse in Verbindung setzt, denen es permanent ausgesetzt ist. So erweist sich
der Zufall auch als eine Möglichkeit, eine Welt, die “größer denn der Mensch” ist
und somit zwangsläufig “bedrohliche Züge an[nimmt], die von einem Punkt
außerhalb nicht so bedrohlich wären” darzustellen, ohne das zu unternehmen, wozu
Dürrenmatt “kein Recht und keine Fähigkeit” empfindet, nämlich sich außerhalb
der Welt zu stellen (WA 30: 63).
III. Information und Kontrolle
Dürrenmatts Engführung von Zufall und Wirklichkeit könnte einerseits den
Indeterminismus der Quantenmechanik evozieren, zumal—wie Emter ausführlich
zeigt (218–70)—die Kernphysik für Dürrenmatt eine große Faszination besaß.8
Die Kerntheorie ist allerdings nur das vielleicht bekannteste Beispiel für die
Bedeutung, die Zufallsprozessen verschiedenster Art in der modernen Physik
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zukommt. Wie Gigerenzer und seine Mitverfasser in ihrer Diskussion verschie-
dener Formen des Determinismus betonen:
Dem Klischee zum Trotz ist nicht in erster Linie die Quantenmechanik für die Erosi-
on aller Varianten des Determinismus mit Ausnahme des metaphysischen Determi-
nismus verantwortlich, sondern sein Fundament wurde erschüttert durch die Vielfalt
wichtiger Anwendungen klassischer physikalischer Theorien auf komplexe und insta-
bile Phänomene. (308)
Hierzu gehört zum Beispiel das Prinzip der empfindlichen Abhängigkeit von
Anfangsbedingungen (auch bekannt unter dem populären Namen ‘Chaostheorie’)
und die damit verknüpfte Unmöglichkeit, Zustandsparameter hinreichend genau
berechnen zu können, um die Entwicklung einer Vielzahl von Prozessen verlässlich
vorauszusagen.9 Hier repräsentiert der Begriff Zufall keine prinzipielle Negierung
von Kausalität, sondern erscheint als eine Funktion elementaren Unwissens.
Ähnliches gilt für Dürrenmatts Beispiel der kinetischen Gastheorie.10 Auch hier
folgt aus der Tatsache, dass statistische Gesetze (wie Dürrenmatt es oben formu-
liert) auf Wahrscheinlichkeit und nicht auf Kausalität fußen, keineswegs, dass
keine kausalen Beziehungen existieren, sondern dass diese äußerst komplex sind,
sodass die dazugehörigen Bewegungen als chaotisch oder zufällig konzeptualisiert
werden müssen. Diese Tatsache spielt eine bedeutende Rolle in Dürrenmatts
eingangs zitiertem Aufsatz zum Gesetz der großen Zahl.
Obwohl Dürrenmatts explizite Ausführungen zu mathematischen und drama-
turgischen Prinzipien in diesem Aufsatz verhältnismäßig wenig Raum einnehmen,
reflektieren sie, so wird im Folgenden argumentiert, wichtige Aspekte von Dürren-
matts Gedanken nicht nur zur Wesensart der modernen Welt, sondern auch zur
Kapazitätder Bühne, diese widerzuspiegeln. Während der Dramatiker sich hier mit
spezifischen Themen wie der Schweizer Landesverteidigung, dem Marxismus und
dem Sozialstaat beschäftigt, geht es ihm (wie in vielen anderen Schriften auch)
immer wieder um die Paradoxien der Interaktionen binnen (und zwischen) mensch-
lichen Gemeinschaften. Zu diesen gehören—neben typischen Domänen quanti-
tativer Analyse wie der “ungeheuerliche[n] Anarchie” der Wirtschaft (WA 33: 109)
—die ambivalenten Beziehungen zwischen “der Welt des Wissens und der Welt der
Macht, zwischen Beschreibung und Entscheidung, zwischen ‘es gibt’ und ‘wir
müssen’” (4), die Alain Desrosières als wesentliche Triebfeder sowohl der Geschichte
der “statistischen Denkweise” als auch der “Politik der großen Zahlen” identifiziert.
Im gleichen Maße geht es dem Dichter jedoch auch um eine spezifische Spannung
zwischen Absicht und Ergebnis, die im Folgenden im Mittelpunkt stehen wird. Es
handelt sich um Verfahrensweisen und Strategien, die einerseits erst durch das Kalkül
der großen Zahl ermöglicht werden, sich andererseits gerade in der großen Zahl ins
Gegenteil wenden können.
ADAMS: Dürrenmatt 321
Dies wird bei einem Prinzip deutlich, das Dürrenmatt in seinem Aufsatz das
Primat der Gerechtigkeit vor der Freiheit nennt (WA 33: 108)—eine Problematik,
die er wiederholt anhand verschiedener Gleichnisse thematisiert.11 Hier wird sie
zunächst am Beispiel des Verkehrs erläutert. Wie Dürrenmatt es beschreibt, war die
Eisenbahn als Massenbeförderungsmittel vorerst primär der Gerechtigkeit
unterstellt, während das Auto im Zeichen der Freiheit des Einzelnen stand. Die
nachträgliche Forderung nach Gerechtigkeit in der Form des Rechts eines jeden,
einen eigenen (bezahlbaren) Wagen besitzen zu können, führt allerdings mit der
brisanten Zunahme der Anzahl von Autos und den damit verbundenen Regu-
lierungsproblemen dasPrimatderFreiheit ad absurdum.Der damit einhergehenden
“Massenmord und die Massenverstümmelungen auf den Straßen” (109), verbun-
den mit Problemen der Umweltverschmutzung und Energieversorgung, setzen
schließlich zunehmend das Prinzip der Gerechtigkeit außer Kraft.
Auch wenn gerade der Verkehr oft als das Paradigma eines Systems gilt, bei dem
durch die stochastische Analyse aggregierter individueller Handlungen (zum Bei-
spiel nach den Prinzipien derkinetischen Gastheorie)Gesetzeerkennbarwerden,12
scheinen Dürrenmatts Gedanken sich auf den ersten Blick lediglich auf die
“Überbevölkerung und deren künftige Folgen” zu beziehen (Tantow 212), wobei
ein “immense[r] Anstieg von Armut, Ressourcenknappheit, Hunger, Konkurrenz
und Umweltzerstörung” zu befürchten wäre (Buchholz 29). Mathematische und
dramaturgische Prinzipien werden jedoch explizit aufeinander bezogen, wenn es
darauf heißt:
Doch auch daran, daß sich die Pannen immer verheerender auswirken, läßt sich das
Gesetz der großen Zahl erkennen. Daß ich so viel vom Zufall rede, ist nicht ein drama-
turgischer Tick, unter dem ich leider nun einmal leide, ich trage nur dem Gesetz der
großen Zahl Rechnung. Dichterisch wäre das Schicksal ergiebiger, aber nicht dieses,
sondern der Zufall ist abzuschätzen. (WA 33: 110)
Als “Auslöser immer größerer Katastrophen,” heißt es weiter, sei der Zufall nun ein
“Kalkül der Wahrscheinlichkeit” und, da mit ihm “in Form von Pannen statistisch
zu rechnen ist,” seien immer größere Katastrophen vorauszusagen, unter anderem
“unermeßliche Unfälle im atomaren Bereich” (110).
Der hier hergestellte Zusammenhang von Zufall und dem Gesetz der großen
Zahl könnte zunächst etwas eigentümlich erscheinen. Der Ausdruck ‘Gesetz der
großen Zahl’ wurde 1835 von Siméon-Denis Poisson geprägt und auf die Beobach-
tung bezogen, dass man bei der enormen Anzahl von “Erscheinungen derselben Art
[...], welche von constanten und von unregelmäßig veränderlichen Ursachen
abhängen, die aber nicht progressiv veränderlich sind,” stabile Zahlenverhältnisse
findet (v). Heute wird das Gesetz zumeist auf das Prinzip der (schwachen oder
starken) stochastischen Konvergenz bezogen.13 Es ist allerdings offensichtlich, dass
322 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2014
Dürrenmatt an dieser Stelle das Gesetz viel weniger mit Stabilität assoziiert als mit
wachsender Anfälligkeit—mit einer Welt, in der zufällige Katastrophen wahr-
scheinlich sind. Am Ende drohe sogar “der Untergang der Menschheit,” die
“schlimmste Wendung,” die im Atomzeitalter eine technische Möglichkeit sei und
Dürrenmatt befürchten lässt, dass nicht genug Zeit zur Verfügung stehe, um unsere
politischen und ethischen Probleme zu lösen (WA 33: 117, 123).
Das Prinzip, das der Dramatiker hier geltend zu machen scheint, lässt sich
anhand seines Beispiels der kinetischen Gastheorie skizzieren. Hier gelten die
Bewegungen als zufällig und Maxwells Verteilungsgesetz kann keine konkreten
Aussagen über die Geschwindigkeit eines bestimmten Partikels machen, sondern
lediglich angeben, dass einige Werte wahrscheinlicher als andere sind (Goldman
116). Die gleichen probabilistischen Prinzipien geben jedoch an, dass die Wahr-
scheinlichkeit, wonach Werte, die als äußerst unwahrscheinlich gelten, überhaupt
nicht vorkommen, in der großen Zahl stets geringer wird. Mit anderen Worten: In
der sehr großen Zahl wird auch das sehr Unwahrscheinliche paradoxerweise immer
wahrscheinlicher. Oder wie Dürrenmatt das zugrundeliegende Prinzip spielerisch
darlegt: “Im Reiche des unwahrscheinlich Vielen ist unwahrscheinlich wenig
unwahrscheinlich viel” (WA 12: 195).14
Diese Formulierung stammt aus dem Nachwort zu seinem “Übungsstück für
Schauspieler,” Porträt eines Planeten (1970), in dem die menschliche Selbst-
zerfleischung im Lichte eines solaren Kataklysmus geschildert wird. Hier werden
mehrere Aspekte der großen Zahl thematisiert, unter anderem die Wahrschein-
lichkeit anderer bewohnter Planeten (als Funktion der geschätzten Anzahl
bewohnbarer Planeten) und die Wahrscheinlichkeit, dass diese durch das gleiche
astronomische Phänomen, dem sie ihre Existenz verdanken (Supernovae oder
explodierende Sterne), wieder zerstört werden. Das zweite Beispiel greift
Dürrenmatt auch im ersten Teil seiner Stoffe wieder auf. Es handelt sich um eine Art
Endzeitgeschichte, Der Winterkrieg in Tibet, in der ein Söldner nach dem dritten
Weltkrieg seine Geschichte in die Steinwand eines Stollenlabyrinths ritzt. Bei dem
Versuch, das Wesen der einzig gebliebenen Machtinstanz (der sogenannten
Verwaltung) darzustellen, wird ein Vergleich des Staates mit der Lebensdauer von
Sternen als “Institutionen von Atomen” zur ausgedehnten Metapher über den
Werdegang der Menschheit (WA 28: 102, 100–16). In beiden Texten geht es
(optimistisch) um die Feststellung, dass die Menschheit nicht nur eine Seltenheit,
sondern auch eine Chance repräsentiert, und (pessimistisch) um die Befürchtung,
dass sie ihr eigenes Ende auf eine ähnlich unvermeidliche Art herbeiführen könnte,
wie thermodynamische Prozesse langfristig zu Ungleichgewichtszuständen inner-
halb astronomischer Objekte führen. Die Darstellung ist allerdings notwendiger-
weise eine andere. In der Erzählung Winterkrieg wird der Entwicklungsweg von
Sternen von ihrer Entstehung aus interstellaren Gas- und Staubwolken bis zu ihrem
ADAMS: Dürrenmatt 323
Untergang nach dem Erlöschen ihrer thermonuklearen Verbrennungsvorgänge
detailliert dargelegt, unter Berücksichtigung mehrerer möglicher Szenarien, die
vornehmlich von der Sternenmasse abhängen. Aufgabe der Bühne ist es dagegen
(wie es im Porträt heißt), die Menschenwelt durch Schauspieler zu schildern (WA
12: 196). Dürrenmatt ist sich der Schwierigkeit bewusst, einen “gigantischen Stoff”
mit den Mitteln des Theaters darzustellen, und er nennt es eine “dramatische List”
(198), absichtlich nur wenige Szenen zu verwenden, bei denen die Verdampfung
der Gesellschaft als “ein Durcheinander von Handlungsmomenten” im Lichtblitz
der Sonnenexplosion als eine Art Momentaufnahme festgehalten wird (197).
Es ist in diesem Zusammenhang, so lautet hier die Argumentation, dass
Dürrenmatts Reflexionen zum Gesetz der großen Zahl und seine Gedanken dazu,
wie die moderne Wirklichkeit dramaturgisch zu fassen wäre, konvergieren.
Während die Konsequenzen der steigenden Komplexität der globalen Massen-
gesellschaft in Essays (oder Erzählungen wie Winterkrieg) diskursiv durchdacht
werden können, bietet der Zufall eine Möglichkeit, diese auf der Bühne—d.h. in
einer Handlung—in Erscheinung treten zu lassen. Indem er Unberechenbarkeit
denotiert, markiert er gleichzeitig die Gefangenheit des Individuums im Labyrinth
sowie die Tatsache, dass das Labyrinth selbst—als ein Netzwerk nicht unmittelbar
zu erkennender Beziehungen—ständig am Wachsen ist.
Wiederholt zieht in diesem Sinne Dürrenmatt Parallelen zwischen einem
explodierenden Weltall und einer explodierenden Menschheit—ein Hinweis
darauf, “wie sehr hinter unserem Erkennen und unserer Existenz das gleiche
Weltbild steht” (G 4: 78).15 Etwas Ähnliches fällt in mehreren Stücken auf. Zu
nennen wären zum Beispiel den Gesellschaftszerfall als Vorläufer zum Weltunter-
gang in Porträt eines Planeten, das Schwarze Loch als Ende der Dichterdämmerung
(1980) und (indirekter) die Gegenüberstellung vom Andromedanebel und der
Großstadt am Anfang von Ein Engel kommt nach Babylon (1953). Der Gedanke
steht auch im Mittelpunkt eines wichtigen Vortrags, den er 1979 zum hundertsten
Geburtstag Albert Einsteins an der ETH Zürich hielt. Vor die Herausforderung
gestellt, das Abenteuer und das Schicksal von Einsteins Denken nachzuzeichnen,
hilft ihm “ein Einfall, ein dramaturgischer Kniff” weiter, und Dürrenmatt greift
zum (gern verwendeten) Gleichnis eines Schachspiels (WA 33: 162).16 Er
kontrastiert zwei hypothetische Spiele: ein determiniertes, bei dem zwei
vollkommene Spieler die Schachfiguren beherrschen, und ein kausales, bei dem
die Figuren (im Rahmen der durch die Spielregeln gegebenen Möglichkeiten) ihre
Bewegungen selbst bestimmen. Im zweiten Fall fallen beide vollkommenen Spieler
zu einem Schiedsrichter zusammen, der das Spiel begutachtet und auf viel subtilere
Weise lenkt als zum Beispiel die “Göttergötzen der Urwelt” (153). Ein solcher
Schiedsrichter wäre etwa der persönliche Gott des Judentums und der “daraus
hervorgegangenen Religionen” (154), der im Zeitalter wissenschaftlicher
324 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2014
Naturforschung allerdings auf zwei Brettern gleichzeitig spielen lässt: “auf dem
Brett des Geistes und auf dem Brett der Natur, auf dem Brett der Freiheit und auf
dem Brett der Naturnotwendigkeit” (154). Das erste Brett sei in sich kausal, das
zweite an sich kausal (154). Für Dürrenmatt drückt sich in Einsteins Auffassung
einer durch die Intuition vermittelten Verbindung zwischen der Sinneserfahrung
und dem logischen System der Mathematik (160–63), seiner Bekenntnis zum Gott
Spinozas sowie seinem Beharren auf ein kontinuierliches physikalisches Weltbild
letztlich die Überzeugung aus (157, 169), einer fairen Partie ausgesetzt zu sein, die
Züge Gottes nachspielen zu können (164). Insofern als Einstein bewies, “daß es
keine einheitliche Methode geben kann,” war selbst vergeblichesRingen um eine ein-
heitliche Feldtheorie ein wichtiger Beitrag für die Physik (172), aber gegen seine
Vision einer kosmologischen Harmonie, führte sein Denken “zur Vision einer prästa-
biliertenExplosion, zueinemmonströsenauseinanderfegendenWeltall vollerSuper-
novae,Gravitationskollapse,Schwarzer Löcher, zu einem Universum derWeltunter-
gänge, das sich von Jahr zu Jahr unheimlicher, ja tückischer zeigt [...]” (170–71).
Analog dazu lebe der Mensch in einer instabilen, bedrohlich wirkenden Welt.
In der Sprache der Schachmetapher bedeutet dies, dass die Figuren, die jeweils mit
einigen Bewegungsmöglichkeiten ausgestattet sind, versuchen können, aus der
Erfahrung allmählich auf die Züge anderer zu schließen, aber
eine unvorstellbare Anzahl verschiedener Positionen ist möglich, eine Übersicht nur
hypothetisch anzunehmen, die Zufälle häufen sich ins Unermeßliche, die Fehler ins
Unglaubliche; eine Welt der Unglücksfälle und Katastrophen tritt an die Stelle eines
kausalen oder deterministischen Systems. Dieser Partie ist nur noch mit Wahrschein-
lichkeitsrechnungen beizukommen, mit Statistik. (WA 33: 166)
Das Gefühl sei dementsprechend verbreitet, wir würden eine “Katastrophenwelt”
aufbauen (G 4: 29). Dies ist die Wirklichkeit, die der Mensch ausgesetzt ist und in
der sich auch das Theaterbewähren muss. Wenn der Zufall, wie oben dargestellt, als
Bindeglied zwischen der Bühne und der Wirklichkeit konzeptualisiert wird, dann
bieten in diesemZusammenhangDürrenmattsReflexionenzum Gesetzdergroßen
Zahl auch eine Möglichkeit, die spezifische dramaturgische Funktion, die ihm in
“21 Punkte zu den ‘Physikern’” zugewiesen wird, nämlich rationale Strategien in ihr
Gegenteil umschlagen zu lassen, direkt mit der hier beschriebenen Vorstellung
einer Welt der “Unglücksfälle und Katastrophen” zu verbinden. Dies soll
abschließend anhand der beiden Begriffe Zufall und Unfall aufgezeigt werden.
IV. Unwissen und Unfälle
Die Grundlagen der heutigen mathematischen Statistik—als eine Sammlung
verwandter, vielseitig einsetzbarer Verfahren, um Verhältnisse zu erforschen, die
ADAMS: Dürrenmatt 325
sich aus einer Vielzahl äußerst variabeler Ereignisse zusammensetzen und von
vielen Faktoren abhängen—wurden zwischen 1890 und 1930 gelegt (Porter 3).
Ihnen ging aber eine lange Entwicklung voraus, in der die vornehmlich während der
Aufklärung entwickelten Techniken, die Richtlinien für das vernünftige Handeln
bereitstellen sollten, immer mehr auf Massenphänomene aller Art angewandt
wurden. Der damit verknüpfte Wandel im Welt- und Menschenbild wird von
Gigerenzer und seinen Koautoren auf den Punkt gebracht: “Die Wahrscheinlich-
keitstheoretiker des neunzehnten Jahrhunderts vollzogen die Wende von der
Rationalität der Wenigen zur Irrationalität der Vielen” (57). Dabei waren es oft
“konkrete Analogien,” anhand welcher “wahrscheinlichkeitstheoretische Begriffe
von einer Disziplin zur anderen gelangten” (Gigerenzer et al. 16). Bei dieser
konzeptuellen Adaptionund Mutation statistischerGedanken im Wechselspiel der
Beschreibung der Natur und der Beschreibung der Menschen hat Dürrenmatts
Vergleich der Prinzipien der kinetischen Gastheorie mit der menschlichen Gesell-
schaft Tradition. Die berühmte Glockenkurve, deren Geschichte sich weitgehend
mit derjenigen der statistischen Mathematik im neunzehnten Jahrhundert
gleichsetzen lässt und der Karl Pearson 1894 den Namen “Normalkurve” verlieh
(Porter 91, 13), stellte nämlich
zunächst die Wahrscheinlichkeit von Beobachtungsfehlern in der Astronomie dar,
dann die der “Abirrungen” der Natur vom l’homme moyen in der Soziologie, danach die
Wahrscheinlichkeit, daß anarchische einzelne Gasmoleküle ordnungsgemäße Kollek-
tiveigenschaften zeigen [...]. Am Ende stellte diese Kurve die Verteilung von fast allem
dar [...] und schüttelte folglich die speziellen Interpretationen ab, die aus ihren frühen
Anwendungen stammten [...]. (Gigerenzer et al. 16)
Die scheinbare Paradoxie, immer mehr Gesetzlichkeit auf Gebieten zu suchen, die
an sich zunehmend als zufallsbestimmt konzipiert wurden, formuliert Ian Hacking
als eine Frage der Information und Kontrolle: “This is not a question about some
sort of decay in knowledge or management. The erosion of determinism is not the
creation of disorder and ignorance—quite the contrary. [...] There is a seeming par-
adox: the more the indeterminism, the more the control” (2). Die Zähmung des
Zufalls, die der Titel seines einflussreichen Werkes The Taming of Chance (1990)
anspricht, impliziert keineswegs, dass der Zufall eliminiert worden wäre. Ganz im
Gegenteil: Die Geschichte, die verfolgt wird, besteht aus einer Dynamik, bei der er
immer weiter in einen Prozess der Steigerung der Information und der Kontrolle
assimiliert wird (141).
Wie in denvorigenAbschnittenangedeutet, stehtdie Fragevon Informationund
Kontrolle im gewissen Sinne auch im Mittelpunkt von Dürrenmatts Werk, aller-
dings als zentrales Problem. Trotz der unleugbaren Erfolge statistischer Verfahren
in den Naturwissenschaften, der Technik und den Wirtschaftswissenschaften, hebt
326 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2014
Dürrenmatt nicht nur die Anfälligkeit der modernen Welt warnend hervor,
sondern er weist auch auf die Kluft hin, die sich zwischen Absicht und Ergebnis
auftun kann. In diesem Sinne deuten sich in Dürrenmatts Diagnostik seiner Zeit
schon sehr früh viele der Symptome an, die gegen Ende seines Lebens in vielfältiger
Form Gegenstand verschiedener natur- und sozialwissenschaftlicher Theorien
werden sollten.
Zu nennen wären die Dynamiken jener “anderen Moderne,” für die Ulrich Beck
den Begriff Risikogesellschaft (1986) geprägt hat. Hierzu gehören die Beobachtung,
dass Reichtumsproduktion systematisch mit der Produktion von Risiken einher-
geht (Beck 25), die Wahrnehmung einer neuen Globalität (29) und die Fest-
stellung, dass der Umgang mit solchen Risiken oft politische Maßnahmen erfor-
dert, bei denen “der Ausnahmezustand zum Normalzustand zu werden [droht]”
(31). Becks zentraleThesevon der Selbstreflexivität des Modernisierungsprozesses,
die sich in der Logik der Risikoverteilung manifestiert, lässt sich selbstverständlich
nicht kurzerhand auf Dürrenmatt übertragen. Wenn jedoch der Soziologe
einleitend darauf hinweist, dass in der Katastrophe von Tschernobyl viele seiner
Argumente sich konkretisiert haben, unter anderem die “Nichtwahrnehmbarkeit
der Gefahren,” ihre “Wissensabhängigkeit” und “der Umschlag von Normalität in
Absurdität” (10–11), dann hätten diese Formulierungen auch Jahrzehnte früher
vom Schweizer Schriftsteller stammen können. Beide thematisieren sowohl das
Problem von Verantwortungszuweisungen als auch die Zwickmühle der Wissen-
schaften zwischen internem Spezialisierungsdrang und externer Inanspruchnah-
me. Während Beck aber Risiken verschiedenster Art behandelt (wie zum Beispiel
Umweltgefährdungen und Schadstoffverteilungen), hebt Dürrenmatt vor allem
diejenigen hervor, die sich auch als Unfälle oder Pannen interpretieren lassen. Wie
Beck betont,basieren solche Risikowahrnehmungen immer gleichzeitig auf mathe-
matischer Berechnung und individuellen oder gesellschaftlichen Interessen (39).
Beide Perspektiven fließen in Dürrenmatts Reflektionen zur großen Zahl
zusammen. Wie im dritten Abschnitt dargelegt, verteidigt sich der Dramatiker mit
dem Hinweis auf das Gesetz der großen Zahl gegen den (hypothetischen) Vorwurf,
seine Vorliebe für den Zufall wäre lediglich ein dramaturgischer Tick (WA 33:
110). Dürrenmatt verweist dabei auf die Tatsache, dass auch unwahrscheinliche
Vorfälle in der großen Zahl wahrscheinlich werden—sodass Katastrophen lang-
fristig zu erwarten sind, die mit der wachsenden Weltbevölkerung immer mehr
Menschenleben gefährden. Das mathematische Prinzip, das hier zum Ausdruck
kommt, nimmt jedoch noch verhängnisvollere Züge an, wenn es nicht auf die
Vorfälle selbst, sondern auf ihre möglichen Ursachen bezogen wird. Dieser
Gedanke wurde später auch zum Ausgangspunkt einer Theorie, die nach Charles
Perrow Normal Accident Theory genannt wird. Ihre wesentliche Prämisse wird von
John Downer auf den Punkt gebracht:
ADAMS: Dürrenmatt 327
This, in its most basic form, is NAT’s central insight: that trivial but irrepressible
irregularities—the background static of normal technological practice—when taken
together have inherent catastrophic potential. Underlying it is a deceptively simple
syllogism: that fateful (and fatal)“one-in-a-billion” coincidences are statistically probable in
systems where there are billions of opportunities for them to occur. (733)
“Normal” bedeutet hier keineswegs “belanglos.” Stattdessen geht es um Unfälle mit
horrendem Katastrophenpotential, die jeweils (d.h. in einer spezifischen Form)
selten vorkommen. Der Begriff bezieht sich auf einen Perspektivenwechsel von
menschlichen Unachtsamkeiten auf diejenigen systeminternen Faktoren, die
Unfälle verursachen können. Da diese nie restlos eliminierbar sind, repräsentieren
sie einen normalen Teil eines jeden Systems (Perrow 5). Mit der steigenden
Komplexität technologischer und sozialer Systeme werden allerdings solche
Unfälle auf lange Sicht unvermeidbar; mit der steigenden Anzahl solcher Systeme
werden sie auch auf kurze Sicht wahrscheinlich.
Perrow konzentriert sich auf Systeme, die sich durch Eigenschaften wie
interaktive Komplexität (75) und enge Kopplung kennzeichnen (89–90), die dazu
führen, dass unerwartete Störfälle im Zusammenspiel zu einer Eigendynamik mit
unkontrollierbaren Folgen führen können. Menschliche Fehlentscheidungen
spielen aber weiterhin eine bedeutende Rolle insofern, als indirekte Informations-
flüsse und unsichtbare Interaktionen Entscheidungsprozesse in Gang setzen
können, die angebracht und angemessen erscheinen, aber unter gegebenen
Umständen das Unglück entweder eskalieren lassen oder erst herbeiführen (82–84).
Somit sind Unfälle oft nicht nur unvorhersagbar, sondern auch (während sie
stattfinden) unverständlich (9). An diesem letzten Punkt setzt Downer an, um die
Theorie der Vorstellung von (normalen) epistemischen Unfällen zu erweitern. Diese
sind ebenfalls nicht voraussagbar und eine unvermeidliche Folge von Komplexität,
repräsentieren aber eine “emergente Eigenschaft” nicht der Systeme selbst (Downer
752), sondern der Wissensstrukturen, nach denen sie konstruiert werden. Auf den
einfachsten Begriff gebracht sind es Unfälle, die dadurch zustande kommen, dass
Systeme stets auf Annahmen beruhen, die sich als unzutreffend herausstellen
können, obwohl es (vor dem Unglück) sehr vernünftige Gründe gab, von solchen
Annahmen auszugehen (752). Da wir (um wieder Dürrenmatts Formulierung zu
verwenden) in einer Welt leben, in der wir es “nicht nur mit einer Explosion der
Bevölkerung, sondern auch mit einer Explosion des Wissens zu tun [haben]” (G 4:
37), greift das Gesetz der großen Zahl mit doppelter Unerbittlichkeit, da mit der
Zunahme an Wissen auch die Anzahl von Hypothesen, Interpretationen und
möglicherweise falschen Annahmen im gleichen Maße zunimmt.
Es ist in dieser Hinsicht, so soll zusammenfassend argumentiert werden, dass
Zufall, Unfall und Unwissen in Dürrenmatts dramaturgischem Denken sich
gegenseitig bedingen. Im Atomzeitalter nimmt schon allein die Vorstellung von
328 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2014
unvermeidlichen Störfällen mit einer gewissen Legitimation endzeitliche Dimen-
sionen an. Unter den Bedingungen des kalten Krieges, als es durchaus den Anschein
hatte, dass die Welt “nur noch ist, weil die Atombombe existiert: aus Furcht vor ihr”
(WA 30: 62), gilt das Gleiche für die Gefahr, dass politische Kalküle durch eine
einzige verkehrte Annahme ausgehebelt werden könnten. Das Prinzip handelt aber
auch im Allgemeinen von allen menschlichen Systemen oder Strategien, die auf ein
bestimmtes Ziel ausgerichtet sind. Vor allem dann, wenn das Ziel darin besteht,
etwas vorzubeugen, trifft es im Kern die Funktion derjenigen Zufälle, die (wie es
Dürrenmatt konzipiert) planmäßig vorgehende Menschen dadurch “am schlimm-
sten” zu treffen vermögen, indem sie das Gegenteil ihres Zieles herbeiführen: “Das,
was sie befürchteten, was sie zu vermeiden suchten” (WA 7: 92).
Dies zeigt sich besonders deutlich am Ende von Die Physiker—ein Stück, das
unter anderem den möglichen “Untergang der Menschheit” zum Inhalt hat (WA 7:
73). Wie im zweiten Abschnitt dargelegt, glaubt Möbius alle relevanten Faktoren
bei seinen sorgfältigen Plänen, die das Katastrophenpotential seiner eigenen
Entdeckungen entschärfen sollten, berücksichtigt zu haben. Die Tatsache, dass
eine einzige unvorhergesehene Wendung ihn in dieser Situation so vernichtend zu
treffen vermag, ist das Resultat der einzelnen Schritte, die er selbst unternommen
hat. Seine Annahmen stellen sich als mangelhaft heraus, das Unwissen ist geradezu
in seinen rationalen Entwürfen eingebaut, und der Zufall als Manifestation seines
Unwissens führt mit unerbittlicher Konsequenz die “schlimmstmögliche
Wendung” herbei: genau das, was er verhindern wollte.
Notes
ADAMS: Dürrenmatt 329
1 Im Folgenden wird nach der Werkausgabe (WA + Bandangabe) und Gespräche (G +
Bandangabe) zitiert. Von der enormen Bedeutung des Labyrinths für Dürrenmatts Denken
zeugen auch die einleitenden Gedanken zum ersten Band seiner Stoffe (WA 28), der 1990
unter dem Titel Labyrinth neu herausgegeben wurde.2 Insofern als die loschmidtsche Konstante “die Verbindung zwischen der Welt der
Atome und unserer makroskopischen Welt dar[stellt]” (Dransfeld, Kienle, und Kalvius 80),
spiegelt sie das Thema dieses Aufsatzes wider: das Verhältnis des Einzelnen zur Massen-
gesellschaft. Für den obigen Ausdruck wird heute oft der Name “Avogadro-Konstante”
verwendet, die die Anzahl von Molekülen in der Stoffmenge von einem Mol angibt (bei
einem idealen Gas ist diese Menge die obige 22415 cm3). Zuweilen wird die loschmidtsche
Konstante auch auf die Anzahl von Molekülen in einem Kubikzentimeter eines Gases
bezogen—mit einem heutigen Wert von ca. 2.687 x 1019. Zur Geschichte der Berechnung
beider Werte siehe Hawthorne Jr. (751–55).3 Hierzu gehörte auch der Nobelpreisträger Wolfgang Pauli (G 4: 10). Die vielen im
Quellennachweis zu seinem Einsteinvortrag aufgeführten wissenschaftlichen und mathe-
matischen Werke zeugen auch von seinem anhaltenden Interesse auf diesem Gebiet (WA
33: 202–03).
330 THE GERMAN QUARTERLY Summer 2014
4 Zu den Komödien, die besprochen werden, gehören unter anderem Ein Engel kommt
nach Babylon, Der Meteor, Die Ehe des Herrn Mississippi, Frank der Fünfte, Der Besuch der alten
Dame und Herkules und der Stall des Augias. Siehe Profitlich 262 ff. und Daviau 282 ff.5 Ein weiteres Beispiel dieser Verknüpfung wäre Dürrenmatts “Modell Scott” im
Anhang zu Die Wiedertäufer. Nachdem verschiedene mögliche Dramatisierungen der
Geschichte von Robert Falcon Scott durchgespielt wurden, heißt es hier, dass “[d]ie
schlimmstmögliche Wendung, die eine Geschichte nehmen kann, [...] die Wendung in die
Komödie [ist]” (WA 10: 128). Hier kommt sie dadurch zustande, dass der Südpolarforscher
sich zufällig bei der Expeditionsvorbereitung in einem Kühlraum einschließt und erfriert.6 Im ausgedehnten Nachwort beschäftigt sich Dürrenmatt auch mit dem Zufall in
verschiedenen wissenschaftlichenDisziplinen, imBesonderen derEvolutionstheorie und der
Astrophysik (siehe besonders WA 14: 144–50).7 Siehe zum Beispiel Knopfs Besprechung von Zufall und Notwendigkeit in Dürren-
matts Kriminalerzählungen (47–64). Zu seiner gezielten Subversion der sogenannten Fair-
Play-Regeln des klassischen Detektivromans siehe Tschimmel. Eine detaillierte Analyse von
Dürrenmatts ersten beiden Romanen und einen Überblick der Forschungszugänge bietet
Jambors Monografie.8Siehe dazu “Erzählung vom CERN” (WA 34: 143–50), “Kabbala der Physik” (WA 37:
136–44) und “Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit” (WA 32: 60–69). Eines der
Phänomene, dem sein Hauptinteresse zukommt (auch in Verbindung mit den Möglich-
keiten der dichterischen Sprache), ist die Tatsache, dass die Physik die Anschauung, das Bild,
zugunsten einer rein mathematischen Darstellung der Natur hat fallen lassen. Der Indeter-
minismus auf Quantenebene direkt auf die Vorgänge der makroskopischen Welt zu über-
tragen kann allerdings auch äußerst problematisch sein, wie Knopf deutlich hervorgehoben
hat (59–60).9 Vergleiche dazu auch Dale Adams (302–11).
10 Siehe dazu auch Mainzers Kapitel zu “Zufall und Thermodynamik,” in dem aus den
Prinzipien der statistischen Mechanik (“Zufall, Entropie und Gleichgewicht” 61–68)
diejenigen der nichtlinearen Dynamik abgeleitet werden (“Zufall, Chaos und Selbst-
organisation” 68–79).11 In “Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht” wird das Gleichnis eines
Passagierschiffesverwendet, um die “Notwendigkeit, gerecht zu sein,” zu bestätigen (WA33:
98). Allerdings werden auch hier unbeabsichtigte Folgen impliziert. “Je mächtiger,
komplizierter und unübersichtlicher” die erforderlichen Organisationen werden, desto mehr
werden sie zum Selbstzweck, auf Selbsterhaltung ausgerichtet (98–99). In “Auto- und
Eisenbahnstaaten” (WA 29: 131–44) wird das Problem zu einer Art geopolitischer Parabel
von zwei politischen Systemen, in denen jeweils die Prinzipien von Freiheit bzw. Gerech-
tigkeit zur Doktrin erhoben wurden. Gerade im Falle der Implementierung ideologischer
Dogmen zeige sich,dassFreiheit und Gerechtigkeit “komplementäreBegriffe” sind (144).12Als Begründer der sogenannten Kinetic Theory of Vehicular Traffic gelten Ilya Prigogine
und Robert Herman. Zur Geschichte der Entwicklung solcher Modelle siehe Herman
(199–212). Zur neueren Forschung siehe Schadschneider, Chowdhury, und Nishinari.13Poisson verstand die Proposition als die Verallgemeinerung eines Theorems, das schon
in Jakob Bernoullis Ars conjectandi (1713) formuliert wurde. Wie Porter betont, wurden
allerdings beide Sätze meistens historisch undifferenziert eingesetzt, um lediglich auf die
Regelmäßigkeit statistischer Aggregate hinzuweisen (12). Zu Poissons Gesetz siehe Hack-
ing (95–104). Zur Herleitung von Bernoullis Theorem und zur Geschichte des zentralen
ADAMS: Dürrenmatt 331
Grenzwertsatzes—der generische Name für eine Gruppe Theoreme, die angeben, unter
welchen Bedingungen eine standardisierte Summe unabhängiger Zufallsvariablen
normalverteilt ist—siehe William Adams (xi).14 Diese Tatsache—auf die menschliche Wahrnehmung von sogenannten Zufallsbege-
benheiten übertragen—haben Diaconis und Mosteller später auch das Gesetz der wirklich
großen Zahlen genannt: “[...] the law of truly large numbers [...] says that when enormous
numbers of events and people and their interactions cumulate over time, almost any outra-
geous event is bound to occur” (853).15 Siehe auch G 4: 44 und WA 14: 165.16 Als “Kampf, logisches Wagnis und Spiel” ist die Schachspielmetapher, wie Irmscher
zeigt, besonders geeignet, um “die Grundzüge von Dürrenmatts Dramaturgie und
‘komödiantischem Denken’ hervortreten [zu] lassen” (346), wobei zu Recht betont wird, dass
“der Dichter sich vor allem für jene Etappe des Spielverlaufs interessiert, in der die
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