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Technische Universität Berlin Fakultät I | Institut für Sprache und Kommunikation Fachgebiet Allgemeine Linguistik Sekretariat H42, Straße des 17. Juni 135, 10623 Berlin Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts (M.A.) zum Abschluss des Masterstudiengangs Sprache und Kommunikation Erstgutachterin: Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schwarz-Friesel Zweitgutachter: Dr. Simon Meier Jedem das Seine Von der Gerechtigkeitsformel zum Synonym von Massenmord? Eine korpuslinguistische Zeitungsanalyse einer nationalsozialistisch belasteten Phrase - eingereicht im Juni 2017 vorgelegt von Julian Gerlach (Matrikelnummer: 361761) Türkenstraße 21 13349 Berlin E-Mail: [email protected]

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Technische Universität Berlin

Fakultät I | Institut für Sprache und Kommunikation Fachgebiet Allgemeine Linguistik

Sekretariat H42, Straße des 17. Juni 135, 10623 Berlin

Masterarbeit zur Erlangung des akademischen Grades Master of Arts (M.A.)

zum Abschluss des Masterstudiengangs Sprache und Kommunikation

Erstgutachterin: Prof. Dr. Dr. h.c. Monika Schwarz-Friesel

Zweitgutachter: Dr. Simon Meier

Jedem das Seine

Von der Gerechtigkeitsformel zum Synonym von Massenmord?

Eine korpuslinguistische Zeitungsanalyse einer

nationalsozialistisch belasteten Phrase

-

eingereicht im Juni 2017

vorgelegt von Julian Gerlach (Matrikelnummer: 361761)

Türkenstraße 21 13349 Berlin

E-Mail: [email protected]

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Abstract

Diese Arbeit setzt sich kritisch mit der Verwendung nationalsozialistisch belasteter

Sprache im öffentlichen Diskurs auseinander. Grundlage hierfür ist die jahrtausendealte

Gerechtigkeitsformel suum cuique, zu Deutsch Jedem das Seine, die von den

Nationalsozialisten als zynische Inschrift am Innentor des Konzentrationslagers

Buchenwald angebracht wurde und bis heute für Leidtragende ein Sinnbild des

Nationalsozialismus darstellt.

Da die Phrase jedoch ebenfalls für Gerechtigkeit, Individualität oder Gleichheit stehen

kann und nicht zu den eindeutigen sprachlichen Pejorisierungsstrategien wie Zigeuner

oder Neger gehört, wird sie in Printmedien hochfrequent gebraucht. Weiterhin finden

sich zahlreiche Verwendungen der Phrase in der Werbebranche, um beispielsweise für

einen hohen Grad an Individualität zu werben. Es herrscht somit kein öffentlicher

Konsens darüber, wie mit diesem belasteten Ausdruck umgegangen werden soll. Die

Arbeit macht es sich zur Aufgabe, diese Ambivalenz genauer zu untersuchen und nach

weiteren Gründen zu forschen, warum eine nationalsozialistisch belastete Phrase

unbedarft weiterverwendet wird.

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Inhalt

1 Einleitung ................................................................................................................... 1

1.1 Thesen ................................................................................................................. 2

1.2 Vorgehen ............................................................................................................ 3

2 Forschungsstand ........................................................................................................ 4

2.1 Forschungsstand zur NS-Sprache ....................................................................... 4

2.2 Forschungsstand zu Jedem das Seine ................................................................. 6

2.3 Forschungsstand zur Kenntnis des Nationalsozialismus .................................... 8

3 Phraseologische Merkmale von Jedem das Seine.................................................... 10

4 Geschichte der Phrasen ........................................................................................... 13

4.1 Suum cuique in der Antike ................................................................................ 13

4.2 Suum cuique in der Neuzeit .............................................................................. 15

4.3 Jedem das Seine im deutschsprachigen Raum ................................................. 17

4.3.1 Jedem das Seine im Nationalsozialismus .................................................. 17

4.3.2 Jedem das Seine von 1945-1998 ............................................................... 18

5 Korpusanalyse .......................................................................................................... 21

5.1 Korpus ............................................................................................................... 21

5.1.1 Methodik ................................................................................................... 22

5.1.2 Zeitungen ................................................................................................... 24

5.1.3 Aufklärungsrate ......................................................................................... 25

5.1.4 Aufklärungsrate nach Zeitungen ............................................................... 26

5.1.5 Aufklärungsrate nach Jahren ..................................................................... 28

5.1.5.1 Das Jahr 1998 ..................................................................................... 29

5.1.5.2 Das Jahr 2001 ..................................................................................... 31

5.1.5.3 Das Jahr 2009 ..................................................................................... 33

5.1.5.4 Die Jahre 2014 und 2015 ................................................................... 34

5.1.5.5 Die kontrastiven Jahre ....................................................................... 35

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5.2 Thematische Domänen ..................................................................................... 36

5.2.1 Aufklärungsrate nach thematischen Domänen ........................................ 37

5.2.2 Funktionen von Phraseologismen ............................................................. 38

5.2.3 Die Domäne Sport ..................................................................................... 39

5.2.4 Die Domäne Werbung/Werbungsannoncen ............................................. 44

5.2.5 Die Domäne Politik .................................................................................... 49

5.2.6 Die Domäne Wirtschaft ............................................................................. 55

5.2.7 Die Domäne Bildung .................................................................................. 58

5.2.8 Ausgewählte Belege der restlichen Domänen .......................................... 62

5.2.9 Phraseologische Aspekte ........................................................................... 65

5.2.9.1 Definition als Geflügeltes Wort .......................................................... 65

5.2.9.2 Extension ............................................................................................ 67

5.2.10 Zusammenfassung der Verwendung in Domänen .................................... 69

5.2.10.1 Muster zur Bewältigung einer kommunikativen Aufgabe ................. 70

5.3 Metasprachliche Belege ................................................................................... 72

5.3.1 Die Domäne Buchenwald .......................................................................... 72

5.3.2 Sprachkritische Ansätze nach Verfehlungen ............................................. 74

5.3.3 Die Domäne Sprachkritik ........................................................................... 76

5.3.4 Metasprachliche Deutung der Phrase ....................................................... 82

6 Diskussion ................................................................................................................ 85

6.1 Zusammenfassung ............................................................................................ 88

6.2 Ausblick ............................................................................................................. 89

7 Literaturverzeichnis ................................................................................................. 91

8 Abbildungsverzeichnis ............................................................................................. 98

9 Tabellenverzeichnis ................................................................................................ 100

10 Selbständigkeitserklärung .................................................................................. 101

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1 Einleitung

„Alle Leute haben eben so ihre eigenen Ansichten und Vorlieben. Auch vergleichbare

Wendungen tragen dem Rechnung. So kann man auch sagen: "jeder, wie es ihm beliebt"

oder "jedem das Seine" - ein sehr altes ethisches Prinzip und geflügeltes Wort.“1

Jedem das Seine. Eine Phrase, die Toleranz predigt. Die es ermöglicht, jedem das zu

gewähren was ihm zusteht, das was er persönlich für richtig hält, das Seine eben. Dem

im obigen Zitat beschriebenen ethischen Prinzip wohnt jedoch noch ein weiterer

Kontext inne, der Teil dieser Arbeit ist. Im Zuge des Baus des Konzentrationslagers

Buchenwald wurde die Phrase am Innentor des Lagers angebracht, um die Insassen zu

verhöhnen und ihnen tagtäglich vor Augen zu führen, dass sie die an ihnen vollzogenen

Gräueltaten verdienen und die Nationalsozialisten legitim handeln. In der Phrase

spiegelt sich somit ein immenser Kontrast wider. Sie ist eine wünschenswerte

Gerechtigkeitsformel, nach welcher eine Gesellschaft leben sollte und zugleich ein

Synonym für das Leid von Millionen von Menschen und Massenmord.

Die beschriebene Ambivalenz ist Grundlage dieser Arbeit. Auf Basis von 1242 Belegen

der Phrase von deutschen und ausländischen Zeitungen soll erörtert werden, wie dieser

Bedeutungskontrast zustande kommt. Es soll dabei analog beantwortet werden, ob eine

unbedarfte Weiterverwendung der Phrase ohne Bezugnahme auf den

nationalsozialistischen Kontext gebilligt wird und ob sich hier womöglich Unterschiede

hinsichtlich Zeitungen, Ländern und thematischen Domänen finden lassen. Potenzielle

Veränderungen über Zeit können ebenfalls betrachtet werden, da die Belege von 1956

bis 2015 reichen. Die Arbeit bietet somit sowohl eine statistisch-quantitative Analyse

der Phrase als auch eine qualitative, die die Untersuchung von 82 Einzelbelegen

beinhaltet. Dass die Thematik außerdem ein hohes Maß an Kontroversität beinhaltet

und sich über mehrere Jahrtausende erstreckt, wird auch von KLENNER (2002:328)

erkannt. „Denn Jedem das Seine! ist ins Gerede gekommen. Sehr sogar, und mit

politischer Brisanz. Ein Schlagwort also, das Schlagzeilen macht. Auch das ist nicht das

Gängige, zumal dieses Schlagwort uralt und der Skandal brandneu ist.“ Die

1 Beleg aus der LEIPZIGER VOLKSZEITUNG vom 27.10.2011 zur Interpretation des Sprichworts Dem einen sin Uhl, dem anderen sin Nachtigall.

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Untersuchung der Phrase ist somit Bindeglied zwischen Linguistik, Gesellschaft, Politik

und Geschichte. Im Zentrum steht jedoch die Frage, wie eine unbedarfte

Weiterverwendung bei solch einer belasteten Phrase zustande kommen kann.

1.1 Thesen

Da Jedem das Seine trotz prominenter nationalsozialistischer Vergangenheit auch als ein

„durch keinen spezifischen geschichtlichen Kontext determinierte[n] Ausdruck“

(BRUNNSEN 2010:300) weiterverwendet wird, ist davon auszugehen, dass

1. Jedem das Seine nicht dem typischen NS-Vokabular entspricht. Deswegen ist der

nationalsozialistische Hintergrund größtenteils unbekannt

2. es außerhalb des Kontexts des Nationalsozialismus und der Gerechtigkeitsformel

weitere vielfältige Kontexte gibt, da die Phrase hochfrequent verwendet wird

und durch nichts „determiniert“ ist

3. die Phrase darauf basierend, dass sie nicht nur als Geflügeltes Wort verwendet

wird2, auch linguistisch betrachtet eine Mischform darstellt, welche dann auch

unterschiedliche Funktionen besitzt

4. sich die beschriebenen unterschiedlichen Funktionen durch eine vage Semantik

realisieren lassen, da das Seine unterspezifiziert ist

5. sich durch die Vagheit ein sprachliches Modell ergibt, welches universell auf

vielfältige Situationen eingesetzt werden kann

Während sich die beschriebenen Hypothesen auf Verwendungen der Phrase beziehen,

in denen sie semantisch wie funktional in den Kotext eingebunden ist, so ist die

Untersuchung der Belege, die sich metasprachlich auf die Phrase beziehen ebenfalls

interessant. Folgende Hypothesen werden hierfür angenommen:

1. Metasprachliche Belege beziehen sich zu einem Großteil auf den Kontext des

Nationalsozialismus

2. Es gibt keinen öffentlichen Konsens, wie mit der nationalsozialistisch belasteten

Phrase umgegangen werden soll

2 Da der Ausdruck zum Teil durch keinen geschichtlichen Kontext determiniert ist, muss es Verwendungsweisen geben, die sich nicht auf eine Definition als Geflügeltes Wort beziehen.

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3. Daher verfehlen sprachkritische Ansätze ihre Wirkung, da sie keine fundierte

Empfehlung abgeben können

4. Semantisch zeigt sich eine hohe Diskrepanz zwischen funktional eingebetteten

und metasprachlichen Belegen

1.2 Vorgehen

Zahlreiche Hypothesen zur Phrase Jedem das Seine können nicht nur mit der Analyse

des Korpus eingehender untersucht werden. Gleichzeitig ist eine ausführliche Einleitung

zum Forschungsstand und Geschichte der Phrase unabdingbar, um nachfolgend eine

geeignete Korpusanalyse durchführen zu können.

Daher widmet sich Kapitel 2 der Arbeit den verschiedenen Forschungsständen zur NS-

Sprache im Allgemeinen, zu Jedem das Seine sowie zur Kenntnis des Nationalsozialismus.

In diesen Kapiteln soll die Aufarbeitung des lexikalischen NS-Erbes betrachtet werden,

da einer adäquaten gesellschaftlichen Aufklärung sowohl eine Kenntnis der Phrase, eine

sprachliche Sensibilisierung sowie ein bewusster Umgang mit belasteter Sprache

einhergehen würde. Kapitel 3 befasst sich mit den phraseologischen Merkmalen von

Jedem das Seine. Ziel dieses Kapitels ist es, eine zutreffende terminologische Einordnung

der Phrase zu finden und die Hypothese der Mischform zu untersuchen. Kapitel 4

widmet sich der Entstehung, der Verwendung und dem Missbrauch der Phrase und

analysiert die knapp 2500 Jahre andauernde Geschichte einer Formel, die bis heute

unterschiedlich gedeutet wird. Dieses Kapitel ist Grundlage für die darauffolgende

Korpusanalyse und soll außerdem aufzeigen, dass die in den Hypothesen proklamierte

vielfältige Semantik der Phrase bereits in der Vergangenheit höchst prominent war.

Der Hauptteil dieser Arbeit, Kapitel 5, gliedert sich in drei große Abschnitte. Kapitel 5.1

befasst sich größtenteils mit der statistisch-quantitativen Analyse des Korpus und

betrachtet die Hypothese des fehlenden Konsenses zur Weiterverwendung von Jedem

das Seine. Als Quantifizierung des fehlenden Konsenses wird eine Aufklärungsrate

bestimmt, die die Belege danach gliedert, ob der nationalsozialistische Hintergrund

erwähnt wird oder nicht. Dieses Kapitel ist auch Grundlage für die Untersuchung der

sprachkritischen Ansätze (Kapitel 5.3.2 und 5.3.3).

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Kapitel 5.2 ist nach thematischen Domänen gegliedert und versucht anhand dieser

Domänen verschiedene pragmatische Funktionen der Phrase herauszuarbeiten, um die

Hypothese der Polyfunktionalität zu untersuchen. In Kapitel 5.3 werden darauffolgend

die metasprachlichen Belege betrachtet, um den nationalsozialistischen Kontext

genauer zu untersuchen. Schließlich erfolgt eine Einordnung der gewonnenen

Erkenntnisse in Kapitel 6.

2 Forschungsstand

2.1 Forschungsstand zur NS-Sprache

Das Jahr 1945 markiert das „Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft“ (STÖTZEL

1995¹:19) und somit eine „politisch wie auch sprachhistorisch bedeutsame Zäsur.“

Obgleich „die NS-Organisations- und Verwaltungswörter und der totalitäre

Radikalwortschatz nach dem Ende der NS-Diktatur größtenteils rasch außer Gebrauch

gekommen sind“ (VON POLENZ 1999:550), so gibt es doch manche Worte, die „sich so tief

eingefressen [haben], daß sie ein dauernder Besitz der deutschen Sprache zu werden

scheinen“ (KLEMPERER 2010:24). Einen wichtigen Grundstein zur Erforschung der NS-

Sprache im Osten Deutschlands legte der oben zitierte Victor Klemperer, der sich schon

1947 mit der nationalsozialistischen Sprache in seinem Buch Lingua Tertii Imperii3 –

Notizbuch eines Philologen auseinandersetzte.4 Die von ihm veröffentlichten Beiträge

im Buch stammen größtenteils aus der Zeit des Nationalsozialismus, in welchen er in

seinem Tagebuch festhält, dass die NS-Sprache den Menschen „in millionenfachen

Wiederholungen“ aufgezwungen wurde und die dadurch „mechanisch und unbewußt

übernommen wurde“ (KLEMPERER 2010:25). Obwohl (STÖTZEL 1995¹:19) eine Zäsur für

diese Zeit definiert, so hält SCHLOSSER (1995:208) doch fest, dass es eine sprachliche

Stunde Null nach 1945 nicht gab.5 Für die DDR stellt BOCHMANN (1991:86) fest, dass es

nach Klemperers Werk keine nennenswerten linguistischen Beiträge mehr zur NS-

Sprache gab und der Nationalsozialismus mit dem Faschismus gleichgesetzt wurde.

3 KLEMPERER (2010:19) wählt bewusst die Abkürzung LTI, um als „parodierende Spielerei“ auf die abkürzenden Bezeichnungen der Nazi-Zeit (BDM, HJ, DAF) zu referieren. STÖTZEL (1995²:356) beschreibt den Titel als „Geheimtitel“. 4 Zur Darstellung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der Phrase Jedem das Seine siehe Kap. 4.3.2. 5 Zu diesem Ergebnis kommt ebenfalls FALKENBERG (1989:6).

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Eine sprachkritische Auseinandersetzung mit der NS-Sprache in Westdeutschland wurde

insbesondere in der Zeitschrift Die Wandlung vorangetrieben. Zwischen 1945 und 1948

verfassten Dolf Sternberger, Gerhard Storz und Wilhelm E. Süskind verschiedene Artikel,

die sich mit dem rassistischen Radikalwortschatz auseinandersetzen. 1957 wurden diese

Artikel zusammengefasst und als Buch unter dem Namen Aus dem Wörterbuch des

Unmenschen veröffentlicht (STERNBERGER/STORZ/SÜSKIND 1968).6

Dass die beschriebenen Bücher ihre breite gesellschaftliche Wirkung bis 1960 jedoch

verfehlten, „lag vor allem an der in der Nachkriegszeit und den 1950er Jahren in ganz

Deutschland vorherrschenden Verdrängungsmentalität, die nach der Kapitulation aus

dem weit verbreiteten Bedürfnis nach Entlastung von der jüngsten Vergangenheit

entstanden war“ (BRUNNSEN 2010:302), sowie im „komplizierten Charakter des Mediums

Sprache“ (STÖTZEL 1995²:357).

Eine dezidierte „Weiterverwendungsdiskussion“ (STÖTZEL 1995²:356) setzte in den

1960er Jahren in Westdeutschland insbesondere durch Cornelia Berings 1964

erschienenes Buch „Vom ‘Abstammungsnachweis’ zum ‘Zuchtwart’: Vokabular des

Nationalsozialismus“ ein, welches konträr zu vorangegangenen Büchern „philologisch

abgesichert und quellenmäßig breiter angelegt“ (STÖTZEL 1995²:362) war und über 500

Wendungen der NS-Sprache darlegt (SCHMITZ-BERING 1998).7 Die Studentenbewegungen

der 1960er Jahre führten außerdem zu einer „Änderungen des öffentlichen Bewußtseins

und zur erhöhten Sensibilität gegenüber sprachlichen Benennungen“ (WENGELER

1995:384). Trotz dessen wurde die Sprache des Nationalsozialismus zur Zeit des Ost-

West-Konflikts instrumentalisiert, um damit jeweilige Kontrahenten zu diskreditieren.

Diese gängige Diffamierungsmethode manifestiert sich in sogenannten Nazi-

Vergleichen (EITZ/STÖTZEL 2007:489), welche trotz hoher Dichte an wissenschaftlichen

Arbeiten (u.a. PÉRENNEC (2008), SCHWARZ-FRIESEL (2013:197ff.), SCHWARZ-FRIESEL (2009)

SCHWARZ-FRIESEL/REINHARZ (2013:231ff./347ff.), STÖTZEL (1989), WETTE (2003)) auch heute

noch ein prominentes sprachliches Mittel sind, um zu denunzieren.8

6 1968 wurde das Buch nochmals um zehn Artikel erweitert und erneut veröffentlicht. VON POLENZ (1995:316) definiert die Beiträge jedoch als „undifferenzierte Breite allgemeiner Kulturkritik“, die ihre Wirkung verfehlten. 7 Dieses Buch wurde unter dem Namen Vokabular des Nationalsozialismus erweitert (SCHMITZ-BERING 1998). 8 Dass der NS-Vergleich ebenfalls durch Jedem das Seine realisiert werden kann, zeigt Kap. 4.3.2.

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Nach 1968 finden sich zahlreiche Werke, die sich kritisch mit der NS-Sprache

auseinandersetzten und diese auch kategorisierten. Gerade BRACKMANN/BIRKENHAUER

(1988) oder PÄTZOLD ET. AL (2002) weisen gegenüber den wesentlich prominenteren

Werken, Polenz‘ Deutsche Sprachgeschichte vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart

(1999), Thorsten Eitz‘ und Georg Stötzels Wörterbuch der Vergangenheitsbewältigung

(2007), STÖTZEL/WENGELER (1995) oder SCHMITZ-BERING (1998) einen entscheidenden

Vorteil für die gesellschaftliche Reflexion einer missbrauchten Phrase auf. Sie

thematisieren die Verwendung von Jedem das Seine im Nationalsozialismus, während

die anderen Arbeiten bedeutsamere Beispiele der Sprache des Nationalsozialismus

analysieren und Jedem das Seine außen vor lassen. Diese Feststellung kann als erster

Grund dafür gesehen werden, dass die gesellschaftliche Kenntnis zur Phrase

unbefriedigend ist und sie vielfältig eingesetzt wird. Weiterhin ist festzustellen, dass die

Aufarbeitung des lexikalischen NS-Erbes nach Ende des Nationalsozialismus bis in die

1970er Jahre größtenteils verdrängt wurde. Beide Erkenntnisse sind wichtige Faktoren

für die folgende Untersuchung der Phrase. In Kapitel 2.2 soll dargelegt werden, was

Jedem das Seine von anderen sprachlichen Zeugnissen der NS-Zeit unterscheidet.

2.2 Forschungsstand zu Jedem das Seine

Völlig konträr zu dieser gewachsenen Sensibilität mit der Sprache des

Nationalsozialismus entwickelte sich die Verwendung der Redewendung Jedem das

Seine. Sie kann konträr zu vielen anderen typischen Wendungen nicht pauschal „jenem

rassistischen Radikalwortschatz [zugeordnet werden], dessen Inventar — wie zum

Beispiel ‘Ariernachweis’9, ‘Blut und Boden’, ‘erblich Minderwertige’, ‘judenfrei’,

‘Untermensch’ oder ‘Zuchtwart’ — eindeutig und praktisch ausschließlich in der

nationalsozialistischen Ideologie verankert ist“ (BRUNNSEN 2010:309).10 Weiterhin gehört

die Phrase nicht zu den typischen Pejorisierungsstrategien der NS-Zeit, zu welchen

beispielsweise „vernegern“ oder „rassefremd“ zählen (BRUNNSEN: 2010:309). Die Phrase

dient ebenfalls nicht vorrangig der sprachlichen Diskriminierung, wie es beispielsweise

Stereotype oder negative Assoziationen tun (SCHWARZ-FRIESEL 2013:339ff.). Sie ist also

9 Die Anführungszeichen wurden ohne Abänderung aus den Originalzitaten entnommen. Daher sind die in den Zitaten verwendeten Anführungszeichen nicht konsistent. 10 Zur Geschichte der Phrase siehe Kapitel 4.

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nicht per se diffamierend aufzufassen. Jedem das Seine gehört viel eher einer vierten

Kategorie an, zu welcher u.a. auch das Lexem Euthanasie (vgl. FELDER 2009:13) zählen

könnte. Hiermit sind Lexeme oder Wendungen gemeint, die für das

nationalsozialistische System umgedeutet und missbraucht11 wurden und daher mit

dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht werden. Dass sich diese Verbindung

jedoch nicht zwangsläufig aufrechterhalten lässt, zeigt ein Beleg von

STERNBERGER/STORZ/SÜSKIND (1968:8). Sie schreiben: „Das Wort >>Lager<<, so harmlos es

einmal war und wieder werden mag, können wir doch auf Lebzeiten nicht mehr hören,

ohne an Auschwitz zu denken.“ Gleichzeitig existiert ein elementarer linguistischer

Unterscheid zwischen einem Lexem wie Euthanasie und der universell einsetzbaren

Phrase Jedem das Seine.12

Dass Jedem das Seine – auch konträr zu Arbeit macht frei – nicht zu den prominenten

Kategorien gehört, kann als ein weiterer Grund dafür angesehen werden, warum die

Phrase nicht zwangsläufig mit der NS-Zeit in Verbindung gebracht wird. Daher gleicht

die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Phrase eher einem Desiderat. Es

existieren jedoch einige Artikel, die diesem Umstand entgegenzuwirken versuchen.

Hierzu zählt u.a. HEYL (1998), der es sich aufgrund mehrmaliger Verfehlungen von

Werbetreibenden zur Aufgabe machte, über die Geschichte der Phrase aufzuklären oder

auch BRUNNSEN (2010:290), der festhält, dass es „bis heute [...] den Deutschen nicht

überzeugend gelungen [ist], einen verbindlichen gesellschaftlichen Konsens über den

angemessenen Umgang mit nationalsozialistisch belasteten Wörtern und Wendungen“

herzustellen. Gerade dieses Werk, wie auch der Aufsatz von KLENNER (2002) sind für die

vorliegende Arbeit von großer Bedeutung. Im nachfolgenden Kapitel sollen zwei weitere

Ursachen dargelegt werden, die die „ahistorisch profane“ (BRUNNSEN 2010:290)

Verwendung der Phrase begründen könnten.

11 Es existieren wissenschaftliche Überlegungen, die nicht zwangsläufig von einem Missbrauch der Phrase sprechen. So stellt beispielsweise Klenner fest, dass „die Meinungen, ob im Falle des KZ Buchenwald ein Gebrauch oder ein Mißbrauch des Schlagwortes vorliegt“ weit auseinandergehen (KLENNER 2002:331). 12 Zu linguistischen Merkmalen der Phrase siehe Kapitel 3.

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2.3 Forschungsstand zur Kenntnis des Nationalsozialismus

Will man die gesellschaftliche Sensibilität im Umgang mit NS-Sprache fördern, so ist es

von großer Bedeutung, dass eine prinzipielle Kenntnis des Nationalsozialismus

vorherrscht. Dass dies jedoch nicht zwangsläufig der Fall ist, zeigen verschiedene

Studien. So konnte Forsa im Auftrag des Magazins STERN (2012) herausfinden, dass

beispielsweise 21 Prozent der 18- bis 30-Jährigen den Begriff Auschwitz nicht einordnen

konnten.13 Wie AHLHEIM/HEGER (2002) in einer Studie mit 2200 Studierenden der

Universität Essen herausfinden konnten, verfügten 54 Prozent der Befragten über

lückenhaftes Faktenwissen zum Nationalsozialismus und Holocaust. 17 Prozent

verfügten gar über ein geringes Faktenwissen.14 Eine Studie des Forschungsverbandes

SED-Staat der Freien Universität Berlin von 2012 konnte außerdem festhalten, dass nur

etwa die Hälfte der befragten Schülerinnen und Schüler den Nationalsozialismus einer

Diktatur zuordnen würde.15 Immerhin 25 Prozent einer Forsa-Umfrage von 2007 sind

der Meinung, dass der Nationalsozialismus auch gute Seiten gehabt hat.16 Bei den

Hauptschulabsolventen waren es sogar 44 Prozent. Die dargelegten Fakten machen eine

Kenntnis der geschichtlichen Zäsur der Phrase Jedem das Seine sehr unwahrscheinlich.

Aus diesen Gegebenheiten folgt jedoch eine viel weitreichendere Konsequenz, die einen

dramatischen Einfluss auf die gesellschaftliche Aufklärung bezüglich des

Nationalsozialismus und respektive auch Jedem das Seine hat.

Betrachtet man die weiterführenden Ergebnisse der Studie von AHLHEIM/HEGER (2002),

so wird deutlich, dass 47 Prozent der Studierenden mit geringem Faktenwissen einen

„Schlussstrich“ hinter die nationalsozialistische Vergangenheit Deutschlands ziehen

wollen (vgl. Abbildung 1). Selbst bei Studierenden mit gutem Faktenwissen sind es

immer noch 29 Prozent. Bei der beschriebenen Forsa-Umfrage für den STERN (2012)

waren es gar 40 Prozent, die sich für einen Schlussstrich aussprachen.17

13 http://www.zeit.de/gesellschaft/2012-01/umfrage-auschwitz (zuletzt eingesehen am 19.03.2017). 14 Gestellte Fragen der Studie u.a.: Wann begann/endete der zweite Weltkrieg? Was passierte in der sogenannten Reichskristallnacht? Was wurde auf der Wannsee-Konferenz geplant? AHLHEIM/HEGER (2002:63). 15 http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/schueler-wissen-wenig-ueber-ddr-und-nationalsozialismus-a-841157.html (zuletzt eingesehen am 21.03.2017). 16 http://www.stern.de/politik/deutschland/stern-umfrage-hatte-die-ns-zeit-gute-seiten--3228902.html (zuletzt eingesehen am 21.03.2017). 17 In einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung von 2007 waren es sogar 57 Prozent (ZICK 2010:232).

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Abbildung 1: Ergebnisse der Studie zum Wissen über den Nationalsozialismus aus AHLHEIM/HEGER (2002:68).

„Die Schlussstrich-Forderung stützt sich dabei […] auf das Argument, lange genug sei der

Erinnerungs- und Gedenkpflicht genüge getan und es seien hinreichend finanzielle

Reparationen geleistet worden“ (SCHWARZ-FRIESEL/REINHARZ 2012:281). Während

Unwissenheit mit gesellschaftlicher Aufklärung, wissenschaftlichen Arbeiten und

medialer Sensibilisierung entgegenzuwirken wäre, verhält es sich bei der Forderung

nach einem Schlussstrich anders. Gerade weil ein adäquater Umgang mit NS-Sprache

Empathie erfordert – da der unbedarfte Gebrauch vieler Wendungen nicht strafbar ist –

wirkt sich eine „Überdrussmentalität“ (SCHWARZ-FRIESEL/REINHARZ 2012:282) gravierend

auf eine adäquate Erinnerungskultur aus. „Das Zurückweisen der Erinnerungskultur ist

gekoppelt an die Verweigerung eines emphatischen Gefühls: Keinerlei Verständnis wird

für das Bedürfnis der Opfer(nachkommen) gezeigt, die Erinnerung an den Holocaust

wachzuhalten“ (SCHWARZ-FRIESEL/REINHARZ 2012:282). Denn während bei einem Teil der

Gesellschaft „historische Erinnerung (etwa bei den Überlebenden) oder historisches

Bewusstsein und Sensibilität vorhanden [ist]“, und die Phrase Jedem das Seine

„unweigerlich Assoziationen an den nationalsozialistischen Terror wachrufen“ wird

(HEYL 1998:5), gibt es ebenfalls einen Teil, der „vom Trauma der Davongekommenen

nichts wissen will, eine[r] Auseinandersetzung mit dem Sprachgebrauch des

Nationalsozialismus“ (BRUNNSEN 2010:311) skeptisch gegenübersteht und einen

endgültigen Schlussstrich ziehen möchte. Gerade diese Gründe machen eine

angemessene Erinnerungskultur, die auch den Umgang mit Jedem das Seine beinhaltet,

so komplex und gesellschaftlich polarisierend.

Es zeigt sich, dass die eingangs proklamierte These zum Teil relativiert werden muss. Es

ist nicht nur die besondere Rolle von Jedem das Seine im Vergleich zu anderen

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sprachlichen Phänomenen der NS-Zeit (Kap. 2.2), die dafür sorgt, dass der

nationalsozialistische Hintergrund der Phrase größtenteils unbekannt ist. Es ist

weiterhin das Fehlen von wissenschaftlicher Aufklärung in der Nachkriegszeit (Kap. 2.1),

die Unwissenheit zum Nationalsozialismus im Allgemeinen und die Forderung nach

einem Ende der Erinnerungskultur, die eine Verwendung der Phrase in „ahistorisch

profaner Bedeutung“ (BRUNNSEN 2010:290) fördern. Betrachtet man Jedem das Seine aus

phraseologischer Sicht, so zeigen sich weitere markante Merkmale, die einen

universellen Einsatz in verschiedenen Kontexten ermöglichen und somit einen wichtigen

Anhaltspunkt für eine ahistorische Verwendung darstellen.

3 Phraseologische Merkmale von Jedem das Seine

Ein für die folgende Untersuchung wichtiger Faktor ist die Einordnung von Jedem das

Seine hinsichtlich phraseologischer Merkmale. PALM (1995:3) definiert die Wendung

eindeutig als Sprichwort und somit als Unterkategorie von Phraseologismen.18

Sprichwörter „sind in sich geschlossene Sätze, die durch kein lexikalisches Element an

den Kontext angeschlossen werden müssen“ (BURGER 2010:106). Insofern Jedem das

Seine als geschlossener Satz definiert wird, weist er eine syntaktische Irregularität auf,

da er einen verblosen Aufforderungssatz darstellt (PAUL 1995:134).19 Weiterhin ist

Jedem das Seine eine polylexikalisch feste Wortverbindung, die sowohl gebräuchlich20

als auch strukturell fest ist.21 BURGER (2010:37ff.) nimmt folgende Klassifikation für den

Gesamtbereich der Phraseologie vor (vgl. Abbildung 2).

18 U.a. FLEISCHER (1997:255) zählt Sprichwörter nicht zur Klasse der Phraseologismen: „Im Unterschied, zu Routineformeln und Phraseolexemen, die als Einheiten des Sprachsystems reproduziert werden, werden Sprichwörter als Texte zitiert“. 19 Im Korpus wird Jedem das Seine sowohl textwertig, satzwertig wie auch satzgliedwertig verwendet. 20 Das zeigen die zahlreichen Ergebnisse des Korpus. 21 Das wird ebenfalls durch die syntaktische Irregularität deutlich. Weitere phraseologische Merkmale wie Modifikation und Variation werden analog zur Analyse verschiedener Belege ab Kapitel 5.2 erörtert.

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Abbildung 2: Klassifikation der Phraseologie

Weil kommunikative Phraseologismen „bestimmte Aufgaben bei der Herstellung,

Definition, dem Vollzug oder der Beendigung kommunikativer Handlungen“ (BURGER

2010:36) besitzen, das Sprichwort hingegen als referentiell eingeordnet wird, zeigt sich

hier bereits die Problematik einer strikten Definition. Sprichwörter können nach KOLLER

(1977:52) ebenfalls „den Höhepunkt oder den Abschluß eines Gesprächs“ markieren

und nach LÜGER (1999:161) der Ablaufregulierung (z.B. Eröffnung oder

Zusammenfassung von Abschnitten)22 dienen. Sie haben somit oftmals eine

textlinguistische Funktion. Gerade für Jedem das Seine trifft das – wie in Kapitel 5.2.4

gezeigt wird – zu.

Referentiell-propositionale Phraseologismen sind „Aussagen über Objekte und

Vorgänge“, die satzwertig oder textwertig sind (BURGER 2010:37). LÜGER (1999:92)

hingegen definiert, dass Sprichwörter „in der Regel keine Verweise auf irgendwelche

Situationsfaktoren“ beinhalten. Die nachfolgende Analyse wird zeigen, dass Jedem das

Seine beide beschriebenen Definitionen bedienen kann. Ebenfalls konträr zu LÜGER

(1999:131) gliedert BURGER (2010:37ff.) satzwertige Phraseologismen nicht nach dem

Kriterium der Idiomatizität, sondern nach syntaktischen und textlinguistischen Kriterien.

Hieraus ergeben sich dann die Klassen feste Phrasen23 und topische Formeln. Topische

Formeln sind generalisierende Aussagen, die „auch ohne Verankerung in einem

spezifischen Kontext, einer spezifischen Situation verständlich sind“ (BURGER 2010:41).

22 Auch RÖHRICH/MIEDER (1977:81) erkennen in Sprichwörtern die Funktion der Zusammenfassung. 23 Sie beziehen sich durch deiktische/anaphorische Elemente direkt auf den Kontext.

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Sie können somit prinzipiell kontextfrei verstanden werden, wobei dies gerade für

Jedem das Seine, wie diese Arbeit zeigen wird, nicht immer gilt. Auch BURGER (2010:106)

relativiert dieses Merkmal zumindest in Teilen.

Betrachtet man die topischen Formeln weiter, so ergeben sich zwei Unterkategorien.

Gemeinplätze definieren keine neuen Erkenntnisse und haben einen tautologischen

Charakter. Zumindest PETERSEN (2017:45) erkennt dieses Merkmal in Jedem das Seine

basierend auf einer Definition als Gerechtigkeitsformel (vgl. Kap. 4.1). Linguistisch

betrachtet besteht jedoch ein Unterschied zwischen Gemeinplätzen wie Was sein muss,

muss sein und Jedem das Seine, da Jedem das Seine vielmehr die Form eines „All-Satzes“

aufweist, die nach BURGER (2010:106) charakteristisch für Sprichwörter sind und somit

einen generalisierenden Aspekt aufweisen.

Eine Definition als Sprichwort leuchtet somit durchaus ein. Verweist man jedoch mit der

Verwendung der Phrase beispielsweise auf Cicero oder Platon, so ist eine Definition als

Geflügeltes Wort ebenfalls möglich. Eine strikte Trennung zwischen Sprichwort und

Geflügeltem Wort wie LÜGER (1999:131)24 sie vornimmt, hat in der folgenden Analyse

keinen Mehrwert, da dieses Kriterium bei Jedem das Seine erst durch die explizite

Definition des Verfassers zum Tragen kommt und sich die Semantik der Phrase zum Teil

daraus erst ergibt.25 „Entscheidend ist jeweils, dass bei den Sprechern ein Bewusstsein

dafür vorhanden ist, dass der Ausdruck auf eine bestimmte […] Quelle zurückgeht“

(BURGER 2010:48). Das Kapitel 5.2.9.1 untersucht die Definition als Geflügeltes Wort

genauer.

Die Wendung Jedem das Seine kann somit sowohl als Phrase, Geflügeltes Wort wie auch

als Sprichwort definiert werden.26 Eine strikte Definition wäre für diese Untersuchung

nicht nur nicht förderlich, sondern sogar schädlich, da Jedem das Seine eine Mischform

ist, die je nach Situation heterogene Funktionen27 aufweist und auch von Verfassern zum

Teil kontrastiv gedeutet wird. Hierzu zählen insbesondere auch verschiedene

24 LÜGER geht nach dem Kriterium +/-belegbar vor. 25 Im Korpus liegen beide Verwendungsweisen vor. 26 STEIN (1995:45) liefert noch weitere potenzielle Bezeichnungen, die ebenfalls für Jedem das Seine gelten könnten (Redewendung, Redensart, formelhafte Wendung, Phraseologismus, vorgeformter Ausdruck, sprachliches Fertigteil, Routineformel usw.). Unter diesen Bezeichnungen subsumieren sich jedoch die bereits definierten Charakteristika. 27 Diese werden im weiteren Verlauf der Arbeit analog zu thematischen Domänen (ab Kapitel 5.2.3) genauer definiert.

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pragmatische Funktionen (KOLLER 1977:70ff., GRZYBEK 1984:225), die u.a. als „Warnung,

Überredung, Mahnung, Zurechtweisung, Feststellung, Charakterisierung […]“

(RÖHRICH/MIEDER 1977:81) gedeutet werden können und „eine bestimmte

Bewußtseinsänderung beim Rezipienten“ (GRZYBEK 1984:225) erzielen möchten.28 Ziel

dieser Arbeit ist es, diese hohe Variabilität einer Phrase hinsichtlich ihrer Funktion,

Semantik und metasprachlicher Deutung präzise darzustellen. Denn gerade aus der

vielfältigen Anwendbarkeit ergibt sich womöglich einer der Gründe, warum die Phrase

nicht nur im Kontext des Nationalsozialismus verwendet wird. „Doch ist ohnehin nicht

die Eindeutigkeit, sondern die Deutungsvielfalt intelligenter Sätze das Normale. Schon

deshalb, weil sich der geistige Gehalt eines Textes ohne dessen jeweiligen Kontext nicht

erschließen läßt“ (KLENNER 2002:327).

4 Geschichte der Phrasen

Für eine angemessene Untersuchung der Phrasen Jedem das Seine sowie dem

lateinischen Äquivalent suum cuique ist eine ausführliche geschichtliche Betrachtung

von großer Bedeutung. Nachfolgend soll erläutert werden, wo die jeweiligen Phrasen

ihren Ursprung haben, in welchem Kontext sie verwendet wurden und welche Semantik

ihnen zugewiesen werden kann.

4.1 Suum cuique in der Antike

Erste Spuren der Phrase finden sich bereits bei Platon in seinem Werk Politeia (Der Staat)

um etwa 370 v.Chr., in welchem er sich mit der Aushandlung von Gerechtigkeit

auseinandersetzt.29 In einem Gespräch zwischen Glaukon und Sokrates definiert

Sokrates Gerechtigkeit wie folgt: „[…] Gerechtigkeit sei, daß jeder das Eigene und das

Seinige hat und tut“ (PLATON 2016:155/433e). Nach BRUNNSEN (2010:295) bedeutet das,

dass jeder „die seinen Fähigkeiten und Lebensumständen gemäße Rolle im Staat spielt.“

Schon in dieser Definition zeigt sich die individuelle Auslegungsmöglichkeit der Phrase,

da HÄRLE (2011:56) anmerkt, dass während Gerechtigkeit „in der Philosophie vor und

nach Platon […] definiert worden war als die Tugend, durch die jedem zuteilwird, was

28 Zur Funktion von Phraseologismen im Allgemeinen siehe Kapitel 5.2.2.

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ihm zusteht („suum cuique“), sagt Platon, Gerechtigkeit bestehe darin, dass jeder das

Seinige tut“. Jeder soll also das tun, „wozu er von Natur besonders veranlagt sei“ (PLATON

2016:154/433a). Platon definiert somit konträr zu anderen Gerechtigkeitsdefinitionen

eine aktive Rolle des Menschen, in welcher er sich auch selbst verwirklichen kann.

Obwohl die lateinische Phrase suum cuique freilich nicht in der griechischen Antike

verwendet wurde, zeigt sich doch, dass die bei Platon definierte

Gerechtigkeitsinterpretation Grundlage für nachfolgende Auslegungen war. So

konkretisierte Cicero in seiner Schrift De Officiis (von den Pflichten) die Aushandlung von

Gerechtigkeit mit den Worten suum cuique, um zu beschreiben, was moralisches

Handeln ist. „Mit dem Einsatz für die menschliche Gemeinschaft, der Bereitschaft,

jedem Einzelnen das zuzuteilen, was ihm zukommt […]“ (CICERO 2008:21/1, 15).30 Cicero

beschreibt somit außerdem die aktive Rolle des Staates, welcher es sich zur Aufgabe

machen solle, jedem etwas zuzuteilen. Fälschlicherweise verweisen sowohl LAUTERBACH

(2002:385) als auch BRUNNSEN (2010:296) auf Kapitel 2431 des ersten Buches (Liber

primus) von Cicero mit dem Wortlaut: „iustitiam, suum cuique tribuit, alienum non

vindicat, utilitatem propriam negle(i)git ut communem aequitatem custodiat“ (AMBROSE

2002:184). Dieser Satz stammt jedoch von Ambrosius, einem Bischof aus Mailand, und

ist in seinem gleichnamigen Werk erschienen, welches jedoch lediglich eine

Nachahmung von Ciceros Schriften ist.

Basierend auf Ciceros Definition verfasste der oströmische Kaiser Justinian I. 533 n. Chr.

in seiner Sammlung bürgerlichen Rechts (Corpus Iuris Civilis) den Satz „iustitia est

constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuens“32 (JUSTINIAN I. 1997:1/ Inst.

1,1,0). Gerechtigkeit ist demnach „der unwandelbare und dauerhafte Wille, jedem sein

Recht zu gewähren.“ Die Gebote des Rechts sind nach Justinian I. folgende: „Ehrenhaft

leben, niemanden verletzen, jedem das Seine gewähren“ (JUSTINIAN I. 1997:1/Inst.

30 Übersetzung: „in hominum societate tuenda tribuendoque suum cuique et rerum contractarum fide“

(CICERO 2008:20/1, 15). 31 In Kapitel 24 ist jedoch folgendes vermerkt: „Atque illae quidem iniuriae, quae nocendi causa de industria inferuntur, saepe a metu proficiscuntur, cum is, qui nocere alteri cogitat, timet, ne, nisi id fecerit, ipse aliquo afficiatur incommodo. Maximam autem partem ad iniuriam faciendam aggrediuntur, ut adipsicantur ea, quae concupiverunt; in quo vitio latissime patet avaritia“ (CICERO 2008:26). 32 KLENNER (2002:328) weist die Formel suum cuique Ulpian zu. HÄRLE (2011:369) stellt fest, dass „die vielerorts zu lesende Behauptung, die Formel „suum cuique“ stamme von Ulpian, falsch ist“.

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1,1,3)33. Konträr zu Cicero und Platon werden bei Justinian I. die Rechte des Einzelnen

gegenüber dem Staat definiert (BRUNNSEN 2010:296). Gerade auch deshalb beschreibt

VON DER PFORDTEN (2013:25) die Texte Justinians I. als „einflussreichste Rechtssammlung

des Abendlandes.“ KLENNER (2002:327) geht so weit, dass suum cuique lediglich zum

„Schlagwort“ geworden ist, weil Justinian I. die Phrase als „Rechts- und

Gerechtigkeitsprinzip zu Grunde legen ließ.“ HÄRLE (2011:125) verweist sogar darauf,

dass suum cuique in der stoisch-ciceronischen Tradition eines der fünf klassischen

Grundprinzipien des Naturrechts darstellte.34

Während durch die in diesem Kapitel beschriebenen Belege die Bedeutsamkeit von

suum cuique schon in der Antike nicht zu bestreiten ist, lassen sich doch kritische

Anmerkungen zur Aushandlung von Gerechtigkeit durch die Phrase finden. So stellt

SCHOPENHAUER (2007:116) fest, dass sich „die Negativität der Gerechtigkeit […], dem

Anschein entgegen, selbst in der trivialen Definition [bewährt]: >>Jedem das Seine

geben.<< Ist es das Seinige, braucht man es ihm nicht zu geben: bedeutet also >>Keinem

das Seinige nehmen<<.“ Darauf basierend formuliert PETERSEN (2017:45), dass es „seit

jeher ein Einwand gegen die Gerechtigkeitsdefinition des suum quique (sic!) gewesen

[ist], dass sie sich in einem nichtssagenden, tautologischen Inhalt erschöpft“. Auch

KELSEN (1985:378) bezeichnet die Phrase als „inhaltslose Formel“. Trotz dieser zum Teil

berechtigten Kritik wurde die lateinische Phrase auch in der Neuzeit vielfach verwendet

und unterschiedlich interpretiert.

4.2 Suum cuique in der Neuzeit

„Justinians Gesetzgebungswerk erwies sich als die folgenreichste Kodifikation der

Weltgeschichte: Ihre Regelungen wurden in ganz Europa rezipiert“ (KLENNER 2002:327).

Zurückführend auf das römische Gerechtigkeitsprinzip lässt auch Shakespeare Marcus

Andronicus in dem Werk Titus Andronicus den Satz „Suum cuique is our Roman Justice“

sagen (SHAKESPEARE 1979:211). HEYL (1998:2) stellt daher zutreffend fest, dass „dieser

33 Vgl. in Latein: „Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum non laedere, suum cuique tribuere“ (JUSTINIAN I. 1997:1/ Inst. 1,1,3). 34 Hierzu zählten außerdem: neminem laedere (niemanden verletzen); honeste vivere (ehrenhaft leben); deum colere (Gott verehren); pacta sunt servanda (Verträge sind einzuhalten), HÄRLE (2011:125).

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Grundsatz […] neben der Rechtsphilosophie und Moraltheologie seit langem die

Literatur, Musik und Kunst“ beschäftigt.35

Im deutschsprachigen Raum erfährt die lateinische Phrase ihre Berühmtheit

insbesondere durch den Schwarzen Adlerorden, dem höchsten preußischen Orden und

der Verwendung als „Wahlspruch“ Preußens (ZEDLITZ-NEUKIRCH 1836:73). „Der Endzweck

Unseres Reiches und Ordens […] nemlich Recht und Gerechtigkeit zu üben, und

jedweden das Seine zu geben“ ist nach ZEDLITZ-NEUKIRCH (1836:73) einer der

Hauptgründe dafür, dass die Phrase suum cuique das Wappen schmückt. Ein Weiterer

ist die Intention, die „allgemeine Unpartheilichkeit anzudeuten, nach welcher nicht nur

dem einen und dem andern; sondern allen durchgehends und einem jedweden nach

Verdiensten das Seine geleistet werden sollte.“ Der deutsche Historiker Leopold von

Ranke versichert in seinem Buch Preussische Geschichte unter Berufung auf eine Person

namens Lamberty dass sich „jenes „Suum cuique“ in den Insignien desselben […] auf die

Definition einer guten Regierung [bezieht], in der den Guten sowohl wie den Bösen nach

ihrem Verdienst geschehe“ (VON RANKE 1957:369). Beschrieben werden hier somit

konträr zu allen anderen bisherigen Bedeutungsaspekten, die Pflichten des Königtums.36

Seit der Gründung der Bundeswehr im Jahr 1955 tragen auch die Feldjäger ein Abzeichen

mit dem preußischen Gardestern und der Inschrift suum cuique. Somit „dürfte die

Benutzung der lateinischen Vorlage kaum als illegitim anzusehen sein, da es sich bei

jenem ‘suum cuique’ um einen in relativ niedriger Frequenz gebrauchten Ausdruck

handelt, der seit 1945 weder von Überlebenden des SS-Terrors noch von Sprachkritikern

direkt mit den NS-Verbrechen assoziiert worden ist“ (BRUNNSEN 2010:309).

35 Hierzu ausführlicher im Kapitel 4.3. 36 HAFFNER (1978:113) interpretiert die Phrase jedoch anders: „Der Staat stellte jedem Bürger, vom König

bis zum letzten Untertanen eine Aufgabe, auf deren Erfüllung er ihn streng verpflichtete, und zwar jedem Stand eine andere“.

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4.3 Jedem das Seine im deutschsprachigen Raum

Erste Aufzeichnungen der deutschen Phrase Jedem das Seine finden sich „in den Künsten

und auch in akademischen37 Texten“ (BRUNNSEN 2010:297). So unter anderem bei

Immanuel Kants Werk Metaphysik der Sitten, in welchem er nach Ulpians Rechtslehre

definiert: „Tritt in eine Gesellschaft mit Andern, in welcher Jedem das Seine erhalten

werden kann (suum cuique tribue)“ (KANT 1838:41). In der Literatur wird die Phrase von

Eduard Mörike als Titel eines Gedichts von 1861 verwendet, in welchem er eine

Liebesgeschichte beschreibt (MÖRIKE 2015:54). Auch in der Musik kommt Jedem das

Seine durch die Benennung einer Kantate von Johann Sebastian Bach zum Tragen (HEYL

1998:2). Festzuhalten ist jedoch, dass gerade die deutsche Phrase keine

geschichtsträchtige Vergangenheit aufweist und vielmehr „Symbol für ein System [ist],

in dem sadistische Scharfrichter die Macht hatten, jedem zuzuweisen, was sie für das

Seine hielten“ (NEUES DEUTSCHLAND, 12.11.1988).38 Die aus dieser zynischen Definition

resultierenden Konsequenzen werden im nachfolgenden Kapitel erörtert.

4.3.1 Jedem das Seine im Nationalsozialismus

Obwohl die Phrase in den jeweiligen Epochen unterschiedliche Bedeutungsdefinitionen

innehatte, erfährt der eigentliche Rechtsgrundsatz im Nationalsozialismus eine

eindeutige Zäsur. Die Phrase wird im 1937 eröffneten Konzentrationslager Buchenwald

an der Innenseite des Eingangstors angebracht.39 Ziel dessen war es, die Insassen

während ihrer gesamten Aufenthaltszeit zu demütigen (BRUNNSEN 2010:295), denn „die

auf dem Appellplatz stehenden Häftlinge hatten sie ständig vor Augen“ (STEIN 1999:34).

Im auf dem Ettersberg in Weimar errichteten KZ Buchenwald wurden bis 1945 nahezu

240.000 Menschen inhaftiert. Etwa 56.000 fielen den Gräueltaten der

Nationalsozialisten zum Opfer. Gefertigt wurde die Inschrift vom ehemaligen

Meisterschüler des Bauhauses Dessau, Franz Ehrlich, welcher selbst im KZ Buchenwald

inhaftiert war. „Ehrlich entwirft die Buchstaben in Anlehnung an Meister des Bauhauses

und an seinen Lehrer Joost Schmidt. Die Typografie wird so zur subtilen Intervention

37 BRUNNSEN (2010:297) nennt hier auch Verwendungen von Nietzsche, Hegel und Marx. 38 Die Staatsbibliothek Berlin stellt auf ihrer Internetseite sämtliche Exemplare von drei DDR-Tageszeitungen (BERLINER ZEITUNG, NEUES DEUTSCHLAND, NEUE ZEIT) von 1945-1994 zur Verfügung. Die Definition von NEUES DEUTSCHLAND als sozialistische Tageszeitung wurde berücksichtigt. 39 Die Arbeiten am gesamten KZ Buchenwald gingen jedoch bis spät in das Jahr 1939. (KIRSTEN 2002:15)

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gegen den Geist der Inschrift.“40 1932 verfasste der Nationalsozialist Hans Schwarz van

Berk eine Rechtfertigungsschrift mit dem Titel Preußentum und Nationalsozialismus. 7

Briefe an einen preußischen Junker, in welchem er schreibt: „Der Nationalsozialismus

setzt an die Stelle der utopistischen Parole “Alles allen!” den preußisch-sozialistischen

Wahlspruch “Jedem das Seine!”“ (VAN BERK 1932:17). BRUNNSEN (2010:295) interpretiert

diese Zeilen als möglichen Grund für die Verwendung der Phrase Jedem das Seine am KZ

Buchenwald anstatt der üblichen Phrase Arbeit macht frei. Die Bedeutung von Jedem

das Seine wandelte sich somit von einer jahrtausendealten Gerechtigkeitsformel zu

einem „Synonym für Massenmord“ (STERN 20.08.1998:17). Der ehemalige

Ministerpräsident von Thüringen, Bernhard Vogel, fasst die Absurdität zwischen

Gerechtigkeit und Jedem das Seine im KZ in einer Gedenkveranstaltung von 1995 sehr

treffend zusammen: „Buchenwald war der Ort, an dem das Grauen in

menschenverachtender und demütigender Weise seinen Ausdruck fand,

eingeschmiedet in das Tor des Lagers: ›Jedem das Seine‹. Dieses zynische Motto mit

seinem bösen, inhumanen Sinn sprach dem klassischen lateinischen Gerechtigkeitsideal

eines ›suum cuique‹ (Cicero) Hohn“ (HEYL 1998:3). KLENNER (2002:332) definiert diese

hohe Diskrepanz als „Skandalon in der Verwendungsgeschichte“ und auch BRUNNSEN

(2010:298) stellt fest, dass nicht Recht und Gerechtigkeit den Insassen zuteilwurde,

sondern die Willkür und Grausamkeit der SS.

4.3.2 Jedem das Seine von 1945-1998

Nach Ende des 2. Weltkriegs wurde die Phrase zunächst als ein „durch keinen

spezifischen geschichtlichen Kontext determinierte[n] Ausdruck“ weiterverwendet

(BRUNNSEN 2010:300). Das wird insbesondere durch Zeitungsbelege der Zeitung NEUES

DEUTSCHLAND deutlich. So äußert sich beispielsweise Johannes Stroux (ehemaliger Rektor

der Berliner Universität) über die Grundrechte des Volkes.41

(I) NEUES DEUTSCHLAND, 08.10.1946

Der eine lehrt, daß alle Rechte, ohne Rücksicht auf äußere und erworbene Lebensumstände wie Geburtsadel, Reichtum und ähnliche Eigenschaften Privilegierter, aus der allgemeinen und gleichen Menschennatur abgeleitet werden

40 https://www.buchenwald.de/602/ (zuletzt eingesehen am 16.03.2017). 41 Alle in diesem Kapitel aufgeführten Belege wurden nicht in die Korpusanalyse miteinbezogen. Deshalb sind diese auch anders gesondert und mit römischen Ziffern aufgeführt.

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müssen. Aus ihr geht die Bestimmung der einzelnen menschlichen Persönlichkeit ebenso hervor, wie die Bestimmung der menschlichen Gesellschaft und damit auch des Staates. Der zweite Grundsatz aber verlangt, daß die soziale Gerechtigkeit bestehen und „Jedem das Seine" zugeteilt werde. Das Ist die Grundlage des sozialen Friedens.

Jedem das Seine steht hier stellvertretend für die Schaffung des sozialen Friedens in

Deutschland. Bereits ein Jahr nach Ende des Nationalsozialismus wird die Phrase

verwendet, um Grundrechte des Volkes und Gerechtigkeit darzustellen. Der

nationalsozialistische Missbrauch wird somit nicht thematisiert. Die Verwendung erfolgt

auf Basis der antiken Gerechtigkeitsdefinition.

Auch in einem Beleg der Zeitung NEUE ZEIT vom 07.11.1950 wird die wirtschaftliche

Gerechtigkeit der Sowjetunion durch die Phrase definiert und dem Grundsatz „Allen das

Gleiche“ gegenübergestellt.

(II) NEUE ZEIT, 07.11.1950

Aber die menschliche Ungleichheit, die Rangordnung der Individuen zu leugnen, kommt auch dem Bolschewismus nicht in den Sinn, und auch ihm heißt Gerechtigkeit, selbst im Wirtschaftlichen, nicht „Allen das Gleiche", sondern „Jedem das Seine".

Die mediale „Unbekümmertheit“ wird auch in einem vom SPIEGEL veröffentlichten Artikel

deutlich, in welchem über die Oscars berichtet wird und der Film To Each His Own mit

den Worten Jedem das Seine übersetzt, obgleich der eigentliche Titel Mutterherz war.

(III) SPIEGEL, 22.03.1947

Den "weiblichen Oscar" bekam Olivia de Havilland, eine gebürtige Engländerin. In ihrer leidensvollen Rolle in dem Film "Jedem das Seine" hat sie, so sagt man, das schlechthin Weibliche so prägnant dargestellt, daß selbst hartgesottene Männer ihr den Oscar auf keinen Fall versagen konnten.

Ein Grund dafür, „dass sich bis weit in die 1950er Jahre kein öffentliches Bewusstsein

von der Bedeutung der Buchenwalder Torinschrift herausbildet“ (BRUNNSEN 2010:302),

könnte der Dokumentarfilm Die Todesmühlen sein, welcher nach Kriegsende eine

Woche lang ausnahmslos in allen Kinos der US-Zone gezeigt wurde. Während im Film

das KZ Auschwitz mit seiner Inschrift Arbeit macht frei gezeigt wird, verpassen es die

Filmemacher, auch die Inschrift des KZ Buchenwald eindeutig darzustellen.42 Erste

42 Vgl. Die Todesmühlen 1945.WILDER, B./BURGER, H. (Regie). Produktion: Office of Military Government for Germany United States.

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Anzeichen für einen reflektierten Gebrauch entstehen durch den Bau der Mahn- und

Gedenkstätte Buchenwald im Jahr 1954. Dieser Bau wird in den DDR-Zeitungen

thematisiert und wirkt sich ebenfalls auf die Berichterstattung in Westdeutschland

aus.43

( IV) N E U E Z E I T , 11.04.1954

Eine Stätte des Grauens soll Mahnmal des Friedens werden

Nicht minder zynisch kennzeichnend wirkt die jetzt noch erhaltene Inschrift an dem schmiedeeisernen Tor: Jedem das Seine! Hinter dem Eingang dehnt sich die Weite des sogenannten „Appellplatzes", auf dem allmorgendlich die Häftlinge zum Abzählen angetreten waren und der jetzt den Versammlungsort für die großen offiziellen Feiern zum Internationalen Befreiungstag bildet.

Während HEYL (1998:5) darauf verweist, dass „in Ostdeutschland, wo zu Zeiten der

ehemaligen DDR der Gedenkstätte Buchenwald besondere Bedeutung zukam (fast alle

Jugendlichen in der DDR […] das ehemalige Lager in Vorbereitung ihrer Jugendweihe,

mit der Schule oder der FDJ besucht [haben], manche gleich mehrfach)“44 und die Phrase

in Ostdeutschland somit präsenter sei, spricht BOCHMANN (1994:86) bezogen auf die DDR

von der „Geschichte eines Defizits“.

In den 1960er Jahren werden Jedem das Seine wie auch andere Lexeme der NS-Zeit

instrumentalisiert, um jeweilige Kontrahenten zur Zeit des Ost-West-Konflikts zu

diffamieren (EITZ/STÖTZEL 2007:489ff./STÖTZEL 1995²:369).

So beschreibt der ehemalige SED-Chef Walter Ulbricht das von der BRD erlassene

Sozialpaket mit den Worten „Also ganz wie bei den Nazis: Jedem das Seine!“ (NEUES

DEUTSCHLAND, 13.03.1963). Das von Ulbricht realisierte Tertium Comparationis, also die

relevante Teilmenge der beiden verglichenen Entitäten, wird ebenfalls von ihm

formuliert: „Die Bilanz des Sozialpakets bedeutet also Milliarden mehr in die Taschen

der Unternehmer, Milliarden mehr aus den Taschen der Arbeiter, Angestellten und

Rentner.“ Selbst wenn das die Folge des Sozialpakets wäre, so wird hierdurch lediglich

eine irrelevante Teilmenge beschrieben, die einen Vergleich mit den Gräueltaten der

Nationalsozialisten als indiskutabel erscheinen lässt. 1969 vergleicht Horst Salomon den

Springer-Verlag ebenfalls mit einem Konzentrationslager.

43 So berichtet u.a. auch DIE ZEIT vom KZ-Buchenwald und der Inschrift (04.12.1959). 44 Auch zum zehnjährigen Bestehen der Gedenkstätte schreibt NEUES DEUTSCHLAND über die Taten im KZ (NEUES DEUTSCHLAND, 08.02.1964).

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21

(V) NEUES DEUTSCHLAND, 24.02.1969

So ist der Teil der Welt, in dem die Springer walten und schalten, zu einem KZ für Geist und Gefühl geworden, über dessen Pforte nach wie vor „Jedem das Seine" steht. Für die einen das klägliche Gewinsel von der Nichtigkeit des Lebens, das wehmütige, weinselige Ausbreiten belangloser Gefühlchen, für den anderen die Vergötzung animalischer Gier, Skrupellosigkeit und Sadismus.

Spätestens ab den 1980er Jahren wurden solche Vergleiche allerdings als

„unangemessen“ angesehen, weil sich in der Öffentlichkeit die Einsicht durchsetzte,

dass sie die „Verbrechen der Nazis relativieren und verharmlosen“ (EITZ/STÖTZEL

2007:399). Dass diese Einsicht jedoch keine großen Auswirkungen auf den historisch-

unkritischen Gebrauch der Phrase Jedem das Seine hatte, zeigt die Tatsache, dass im für

diese Arbeit angelegten Korpus lediglich 16,2 Prozent der Zeitungsartikel bis zum

13.06.1998 über die nationalsozialistische Vergangenheit aufklären. Nach dieser Zeit

setzt eine eindeutige Zäsur ein, da es „eine historisch-politisch sensibilisierte

Öffentlichkeit als obszön [empfand], daß für Kapitalistenkommerz mit einem Text

geworben werde, den die Nazibarbaren in das Eingangstor ihres Konzentrationslagers

Buchenwald hatten einschmieden lassen, um ihre Opfer auch noch zu verhöhnen“

(KLENNER 2002:329). Diese Proteste, die „von einer ausführlichen

Medienberichterstattung begleitet worden sind“ (BRUNNSEN 2010:307), sollen

nachfolgend im Kapitel 5.1.5.1 thematisiert werden. Zuvor wird das angesprochene

Korpus und die auf darauf basierende Methodik vorgestellt.

5 Korpusanalyse

5.1 Korpus

Die Korpusbelege dieser Arbeit zu Jedem das Seine stammen aus dem Deutschen

Referenzkorpus (kurz DeReKo) des Instituts für Deutsche Sprache Mannheim. Das

DeReKo ist mit über 29 Milliarden Wörtern (Stand 31.03.2016) das größte

deutschsprachige Korpus der Welt. Mit Hilfe des Abfragesystems COSMAS II kann man

das DeReKo nach individuellen Suchanfragen durchsuchen. Durch die Auswahl der

einzelnen Archive (W-W4 Archiv der geschriebenen Sprache) und der Selektion der

benutzerdefinierten Korpora (beispielsweise Frr – Frankfurter Rundschau, 2000-2015)

können genau die Quellen ausgewählt werden, die für die Untersuchung zielführend

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sind. So wurden bei dieser Untersuchung unter anderem keine Wikipedia-Artikel und

Diskussionen, Belege aus Belletristik sowie Dichtungen berücksichtigt. Weiterhin

existieren in den einzelnen Archiven teilweise Dopplungen, sodass die Zahl der Belege

durch COSMAS II von der Zahl der hier angegebenen Belege abweicht.

Mit Hilfe der Suchanfrage „Jedem /+w1 das /+w1 Seine“ und der oben definierten

Selektion wurden 1242 Belege der Phrase Jedem das Seine eingehend analysiert.

Abbildung 3 zeigt die Verteilung der Belege nach Jahren, bezogen auf das erstellte

Korpus. Aus dieser Abbildung können keine Schlüsse bezüglich der absoluten oder

relativen Häufigkeit der analysierten Zeitungen gezogen werden, da viele Zeitungen in

das DeReKo lediglich für gewisse Zeitabschnitte (beispielsweise 2002-2009) eingespeist

wurden und die Korpusgröße der Zeitungen nicht berücksichtigt wurde.

Abbildung 3: Anzahl der Belege nach Jahren

5.1.1 Methodik

Bei der Analyse wurden die einzelnen Belege nach neun unterschiedlichen Merkmalen

klassifiziert. In Tabelle 1 sind diese Merkmale aufgeführt. Das Merkmal Überschrift

wurde für die weiterführende Untersuchung nicht berücksichtigt und ist demnach hier

nicht aufgeführt.

89

3340

27

45

79

33

50 54

83

65 66

79

171

57 61 62 6555

28

0

20

40

60

80

100

120

140

160

180

An

zah

l Bel

ege

Jahre

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Tabelle 1: Analysierte Merkmale der Belege

Zeitung Datum Land Beleg nsH45 Domäne Zitat Umgebung

Mit Hilfe dieser Merkmale soll nicht nur eine eindeutige Klassifizierung der Belege

möglich sein, sondern ebenfalls eine statistische Auswertung der Anteile eines

Merkmals. Daher wurden für einige Merkmale die Auswahlmöglichkeiten beschränkt.

So definiert die Spalte nsH lediglich, ob der analysierte Beleg über den

nationalsozialistischen Hintergrund der Phrase aufklärt oder nicht. Die

Auswahlmöglichkeit ist somit binär auf ja/nein beschränkt. In der Spalte Domäne wird

festgelegt, welcher thematischen Domäne46 der Beleg zugewiesen wird (beispielsweise

Politik, Sport, Sprachkritik etc.). Das Korpus enthält insgesamt 70 verschiedene

Domänen. Die Spalte Zitat besitzt drei potenzielle Auswahlmöglichkeiten. So kann

Jedem das Seine einerseits im Text mit oder ohne Anführungszeichen erscheinen,

andererseits kann die Verwendung der Phrase eine Aussage einer dritten Person

darstellen. Mit Hilfe dieser Spalte wird geklärt, wer Verfasser des Belegs ist (Verfasser

des Texts oder Dritter) und ob die Phrase als zitierungswürdig erachtet wird oder nicht,

was jedoch nur relevant ist, wenn der Verfasser der Autor ist. Insofern die Phrase mit

Anführungszeichen versehen wird, gibt der Autor zu verstehen, dass er sie entweder als

feststehenden Begriff betrachtet oder auf jemanden verweist (wie beispielsweise Plato

hat gesagt). Der Bereich Umgebung gibt einerseits an, durch was die Phrase erweitert

wird, (mir das meiste, allen das Gleiche etc.) andererseits als was die Phrase

metasprachlich gedeutet wird (Parole, Motto, zynische Inschrift etc.). Da hier auch

Signalwörter eingetragen sind, die im Satz potenziell weiter von der Phrase entfernt

sind, als dass sie bei einer Kookkurrenzanalyse erfasst werden und somit ebenfalls

Verknüpfungen zu den anderen Merkmalen möglich sind, wurde dies manuell für jeden

Beleg verfasst. Abbildung 4 zeigt die vorgenommenen Einstellungen in COSMAS II. Als

Beleg wurde jeweils der Teil in das Korpus eingespeist, der bei der Volltext-Anzeige mit

diesen Einstellungen angezeigt wurde. Der weitere Kotext eines Belegs wurde lediglich

fakultativ zur Analyse miteinbezogen.

45 nsH= nationalsozialistischer Hintergrund. 46 Eine Aufteilung nach thematischen Domänen nehmen u.a. auch STUMPF/KREUZ (2016) vor.

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Abbildung 4: Vorgenommene Einstellungen bei COSMAS II

5.1.2 Zeitungen

Das Korpus besteht aus 1242 Belegen aus 64 verschiedenen Zeitungen in vier Ländern.

Abbildung 5 zeigt die Top-20 der Zeitungen mit den meisten Belegen. Der Mittelwert der

Anzahl von Beispielen pro Zeitung beträgt 18,5. Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG hat mit 99

Belegen den größten Umfang aller analysierten Zeitschriften. 25 Zeitungen haben im

Korpus weniger als 10 Belege.

Abbildung 5: Häufigste Zeitungen des Korpus

Außerhalb deutscher Zeitungen wurden Zeitungen aus Österreich, der Schweiz und

Luxemburg in die Analyse mit einbezogen. Der Anteil ausländischer Zeitungen beträgt

23,03 Prozent (286 Belege). Somit sind 76,97 Prozent der Belege aus deutschen

Zeitungen (956). Die Analyse der ausländischen Zeitungen ist gerade deshalb so

99

55 52 4842 39 39

34 34 33 33 32 31 31 31 29 28 28 26 24

0102030405060708090

100

An

zah

l Bel

ege

Zeitungen

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interessant, da erörtert werden kann, ob die Weiterverwendungsproblematik

nationalsozialistisch belasteter Sprache auch außerhalb Deutschlands (jedoch im

deutschsprachigen Raum) diskutiert wird. Darauf aufbauend kann erschlossen werden,

ob die Problematik um Jedem das Seine der deutschen Sprache inhärent ist, oder ob sie

durch Landesgrenzen anders gedeutet wird.

5.1.3 Aufklärungsrate

Betrachtet man die Statistiken zur medialen Aufklärung über den nationalsozialistischen

Hintergrund der Phrase, so zeigt sich, dass sich weniger als ein Drittel der

Zeitschriftenbelege damit auseinandersetzen. Gleichbedeutend damit ist, dass 849 der

1242 Belege die Phrase unbedarft verwenden (vgl. Abbildung 6). Jede Erwähnung des

Nationalsozialismus im Allgemeinen oder der Verwendung im KZ Buchenwald im

jeweiligen Text wurde als Aufklärung über den nationalsozialistischen Hintergrund

gewertet.

Abbildung 6: Aufklärungsrate gesamt

Hierbei muss insbesondere beachtet werden, dass alle Belege ausländischer Zeitungen

miteinbezogen wurden. Abbildung 7 zeigt das Verhältnis von deutschen zu

ausländischen Zeitungen in Bezugnahme auf die Aufklärung des nationalsozialistischen

Hintergrundes der Phrase.

ja (393); 31,64%

nein (849); 68,36%

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Abbildung 7: Aufklärungsrate nach Ländern

Die Aufklärungsrate liegt bei deutschen Zeitungen somit um 6,06 Prozentpunkte höher

als der Gesamtanteil. Das dargestellte prozentuale Verhältnis kann als Indiz dafür

erachtet werden, dass die Aufarbeitung des lexikalischen NS-Erbes im

deutschsprachigen Raum unterschiedlich vorangetrieben wird.

5.1.4 Aufklärungsrate nach Zeitungen

Dass kein öffentlicher Konsens darüber besteht, wie mit der geschichtlich belasteten

Phrase umgegangen werden soll, zeigt sich statistisch in Abbildung 8 und Abbildung 9.

Bei den Abbildungen werden lediglich die Zeitungen betrachtet, die mehr als zehn

Belege im Korpus aufweisen konnten, da eine signifikante Tendenz sonst nicht

auszumachen wäre. Auffällig ist, dass drei der Gedenkstätte Buchenwald geographisch

naheliegende Zeitungen eine Aufklärungsrate von über 80 Prozent aufweisen und

zugleich die drei Zeitungen mit den höchsten Aufklärungsraten sind. Demnach achten

thüringische Zeitungen besonders darauf, den Missbrauch der Phrase zu erwähnen.

Sechs weitere Zeitungen weisen eine Rate von über 50 Prozent auf (vgl. Abbildung 8).

37,7% 12,1% 10,0% 11,2%0

200

400

600

800

1000

1200

Deutschland Schweiz Österreich Ausland

An

zah

l Bel

ege

Länder

ja (in Prozent) nein

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Abbildung 8: Aufklärungsrate nach Zeitungen (1)

Abbildung 9 zeigt, dass die Problematik der nationalsozialistischen Vergangenheit auch

von renommierten Zeitungen wie der ZEIT, der RHEIN-ZEITUNG oder der SÜDDEUTSCHEN

ZEITUNG hingegen anders betrachtet wird. Sie verwenden die Phrase öfter außerhalb des

nationalsozialistischen Kontextes. Acht der zwölf Zeitungen mit einer Aufklärungsrate

von unter 25 Prozent stammen jedoch aus dem Ausland.

Abbildung 9: Aufklärungsrate nach Zeitungen (2)

90% 89%82%

64% 61%54% 53% 50% 50%

39% 36% 35% 34% 33% 33%

0%10%20%30%40%50%60%70%80%90%

100%au

fklä

ren

de

Bel

ege

in P

roze

nt

Zeitungen

29% 29% 28%26% 25%

23% 22%

18% 17% 16% 16% 16%

12% 11%

6%4% 4%

0%0%

5%

10%

15%

20%

25%

30%

35%

aufk

läre

nd

e B

eleg

e in

Pro

zen

t

Zeitungen

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Interessanterweise weist die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG einen Beleg auf, in welchem gerade

Journalisten für den unbedarften Gebrauch nationalsozialistisch belasteter Sprache

kritisiert werden. Daraus kann geschlossen werden, dass sich selbst in den Redaktionen

einzelner Zeitungen unterschiedliche Meinungen zum Umgang mit NS-Sprache finden

lassen ((1)).

(1) SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 23.06.1998

Deutschland erwachte? Sollte das ein Wortspiel sein? Wußte der Reporter, womit er spielte? „Deutschland erwache!” – mit dieser Parole zogen einst die Nazis durch die Weimarer Republik, von Neonazis wird sie weiterhin benutzt. In der Sprache gibt es noch mehr Hinterlassenschaften des Dritten Reiches, die aber 50 Jahre danach vielen Menschen nicht mehr als Hinterlassenschaften bekannt sind. „Schreiberlinge” und „Journaille”, das sind Ausdrücke, die man immer wieder liest. Sie stammen aber von Goebbels. „Jedem das Seine”, hört man immer wieder mal. Es stand aber über dem Eingang von Buchenwald. Ein guter Journalist legt keinen Wert darauf, politisch korrekt zu denken. Damit würde er aufhören, zu denken. Er sollte aber bedenken, womit er spielt.

5.1.5 Aufklärungsrate nach Jahren

Abbildung 10: Aufklärungsrate nach Jahren

Abbildung 10 zeigt die Aufklärungsrate der analysierten Belege nach Jahren. Lediglich

sieben der analysierten 59 Jahre übersteigen eine Rate von 30 Prozent. Anhand der

Korpusbelege kann festgestellt werden, was zu der erhöhten Rate führte. Daher widmen

sich die nachfolgenden Kapitel der Analyse einzelner Jahre. Festzuhalten ist jedoch

bereits auf Grundlage der Abbildung 10, dass der mediale Gebrauch der Phrase auf

keinem einheitlichen Konsens basiert.

0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

aufk

läre

nd

e B

eleg

e in

Pro

zen

t

Jahre

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5.1.5.1 Das Jahr 1998

Eine öffentliche Auseinandersetzung mit Jedem das Seine wurde insbesondere durch die

Verwendung der Phrase in der Werbebranche vorangetrieben. So verwendeten

zahlreiche Unternehmen Jedem das Seine als eine Art Slogan, welcher auf die

individuelle Entfaltungsmöglichkeit des Kunden durch das jeweilige Produkt hinwies.

Den Präzedenzfall erfolgte im Jahr 1998, in welchem NOKIA mit dem Slogan „Jedem das

Seine. Mit Xpress-On Covers“ für die individuelle Gestaltung des Telefongehäuses warb.

Da das Mobiltelefon in verschiedenen Farben erhältlich war, sollte jeder Kunde die

Möglichkeit haben, sich sein Wunschgehäuse auszusuchen. Kritik kam insbesondere von

politischer Seite sowie von Wendy Kloke, der Sprecherin vom Berliner Büro des

American Jewish Committee. Kloke verwies auf die daraus resultierende Verhöhnung

der Opfer des Nationalsozialismus (TAZ.DE, 13.06.1998)47. Die in Kapitel 4.3.2 erwähnte

„historisch-politisch sensibilisierte Öffentlichkeit“ (KLENNER 2002:329) wurde in diesem

Fall ebenfalls aktiv. „Mehrere Anwohner aus Berlin haben angerufen und sich

beschwert“ bestätigte die Sprecherin der Deutschland-Zentrale von NOKIA (TAZ.DE,

13.06.1998). Die Werbung wurde daraufhin zurückgezogen und durch den Slogan „Was

ihr wollt“ (Shakespeare) ersetzt. Hieraus resultierte eine hohe mediale Aufmerksamkeit,

welche durch zahlreiche Berichterstattungen in deutschen, wie auch in ausländischen

Zeitungen48 erkennbar ist ((2)).

(2) NÜRNBERGER NACHRICHTEN, 15.06.1998

Der finnische Telekommunikationskonzern Nokia hat nach Protesten des American Jewish Committee und von Bündnis 90/Die Grünen seine Werbekampagne für Mobiltelefone mit dem Slogan "Jedem das Seine" in Deutschland sofort gestoppt. Die jüdische Organisation und die Grünen hatten die Einstellung der Plakataktion gefordert, weil der Spruch über dem Eingang zum Konzentrationslager Buchenwald hing. Unternehmenssprecher Tapio Hedman sagte in Helsinki, der Entschluß sei "postwendend" gefaßt worden. Der "makabre Hintergrund" […] sei aber wohl auch der jungen Generation in Deutschland nicht mehr bekannt.

47 Die Belege der TAGESZEITUNG beginnen im Korpus erst 2001. Daher wurden diese Belege manuell gesucht. http://www.taz.de/1/archiv/?dig=1998/06/13/a0072 (zuletzt eingesehen am 13.03.2017). 48 Im Ressort: In Kürze (KLEINE ZEITUNG (AUT)) oder Nebenbei (ST. GALLER TAGBLATT).

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Aufgrund dieses Vorfalls setzen sich verschiedene Zeitungen sprachkritisch mit der Frage

auseinander, was mit historisch belasteten Wörtern und Wendungen geschehen soll

((3)).49

(3) SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 16.06.1998

[…] Die Kampagne wurde eingestellt, nicht aber die mit ihr verbundene alte Frage, was auf Dauer mit Wörtern oder Sätzen zu geschehen hat, die mit der nationalsozialistischen Hirnspaltung in Berührung kamen und seither quasi kontaminiert im Sprachraum herumstehen. Gibt es so etwas wie eine Halbwertszeit der Verderbtheit? Anders gefragt: Kann man das „Mädel” eines Tages wieder arglos im Munde führen, während der „Führer” oder das „Völkische” oder das vollends unselige „Arbeit macht frei” eine derart hohe Dosis ultrabrauner Strahlung abbekommen haben, daß sie definitiv ins Endlager abzuführen sind? […] Wenn die Panne von Nokia unserem Geschichtsbewußtsein in dem Punkt aufhalf, hatte sie ja auch ihren tieferen Sinn.

Auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung wurde hierdurch gefördert. So merkt

HEYL (1998:1) an, dass dieser Eklat „der erste Anlaß für die Hamburger Forschungs- und

Arbeitsstelle »Erziehung nach/über Auschwitz« [war], dem historischen Hintergrund

dieses Wortes weiter nachzugehen und diese kurze Dokumentation zu erstellen.“ Auch

BRODER (1999) wurde durch diese Werbemaßnahme aktiv, indem er das Buch „Jedem

das Seine“ veröffentlichte, in welchem er sich mit der Holocaustproblematik und dem

Umgang von Deutschen mit Juden auseinandersetzte.

Nur etwa einen Monat nach der Werbeaktion von NOKIA verwendete das Unternehmen

REWE die Phrase Jedem das Seine ebenfalls als Werbeslogan, um für individuelle

Grillmöglichkeiten zu werben. Initiator des Protests war in diesem Fall eine Privatperson,

die die FRANKFURTER RUNDSCHAU kontaktierte, wie (4) zeigt.

(4) FRANKFURTER RUNDSCHAU, 23.07.1998

Das Kölner Handelsunternehmen Rewe hat sich für einen Werbeslogan in einem Prospekt für seine Lebensmittelkette HL entschuldigt. Die FR hatte am Dienstag nach der Beschwerde einer Hanauer Kundin darüber berichtet. In dem mehrseitigen bunten Wurfzettel, der millionenfach an deutsche Haushalte ging, war für Ketchup und andere Zutaten mit dem Slogan "Grillen: Jedem das Seine" geworben worden. Die Übersetzung des Zitats von Cato dem Älteren ("suum cuique") war von den Nationalsozialisten mißbraucht worden; sie brachten es am Eingang zum Konzentrationslager Buchenwald an.

49 Für eine detaillierte Analyse der sprachkritischen Belege siehe Kapitel 5.3.3.

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Die Empörung seitens der Medien fiel bei REWE jedoch wesentlich geringer aus als bei

NOKIA. Das belegen die statistischen Werte des Korpus. So berichteten acht verschiedene

Zeitungen über den Vorfall mit NOKIA. Bei REWE hingegen sind es nur zwei. Die

Inszenierung oder Veröffentlichung eines Skandals mit derselben Thematik, innerhalb

einer kurzen Zeitspanne scheint weniger medienwirksam zu sein. Im Jahr 1999 warb der

Konzern BURGER KING in Erfurt ebenfalls mit der Phrase. Eine mediale

Auseinandersetzung fand ebenso wie bei REWE nur bei zwei Zeitungen statt.

5.1.5.2 Das Jahr 2001

Das Jahr 2001 markiert mit 45,57 Prozent Aufklärungsrate das drittstärkste Jahr

hinsichtlich dieses Parameters. Wie bereits für das Jahr 1998 beschrieben, beläuft sich

die hohe Rate hier ebenfalls auf Verfehlungen verschiedener Unternehmen, sowie

zeitungsinterne Kritik. Sowohl die TELEKOM als auch die MÜNCHENER MERKUR-BANK werben

mit der Redewendung Jedem das Seine. Analog zu der Berichterstattung von 1998 bei

NOKIA veröffentlichen alle größeren Zeitungen des Korpus einen Bericht zu den

Werbemaßnahmen und geben einen groben geschichtlichen Kontext um die Phrase

herum ((5) und (6)).

(5) MANNHEIMER MORGEN, 05.01.2001

Kunden der Münchner Merkur-Bank haben unterdessen entsetzt auf einen Werbespruch der Bank mit dem Spruch "Jedem das Seine" reagiert. Die Nationalsozialisten hatten diese Worte am Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald bei Weimar angebracht, um die Häftlinge zu verhöhnen. Thüringer Filialen der Bank in Weimar und Jena hätten die Werbeaktion gestoppt, bestätigte der Niederlassungsleiter in Weimar einen Bericht der "Thüringischen Landeszeitung". Bei der Münchner Zentrale der Bank hatte zunächst niemand die Problematik des Slogans registriert.

(6) THÜRINGER ALLGEMEINE, 05.01.2001

Der Ausspruch stammt von Marcus Porcius Cato, der im zweiten Jahrhundert vor Christus den römischen Rechtsspruch prägte: Soweit es an mir liegt, soll jeder das Seine nutzen und genießen dürfen suum cuique. Auf Befehl des Kommandanten des KZ Buchenwald wurde der Spruch 1938 im Tor des Konzentrationslagers auf zynische Weise verewigt Jedem das Seine.

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Die sprachkritische Auseinandersetzung wird auch im Jahr 2001 von verschiedenen

Printmedien vorangetrieben. Eine Konsequenz oder Schlussfolgerung wird hier jedoch

ebenfalls nicht erzielt. Die Problematik des Umgangs mit nationalsozialistisch belasteter

Sprache wird somit erkannt und kontrovers diskutiert, doch wie auch BRUNNSEN

(2010:290) feststellt, „ist es den Deutschen [bis heute] nicht überzeugend gelungen,

einen verbindlichen gesellschaftlichen Konsens über den angemessenen Umgang mit

nationalsozialistisch belasteten Wörtern und Wendungen herzustellen.“ In (7) wird

ebenfalls festgestellt, dass die Verwendung der Phrase nicht verboten sei. Dieser

Umstand macht einen potenziellen Konsens noch schwieriger.

(7) SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 26.02.2001

Was ging, fragte sich die Elite der Nachdenklichen, in Köpfen wie denen der Herren der Münchner Merkur-Bank vor, die eine Werbebroschüre mit „Jedem das Seine” verzieren wollten? Wer hat sie gezwungen? Die Polizei war es nicht, denn noch ist es nicht verboten, der Erinnerung unsensibel zu begegnen […].

In (8) wird die unbedarfte Verwendung mit der Unwissenheit zum NS-Kontext verknüpft.

Mangelnde Kenntnis oder unzureichendes Geschichtsbewusstsein bezüglich der Phrase

zeigt sich somit ebenfalls in den Redaktionen verschiedener Zeitungen. Weiterhin wird

durch die wiederholte Verwendung der Phrase bewusst, dass die sprachkritische

Auseinandersetzung mit Jedem das Seine zwar fördernd für die Kenntnis der

Gesellschaft ist, jedoch kein kollektives Bewusstsein hieraus erschaffen werden kann.

(8) FRANKFURTER RUNDSCHAU 22.02.2001

Die Deutsche Telekom AG hat in einer Broschüre mit dem von den Nationalsozialisten missbrauchten Spruch "Jedem das Seine" Werbung für ihre Telekommunikations-Angebote gemacht. Ein Sprecher des Unternehmens bestätigte dies am Mittwoch und bedauerte den Vorgang. Der Spruch sei offenbar aus Unwissenheit der Werbetexter verwendet worden. Die Broschüre sei in 15 Millionen Exemplaren deutschlandweit verteilt worden. Der auf die griechische und römische Philosophie zurückgehende Ausdruck "Jedem das Seine" sollte ursprünglich ein System der Gerechtigkeit beschreiben. Die Nationalsozialisten hatten ihn später zynisch am Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald angebracht. Der Spruch ist schon mehrfach in Werbungen verwendet worden.

Auch HEYL (1998:4) stellt fest, dass es zahlreiche Verwendungen der Phrase durch

Personen oder Institutionen gibt, die sich der „historisch-politischen Aufladung“ nicht

einmal bewusst sind.

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33

5.1.5.3 Das Jahr 2009

Im Jahr 2009 wurden 63,74 Prozent der Belege von Jedem das Seine in Verbindung mit

einem nationalsozialistischen Hintergrund gebracht. Anzumerken ist, dass das Jahr 2009

gleichzeitig das Jahr mit den meisten Belegen ist. Betrachtet man die einzelnen Belege

des Jahres, so lassen sich verschiedene gesellschaftliche Aspekte festmachen, die zu der

hohen Aufklärungsrate führen. So besuchten der amerikanische Präsident Barack

Obama und die Bundeskanzlerin Angela Merkel die Gedenkstätte Buchenwald am

05.06.2009, um den Opfern des Nationalsozialismus zu gedenken. Alleine 23 der 109

Belege, die über den nationalsozialistischen Hintergrund aufklärten, beziehen sich auf

diese Domäne. So auch die NÜRNBERGER NACHRICHTEN in (9).

(9) NÜRNBERGER NACHRICHTEN, 04.06.2009

Wenn morgen Nachmittag der amerikanische Präsident Barack Obama zusammen mit Kanzlerin Merkel von Dresden aus in Buchenwald eintreffen wird, lebt dieser Teil der deutschen und der amerikanischen Geschichte wieder auf. Aus dem Lager mit der zynischen Aufschrift „Jedem das Seine“ am Eingangstor ist eine Gedenkstätte geworden.

Ebenfalls im Jahr 2009 feierte die Kunstschule Weimar ihr 90-jähriges

Gründungsjubiläum. Da Franz Ehrlich das schmiedeeiserne Tor mit der Inschrift entwarf

und die Gedenkstätte Buchenwald ihn mit einer Sonderausstellung würdigte, wurde

auch diese Thematik, wie auch in (10) von verschiedenen Zeitungen aufgegriffen.

(10) SAARBRÜCKER ZEITUNG, 03.08.2009

Die KZ-Gedenkstätte Buchenwald erinnert seit gestern an den Bauhaus-Architekten und Widerstandskämpfer Franz Ehrlich (1907-1984). Im Mittelpunkt der Sonderschau im Neuen Museum (bis 11. November) steht das schmiedeeiserne Lagertor des Konzentrationslagers mit der zynischen Inschrift "Jedem das Seine". Der KZ-Häftling Ehrlich hatte sie im Auftrag der SS gestaltet, jedoch im Bauhausstil. Für Gedenkstätten-Direktor Volkhardt Knigge ist dieser Rückgriff auf die von der NS verfemte moderne Kunst ein Akt des Nein-Sagens und des bewussten Widerstands.

Weil das Tor des ehemaligen KZ-Buchenwalds für die oben beschriebene

Sonderausstellung ebenfalls ausgebaut und nach Weimar gebracht wurde, finden sich

hierzu ebenfalls zahlreiche Zeitungsartikel, von denen einer in (11) exemplarisch

dargestellt wird.

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(11) THÜRINGER ALLGEMEINE, 21.07.2009

Zum ersten Mal in der Geschichte der Gedenkstätte Buchenwald hat das Symbol gewordene Lagertor des einstigen KZ mit der Inschrift Jedem das Seine den Ettersberg verlassen. Es zog vorübergehend in das Neue Museum Weimar, wo es ab August in der Ausstellung Franz Ehrlich. Ein Bauhäusler in Widerstand und Konzentrationslager zu sehen ist. In der Gedenkstätte wurde eine Kopie eingesetzt.

Dass sich im Jahr 2009 eine erhöhte Zahl an Belege findet, die über den

nationalsozialistischen Hintergrund der Phrase aufklären, liegt nicht einzig und allein an

Belegen, die sich auf die Gedenkstätte Buchenwald beziehen. So wurde ebenfalls eine

Werbekampagne der Schüler-Union50 sowie der Unternehmen TCHIBO und ESSO

veröffentlicht, die insbesondere medial kritisiert wurden. TCHIBO und ESSO warben

gemeinsam mit dem Slogan „Jedem den Seinen“ für verschiedene Kaffeesorten an

Raststätten. 23 der 109 Belege beziehen sich auf diese Thematik. Analog zu

vorangegangenen Verfehlungen verschiedener Unternehmen wird der Gebrauch

nationalsozialistisch belasteter Sprache auch diesmal wieder sprachkritisch erörtert. Die

affektive Reaktion auf Verfehlungen bei Werbemaßnahmen ist also immer gegeben.

Dass dies jedoch keine sonderlich hohe Wirkung hat, zeigt Kapitel 5.1.5.5.

5.1.5.4 Die Jahre 2014 und 2015

Im Jahr 2014 wurde das restaurierte Lagertor der Gedenkstätte Buchenwald

wiedereingesetzt. Hierzu gibt es zahlreiche Pressemeldungen, die über das Ereignis

selbst berichten, jedoch ebenfalls den Diskurs kontextualisieren und die Geschichte des

KZ-Buchenwalds beschreiben. Auch wenn das Einsetzen des restaurierten Lagertors die

Meldung erst bedingt, so wird durch Belege wie in (12) doch das gesellschaftliche

Bewusstsein zur nationalsozialistischen Vergangenheit der Phrase gestärkt.

(12) TRIERISCHER VOLKSFREUND, 15.05.2014

Mit den Worten "Jedem das Seine" wollte die SS Neuankömmlingen ihre angebliche rassische Minderwertigkeit und politischen Gegnern ihren Ausschluss aus der "deutschen Volksgemeinschaft" bewusst machen. Mehr als 250 000 Menschen aus vielen Nationen mussten bis zur Befreiung 1945 das Tor passieren; 56 000 kehrten nie in ihre Heimat zurück. Mai fand heraus, dass die dem Lagerinneren zugewandte Seite der Buchstaben unter den Nationalsozialisten

50 Die Werbekampagne mit dem Slogan „Nicht jedem das Gleiche, sondern jedem das Seine“ wurde durch den Jugendverband der SPD, den Jusos, kritisiert und dadurch medial rezipiert. Die mediale Reaktion wird eingehender in Kapitel 5.2.7 betrachtet.

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achtmal überstrichen wurde, um sie lesbar zu halten - die Kehrseite aber nur ein einziges Mal.

Im Jahr 2015 wurde in der Gedenkstätte Buchenwald das 70-jährige Ende des

Nationalsozialismus gefeiert. Im Zuge der Feierlichkeiten werden zahlreiche persönliche

Schicksale durch Zeitungen veröffentlicht. Die Phrase wird wie in (13) nahezu

durchgehend als „zynische Inschrift“ gedeutet.

(13) MANNHEIMER MORGEN, 13.04.2015

„Ich wollte Hitler überleben“, sagt er auf die Frage, was ihn angetrieben hat, nicht aufzugeben. „Am 11. April wusste ich, ich habe Hitler überlebt.“ Damals vor 70 Jahren ertönte gegen 15.15 Uhr über die Lautsprecher des Lagers der ebenso lang ersehnte wie unglaubliche Satz: „Kameraden, wir sind frei!“ Seit diesem Tag steht die Turmuhr über dem Lagertor mit der zynischen Inschrift „Jedem das Seine“ auf 15.15 Uhr – zum Gedenken und zur Mahnung, dass der Schwur der Buchenwalder, den Nazismus mit seinen Wurzeln auszurotten, noch nicht erfüllt ist.

5.1.5.5 Die kontrastiven Jahre

Die Ergebnisse der Jahre 1997,2002, 2003, 2004 und 2013 (vgl. Abbildung 10) zeigen,

dass aus der medialen Berichterstattung zu bestimmten Ereignissen, Verfehlungen oder

sprachkritischen Anmerkungen keine längerfristige Wirkung erzielt werden konnte.

Während sich DIE TAGESZEITUNG beispielsweise am 08.11.2001 für den Gebrauch der

Phrase bei ihren Lesern entschuldigte (vgl. Kap. 5.3.2), verwendet sie sie in den

darauffolgenden Jahren achtmal, ohne auf nationalsozialistische Verwendung

hinzuweisen. Die Phrase wird bei diesen Belegen ebenfalls dreimal als Motto gedeutet.

Betrachtet man die Belege zum Jahr 2013 (Aufklärungsrate 10,77 Prozent), so wird

wiederholt deutlich, dass ein sprachlicher Konsens bezogen auf Jedem das Seine medial

nicht erschaffen werden konnte.

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5.2 Thematische Domänen

In diesem Kapitel wird die hohe Variabilität der Phrase hinsichtlich ihrer Bedeutung,

ihres Nutzens in verschiedenen Domänen sowie ihrer pragmatischen Funktionen

dargestellt. Im Verlauf des Kapitels 5 wird zwischen zwei großen Verwendungsweisen

der Phrase unterschieden. Kapitel 5.2.3 - 5.2.10 befasst sich mit Belegen, in denen die

Phrase funktional in den Kotext miteingebunden ist. Kapitel 5.3 untersucht darauf

aufbauend die metasprachlichen Belege.

Alle Korpusbelege wurden einer Domäne zugewiesen. Aufgrund der Vielzahl der

Domänen können sie jedoch potenziell zu Hyperonymen zusammengefasst werden. So

ergeben die Domänen Film, Unterhaltung (Fernsehen), Journalismus und Internet das

Hyperonym MEDIEN.51 Abbildung 11 zeigt die 20 häufigsten Domänen des Korpus.

Abbildung 11: Thematische Domänen

Hierbei muss beachtet werden, dass die Zuweisung der Domänen zu einzelnen Belegen

nach keinem stringenten Muster verläuft. Während gewisse Domänen sehr vage und

unbestimmt sind (Gesellschaft, Recht, Kultur) beziehen sich andere explizit auf einen

Diskurs (Werbung TCHIBO/ESSO). Weiterhin gibt es Belege, die durchaus mehreren

Domänen hätten zugewiesen werden können. Als weiteres zu differenzierendes

Merkmal muss beachtet werden, dass sich manche Domänen fast ausschließlich

metasprachlich auf die Phrase beziehen (Buchenwald, Sprachkritik), während andere

51 Diese Klassifikation ist jedoch für die vorliegende Arbeit von keiner Bedeutung und wurde lediglich für potenziell weiterführende Analysen angelegt.

220

10378 72

58 53 48 45 38 37 37 34 34 32 30 29 23 23 23 22 22 20

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50

100

150

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Thematische Domänen

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funktional in den jeweiligen Kotext eingebunden sind. Die Aussagekraft der

thematischen Zuordnung muss zum Teil relativiert werden. Sie eignet sich jedoch

sowohl für die Erkenntnis, dass die Phrase vielfältig einsetzbar ist, als auch für die

Kategorisierung der nachfolgenden Kapitel.

5.2.1 Aufklärungsrate nach thematischen Domänen

Die Analyse der Aufklärungsrate nach thematischen Domänen macht aber eines sehr

deutlich. Der nationalsozialistische Kontext wird nahezu nie erwähnt, wenn die Phrase

funktional in den Kontext eingebaut ist. Gerade in den Domänen Sport, Wirtschaft und

Bildung, die im Korpus häufig vertreten sind, findet eine Aufklärung so gut wie nicht

statt.

Abbildung 12: Aufklärungsrate nach thematischen Domänen

Festzuhalten ist jedoch, dass es einen Grund dafür gibt, dass die Phrase in den

erwähnten Domänen so häufig verwendet wird. Die Phrase ist auf vielfältige Weise dazu

prädestiniert, Sachverhalte oder Entitäten zu beschrieben oder zu bewerten. Demnach

erfüllt die Phrase eine gewisse Funktion in den Texten. Nachfolgend sollen die

allgemeinen pragmatischen Funktionen von Phraseologismen zusammengefasst

werden.

100%94%

40%35%

21% 20% 17% 13%7% 7% 5% 5% 3% 1% 0 0 0 0

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Thematische Domänen

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5.2.2 Funktionen von Phraseologismen

Die bereits erwähnten pragmatischen Funktionen lassen sich nach unterschiedlichen

Kriterien charakterisieren. So unterscheidet beispielsweise KOLLER (1977:70ff.) zwischen

zwei Oberkategorien der Funktionen. Zur ersten Gruppe gehören Redensarten, die

Sachverhalte, Situationen, Handlungen oder Beteiligte bewerten. Die zweite Gruppe

beinhaltet Redensarten, die die Beziehung zwischen Sprecher/Autor und Hörer/Leser

regulieren. So kann eine Redensart nach KOLLER (1977:70ff.) u.a. folgende pragmatische

Funktionen zwischen Autor und Leser erfüllen:

- Vereinfachungsfunktion (Reduzierung der Komplexität)

- Übertragungsfunktion, Plausibilitätsargumentation (Darstellung von komplexen

Zusammenhängen durch Situationen der Alltagswelt)

- Argumentations-Ersparungsfunktion (durch Verwendung der Redensart erübrigen

sich weitere Argumente)

- Unschärfefunktion (Vagheit)

- Funktion als Handlungsanweisung, Situationsorientierung, Situationsbewältigungs-

muster (empfiehlt dem Leser eine gewisse Positionierung oder Handlung)

Die Phrase ist dann als argumentative Stütze zu betrachten, die dem Verfasser hilft,

seine Ziele, bezogen auf den Leser, zu verwirklichen. RÖHRICH/MIEDER (1977:81) nennen,

wie bereits in Kapitel 3 beschrieben, die Funktionen der „Warnung, Überredung,

Mahnung, Zurechtweisung, Feststellung, Charakterisierung, Erklärung, Beschreibung,

Rechtfertigung, Zusammenfassung etc.“, die Sprichwörter erfüllen können. Viele dieser

Funktionen sind Spezifika der von KOLLER (1977:72) beschriebenen Funktion als

Handlungsanweisung, Situationsorientierung und Situationsbewältigungsmuster.52 Dass

die Oberkategorien nicht strikt voneinander zu trennen sind, zeigt die Wertungs- und

Bewertungsfunktion. Sie gehört sowohl zur ersten Gruppe der Bewertung als auch zur

zweiten Gruppe, da man unter Umständen zum Ausdruck bringt, dass man ein gewisses

Verhalten nicht billigt. Darauf aufbauend dient die Redensart dann fakultativ als

Handlungsanweisung für den Leser und nach RÖHRICH/MIEDER (1977:81) als Warnung

oder Mahnung. Es wird bereits hier deutlich, dass die verschiedenen Funktionen nicht

52 Die Funktionen kann man weiterführend mit den von LÜGER (1999:182) definierten zentralen Handlungsmustern satzwertiger Phraseologismen vergleichen.

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isoliert voneinander betrachtet werden können. Wichtig ist ebenfalls, dass sich die

Funktionen „immer erst aus dem Kotext/Kontext“ heraus bestimmen lassen und „je

nach Text/Situation/Redekonstellation in denen sie gebraucht werden,

unterschiedliche[n] Funktionen oder Funktionsbündel[n] (eine bestimmte Redensart […]

kann zugleich mehrere Funktionen haben) zugeordnet werden“ können (KOLLER

1977:69). Nachfolgend soll die Polyfunktionalität der Phrase Jedem das Seine in

verschiedenen Domänen dargestellt werden. Denn diese wurde in den Hypothesen als

ein wichtiger Faktor erachtet, warum Jedem das Seine eine hochfrequente Verwendung

vorweisen kann. Gerade die Domäne Sport erweist sich aufgrund vielfältiger Funktionen

und variierender Semantik der Phrase als besonders erkenntnisreich.

5.2.3 Die Domäne Sport

Die Domäne Sport ist mit 78 Belegen die dritthäufigste im Korpus. Keiner der Belege

weist auf einen nationalsozialistischen Hintergrund hin. Die Phrase wird bei dieser

Domäne u.a. dafür verwendet, um auf die hohe Individualität einer Person, eines

Vereins oder Ähnlichem gegenüber einer anderen Entität zu verweisen.

(14) DIE PRESSE, 28.12.1991

Jeder seiner Springer bereite sich mental spezifisch vor, "jeder hat sein System!" Da schlägt in Innauer der Individualist durch, der jeden nach dessen Facon glücklich werden läßt. "Grundsätzlich aber wird so gearbeitet, daß jeder in einem Großwettkampf auch allein bestehen kann!" Die Emanzipation auch der Jungen sei weit vorangeschritten, daß sie bei den Routiniers ausgeprägt sei, verstehe sich von selbst. Zum Beispiel bei Andi Felder, neuerdings als Vogel-V unterwegs, Sechster in Courchevel. "Das war noch lange nicht das Ende. Ich erwarte mir bei der Tournee weitere Aufschlüsse!" Felder macht die Schere, Horngacher hingegen hat sie geschlossen. Jedem das Seine.

Der Verfasser von (14) beschreibt die individuelle Vorbereitung der Skispringer mit den

Wendungen „jeder hat sein System“ und „nach dessen Facon“. Während die genannten

Wendungen auf die allgemeine Individualität einer Entität und lediglich implizit auf

Unterschiede verweisen, differenziert Jedem das Seine explizit zwischen zwei

Sachverhalten, in diesem Fall zwischen dem Absprung der beiden Skispringer („Felder

macht die Schere, Horngacher hingegen hat sie geschlossen“). Die Phrase kann somit als

sprachliches Mittel zur kontrastiven Kategorisierung dienen. Analog dazu wird das im

Text beschriebene unterschiedliche Verhalten gerechtfertigt. Dass jeder das Seine

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macht, legimitiert unterschiedliche Verhaltensmuster, da es das Seine und somit einer

Person inhärent ist. Die beschriebene Funktion der kontrastiven Kategorisierung kann

sowohl textinitial (15)53 wie auch textfinal54 (17) realisiert werden.

(15) RHEIN-ZEITUNG, 29.10.2002

Jedem das seine: Während die einen auf Mountainbikes, Inline-Skates oder in Wanderschuhen jede Sekunde des Spätsommers auskosten, können es passionierte Skifahrer und Snowboarder kaum erwarten, wieder den Schnee stauben zu lassen.

Während in (16) lediglich eine Kategorisierung der Ausgangslagen zweier Vereine

erfolgt, wird in (15) und (17) kontrastiv zwischen unterschiedlichen Interessen

kategorisiert (Sommer- vs. Wintersportler und Eiskunstlauf vs. Eishockey). Mit Hilfe der

Phrase werden diese unterschiedlichen Interessen jedoch zeitgleich legitimiert.

Die Phrase kann somit als argumentative Stütze angesehen werden. So beschreibt auch

LÜGER (1999:226): „Satzwertige Phraseologismen treten vielfach in Textpassagen auf, die

man in ihrem Zusammenhang als Konklusion (claim) oder These einer Sequenz/eines

Textes betrachten kann.“ Fungiert die Phrase in (15) als textinitiale These55, für die dann

„zur Begründung bzw. Rechtfertigung jeweils bestimmte Daten (data) oder Fakten

angegeben werden“ (LÜGER 1999:226)56, so kann sie in (16) und (17) als „wirkungsvolle

Präsentation der für den Text entscheidenden Konklusion“ (LÜGER 1999:226) angesehen

werden. Die Phrase hat somit auch wichtige textlinguistische Funktionen inne, die in

Kapitel 5.2.4 genauer untersucht werden.

(16) DER TAGESSPIEGEL, 11.04.2004

[…] Der Rest war für Dortmund Ergebnis-Verwaltung. "Wir haben im Spiel nach vorne viele Bälle schon nach dem dritten oder vierten Ballkontakt wieder verloren", monierte HSV-Trainer Toppmöller. Die Gastgeber hatten im Verlauf der 90 Minuten nur zwei halbwegs verwertbare Chancen, die beste unmittelbar nach dem 0:2 durch eine Gemeinschaftsaktion von Barbarez und Romeo. Aber ein Tor hatten die Hamburger für ihre hilflosen Bemühungen wohl kaum verdient. Während die Dortmunder ohne den nach fünf Gelben Karten gesperrten Stefan Reuter nun im

53 Die Phrase stellt hier jedoch nicht die Überschrift dar. Diese lautet: „Wo der Schnee schon staubt Auf den Gletschern surren die Lifte - Zwei Vorschläge fürs Skivergnügen“. Der Fließtext wird somit durch Jedem das Seine eingeleitet. 54 Bei (14) ist die Phrase zwar aufgrund der in Kap. 5.1.1 beschriebenen Methodik textfinal dargestellt, es folgt danach jedoch ein weiterer Absatz. 55 LÜGER (1999:228) geht bei seiner Definition als These von einem textfinalen Gebrauch als Schlussregel aus. Bezogen auf Jedem das Seine ergibt eine textinitiale Definition jedoch ebenfalls Sinn. 56 LÜGER (1999:226) geht in diesem Fall nach dem Argumentationsschema von TOULMIN vor.

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Spitzenspiel auf den FC Bayern treffen, setzt sich der HSV am nächsten Samstag mit dem Abstiegskandidaten 1860 München auseinander. Jedem das Seine eben.

(17) SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 12.07.1997

Ein Nachmittag auf der Kunsteisbahn Eglisee: Eine homogen wirkende Mädchen-Gruppe, Hand in Hand, die unter der Aufsicht einer Leiterin zum graziösen «Ringel, Ringel, Reihe» ansetzt. Auf dem hinteren Eisfeld die Knaben, die ihre Kräfte im brachialen Eishockeysport messen. Jedem das Seine eben.

Die Domäne Sport bietet zahlreiche solcher Belege, die mit Hilfe der Phrase

unterschiedliche Beweggründe sowie polarisierende Interessen legitimieren. Geht man

von der Definition von RÖHRICH/MIEDER (1977:81) aus, so könnte man der Phrase bereits

hier verschiedene pragmatische Funktionen zuweisen. So ist sie als Rechtfertigung,

Legitimation, Argument aber auch außerhalb der Definitionen als Kategorisierung zu

verstehen. Die Funktion der Rechtfertigung wird in (18) noch substanzieller, da eine von

gesellschaftlichen Normen abweichende Situation beschrieben wird, die beim Leser

legitimiert werden soll.

(18) DIE PRESSE, 07.08.1998

Je schriller, umso besser. Bei den Gay Games in Amsterdam legt es manch einer darauf an, die Realität möglichst bizarr zu betonen, um den Eindruck einer Parodie gar nicht aufkommen zu lassen. Wie jener Amerikaner, der einen "Tunten-Tanz" zum Besten gab. Jedem(r) das Seine oder frei nach Shakespeare: Wie es Euch gefällt oder Was ihr wollt?

BURGER (2010:28) definiert für gesprächsspezifische Phraseologismen die fakultative

Funktion „als abrufbare Einheiten zur Bewältigung wiederkehrender kommunikativer

Aufgaben, insbesondere in exponierten bzw. kritischen Phasen der Kommunikation zur

Verfügung [zu] stehen“ (vgl. KOLLER 1977:70 Redensart als

Situationsbewältigungsmuster).57 Während sich diese Definition prinzipiell auf

mündliche Kommunikation bezieht, wird im obigen Beispiel deutlich, dass die

außergewöhnliche Situation des „Tunten-Tanzes“ mit Hilfe der abrufbaren Einheit

legitimiert wird. Weiterhin wird Jedem das Seine noch mit den Worten Shakespeares

„Wie es Euch gefällt oder Was ihr wollt?“ paraphrasiert. Die Semantik der Phrase wird

in diesem Beleg somit nochmals paraphrasiert. Die Legitimation wird sowohl durch die

Berufung auf eine Autorität (Shakespeare) als auch durch die Verwendung der Phrase

57 Dieser Faktor wird ausführlich in Kapitel 5.2.10.1 behandelt.

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Jedem das Seine erzielt. Denn „eine durch einen Phraseologismus gestützte

Argumentation zu bestreiten, stellt ein kommunikatives Problem dar. Sprichwörter,

Gemeinplätze, Truismen usw. gelten als zur Sprache gewonnene Wahrheiten“

(BECKMANN 1991:89). KOLLER (1977:140) definiert diesen Aspekt bei Redensarten als

„Argumentations-Ersparungsfunktion“. „Weitere Argumente und eine weiterführende

Analyse braucht es nicht, weil mit einem intuitiv-unmittelbaren Verständnis und

Einverständnis gerechnet werden kann.“ Der Leser wird somit besänftigt. Der Verfasser

gibt zeitgleich zu verstehen, dass er das beschriebene Verhalten billigt. Gerade erst

durch den Aspekt der „gewonnenen Wahrheit“, die BURGER (2010:108) als vom Sprecher

und Hörer akzeptierte „Formulierung einer generellen Regel“ (soziale Funktion bei

GRZYBEK (1984:225)) definiert, kann Jedem das Seine überhaupt die pragmatischen

Funktionen58 der Rechtfertigung, Legimitierung, Besänftigung etc. erfüllen. Dass diese

Formulierung einer generellen Regel auch auf Jedem das Seine zutrifft, zeigt sich bereits

in der Domäne Sport. So leiten zahlreiche Belege die Verwendung der Phrase mit den

nachfolgenden Worten ein (drei Belege werden hier exemplarisch gezeigt):

(19) STUTTGARTER NACHRICHTEN, 12.12.2013

'Es ist einfach das speziellere Snowboarden', sagt Isabella Laböck über ihre Disziplinen Parallel-Slalom und Parallel-Riesenslalom, die in den vergangenen Jahren an Bedeutung verloren haben. Nun gilt ja ganz generell: Jedem das Seine. Probleme gibt es dennoch. Zum Beispiel beim Blick auf den Renn-Kalender.

(20) TIROLER TAGESZEITUNG, 09.05.2011

„Da sollen die Mütter doch mit den Kindern zusammen sein. Ab der U 15 liegt die Regelung alleine bei den Vereinen", gewährt TFV-Geschäftsstellenleiter Gerhard Neurauter einen Einblick in (s)eine Sicht der Dinge. Selbst die Theorie – „am Muttertag haben wir sogar mehr Zuschauer" - sei vorhanden. Und wie immer gilt - jedem das Seine.

(21) BASLER ZEITUNG, 15.04.2008

Unerlaubte leistungsfördernde Mittel machen also überall Sinn - es gilt einfach die Regel: jedem das Seine. Oder anders gesagt: Anabolika hätten Gary Kasparow am Brett so wenig genützt wie Sprinter Ben Johnson im Startblock die Einnahme von Tranquilizern.

58 BURGER (2010:108) nennt die pragmatischen Funktionen „kontextuelle Funktionen“.

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Jedem das Seine ist demnach etwas, was immer gilt und eine Regel darstellt. Sie ist somit

universell einsetzbar und hat – wie sich in den nachfolgenden Kapiteln noch zeigen wird

– nicht nur in der Domäne Sport Geltungsanspruch.

Eine von den Überzeugungen des Verfassers abweichende Herangehensweise kann

ebenfalls mit der Phrase legitimiert werden ((22)). Mit Hilfe der Phrase kann somit eine

Konsensbildung zwischen verschiedenen Entitäten erzielt werden, obgleich die

Interessen, Ideen oder Meinungen logisch betrachtet nicht übereinstimmen.

(22) BASLER ZEITUNG, 01.09.2005

«free solo climbing». Im Gegensatz zum gewöhnlichen Sportklettern, dem «free climbing», bei dem ohne technische Hilfsmittel - aber mit Seil - geklettert wird, geht der Free-Solo-Kletterer ohne jegliche Sicherung an die Wand. «Wenn jemand diesen Kick braucht, okay, jedem das seine. Aber ich lebe dafür viel zu gerne», sagt Eyer.

Fakultativ kann auch offengelassen werden, ob die von eigenen Überzeugungen

abweichende Situation gleichzeitig legitimiert wird. In (23) entzieht sich der Verfasser

durch die Verwendung der Phrase einer Bewertung der vorher beschriebenen Situation.

Die Sprechereinstellung (vgl. BURGER 2010:198) wird nicht deutlich. Der Verfasser

entgeht dadurch einer potenziellen Konfrontation.

(23) DIE PRESSE, 13.07.1994

Eineinhalb Autostunden weiter sonnten sich die Bulgaren im Hotel Scanticon. Kein Medien-Auflauf, kein Pressetermin, kein Training, keine Hektik, kein lautes Wort. Süßes Nichtstun am Pool, da und dort wird geraucht, die Nacht des Jubels mit Festessen, Champagner, Toast und Disco-Fever bis 3 Uhr morgens sozusagen ausgeblasen. "Das paßt genau in unser Konzept", sagt Teamchef Penew. "Hauptsache, wir haben Spaß und erholen uns gut, um gegen Italien frisch zu sein." Jedem das Seine.

Semantisch betrachtet ermöglicht die Phrase hier einen hohen Grad an Vagheit (vgl.

BURGER 2010:80), welche durch sogenannte Leerformeln realisiert wird und je nach

Kontext definiert werden kann. Die semantische Vagheit bedingt sich ebenfalls durch

die fehlende textlinguistische Einbettung, da die Phrase durch kein lexikalisches Element

an den Kontext angeschlossen ist. Während „a specific context will reveal what the

proverb wants to say“ (MIEDER 2007:396), so ist es ebenfalls möglich, semantische sowie

funktionale Aspekte der Phrase völlig offen zu lassen. Das ist auf funktionaler Ebene

auch deshalb möglich, weil „ein Phraseologismus, je nach Verwendung, auch völlig

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unterschiedliche Funktionen ausfüllen“ (LÜGER 1999:140) kann. Eine genauere Definition

des Vagheitscharakters der Phrase wird in Kapitel 5.2.5 vorgenommen.

Festzuhalten ist jedoch, dass die Phrase in der Domäne Sport oftmals eine Wertungs-

und Bewertungsfunktion innehat (KOLLER 1977:72), die dann wie bereits berschrieben

rechtfertigt, legitimiert und besänftigt. Es zeigt sich bereits in diesem Kapitel eindeutig,

dass die Phrase die in Kapitel 4.2.2 beschriebenen Funktionen erfüllt. Sie vereint die

Bewertung einer Situation oder Handlung mit der Regulierung der Beziehung zwischen

Verfasser und Leser.

5.2.4 Die Domäne Werbung/Werbungsannoncen

In diesem Kapitel werden sowohl die

großangelegten Werbungen sowie kleinere

Werbeannoncen in Zeitungen hinsichtlich

ihrer Semantik, Pragmatik sowie

textlinguistischer Anpassung untersucht. Es

soll hier keine dezidierte Analyse der

Werbung erfolgen, sondern lediglich

aufgezeigt werden, dass die Phrase Jedem das

Seine vielfältige Verwendungsmöglichkeiten in

der Werbung aufweist. Anzumerken ist, dass alle bildlichen Darstellungen bis auf die

Werbung von IKEA medial kritisiert wurden und zurückgezogen wurden. Dass

Phraseologismen in der Anzeigenwerbung ein beliebtes Mittel sind, um Aufmerksamkeit

zu erhalten, wurde u.a. von JANICH (2005), LÜGER (1999:167ff.) und KOLLER (1977:174ff.)

herausgearbeitet. LÜGER (1999:174) bezieht sich hierbei insbesondere auf die

Modifikation59 von Phraseologismen und stellt gerade diese als Instrument zur

Aufmerksamkeitssteuerung heraus. Betrachtet man jedoch zunächst eine

Werbeanzeige, die mit der lexikalisierten Form des Phraseologismus wirbt (vgl.

Abbildung 13), so wird deutlich, dass die erste erzeugte Aufmerksamkeit beim

Rezipienten durch die gegebene sprachliche Repräsentation (Schriftgröße) zustande

59 Zu unterscheiden sind Modifikation und Variation. BURGER (2010:26) definiert Variationen als usuelle Erscheinungen.

Abbildung 13: Werbung BURGER KING

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kommt. Die Phrase weicht somit vom restlichen

Text ab und kann als eigenständiger Mikrotext

verstanden werden (BURGER 2010:108). Aufgrund

der Vagheit oder Generizität (vgl. LÜGER 1999:168)

der Phrase erfolgt dann das weiterführende

Interesse, da erst einmal nicht ersichtlich ist, was

„das Seine“ ist. Die argumentative Funktion ist also

bei der Werbung von BURGER KING (Abbildung 13)

sekundär. Anders verhält es sich bei der

Anzeigenwerbung von NOKIA (Abbildung 14). Die

Phrase wird als argumentative Stütze eingesetzt,

während die Aufmerksamkeitssteuerung durch das

Bild vorgenommen wurde. Mit Hilfe der Phrase wird argumentiert, dass jedem Kunden

das passende Gehäuse geboten werden kann. Die Vagheit der Phrase wird dadurch

aufgelöst und die argumentative Funktion entfaltet sich durch die Form des „All-Satzes“,

also die Möglichkeit Jedem das Seine (Gehäuse) geben zu können. Die Phrase ist

demnach auch eine implizite Handlungsanweisung (KOLLER 1977:72) des Verfassers an

den Kunden. Im Bereich der Werbung zeigen sich ebenfalls unterschiedliche

okkasionelle Modifikationen. „Im Unterschied zu den lexikographisch erfaßten

Varianten handelt es sich hier um ad hoc gebildete Veränderungen phraseologischer

Einheiten […], die noch nicht usuell geworden sind“

(LÜGER 1999:174). So beispielsweise bei AUSTRIAN

AIRLINES, die eine Modifikation der Phrase nutzten, um

für Flüge nach Paris zu werben (vgl. Abbildung 15).60 Die

Besonderheit einer Modifikation liegt in „der

Stimulierung von Aufmerksamkeit und Leseinteresse“

(LÜGER 1999:174). Sie hat hier somit die Fähigkeit,

aufmerksamkeitssteuernd (durch Schriftgröße und

Nichterfüllung der Erwartung „die Seine“ anstelle von

„das Seine“) und zusammen mit dem Bild argumentativ

60 Ein weiteres Beispiel wäre die Werbung von ESSO und TCHIBO, die mit dem Satz „Jedem den Seinen“ warben.

Abbildung 14: Werbung NOKIA

Abbildung 15: Werbung AUSTRIAN-

AIRLINES

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zu wirken. Während das Seine zuvor unbestimmt war oder mehrere

Auswahlmöglichkeiten innehatte, wird nun Jedem eine Möglichkeit geboten und zwar

an die Seine zu fliegen. Betrachtet man die aus den Werbungen erzielte mediale

Wirkung (vgl. Kap. 5.1.5), so könnte man zu dem Entschluss kommen, dass sich die

Verfasser der Werbungen, ebenso wie bei NS-Vergleichen (SCHWARZ-FRIESEL 2013:199),

über die Inadäquatheit bewusst sind und die nationalsozialistisch belastete Phrase aus

Kalkül wählen. „Daß zu den Geschäftsbedingungen von Werbetextern nicht grade

Sensibilität für inhumane Assoziationen ihrer Slogans gehört, sondern bedenkenlose

Interessenwahrnehmung für die Warenproduzenten und -verkäufer, ist eine

Binsenwahrheit“ (KLENNER 2002:329).

Ein potenzielles Indiz für solch eine bewusste Verwendung könnte die Werbung von IKEA

sein (vgl. Abbildung 16 und Abbildung 17). Während im kanadischen Katalog mit dem

Satz „Your personal touch starts at the store“ geworben wird, verwendet das deutsche

Äquivalent die Phrase Jedem das Seine. Der darunterliegende Fließtext ist hingegen

nahezu gleich.

Dass hinter der wiederholten Verwendung einer missbrauchten Phrase tatsächlich

Kalkül stecken könnte, wird auch von der THÜRINGER ALLGEMEINEN in (24) unterstellt.

(24) THÜRINGER ALLGEMEINE, 15.01.2009

Tchibo und Esso haben eine gemeinsame Kampagne gestoppt, in der auf etwa 700 Plakaten mit dem Spruch Jedem den Seinen für eine große Kaffeeauswahl in Esso-Tankstellen geworben werden sollte. Die Nazis schrieben Jedem das Seine an das Tor zum KZ Buchenwald. Der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald-Dora, Volker Knigge, verurteilte gegenüber dieser Zeitung die Geschichtslosigkeit in der Werbebranche: Die Kombination aus Vergesslichkeit und Kaltschnäuzigkeit ist

Abbildung 16: IKEA Werbung Original Abbildung 17: IKEA Werbung Deutschland

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deprimierend. Es passiert zu häufig, um nur ein Ausrutscher zu sein. Beide Firmen entschuldigten sich.

Da die gezielte und bewusste Verwendung jedoch nicht wissenschaftlich nachgewiesen

werden kann, bleibt diese Frage an dieser Stelle unbeantwortet. Was diese Anmerkung

jedoch legimitiert, ist die Tatsache, dass zahlreiche Unternehmen die Phrase nach 1998

(der ersten größeren Werbung von NOKIA) erneut verwendeten und dies immer wieder

mit geschichtlicher Unkenntnis begründeten. Die nachfolgend aufgelisteten Belege sind

kleinere Werbeanzeigen, die in den Zeitungen selbst erschienen sind. Mit Hilfe der

Phrase wird ebenso auf die individuelle Auswahlmöglichkeit des potenziellen Kunden

hingewiesen. Konträr zu den Werbemaßnahmen der größeren Unternehmen wird die

Verwendung der Phrase bei keiner der Zeitungsannoncen öffentlich kritisiert.

(25) NIEDERÖSTERREICHISCHE NACHRICHTEN, 06.07.2009

Bedienen Sie sich aus Ihrem persönlichen Wohlfühlkorb - für die Dauer des Aufenthaltes, gefüllt mit Bademantel und Saunatuch. Der Fitnessbereich des Life Resorts steht Ihnen exklusiv zur Verfügung. Sport oder Wellness: jedem das Seine. Beauty, Sport, Wellness, Kulinarik, Nordic Walking, Biken und Golfen, oder entspannt in der heißen Sauna, schwerelos im prickelnden Wasser schweben. Machen Sie einfach, was Ihnen gut tut.

Während in der Domäne Sport beschrieben wurde, dass die Phrase einen hohen Grad

an Vagheit sowie Leerformeln bietet, so zeigt sich ähnlich wie bei NOKIA, dass das Seine

im Verlauf der Anzeige von (25) definiert wird (Nordic Walking, Biken, Golfen). Das

Sprichwort ist somit nicht „indexikalisiert“, es enthält konträr zur allgemeineren

Definition nach LÜGER (1999:92) Verweise auf einen Sachverhalt. Durch die Phrase wird

demnach argumentiert, dass das Unternehmen die Fähigkeit hat Jedem Kunden das

Seine zuzuteilen. Die Auswahlmöglichkeiten sind konträr zu NOKIA (unterschiedliche

Gehäuse) noch wesentlich vielfältiger und belaufen sich auf verschiedene Aktivitäten.

Analog zur individuellen Auswahlmöglichkeit des Kunden werden durch die Phrase

ebenfalls individuelle Produkte beschrieben. In (26) wird dies durch die Anmerkung „es

wird in Bezug auf Größe, Gewicht und Körperbau exakt an den Körper des Kunden

angepasst“ deutlich. Auffällig ist, dass die Phrase in den Werbeannoncen oftmals

textinitial verwendet wird. Sie bietet somit analog zur Domäne Sport (vgl. (15)) und der

Werbung von BURGER KING (Abbildung 13) textinitial ausreichend Vagheit, um den

Rezipienten zum Weiterlesen zu ermutigen.

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(26) AACHENER ZEITUNG, 20.10.2012

Jedem das Seine: Bettsysteme nach Maß Jeder Mensch ist individuell. Deshalb sollte sein Bett es auch sein. Das Bettenhaus Medorma in Heinsberg ist bereits seit 25 Jahren auf die perfekte und damit gesündeste Schlaflösung für jeden einzelnen seiner Kunden spezialisiert. Mit Ecco 2, bestehend aus flexiblem Federholzrahmen, Matratze und Nackenkissen, bietet das Fachgeschäft ein Bettsystem nach Maß. Es wird in Bezug auf Größe, Gewicht und Körperbau exakt an den Körper des Kunden angepasst. Schlafgewohnheiten werden berücksichtigt. Das Bettsystem passt sich dem Körper an, nicht umgekehrt.

In (27) stellt die Phrase die Schlussregel der Argumentation in der Überschrift dar. Sie

fasst die zuvor angebotenen Möglichkeiten (Traubenkernöl-Massage,

Schokoladenpackung etc.) treffend zusammen. Betrachtet man den gesamten Text, ist

die Phrase jedoch Teil der textinitialen Überschrift. Im Bereich der Werbeannoncen wird

Jedem das Seine nahezu ausschließlich textinitial verwendet.

(27) DIE ZEIT, 30.09.2004

Ob Traubenkernöl-Massage, Schokoladenpackung oder Wasser-Stretching, ob Toskana, Thüringen oder Niederbayern - jedem das Seine

In der Quelle liegt die Kraft. Das wussten schon die alten Römer, die sich im Herbst in den Thermalbädern der südlichen Toskana tummelten. Derart aufgemöbelt, ließ sich der raue Winter besser überstehen. Auf diesem kurmäßig historischen Boden findet auch der moderne Erholungssuchende Aufbauhilfe fürs Immunsystem. Das Wellness-Zentrum Terme di Saturnia, von der englischen Zeitschrift Travel & Leisure als »bestes Medical-Spa weltweit« gepriesen, verfügt über eine schier unerschöpflich sprudelnde Quelle und jede Menge Fantasie, das kostbare Nass zu nutzen. Mit dem prickelnden Heilwasser werden nicht nur die 37 Grad warmen Badebecken gespeist, es dient zudem als Grundstoff für die hauseigene Kosmetiklinie.

Der Gebrauch der Phrase ermöglicht es daher dem Kunden, die Erfüllung zwei zentraler

Bedürfnisse bieten zu können, die für wirkungsvolle Werbung essentiell sind. Man kann

damit einerseits einen hohen Grad an Individualität darstellen, gleichzeitig verfügt man

aber über die Fähigkeit, jedem Einzelnen das Geeignete bieten zu können. Auch VON DER

PFORDTEN (2004:10) sieht in der Phrase „einen normativen Individualismus: Nicht nur das

Kollektiv zählt ethisch, sondern jede einzelne zu berücksichtigende Person bzw. Entität.“

Die Zielgruppe der Werbung vergrößert sich daher um ein Vielfaches.

Nachfolgend soll der Gebrauch in der Domäne Politik analysiert werden. Während sich

viele Funktionen aus den vorangegangenen Domänen wiederfinden lassen, so gibt es

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auch zahlreiche neue, die bisher noch nicht dargestellt wurden. Gerade der semantische

Kontrast zwischen Explizitheit in der Werbung und Vagheit in der Politik zeigt die

Vielfältigkeit der Phrase auf.

5.2.5 Die Domäne Politik

Der Domäne Politik wurden 103 Belege des Korpus zugewiesen. Sie ist somit die

zweithäufigste Domäne des Korpus. Sieben Belege klären über den

nationalsozialistischen Hintergrund der Phrase auf.61 In (28) wird eine bisher noch nicht

erfasste Funktion der Phrase beschrieben.

(28) DIE ZEIT, 19.05.1966

Auf solchem Niveau kann es keine ernsthafte politische Auseinandersetzung geben. Jedem das Seine – das heißt in diesem Falle: eine sachliche Diskussion mit Huyn lohnt nicht. Da hält sich, wer streiten will, schon lieber an Strauß oder Guttenberg. Bei ihnen gibt es die gleichen Ideen zu Schröders Politik im Original, und sie wissen wenigstens, wo im Kampf der Parteien die Linie zu ziehen ist: nämlich am Gürtel.

Während bei den vorangegangenen Belegen der Werbungsannoncen die Vielfältigkeit

von Optionen dargelegt wurde, wird hier durch die Phrase und den Zusatz „das heißt in

diesem Falle“ darauf verwiesen, eine mögliche Option – in diesem Fall eine Meinung

bzw. eine Person – zu exkludieren. Konträr zu (22) wird die von den eigenen

Überzeugungen abweichende Meinung nicht legimitiert. Die Person Huyn wird somit

gleichzeitig charakterisiert und negativ bewertet. Daraus ergibt sich eine Warnung (vgl.

RÖHRICH/MIEDER 1977:81), sich keiner Diskussion mit Huyn hinzugeben.

Der ambivalente Charakter der Phrase wird in der Domäne Politik offensichtlich. In

zahlreichen Belegen der Domäne wird mit Hilfe der Phrase auf Überzeugungen oder

Werte einer Partei oder Person verwiesen. Sie dient dann – je nach Intention – auch

einer positiven Bewertung (vgl. (29)).

(29) SAARBRÜCKER ZEITUNG, 19.05.2007

Müller: Sowohl SPD als auch CDU sprechen in ihren Programmen vom Grundwert der Gerechtigkeit. Der Unterschied besteht in der Ausfüllung dieses Begriffs. Bei Sozialdemokraten ist Gerechtigkeit in erster Linie identisch mit Ergebnis-Gleichheit.

61 Belege, die auf den Besuch Obamas und Merkels der Gedenkstätte Buchenwald verweisen (vgl. Kapitel 5.1.5.3) wurden nicht der Domäne Politik, sondern der Domäne Buchenwald zugewiesen.

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Die SPD sagt: "Jedem das Gleiche." Wir sagen: "Jedem das Seine." Die Union versteht Gerechtigkeit vor allem als Chancengerechtigkeit. Wenn aber die gleichen Chancen für alle herbeigeführt sind, gibt es die Kategorie der Eigenverantwortung. […].

Möglich ist das gerade wegen der von BURGER (2010:80) definierten Vagheit eines

Phraseologismus. „Vagheit liegt vor, wenn die Bedeutung eines Ausdrucks […] ein

breites Spektrum konkretisierender Vorstellung […] eröffnet“ (KLEIN 2014:225).62 Welche

Konsequenz aus der Phrase für die Definition von Gerechtigkeit folgt, wird nicht

erläutert.63 So kann die Phrase unter gewissen Umständen auch für Ungerechtigkeit

stehen, wie die Analyse der Domäne Wirtschaft zeigen wird (Kap. 5.2.6). Durch die

Nutzung vager Wendungen ergibt sich daher die Möglichkeit der Mehrfachadressierung.

„Unter bestimmten historischen Bedingungen [sind] vage Begriffe in der Lage […], mit

großer Durchschlagskraft sehr unterschiedliche politische Vorstellungen zu bündeln“

(KLEIN 2014:225). Mit der allgemein anerkannten Regel64 Jedem das Seine können sich

zahlreiche Person unterschiedlichen Alters und differenzierender politischer

Vorstellungen identifizieren. Die Phrase wird also genutzt, um „Adressatengruppen mit

unterschiedlicher oder gegensätzlicher Einstellung zur Zustimmung zu bewegen“ (KLEIN

2014:225). „Indem die Redensartformeln den Anschein erwecken, in ihrer unmittelbar

einsichtigen Selbstverständlichkeit nicht weiter hinterfragt werden zu müssen, nehmen

sie dem Leser Analysearbeit ab, behindern und verhindern möglicherweise die Analyse

geradezu“ (KOLLER 1977:125).

KOLLER (1977:122ff.) nimmt diese Definition für „Redensarten in der Sprache der

politischen Berichterstattung“ an und definiert sie als „Einverständnisherstellungs- und

-bestätigungsfunktion“ (KOLLER 1977:72). LÜGER (1999:139) erkennt darin das „Erwecken

des Eindrucks unmittelbar einsichtiger Selbstverständlichkeit.“ Nach RÖHRICH/MIEDER

(1977:81) könnte man der Phrase somit nicht nur die pragmatische Funktion des

Arguments, sondern ebenfalls der Überredung zuordnen. Für den nachfolgenden

politischen Diskurs zu Gerechtigkeit kann die Phrase außerdem als Leitlinie der CDU

angesehen werden und somit unter Umständen sogar zum Ideologievokabular werden

62 KLEIN (2014:225) unterscheidet eindeutig zwischen Vagheit und Mehrdeutigkeit. „Mehrdeutigkeit liegt vor, wenn ein Ausdruck mindestens zwei auf der langue-Ebene etablierte unterscheidbare Bedeutungen besitzt“. 63 KOLLER (1977:140) definiert für Redensarten in der Politik auch eine Unschärfefunktion, die „unterschiedliche Situationen auf einen gemeinsamen Nenner“ bringen. 64 Vgl. Kapitel 5.2.3: Jedem das Seine als Formulierung einer generellen Regel (BURGER 2010:108).

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(KLEIN 1989:7). „Ein prägnanter Phraseologismus […] hat eine große Chance, intertextuell

weitergegeben zu werden. Das gilt großräumig für alle Medien. Z. B. wird eine solche

Originaläußerung eines Politikers – über eine Agenturmeldung oder auch direkt – in alle

Medien übernommen“ (BURGER 1999:85). Weiterhin findet durch den Zusatz „Die SPD

sagt: "Jedem das Gleiche."“ eine kontrastive Abgrenzung oder Kategorisierung statt, die

den komplexen Sachverhalt trivial erscheinen lässt und dem Rezipienten die einfache

Entscheidungsmöglichkeit überlasst: Gerechtigkeit durch Jedem das Seine oder Jedem

das Gleiche (vgl. Vereinfachungsfunktion, KOLLER 1977:72).

Die Phrasen „überführen die "politische Welt" in die Alltagswelt, indem sie die eine in

den Formeln der anderen darstellen“ (KOLLER 1977:138). Diese Form wird in der Domäne

Politik öfter angewandt und ist auch die für die Domäne Bildung von großer Bedeutung.

KOLLER (1977:138) definiert sie als „Plausibilitätsargumentation“. In (30) und (31) wird

die Phrase Jedem das Seine um den Teil nicht jedem das Gleiche erweitert (Extension).

(30) NÜRNBERGER ZEITUNG, 07.03.2005

Die Handlungsmaxime könne dabei nur lauten: »Jedem das Seine, nicht jedem das Gleiche!« Ungleichheit verursache beim Menschen drei Reaktionen: Sich damit abfinden, nach dem Wünschenswerten streben und nach Anlass für Kritik zu suchen - Letzteres das Stadium, in dem sich die SPD aktuell mit der Bildungspolitik der CSU-Staatsregierung plagt.

(31) SALZBURGER NACHRICHTEN, 22.04.1995

Den auffälligsten Unterschied zwischen alten und neuen ÖVP-Grundsätzen finden wir unter Punkt 3.5: Wo einst Gleichheit stand, steht jetzt Gerechtigkeit. Und zwar deshalb, weil die Menschen zwar in ihrer Würde und ihren Rechten gleich seien, ungleich hingegen in ihren Anlagen, Fähigkeiten, Neigungen und Interessen. Ergo versteht die ÖVP unter Gerechtigkeit nicht jedem das gleiche, sondern jedem das seine.

Festzuhalten ist, dass die oben beschriebenen Funktionen von Jedem das Seine auch in

der Politik lediglich deswegen realisiert werden können, weil die Phrase als

Formulierung von „Überzeugungen, Werten und Normen“ gilt und „in einer bestimmten

Kultur und Zeit soziale Geltung“ beansprucht (BURGER 2010:107). Die pragmatischen

Funktionen wirken auch hier nur durch die soziale Funktion. Beleg (29) ist ebenfalls aus

sprachkritischer Sicht sehr interessant, da die verwendete Formulierung in der

darauffolgenden Woche durch die Partei Die Linke kritisiert wird. (30) und (31) hingegen

werden nicht kritisiert.

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(32) SAARBRÜCKER ZEITUNG, 26.05.2007

Mit Bestürzung hat diese Woche die Partei Die Linke im Saarland auf Äußerungen des Ministerpräsidenten Peter Müller in unserer Zeitung reagiert. Müller hatte gesagt: "Bei Sozialdemokraten ist Gerechtigkeit in erster Linie identisch mit Ergebnis-Gleichheit. Die SPD sagt: Jedem das Gleiche. Wir sagen: Jedem das Seine." Der Chef der Saar-Linken Hans-Kurt Hill kritisiert, dass Müller wohl nicht bedacht habe, dass der Slogan "Jedem das Seine" das Eingangstor des KZ Buchenwald "ziere". In diesem KZ seien 56000 Menschen von den Nazis ermordet worden. Wegen fehlender sprachlicher Sensibilität war 2005 auch der jetzige Fraktionschef der Linkspartei im Bundestag, Oskar Lafontaine, von der Gegenseite scharf angegangen worden.

Diese kritikwürdige Anmerkung der Partei Die Linke wird seitens der SAARBRÜCKER ZEITUNG

jedoch nicht weiter in geschichtlicher Art und Weise kontextualisiert. Es wird hingegen

ein vergleichbarer Fall von Oskar Lafontaine eingeführt, der dazu führt, dass das

eigentliche Vergehen Müllers verharmlost wird, da es vergleichbare Fälle schon

mehrfach gegeben habe. Angemerkt sei hier, dass die CDU Saarland die Phrase bereits

2004 in ihr Wahlprogramm übernahm und sie bis heute auf ihrer Internetplattform für

eine Definition einer gerechten Gesellschaft steht.65 Diese ahistorisch profane

Weiterverwendung der Phrase überrascht zumindest in der Domäne Politik sehr, da „der

weitere Gebrauch eines inzwischen mißbrauchten Schlagwortes eine Sensibilität

voraus[setzt], die man zumindest von denjenigen wird erwarten dürfen, deren Beruf im

Umgang mit Worten und deren Bedeutung besteht“ (KLENNER 2002:332). Während sich

weder Peter Müller noch die CDU für die Verwendung von Jedem das Seine

entschuldigten, geriet die hessische Kultusministerin Dorothea Henzler (FDP) unter

medialen Druck, nachdem sie die Phrase in einer Broschüre verwendete (vgl. (33)).

(33) MANNHEIMER MORGEN, 06.02.2009

Den vom römischen Staatsmann Cato dem Älteren (234 bis 149 v. Chr.) stammende und von den Nazis missbrauchten Spruch „Jedem das Seine“ hat Hessens neue Kultusministerin Dorothea Henzler (FDP) in einer Broschüre der hessischen FDP benutzt. Der Spruch stand über dem Eingang des Konzentrationslagers Buchenwald. Die Broschüre sei im Internet gelöscht worden, Reste der Druckauflage würden eingestampft, sagte Henzler. Es tue ihr sehr leid, diese Formulierung verwendet zu haben.

Das Fehlen eines öffentlichen Konsenses wird auch hier deutlich. Während die CDU ohne

negative Folgen mit der Phrase hantiert, wird Dorothea Henzler dafür kritisiert. Henzler

65 http://www.cdu-saar.de/content/messages/46951.htm (zuletzt eingesehen am 28.03.2017).

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verwendete die Phrase, um die bildungspolitischen Vorstellungen der FDP

zusammenzufassen. Ebenso wie bei Müller dient die Phrase neben den bereits

beschriebenen Funktionen (Vereinfachung etc.) der Zusammenfassung (vgl.

RÖHRICH/MIEDER 1977:81) eines komplexen politischen Bereichs. Funktion der Phrase

und Intention des Sprechers sind demnach äquivalent. Die daraus resultierende mediale

Reaktion unterscheidet sich jedoch immens.

Eine weitere Extension der Phrase ist „Jedem das Seine, mir das meiste.“ Sie wird

insbesondere in der Politik und Wirtschaft angewandt. Einerseits wird mit der Phrase

ein Handlungsmuster beschrieben, welches keinesfalls angewandt werden darf,

andererseits werden damit politische Ideologien anderer Parteien oder Politiker

dargestellt, um sie zu diffamieren. In der Domäne Politik wird folgendes deutlich: Wird

die Phrase Jedem das Seine um die Extension „mir das meiste“ erweitert, erfolgt

hierdurch eine negative Bewertung, die als Selbstbereicherung, Egoismus und

Ungleichheit paraphrasiert werden kann (vgl. (34) und (35)). Erhält die Phrase jedoch die

Extension „nicht allen das Gleiche“, so wird damit etwas Wünschenswertes und

Positives zum Ausdruck gebracht, was gleichbedeutend mit Individualität,

Selbstverwirklichung und Freiheit ist. Die Phrase besitzt somit einen semantisch

ambivalenten Charakter, durch welchen sogar Gegensätzliches zum Ausdruck gebracht

werden kann. Während die beschriebenen Extensionen aufgrund ihrer frequentierten

Verwendung lexikalisiert sind, so gibt es Weitere, die okkasionell gebildet sind und deren

Bedeutungen nicht eindeutig zu erfassen sind. Diese werden nachfolgend in Kapitel

5.2.9.2 analysiert.

(34) TAGESANZEIGER, 31.10.2008

[…] Er lobte die bayerische Computerindustrie, die Bayerischen Motorenwerke und sprach vom Wettbewerb der Produktionsstätten. Dabei betonte er, wie wichtig die Bildung sei angesichts der globalen Konkurrenz. Auch auf die Finanzkrise kam Stoiber zu sprechen. Die Maxime «Jedem das Seine und mir das meiste» dürfe nicht sein.

Die Phrase kann in (34) der pragmatischen Funktion der Warnung oder Mahnung (vgl.

RÖHRICH/MIEDER 1977:81) zugewiesen werden, da Stoiber sagt, dass diese Maxime nicht

sein dürfe und somit negative Folgen hätte.

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(35) WESTDEUTSCHE ZEITUNG, 14.02.2013

Im Freistaat Bayern sieht man das naturgemäß ganz anders: CSU-Chef Horst Seehofer attackierte Steinbrück gleich zu Beginn seiner überraschend kurzen Rede scharf. Der habe als Bundesfinanzminister vor allem Schulden hinterlassen. Er verschwieg dabei aber, dass die meisten Schulden als Bundesfinanzminister bislang CDU-Mann Wolfgang Schäuble gemacht hat. Mit Blick auf Peer Steinbrücks umstrittene Redehonorare fügte Seehofer hinzu: "Sein Lebensmotto ist offensichtlich: jedem das Seine und mir das Meiste."

Die Aussage Seehofers wird im Original intertextuell weitergegeben und von zahlreichen

Zeitungen veröffentlicht. Die beschriebene Extension wird in keinem der Belege mit der

NS-Zeit verknüpft. Gerade im politischen Sektor wirkt eine solche Anschuldigung wie in

(35) besonders schwer, da dort prinzipiell die Aushandlung von Gerechtigkeit vollzogen

wird. Peer Steinbrücks Interesse ist nach Seehofer jedoch nicht die Aushandlung von

Gerechtigkeit und Gemeinwohl, sondern Selbstbereicherung durch erhaltene

Redehonorare. Paradoxerweise würde man das „Lebensmotto“ Steinbrücks ohne die

Extension „mir das meiste“ vermutlich als Aushandlung von Gerechtigkeit definieren.

Die Phrase kann somit durch die Extension mir das Meiste sogar als Diffamierung

eingesetzt werden. Er spricht ihm hiermit die Fähigkeit ab, auf politischer Ebene gerecht

zu handeln, da er lediglich nach Gewinnmaximierung für seine eigene Person schaut.

Seehofer bewertet die politischen Fähigkeiten Steinbrücks demnach als unzureichend.

Die Sprechereinstellung wird in diesem Beleg somit mehr als deutlich. Dass dies jedoch

bei Phraseologismen nicht immer der Fall ist, zeigt u.a. BURGER (2010:198). Die

vorangegangenen Analysen zu Jedem das Seine haben ebenfalls gezeigt, dass die

Sprechereinstellung positiv wie negativ sein kann und dass sich der Sprecher durch die

Verwendung der Phrase auch einer eindeutigen Einstellung entziehen kann (vgl. (23)).

In der Domäne Politik zeigen sich somit vielfältige Funktionen der Phrase, die

insbesondere die Aufgabe haben, eine Wirkung beim Leser zu bewirken (Plausibilität,

Einverständnis, Bestätigung). Nachfolgend sollen zwei Domänen untersucht werden, in

welcher die Phrase einerseits fast ausschließlich eine negative Bewertung darstellt

(Wirtschaft), andererseits nahezu durchweg positiv gewürdigt wird (Bildung). In diesen

beiden Kapiteln wird somit insbesondere die Semantik der Phrase untersucht.

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5.2.6 Die Domäne Wirtschaft

45 Belege wurden der Domäne Wirtschaft zugewiesen. In keinem der Belege wird der

nationalsozialistische Gebrauch der Phrase thematisiert. Die Analyse der Domäne

Wirtschaft soll u.a. aufzeigen, dass die in der Domäne Politik proklamierte Gerechtigkeit

durch Jedem das Seine auch feststehende Ungleichheiten legitimieren kann, die

womöglich nicht gerecht sind. In (36) wird beschrieben, wie das Unternehmen Bayer

jedem seiner Mitarbeiter das Seine abhängig von ihrer hierarchischen Position im

Unternehmen bietet.

(36) NEUE ZÜRCHER ZEITUNG, 28.08.2001

Rund ums Chemiewerk entstand schon vor hundert Jahren eine Gartenstadt. Nur der strenge Geruch, der gelegentlich herüberwehte, erinnerte an den Industriestandort. Bayer tut und tat sonst alles, um das Leben angenehm zu machen. Je nach Lohn- und Gehaltshöhe wurde jedem das Seine geboten, dem Fabrikarbeiter die Wohnung in der "Kolonie", den Chefs die stattliche Villa im Grünen, den "Bayer-Beamten" das Zweifamilienhäuschen, oft nur wenige Minuten Fussweg vom Werk entfernt. In der Tat nannten sich die mittleren Angestellten lange Zeit Beamte, hatten sie doch Entlassungen nicht zu befürchten. Einmal bei Bayer, immer bei Bayer.

Das Seine ist in diesem Fall die Wohnung oder das Haus, welches jedem Mitarbeiter in

Leverkusen geboten werden kann. Konträr zu vielen anderen Belegen wird das Seine

somit explizit gemacht. Die Realisierung von das Seine ist abhängig von der Lohn- und

Gehaltshöhe und wird demnach als gerecht legitimiert. VON DER PFORDTEN (2004:11)

definiert „weitere Gerechtigkeitsmaßstäbe bzw. Konkretisierungen des „Jedem das

Seine““, die hier unter Umständen geeigneter zutreffen. So könnte man die in (36)

dargestellte Gerechtigkeitsdefinition von Jedem das Seine eher als „Jedem nach seiner

Leistung“, „Jedem nach seinem Verdienst“ sowie „Jedem nach seiner Stellung im

Gemeinwesen“ beschreiben. Es zeigt sich, dass das Seine nicht ausschließlich gewählt

werden kann. In diesem Fall wird es einem nach gewissen Faktoren zugewiesen.66 Man

erhält somit nicht das, was einem gehört, sondern das was einem nach seiner Position

66 VON DER PFORDTEN (2004:11) gibt hier noch Beispiele: Jedem das Gleiche. Jedem nach seinen

Bedürfnissen. Jedem nach seiner Leistung. Jedem nach seinem Verdienst. Jedem nach seiner Stellung im Gemeinwesen. Jedem nach seiner Geburt. Jedem, sofern er der erste ist (Prioritätsprinzip). Jedem nach seinen Menschenrechten (Rechteposition). Jedem so, daß alle am Meisten haben (Utilitarismus). Jedem so, daß die Ärmsten am Meisten haben (Rawls’ Differenzprinzip). Jedem mehr, wenn kein anderer dadurch weniger bekommt (Paretoprinzip).

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zusteht. Dass diese Definition der Phrase womöglich missbraucht werden kann, wird in

(37) geschildert.

(37) NÜRNBERGER NACHRICHTEN, 28.11.1995

Brakemeier verlangte eine Neuberechnung der Produktionskosten, die sich von sozialen und ökologischen Gesichtspunkten leiten läßt: "Wirtschaftlich sollte künftig das genannt werden, was einer größtmöglichen Anzahl von Menschen den Lebensunterhalt garantiert." Solange keine Einigung darüber erzielt wird, was dem Menschen zusteht, bleibe das Prinzip "Jedem das Seine" unzureichend und dem Mißbrauch ausgesetzt. Wirtschaft solle die Gesamtheit im Auge behalten: "Ist es unzumutbar zu fordern, daß nicht der Gewinn, sondern der Friede oberstes Ziel wirtschaftlicher Überlegungen sein sollte?"

Die Definition dessen, was einem Menschen zusteht, ist somit individuell auslegbar und

fördert unter Umständen eher Ungleichbehandlung. Gerade die Vagheit der Maxime

Jedem das Seine kann demnach auch negative Folgen haben und zynisch gedeutet sogar

Legitimation für die Handlungen im Nationalsozialismus sein. In (38) wird die Phrase

deshalb auch als „der dehnbarste Satz des Rechts“ paraphrasiert.

(38) SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 13.03.2012

Die Regeln des Rechts sind die folgenden: „Ehrbar leben, andere nicht verletzen, jedem das Seine zubilligen.“ Der Satz steht im Corpus Juris, in der einflussreichsten Kodifikation der Rechtsgeschichte, geschrieben im sechsten Jahrhundert. Das Rechtsdenken baut bis heute darauf auf; die Rechtsgeschäftspraxis nicht. Jedem „das Seine“ zuzubilligen, daraus wurde der dehnbarste Satz des Rechts. Die Manager zum Beispiel haben sich absurd hohe Gehälter und Antritts- und Austrittsgelder genehmigt nach dem Motto: Jedem das Seine, mir das Meiste. So ein fröhlicher Zynismus galt Megaverdienern nicht mehr als zynisch, sondern als selbstverständlich.

Jedem das Seine kann somit „als Rechtfertigung jeder beliebigen Gesellschaftsordnung

im Allgemeinen und jeder beliebigen generellen Vorschrift im Besonderen“ (KELSEN

1953:33) dienen. Ist ein gesellschaftliches Bild gegeben, in welchem beispielsweise

durch Ungleichbehandlung einem kleinen Teil der Gesellschaft ein Großteil gehört, so

kann die Phrase auch diesen Zustand legitimieren, wie (39) zeigt.

(39) SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 27.04.2006

Angesichts der Empörung über Managergehälter, irrwitzige Tantiemen und goldene Handschläge formulieren die Ökonomen heute die Sache mit „Vorbildhaftigkeit“ der Wirtschaftselite vorsichtiger. Der Wirtschaftsliberalismus aber läuft immer noch auf eine sehr calvinistische Auslegung der alten

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Gerechtigkeitsformel suum cuique hinaus: Jedem das Seine – das ist demzufolge das, was jeder hat.

In der thematischen Domäne Wirtschaft wird die Phrase vielfach dazu genutzt, die

ungleiche Behandlung verschiedener sozialer Klassen zu beschreiben.67 So auch in (40),

in welchem das ST. GALLER TAGBLATT die Ungleichbehandlung der Bundesregierung

zwischen Familien, Rentnern und Arbeitslosen sowie Betuchten und Bedienten

beschreibt. Durch den Kotext „die Raffkes griffen zu“ wird die Semantik der

Selbstbereicherung wiederholt deutlich.

(40) ST. GALLER TAGBLATT, 26.06.2010

Nach wie vor müssen Mitglieder der gesetzlichen Krankenversicherung Eintritt zahlen, wenn sie zum Arzt gehen wollen. Und wer wissen möchte, wie es um die deutsche Bildung steht, sollte erst eine beliebige deutsche Bank-Filiale besuchen und danach eine beliebige deutsche Schule. Eine moralische Wende hatte die neue Bundesregierung versprochen – und in der Tat: Die Raffkes griffen zu. Jedem das Seine. Aber mir das meiste. Niemand bezweifelt ja, dass in den Kassen des Staats und der Sozialversicherungsträger gähnende Leere herrscht. Warum aber vorzugsweise bei denen gespart werden soll, die ohnehin nicht viel haben – Familien, Rentner, Arbeitslose – während die Betuchten und Bedienten verschont bleiben, ist kaum zu begreifen.

In (41) wird die „Adlon-Affäre“ des ehemaligen Präsidenten der Deutschen Bundesbank,

Ernst Welteke, beschrieben.

(41) BERLINER KURIER, 11.04.2004

Jedem das Seine — und für mich alles. So denken und handeln die Mächtigen dieser Welt. Wer viel hat, will noch mehr. Und er hält es für sein gutes Recht. Ob sich ein Bundesbank-Chef Nächte in einem Nobelhotel spendieren lässt, ob sich ein Politiker an den Geldtöpfen der EU bedient oder ob sich Manager von Landes-Unternehmen in Berlin fette Gehälter gönnen — Gier ist einfach geil!

Durch die okkasionelle Modifikation „und für mich alles“, welche den Superlativ der

Extension „mir das meiste“ darstellt, erfolgt eine eindeutige negative Bewertung der

Handlungen von Welteke. Die soziale Klasse „der Mächtigen dieser Welt“ bereichert sich

selbst. Das zeigt auch (42), in welchem der Kotext die Lexeme Geldgier, Habgier, Raffgier

enthält.

67 Viele Belege der Domäne Wirtschaft haben gesellschaftlichen Bezug und hätten daher auch der vageren Domäne Gesellschaft zugewiesen werden können. Da die beschriebene Semantik jedoch insbesondere für die Domäne Wirtschaft konstituierend ist, wurden die Belege ihr zugewiesen.

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(42) SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 11.11.2011

Viele Details aus dem Verfahren gegen den früheren Bankmanager Gerhard Gribkowsky, die nun vor Gericht ausgebreitet wurden, illustrieren die Geldgier, Habgier, Raffgier in unseren Tagen. „Jedem das Seine, mir das Meiste“ ist offenbar nicht nur eine Redensart. Sogar der erfahrene Vorsitzende Richter Peter Noll staunte, wie in der Glitzer- und Wahnwelt der Formel 1 die Zahlen durcheinanderpurzeln. Aus Millionen wurden Milliarden – oder war es umgekehrt? Egal, illegal, alles egal?

Die Phrase beschreibt somit die wiederkehrende Problematik der Ungleichbehandlung

und Selbstbereicherung. ABRAHAMS (1968:47) stellt fest, dass “humans, as cultural

beings, have a ‘rage for order’. Anxiety arises with the intuition of chaos, of the elderly

procession of life, and the dissolution of group. Proverbs ‘name’ situations in which

social stability is repeatedly threatened, the potentially disruptive forces coming from

within in the group.” GRZYBEK (1998:134) geht davon aus, dass Sprichwörter als eine Art

Normformulierung zu verstehen sind und sie sich somit „als Kontrollverfahren in

wiederkehrenden Problemsituationen” erweisen. Pragmatisch betrachtet dient Jedem

das Seine in der Domäne Wirtschaft größtenteils der Warnung und negativen

Bewertung. Konträr zu diesen Aspekten wird die Phrase in der Domäne Bildung als

Formulierung von Überzeugungen verwendet, nach welchen das Sozialgefüge der

Bildung aufgebaut werden sollte.

5.2.7 Die Domäne Bildung

Die Domäne Bildung beinhaltet 48 Belege, von denen sich zwei mit der

nationalsozialistischen Vergangenheit auseinandersetzen. Die Phrase steht in der

Bildung stellvertretend für individuelle Förderung von Kindern und Jugendlichen und

wird oftmals kontrastiv der Phrase „Allen das Gleiche“ gegenübergestellt. Sie wird als

argumentative Stütze in der Debatte eingesetzt, wie der Bereich Bildung ausgestaltet

werden sollte. In (43) wird gar beschrieben, dass sich die Ungleichheit durch die Formel

„jedem das gleiche“ potenziere und ihr vielmehr durch die uneingeschränkte Formel

„jedem das Seine“ entgegengewirkt werden könne.

(43) DIE ZEIT, 04.10.1968

Es hapert mit der Gleichheit der Bildungschancen, obwohl sie Voraussetzung für die Gleichheit der sozialen, ökonomischen und politischen Chance ist. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen: Gleichheit der Chancen bedeutet nicht,

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jedem das gleiche (das würde die Ungleichheit potenzieren), sondern jedem das Seine, dieses aber uneingeschränkt, in bester Qualität und in dem denkbar größten Umfange. Die Ursache des heutigen Mißverhältnisses ist klar: Der berufliche Bildungsweg ist noch zu sehr nach dem Bilde des ersten, des gymnasialen Bildungsweges angelegt.

Dass Gleichheit und Gerechtigkeit zwei unterschiedliche Aspekte sind, wird von der

Zeitung DIE PRESSE in (44) beleuchtet. Jedem das Seine wird im nachfolgenden Kotext mit

den Lexemen Freiheit, Freiräume und Autonomie beschrieben und ist somit Argument

für die zuvor geäußerte Idee der Umstrukturierung des Unterrichts.

(44) DIE PRESSE, 07.02.2005

Der Grundsatz könnte heißen, so viele Ganztagsschulen wie notwendig, so viel Halbtagsunterricht (etliche Schulnachmittage sind ohnedies dabei) wie möglich. Nicht allen das Gleiche, vielmehr jedem das Seine. Gleichheit und Gerechtigkeit sind zwei Paar Schuhe. Es darf nicht so sein, dass die Wohltat für die einen zur Plage für die andern wird. Es geht hier auch um Freiheit und um Freiräume für Schüler, Lehrer, Eltern. Die jeweilige Schule soll im Rahmen ihrer Autonomie in der Schulgemeinschaft über das notwendige Maß an Ganztagsklassen verantwortungsvoll entschieden und/oder um bloße Nachmittagsbetreuung besorgt sein.

In (45) wird die Tatsache, dass man „nicht jedem das Seine zumessen kann“, als

Erschwerung der Bildungsarbeit angesehen. Diese Aussage impliziert, dass ein Vorgehen

nach Jedem das Seine positive Auswirkungen auf die Bildung hätte.

(45) VORARLBERGER NACHRICHTEN, 05.02.1997

Jeder dritte Schüler ist heute überfordert und sitzt in der höheren Schule am falschen Platz. Nicht daß er "dümmer" ist als seine Mitschüler, seine Talente und Neigungen sind anders geartet. Da man aber allen das Gleiche und nicht jedem das Seine zumessen kann, wird die Bildungsarbeit unnötig erschwert. Dabei läßt sich Bildung auch bei manuellen Berufen optimal verwirklichen.

Welche konkreten Auswirkungen dieses Vorgehen hätte, wird jedoch nicht beschrieben.

Die vage Maxime steht demnach wie in der Domäne Politik stellvertretend für

Gerechtigkeit. Daraus ergibt sich eine Reduktion der Komplexität, wie sie auch GÜLICH

(1978:14) u.a. für Gemeinplätze herausarbeitet. Änderungen in Politik und Bildung sind

langwierige hochkomplexe Prozesse, die jedoch für den Rezipienten stark vereinfacht

mit dem Phraseologismus Jedem das Seine zusammengefasst werden und somit auch

für den Laien zu verstehen sind. Konträr dazu wird der unbefriedigende Ist-Zustand in

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(44) und (45) mit der Phrase „allen das Gleiche“ zusammengefasst, welcher auch auf der

Reduktion von Komplexität basiert.

(46) MANNHEIMER MORGEN, 14.02.2001

Letztlich will sich der Staat völlig aus dem morschen Schulwesen zurückziehen. Private Betreiber wie Industrie oder Kirchen sollen das System in einem Fünfjahres-Plan wieder auf Touren bringen. Jedem das Seine, ist das Motto, was konservative Kritiker als späte Bestätigung für den Widerstand gegen die "sozialistische Gleichmacherei im Klassenzimmer" empfinden.

In (46) wird die Phrase gar als Gegenentwurf zur „sozialistische[n] Gleichmacherei im

Klassenzimmer“ verstanden. Jedem das Seine kann somit als Modell gesehen werden,

nach welchem die Bildung aufgebaut werden sollte. GRZYBEK (1984:226) weist dem

Sprichwort aufgrund seines zeichenhaften Charakters auch eine modellbildende

Funktion zu. Obwohl auch Jedem das Seine „in vielfältiger Weise funktional in den

jeweiligen Kontext bzw. in die Situation eingebunden [ist]“ (BURGER 2010:107), für die es

Modell ist, bleibt die Phrase zunächst inhaltsleer, insofern keine weiteren Informationen

gegeben werden. Ein Beispiel für die Auflösung der Vagheit und Inhaltsleerheit gibt der

folgende Beleg.

(47) MANNHEIMER MORGEN, 21.02.2003

"In diesem Sinne: Nicht jedem das Gleiche, sondern jedem das Seine", so Dr. Schnatterbeck. "Tiere im Kunstwerk entdecken", "Kreatives Schreiben", "Die Römer", "Der Natur auf der Spur", "Die Welt von oben": Ein- bis zweimal pro Woche bietet das zusätzliche Nachmittagsprogramm spannende Workshops für die kleinen Blitzgescheiten an. Für jedes Talent und jede Begabung soll etwas dabei sein, jedoch besonders die Lust an Mathe, Informatik und Technik geweckt werden.

Es wird explizit gemacht, was man sich unter der Maxime Jedem das Seine bezogen auf

Bildungsinhalte verspricht. Jedem das Seine steht für Vielfältigkeit in den angebotenen

Optionen und zugleich für die freie Auswahlmöglichkeit der Schülerinnen und Schüler.

Sie können somit entscheiden, was das Seine ist.

Interessanterweise wählt die Schüler-Union der CDU die Phrase ebenfalls, um sich gegen

die Einführung der Gemeinschaftsschulen in Nordrhein-Westfalen auszusprechen. Die

Jugendorganisation der SPD, die Jusos, kritisierten diesen Gebrauch jedoch aufgrund der

nationalsozialistischen Vergangenheit (vgl. (48)).

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(48) RHEINISCHE POST, 12.03.2009

Die der CDU nahestehende Schüler-Union wird ihre Kampagne "Nicht jedem das Gleiche, sondern jedem das Seine" einstellen, um jede Form der Missdeutung zu vermeiden. Dies erklärte CDU-Generalsekretär Hendrik Wüst. Mit dem Motto wollte die Schüler-Union NRW gegen eine Gemeinschaftsschule und für den Erhalt des gegliederten Schulsystems werben. Die Jusos hatten kritisiert, die Verwendung des Slogans zeuge von geschichtlicher Unkenntnis. Die Nationalsozialisten hatten den Spruch "Jedem das Seine" am Tor des KZ Buchenwald angebracht.

Insofern sich eine Organisation oder Person über den Gebrauch echauffiert, wird der

Vorfall in die Medien aufgenommen. Es verwundert jedoch, dass kein weiterer

Gebrauch der Phrase in der Domäne Bildung kritisiert wird,68 obwohl der Beleg

funktional und semantisch zu den vorangegangenen quasiäquivalent ist. Während alle

anderen Belege der Phrase als adäquate und positive Ideen zur Ausgestaltung der

Bildung hingenommen werden, wird dieser Vorfall auch noch von anderen Zeitungen

aufgenommen.

(49) THÜRINGISCHE LANDESZEITUNG, 12.03.2009

Eine bildungspolitische Kampagne der CDU-nahen Schüler-Union Nordrhein-Westfalens mit dem Slogan Jedem das Seine hat am Mittwoch für Wirbel gesorgt. Die Jusos in der SPD reagierten mit scharfer Kritik auf den Slogan. Es zeuge von einer unsäglichen Unkenntnis über unsere eigene Geschichte, dass so etwas in einer politischen Jugendorganisation nicht eingeordnet werden kann, sagte Juso-Landeschef Christoph Dolle.

Es scheint somit so, dass der Gebrauch der Phrase unter gewissen Umständen von

Kontrahenten instrumentalisiert wird, um die Verfasser zu kritisieren. Das gilt

gleichermaßen für Parteien wie auch für Medieninstitutionen, die den Gebrauch nur

dann beanstanden, wenn ein Skandal daraus folgen könnte. Dass dieses Vorgehen eine

Doppelmoral enthält, wird an zweierlei Punkten deutlich. Erstens verwenden Zeitungen

die Phrase bereits kurz nach geäußerter Kritik unbedarft weiter, zweitens werden, wie

u.a. auch Kapitel 5.2.4 zeigt, Verwendungen, die medial nicht hochstilisiert werden

können, nicht moniert.

Festzuhalten ist, dass die Phrase Jedem das Seine in der Domäne Bildung nahezu

ausschließlich positiv bewertet wird und ein Modell darstellt, nach welchem der

68 Ein Beleg in der Domäne Bildung bezieht sich noch auf den nationalsozialistischen Hintergrund. Er thematisiert jedoch den Besuch einer Schulklasse in der Gedenkstätte Buchenwald und den daraus resultierenden Erkenntnissen für Schülerinnen und Schüler.

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Bildungssektor aufgebaut sein sollte. Durch den Rückgriff auf Sprachmuster der

Erfahrungswelt des Rezipienten erfährt die Argumentation eine Selbstverständlichkeit,

die „einen Meinungswechsel begründen, Ungewißheit beseitigen und

entgegenstehende Überzeugungen verunsichern“ (TEIGELER 1968:102) soll. Die von

KOLLER (1977:70) beschriebene Anbiederungsfunktion, die es ermöglicht abstrakte

Sachverhalte mit Formeln der Alltagswelt zu beschreiben, wird insbesondere in den

Domänen Bildung und Wirtschaft deutlich. Durch diese Form der Vereinfachung folgt

jedoch ebenfalls eine Vagheit (Unschärfefunktion vgl. KOLLER (1977:140)), die

wirkungsvolle Schlussfolgerungen in den jeweiligen Thematiken lediglich erahnen lässt.

5.2.8 Ausgewählte Belege der restlichen Domänen

Insbesondere in der thematischen Domäne Automobil wird die Phrase als

Zusammenfassung verwendet. Zweimal wird die Phrase in der FRANKFURTER NEUEN PRESSE

mit einem Fazit: eingeleitet (vgl. (50) und (51)). In (50) dient die Phrase wiederholt der

Relativierung und beschreibt, dass beide zuvor eingeführten Varianten (hier

Automobile) akzeptabel erscheinen und gleichwertig sind.

(50) FRANKFURTER NEUE PRESSE, 15.12.2012

Fazit: Jedem das seine. Doch dürfte es der A-Klasse schwer fallen, Audi die A3-Kunden in größerer Zahl abzujagen. Zumal bei vergleichbarer Modellwahl der A3 meist einen Tick günstiger ist.

(51) FRANKFURTER NEUE PRESSE, 02.12.2014

Fazit: Jedem das seine. Der Scirocco stellt zwar nur ein halbes Prozent der VW-Verkäufe, hat im Zeitalter der automobilen Artenvielfalt aber seine Daseinsberechtigung. Das gilt auch für den heißesten der Wüstenwinde.

Viele Organisatoren nutzen die Phrase als Motto ihrer Freizeitveranstaltungen. Die

Phrase hat in (52) analog zur Werbung einen Argumentationscharakter, da für eine

Veranstaltung geworben wird, die jedem das Seine bieten kann.

(52) BADISCHE ZEITUNG, 12.01.2007

Am Samstag, 13. Januar, 20 Uhr, lädt der MGV Silberbrunnen-Eintracht zum Konzertabend in die Silberberghalle ein. Der Abend steht unter dem Motto "Jedem das Seine" - Lieder über verschiedene Charaktere und Temperamente.

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Zahlreiche Belege – ganz gleich welcher thematischen Domäne – relativieren mit der

Phrase zuvor eingeführte Aspekte. Das zeigt sich insbesondere durch die Interjektion

naja, die dann genau vor der Phrase steht (vgl. (53), (54), (55)).

(53) RHEIN-ZEITUNG, 30.10.1998

Bläck Fööss, Roland Kaiser, Ignatz Bubis, Nicole - schön aufgereiht stehen die Plakate vor der Ransbach-Baumbacher Stadthalle. "Naja, jedem das Seine", mag man bei diesem Anblick denken.

(54) SAARBRÜCKER ZEITUNG, 04.06.2003

Die Crewmitglieder hielten die Sprudelflaschen einfach so über die Fans und jeder, der etwas wollte, stellte sich darunter, sperrte den Mund auf und ließ sich das Wasser so einflößen - naja, jedem das Seine. Das einzige, was man meiner Meinung nach in Erwägung ziehen sollte, ist, ob man nicht wenigstens in dem Gedränge unmittelbar vor der Bühne ein Rauchverbot einführen sollte. Denn Zigarette im Au' brennt wie Sau - und auch an der Hand oder auf dem Arm tut heiße Asche nicht wirklich gut.

(55) SÄCHSISCHE ZEITUNG, 12.04.2001

Es gibt Tage, da ginge es auch ohne. Andere Tage, da reichen drei nicht, und ich ärgere mich, statt des Kochs nicht vier Kochen kann ich schließlich selber. Naja, jedem das Seine. Wenn mein Vermieter glaubt, dass das im Rahmen eines um DM 3,80 pro Quadratmeter erhöhten Nutzungsentgelts drin ist, werd` ich doch nicht. Wie mein Vermieter heißt? Freistaat? Aber ich bitte Sie! Ich bin doch nicht Die Steuerzahler auszunehmen, überlasse ich gern unserer Aristokratie.

Während die Interjektion naja prinzipiell eher in einem schriftlichen oder mündlichen

Dialog verwendet wird, um ein Argument zu entkräften oder eine abweichende

Meinung zu akzeptieren, so zeigt sich im Verbund mit Jedem das Seine die Möglichkeit,

eine beschriebene Situation zu relativeren oder den Leser analog zu (18) zu besänftigen.

Denn auch in (54) wird ein von gesellschaftlichen Normen abweichendes Verhalten

beschrieben. Ein sehr interessanter Aspekt wird in (56) erwähnt. Während die Phrase in

der Domäne Wirtschaft beschrieben hat, dass es eine ungleiche Verteilung bezüglich der

Menge von etwas gibt und sie in der Domäne Bildung dafürstand, dass nicht jeder das

Gleiche bekommen soll, wird hier definiert, dass jeder das Seine erhalten solle (welches

durchaus unterschiedlich sein kann), jedoch keiner mehr oder weniger. Die Phrase steht

hier somit für eine Art Gleichheit in dem, wie viel Einem zugestanden wird, jedoch für

Unterschiedlichkeit in dem, was Einem zugestanden wird.

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(56) VORARLBERGER NACHRICHTEN, 11.02.2012

Was sehr wohl hinterfragt werden darf ist das nebulose Nichtrauchergesetz, das außer Ärger und Kosten für die Gastwirte bislang nicht viel gebracht hat. Diese Erfahrungen sollten eigentlich reichen, um endlich klare Verhältnisse zu schaffen. Dann gäbe es nicht mehr solche und andere und welche dazwischen, sondern nur noch entweder oder. Denn wer will als Nichtraucher schon in einer Pseudo-Nichtraucher-Ecke hocken, in die der Qualm der Raucher wabert? Und umgekehrt, wer will als Raucher die naserümpfenden und abschätzigen Blicke der Nichtraucher dauernd im Nacken spüren? Also. Deshalb jedem das Seine, aber keinem mehr oder weniger.

Dass die Phrase keinesfalls lediglich in der Domäne Sport als Regel aufgefasst wird (vgl.

(19), (20), (21)), wird in zahlreichen Belegen deutlich, in denen die Phrase

dementsprechend eingeführt wird. Die Definition als Regel wird in (57) durch den Kotext

„man sagt ja immer“ deutlich. Weitere Markierungen als Regel können auch durch die

Partikel halt in (58) und eben in (59) realisiert werden.

(57) ALLGEMEINE ZEITUNG, 15.01.2008

Im Ragazzi in der Spießgasse hat sich ein kleines Publikum eingefunden. Viele der Gäste kennen sich und sitzen zusammen an der Bar. Bodo ist vor sechs Monaten nach Alzey gezogen und begeistert von der Veranstaltung in der Volkerstadt. Vor allem gefällt ihm die Vielfalt der Bars: "Man sagt ja immer: Jedem das Seine, und das ist hier gegeben."

(58) SAARBRÜCKER ZEITUNG, 22.09.2003

In exotischen Ecken - Hawaii, Belize, die Bahamas, um nur einige zu nennen - bieten Reiseveranstalter das Vergnügen an. Suzanne Wheatley hat es selbst ausprobiert. So intelligente, mystische Tiere, staunte sie, das vergesse sie nicht für den Rest ihres Lebens. Delfine, Korallen, ein Ticket für die Concorde, das alles kostet viel Geld. Wer nicht so tief ins Portemonnaie greifen kann oder will, für den hat die BBC gleich ein paar Alternativvorschläge parat. Kauf einen Hummer und lass ihn frei! Spende Blut! Schick eine Flaschenpost auf die Reise! Jedem das Seine eben.

(59) SAARBRÜCKER ZEITUNG, 09.04.2002

So gibt es die Anhänger der altbekannten Eigenblut-Therapie, bei der Blut entnommen, mit Antikörpern angereichert und wieder in den Körper gebracht wird. Andere setzen auf Akupunktur, wieder andere auf De-Sensibilisierung durch Medikamente der klassischen Schulmedizin oder auf Homöopathie. Menschen, die alles schon probiert haben und immer noch nicht so beschwerdefrei sind, wie sie gern wären, probieren Mischformen oder gar Diäten aus Asien (chinesische Heilkräuter!) und Afrika aus. Jedem das Seine halt.

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Die in Kapitel 4.3.2 beschriebene Nutzung der Phrase als NS-Vergleich zeigt sich lediglich

ein einziges Mal. In (60) wird die Situation einer Kleinfamilie mit einem

Konzentrationslager verglichen. Eingeleitet wird der Vergleich durch die Phrase Jedem

das Seine. Die Inadäquatheit des Vergleichs erscheint hier jedoch noch weitaus größer,

da ein Tertium Comparationis nicht auszumachen ist.

(60) DIE TAGESZEITUNG, 12.02.2004

Ein junger Mann (Frank Giering) und eine junge Frau (Anne Ratte-Polle) leben mit ihrem Baby in Berlin-Mitte – und quälen sich gegenseitig. Er ist ein erfolgloser Schriftsteller, der sie vom Sofa aus mit seiner Depression terrorisiert. Und sie legt den Finger auf seine Wunden: „Vielleicht solltest du aufhören, zu schreiben”, sagt sie, als wieder eine Ablehnung kommt. Er sieht danach so stumm auf die Tischplatte, dass auch sie sich gleich wieder schlecht fühlt. Jedem das Seine: Das ist das Konzentrationslager der Kleinfamilie.

5.2.9 Phraseologische Aspekte

Nachfolgend sollen zwei phraseologische Aspekte der Phrase genauer untersucht

werden. Während der Bereich Extension bereits beschrieben wurde, ist die in Kapitel 3

aufgekommene Frage, ob die Phrase Jedem das Seine als Geflügeltes Wort aufgefasst

werden kann, noch nicht nachgegangen.

5.2.9.1 Definition als Geflügeltes Wort

Für eine geeignete Untersuchung der potenziellen Definition von Jedem das Seine als

Geflügeltes Wort ist entscheidend, „dass bei den Sprechern ein Bewusstsein dafür

vorhanden ist, dass der Ausdruck auf eine bestimmte und allenfalls bestimmbare Quelle

zurückgeht“ (BURGER 2010:48). Die Beantwortung dieser Frage ist gerade deshalb so

interessant, weil eine Berufung auf eine vor den Nationalsozialismus liegende Quelle

eine potenzielle Legitimation für eine Weiterverwendung darstellen könnte. Ein erster

Ansatz hierfür könnte die Markierung der Phrase durch Anführungszeichen sein. Zu

unterscheiden sind hiervon Belege, die auf Aussagen Dritter beruhen. Die Belege im

Korpus wurden folgendermaßen klassifiziert (vgl. Abbildung 18).

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Abbildung 18: Anteil Zitierung der Phrase

558 der 1249 Belege wurden nicht durch Anführungszeichen markiert. Das entspricht

44,92 Prozent aller Belege. Festzuhalten ist, dass die Markierung bei Aussagen Dritter

gesondert betrachtet werden muss, da die Zitierung hier obligatorisch ist. Demnach

verbleiben lediglich zwei Kategorien. Für die in Abbildung 19 angegebenen statistischen

Werte wurde die Kategorie ja (Aussage Dritter) exkludiert.

Abbildung 19: Anteil Zitierung ohne Aussagen Dritter

Analysiert man nun dahingehend die einzelnen Domänen, so zeigen sich immense

Unterschiede. Während die Domänen Nationalsozialismus (95 Prozent)69, Werbung

(Nokia) (85 Prozent), Werbung (Merkur-Bank) (84 Prozent), Schwarzer Adlerorden (77

Prozent) und KZ-Buchenwald (70 Prozent) einen hohen Anteil an Markierung durch

Anführungszeichen aufweisen, wird in den Domänen Werbung (93 Prozent)70,

Automobil (88 Prozent), Ernährung, (78 Prozent), Sport (75 Prozent) und Wirtschaft (71

Prozent) größtenteils darauf verzichtet. Die Verwendung von Anführungszeichen

markiert somit statistisch betrachtet nicht eine Verbindung zu Cato, Aristoteles oder

69 Prozentuale Angabe der Belege mit Anführungszeichen. 70 Prozentuale Angabe der Belege ohne Anführungszeichen.

Anführungszeichen (437); 35,18%

Aussage Dritter (247); 19,88%

nein (558); 44,92%

Anführungszeichen (437); 43,91%

nein (558); 56,09%

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Justinian, sondern eher eine Verbindung zum KZ-Buchenwald. Das zeigt sich ebenfalls in

der Analyse der beiden Kategorien bezogen auf den nationalsozialistischen Hintergrund.

Lediglich 21,07 Prozent der Belege, die über den nationalsozialistischen Hintergrund

aufklären, verwenden keine Anführungszeichen. Gleichzeitig wird die Phrase zu 75,79

Prozent ohne Anführungszeichen verwendet, wenn der Nationalsozialismus keine

Erwähnung findet. Geht man von Cato als Verfasser der Phrase aus und untersucht alle

1242 Belege, so wird deutlich, dass sein Name lediglich siebzehnmal erwähnt wird und

sich zehn der Belege auf die Werbung (TCHIBO/ESSO) beziehen. Auch Platon wird im

gesamten Korpus lediglich zehnmal als Quelle angegeben. Eine Definition der Phrase als

„war schon in der Antike bekannt“ genügt nicht, um Jedem das Seine als Geflügeltes

Wort zu charakterisieren, da dies keine bestimmbare Quelle darstellt.

5.2.9.2 Extension

Ein wichtiger phraseologischer Aspekt von Jedem das Seine sind die zahlreichen

Extensionen; mit welcher die Phrase versehen werden kann. Mit Hilfe einer Cluster/N-

Gram-Untersuchung im Programm AntConc können alle Extensionen der Phrase

ausgelesen werden, welche häufiger als einmal vorkommen. Die Größe des N-Grams

wurde auf mindestens vier und höchstens 12 Lexeme beschränkt. Daraus resultieren

lediglich zwei lexikalisierte Extensionen, die bereits in den vorangegangenen Kapiteln

beschrieben wurden.

1. Jedem das Seine (und) (aber) (,) mir das meiste71

2. Jedem das Seine (und) (aber) (oder) nicht allen (jedem) das Gleiche

Es zeigt sich, dass nahezu alle anderen Extensionen usuelle Variationen der beiden

lexikalisierten Phrasen sind. In Tabelle 2 sind einige dieser Extensionen aufgelistet.

71 Rot= obligatorisch, grün=fakultativ.

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Tabelle 2: Extensionen von Jedem das Seine

Beleg Zeitung72 *73

„Jedem das Seine, aber bloß nicht jeden Tag

Dasselbe!“

NK, 17.02.2005 2

„Jedem das Beste, statt jedem das Seine“ TV, 27.02.2001 2

„Jedem das Seine, dir mehr, aber mir das Meiste“ NN, 05.02.2015 1

„Jedem das Seine, aber auch jedem das Gleiche“ NZ, 20.06.2007 2

„Jedem das Seine — und für mich alles“ BK, 11.04.2004 1

„jedem das Seine, nicht jedem jedes“ DZ, 26.05.1961 2

„Jedem das Seine und mir das Bier“74 GT, 14.11.2009 1

„Jedem das Seine, mir das Doppelte (das ich bereits

habe)“

SN, 19.01.2006 1

„Jedem das Seine, oder besser, allen das Ihre“ SZ, 06.07.2004 2

Die in Kapitel 3 festgelegte Form der Phrase als „All-Satz“ (vgl. BURGER 2010:106) kann

durch die aufgelisteten Extensionen aufgelöst werden. Die Bedeutung der Phrase kann

somit verschiedenen Gegebenheiten und Bedürfnissen angepasst werden. Selbst wenn

eigentlich das gegensätzliche der Phrase gemeint ist, kann sie im Rahmen gewisser

Extensionen verwendet werden (vgl. Jedem das Seine aber mir das meiste). Nachfolgend

sollen die unterschiedlichen Optionen der Phrase hinsichtlich ihrer Semantik und

pragmatischer Funktion zusammengefasst werden (Tabelle 3), die in den Kapiteln 5.2.3

bis 5.2.8 beschrieben wurden. Diese kurze Zusammenfassung ist Grundlage für Kapitel

5.2.10, in welchem beschrieben wird, dass Jedem das Seine ein sprachliches Muster

darstellt, welches in sich gleichenden Situationen verwendet wird.

72 NK=NORDKURIER, TV=TRIERISCHER VOLKSFREUND, NN= NIEDERÖSTERREICHISCHE NACHRICHTEN, NZ= NÜRNBERGER

ZEITUNG, BK= BERLINER KURIER, DZ= DIE ZEIT, GT= ST. GALLER TAGBLATT, SN= STUTTGARTER NACHRICHTEN, SZ=STUTTGARTER ZEITUNG. 73 =semantische Nähe zu lexikalisierter Extension 1 oder 2. 74 Es gibt zahlreiche Belege, die anstelle von Bier verschiedene andere Entitäten einsetzen.

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5.2.10 Zusammenfassung der Verwendung in Domänen

Tabelle 3: Zusammenfassung der Funktionen von Jedem das Seine

Domäne Zeitung (in Klammern Zahl des Belegs) Pragmatische Funktion Beschreibt… Bewertung

Sport DIE PRESSE, 28.12.1991 (14) Kontrastive Kategorisierung Unterschiedliche Interessen wertneutral

Sport DIE PRESSE, 07.08.1998 (18) Rechtfertigung Freie Entfaltungsmöglichkeit positiv

Sport TIROLER TAGESZEITUNG, 09.05.2011 (19) Überzeugung Grundsatz positiv

Sport BASLER ZEITUNG, 01.09.2005 (22) Besänftigung, Legitimation Abweichendes Verhalten wertneutral

Werbung NIEDERÖSTERREICHISCHE NACHRICHTEN, 06.07.2009 (25) Argument Individualität positiv

Politik DIE ZEIT, 19.05.1966 (28) Warnung Exklusion einer Meinung wertneutral

Politik SAARBRÜCKER ZEITUNG, 19.05.2007 (29) Überredung Ideologie positiv

Politik MANNHEIMER MORGEN, 06.02.2009 (33) Zusammenfassung Überzeugung positiv

Politik TAGESANZEIGER, 31.10.2008 (34) Mahnung Zu verurteilendes Vorgehen negativ

Politik WESTDEUTSCHE ZEITUNG, 14.02.2013 (35) Charakterisierung Selbstbereicherung negativ

Wirtschaft SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 27.04.2006 (39) Legitimation Ungerechtigkeit negativ

Bildung MANNHEIMER MORGEN, 14.02.2001 (46) Modellierung, Vereinfachung Wünschenswertes System positiv

Automobil FRANKFURTER NEUE PRESSE, 15.12.2012 (50) Fazit Gleichwertigkeit neutral

Gesellschaft VORARLBERGER NACHRICHTEN, 11.02.2012 (56) Beschreibung Gleichheit positiv

Kultur RHEIN-ZEITUNG, 30.10.1998, (53) Relativierung Bewertung einer Situation neutral

Familie DIE TAGESZEITUNG, 12.02.2004 (60) (NS)-Vergleich Unangenehme Situation negativ

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5.2.10.1 Muster zur Bewältigung einer kommunikativen Aufgabe

Nach eingehender Analyse der Belege, in denen Jedem das Seine semantisch und

funktional in den Kontext eingebunden ist, kann festgestellt werden, dass die Phrase

universell einsetzbar ist, vielfältige Funktionen aufweist und semantisch vage sowie

ambivalent ist (Tabelle 3). Obgleich die thematischen Domänen, die pragmatischen

Funktionen und die zu beschreibenden Situationen, in denen die Phrase eingesetzt wird,

erst einmal sehr unterschiedlich erscheinen, so wird bei näherer Betrachtung deutlich,

dass sie sich in vielen Teilen gleichen. Dass beispielsweise von gesellschaftlichen Normen

abweichendes Verhalten oder Interessen, die denen des Verfassers nicht entsprechen,

wiederholt mit der Phrase Jedem das Seine beschrieben werden, bedingt sich durch die

Verwendung des Sprichworts als sprachliches Muster, welches die Realisierung der

verschiedenen Handlungsmuster beziehungsweise pragmatischen Funktionen darstellt.

Sprichwörter sind „strategies for dealing with certain situations. In so far as situations

are typical and recurrent in a given social structure, people develop names for them and

strategies for handling them“ (BURKE 1941:256). Besteht beim Verfasser somit das

Interesse darin, sein Gegenüber zu warnen, zu besänftigen oder zu überreden, kann das

sprachliche Muster Jedem das Seine auf die jeweilige Handlung (ebenfalls Legitimation,

Rechtfertigung etc.) angewendet werden. Dabei ist es erst einmal zweitrangig, im

Rahmen welcher thematischen Domäne die Handlung vollzogen werden soll. Das

primäre Ziel ist „eine bestimmte Bewußtseinsänderung beim Rezipienten“ (GRZYBEK

1984:225). Diese Möglichkeit bedingt sich durch die bereits beschriebene semantische

Vagheit der Phrase. Aufgrund dieser Tatsache eignet sich die Phrase ebenfalls als

Modellierung, Vereinfachung oder Zusammenfassung. Dass diese Funktionen gerade in

den thematischen Domänen Politik, Wirtschaft und Bildung verwendet werden, zeigt,

dass die Phrase es ermöglicht, komplizierte Prozesse in den Erfahrungsbereich des

Rezipienten zu transferieren und diese verständlich zu machen.

GRZYBEK (1991:190) definiert Sprichwörter sogar als eine Gattung, die vorranging dazu

geeignet ist, situative Probleme zu lösen. Diese Definition entspricht wiederum der

Definition von LUCKMANN (1986:202) zu kommunikativen Gattungen, die er als „mehr

oder minder wirksame und verbindliche „Lösungen“ von spezifisch kommunikativen

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„Problemen“" ansieht,75 deren Funktion in der „Bewältigung, Vermittlung und

Tradierung intersubjektiver Erfahrungen der Lebenswelt besteht“ (GÜNTHNER/KNOBLAUCH

1994:699). GÜNTHNER (1995:199) definiert Sprichwörter als „Minimalgattungen“, die

zwar nicht den „prototypischen Gattungen“ entsprechen, jedoch ebenfalls

„sozialverfestigte und komplexe kommunikative Muster“ darstellen. Die

Minimalgattungen können ebenfalls „integrierte Bestandteile komplexer Gattungen

sein.“ Jedem das Seine kann somit Bestandteil der komplexen kommunikativen Gattung

Warnung, Besänftigung oder Verurteilung sein.76

Es ist hierbei jedoch besonders wichtig anzumerken, dass all diese Aspekte nur

deswegen realisiert werden können, weil die Phrase auch vom Rezipienten als geeignete

Routineformel zur Lösung einer kommunikativen Aufgabe erachtet wird. Diese

Feststellung entspricht der Definition von GRZYBEK (1984:225), der bei Sprichwörtern

eine „soziale Funktion“ (vgl. Kap. 5.2.3) ausmacht. Sie können „als Formulierungen von

Überzeugungen, Werten und Normen gelten, die in einer bestimmten Kultur und Zeit

soziale Geltung beanspruchen“ (BURGER 2010:106).

Hieraus wird deutlich, dass der unbedarften Weiterverwendung der Phrase auch

linguistische Aspekte zugrunde liegen. Wäre die Phrase nicht polyfunktional und

semantisch vage, würde sie auch nicht als Routineformel oder sprachliches Muster

angewandt werden. Im nachfolgenden Kapitel werden Belege betrachtet, in denen sich

metasprachlich auf die Phrase bezogen wird.

75 Zahlreiche Bücher verweisen auf ein Zitat Luckmanns aus diesem Artikel. Das Zitat konnte jedoch nicht gefunden werden. Demnach sollen kommunikative Gattungen „historisch und kulturell spezifische, gesellschaftlich verfestigte und formalisierte Lösungen kommunikativer Probleme“ darstellen. So zitieren u.a. auch DÜRSCHEID, (2005:8) oder HABSCHEID (2011:155), nach LUCKMANN (1986:256) und verweisen im Literaturverzeichnis auf den Text Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wissens: Kommunikative Gattungen. Der von den Autoren angegebene Artikel ist auf den Seiten 191-211 in einem Sammelwerk erschienen. 76 Kommunikative Gattungen werden weiterführend in unterschiedliche Ebenen unterteilt. So gibt es eine Binnenstruktur für prosodische, lexikalische, syntaktische und rhetorische Elemente (worunter dann auch Sprichwörter fallen), eine situative Realisierungsebene für konversationelle Aspekte und eine Außenstruktur, die soziale Faktoren miteinbezieht (GÜNTHNER/KNOBLAUCH 1994:705ff.).

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72

5.3 Metasprachliche Belege

Nachfolgend werden Belege untersucht, in denen die Phrase weder semantisch noch

funktional in den Kontext eingebunden ist.

5.3.1 Die Domäne Buchenwald

Die Domäne Buchenwald ist mit 220 Belegen die größte im Korpus. Während es

eindeutig ist, dass alle Belege über den nationalsozialistischen Gebrauch aufklären, so

ist eine Statistik in diesem Zusammenhang sehr interessant. Ohne die Domäne

Buchenwald sinkt der Anteil der Belege, die über den nationalsozialistischen

Hintergrund aufklären auf 20,37 Prozent (vgl. Abbildung 20). Ein großer Teil der

Aufklärung über den Missbrauch der Phrase im Nationalsozialismus findet somit in

dieser Domäne statt.

Abbildung 20: Aufklärungsrate ohne Domäne Buchenwald

Eine äquivalente Untersuchung der Domäne wie bei den vorangegangenen Domänen

wäre nicht zielführend, da sich die Belege in ihrer Deutung der Phrase gleichen.

Interessant hingegen ist der Kontrast zu den anderen Domänen hinsichtlich des

Kotextes. Vergleicht man durch das Programm AntConc die Keyword-Lists77 der Belege,

die über die Verwendung in der NS-Zeit aufklären,78 mit denen, die es nicht tun, ergibt

sich ein differenziertes Ergebnis. Die Keyword-List zeigt im statistischen Vergleich,

inwieweit bestimmte Begriffe eines Korpus im Vergleich mit einem anderen Korpus

besonders häufig oder besonders selten vorkommen. Daraus ergeben sich dann

77 Sortiert nach: Keyness. Keyword Generation Method: Log-likelihood. Threshold Value: All Values. Other Options: Treat all data as lowercase. 78 Inklusive der Domänen Buchenwald, Sprachkritik und Werbung.

ja (173); 20,37%

nein (849); 79,63%

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73

Keywords, also Lexeme, die für das Korpus Schlüsselbegriffe darstellen. Ausgewählt

wurden 15 Lexeme der 100-Top Antworten beider Listen (Tabelle 4). Die Lexeme sind

hier somit zwar nach ihrer Keyness sortiert, sie stellen aber nicht die 15-Top Antworten

dar.

Tabelle 4: Keywords der Korpora

Ja Nein

KZ Gerechtigkeit

Inschrift Lebensmotto

Gedenkstätte Kinder

Lagertor Politik

Zynisch Gleich

Häftlinge Preußen

Nationalsozialisten Solidarität

SS Unterschiedlich

Juden Geld

Überlebende Garten

Opfer Motto

Krematorium Spaß

Sterben Prinzip

Holocaust Urlaub

Missbraucht Freude

Lexeme wie Holocaust, sterben, zynisch und Häftlinge sind für die Domäne Buchenwald

konstituierend, während es bei den restlichen Domänen Lexeme wie Gerechtigkeit,

Lebensmotto, Solidarität und Spaß sind. Der hohe Kontrast wird u.a. auch dann deutlich,

wenn man sich verschiedene Interpretationen anschaut, für was Jedem das Seine

eigentlich in den Belegen steht. Wolfgang Mieder beschreibt die Phrase in (61)

beispielsweise als „befreiend“ und „demokratisierend“.

(61) MANNHEIMER MORGEN 18.07.2013

Mieder hat alles das getan. Ob er ein Lieblingssprichwort hat? „Gewiss nicht ‚Morgenstund hat Gold im Mund’“, sagt er, das lange als beliebtestes deutsches Sprichwort galt. Ein amerikanisches fällt ihm ein: „Different strokes for different

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folks“, im Deutschen etwa: „Jedem das Seine“; befreiend und demokratisierend klinge es – im besten Sinne amerikanisch.

Im Kontext des Nationalsozialismus wird die Phrase jedoch als weltweites Symbol des

Schreckens gedeutet (vgl. (62)).

(62) HANNOVERSCHE ALLGEMEINE, 21.07.2009

Die Inschrift „Jedem das Seine“ ist zum Symbol für die Schrecken des Nazi-Terrors geworden. Gestern wurde das weltweit bekannte Tor des Konzentrationslagers Buchenwald mit dem zynischen Schriftzug abmontiert.

Betrachtet man die Belege in der Domäne Buchenwald genauer, so trifft man häufig auf

Beschreibungen der Phrase als zynische Inschrift oder missbrauchter Spruch, die dann

mit fakultativen Attributen wie barbarisch, grausam oder unmenschlich präzisiert

werden (vgl. (63) und (64)).

(63) DIE ZEIT, 15.11.1985

[…] "jedem das Seine" stand in zynisch-barbarischer Anspielung auf ein lateinisches Sprichwort über dem Lagertor von Buchenwald. es galt, im Sinne seiner Mörder und ihrer Anstifter, auch für das Opfer Ernst Thälmann.

(64) ST. GALLER TAGBLATT, 25.07.2009

«Jedem das Seine» – dieser menschenverachtende und erniedrigende Spruch steht noch über dem Tor zum ehemaligen nationalsozialistischen Konzentrationslager Buchenwald.

Ein und dieselbe Phrase kann somit sowohl als befreiend und demokratisierend wie auch

als barbarisch und menschenverachtend gedeutet werden. Es kann als Sinnbild oder

Symbol für die Schrecken des Nazi-Terrors gelten und im darauffolgenden Absatz

Gerechtigkeit definieren und erstrebenswerte Maxime einer Gesellschaft darstellen.

Dieser hohe Kontrast wird nachfolgend im Kapitel 5.3.2 noch dezidierter ausgearbeitet.

5.3.2 Sprachkritische Ansätze nach Verfehlungen

Insofern die Phrase als Werbeslogan oder Leitspruch verwendet wird und eine große

Reichweite erzielt, erhält der nationalsozialistische Kontext Relevanz. Die Nutzung der

Phrase wird darauffolgend ausschließlich als negativ bewertet und der Kotext ähnelt

dem der Domäne Buchenwald. Folgende Reaktionen löste die unbedarfte Verwendung

u.a. aus:

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(65) FRANKFURTER RUNDSCHAU, 05.05.1999

Die Hamburger-Kette Burger King hat in Erfurt mit einer Werbekampagne für Empörung gesorgt.

(66) THÜRINGISCHE LANDESZEITUNG, 12.03.2009

Die Jusos in der SPD reagierten mit scharfer Kritik.

(67) DIE TAGESZEITUNG, 05.01.2001

Kunden der Münchner Merkur-Bank haben entsetzt auf eine Werbeaktion mit dem Spruch „Jedem das Seine” reagiert.

Die Verwendung der Phrase kann somit auch „Empörung“, „scharfe Kritik“ und

„Entsetzen“ auslösen. Vereinzelte Zeitungen entschuldigen sich auch für ihre eigene

Verwendung oder kritisieren andere Zeitungen für einen unbedarften Gebrauch.

(68) DIE TAGESZEITUNG, 08.11.2001

„Jedem das Seine” lautete in unserer gestrigen Ausgabe auf dieser Seite die Überschrift einer Nachricht – neben großen Beiträgen über jüdisches Leben in der Bremer Neustadt. „Peinlich” bis „schlimm” waren dazu gestern die Reaktionen von LeserInnen und Redaktionsmitgliedern. Denn „Jedem das Seine” stand am Eingang des Konzentrationslagers Buchenwald, nur von innen zu lesen. Die Nazis wollten mit dem Spruch ihre Opfer verhöhnen und demütigen.

In den darauffolgenden Jahren verwendet die Zeitung die Phrase jedoch wiederholt

unbedarft, obgleich sie analog zu anderen Zeitungen über die Verfehlungen von

Werbetreibenden o. Ä. berichten. Leserkommentare führen teilweise zu einer Einsicht

bei den Redaktionen, die auch eine langfristige Wirkung erzielten. Das zeigt der Beleg

der FRANKFURTER NEUEN PRESSE ((69)). Nach dieser Anmerkung findet sich kein weiterer

Beleg in der Zeitung, der den nationalsozialistischen Hintergrund außer Acht lässt, was

jedoch auch an danach folgender geringer Datenlage im Korpus liegen kann.

(69) FRANKFURTER NEUE PRESSE, 07.10.2013

"Jedem das Seine" war am vergangenen Dienstag eine Geschichte über die gesellschaftliche Situation in der Türkei überschrieben: Wer einmal in Buchenwald war, wird niemals vergessen, dass die Nationalsozialisten unter der zynischen Losung "Jedem das Seine", viele tausend Menschen skrupellos in den Tod schickten. Auch wenn man weiß, dass das Lateinische "suum cuique" in der antiken philosophischen Theorie eine andere Bedeutung hatte, so zeugt es doch, nach meinem Empfinden, von wenig Fingerspitzengefühl oder kaum vorhandenem Geschichtsbewusstsein einer Redaktion, wenn Ihre Zeitung - zu einer Entscheidung der türkischen Regierung zum Kopftuchverbot im Staatsdienst - ausgerechnet diese Inschrift des Eingangstores von Buchenwald als fette Überschrift benutzt. Hans-

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Joachim Bärenfänger, Elz Anm. der Red.: Die Kritik dieses Lesers, wie auch einiger anderer, die uns dazu erreichten, ist berechtigt.

In (70) kritisiert die Zeitung MANNHEIMER MORGEN die BWWOCHE für die Verwendung der

Phrase in einer Überschrift. Zum wiederholten Male wird deutlich, dass kritische

Anmerkungen nur dann erfolgen, wenn ein größeres Unternehmen die Phrase als Slogan

verwendet, Politiker die Phrase als Maxime für Gerechtigkeit beschreiben, sie eine

Überschrift in der Zeitung darstellt oder Kontrahenten damit diskreditiert werden

können. Es lassen sich nur sehr wenige kritische Anmerkungen zur prinzipiellen

Verwendung der Phrase finden. Die Reichweite und die intendierte Wirkung des

Verfassers spielen somit bei der Beurteilung eine gewisse Rolle.

(70) MANNHEIMER MORGEN, 29.11.2005

Gemessen daran leistet sich das Organ mit dem offiziösen Anstrich in seiner neuen Ausgabe einen argen Fehlgriff. "Jedem das Seine" lautet die Schlagzeile auf Seite 1 über einem ansonsten harmlosen Artikel zu individueller Förderung von Kindern. Niemandem im jungen Redaktionsteam ist aufgefallen, dass unter dem Einlieferungsmotto "Jedem das Seine" im Konzentrationslager Buchenwald zehntausende Menschen ermordet wurden. 56 000 von insgesamt einer Viertelmillion Häftlinge, das schätzt die Stiftung KZ Buchenwald, haben den Terror in dem Lager nicht überlebt. 11 000 Juden waren darunter, auch der Kommunist Ernst Thälmann. Angesichts der Geschichtslosigkeit kann man nur hoffen, dass die Selbstdarstellung der Redaktion falsch ist. Denn darin heißt es: "Kurz gesagt: bwWoche - das ist Baden-Württemberg."

Im nachfolgenden Kapitel werden grundlegendere sprachkritische Ansätze untersucht,

die zumindest im Ansatz versuchen, eine Schlussfolgerung aus der Problematik um

Jedem das Seine zu finden.

5.3.3 Die Domäne Sprachkritik

Das Korpus bietet zahlreiche Ansätze sprachkritischer Auseinandersetzung mit der

Phrase Jedem das Seine. Es muss hierbei unterschieden werden, zwischen Belegen, die

lediglich über Verfehlungen einzelner Unternehmen berichten und Belegen, die sich mit

den Folgen eines unkritischen Gebrauchs auseinandersetzen, potenzielle Lösungen

bieten und den fehlenden Konsens bezüglich NS-Sprache hinterfragen. Festzuhalten ist

schon vor der Analyse der Domäne, dass die Debatte um Jedem das Seine eine komplexe

ist, da sie nicht auf Basis von Abweichungen orthographischer oder syntaktischer

Normen geführt wird (Sprachsystemnormen), sondern auf der Basis von

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Sprachgebrauchsnormen. Der Gebrauch der Phrase ist daher nicht falsch oder verboten

(vgl.(7)), sondern unangemessen oder geschichtsrevidierend. Der Maßstab ist bei dieser

Norm wesentlich schwerer zu definieren. Während sich Sprachsystemnormen auch von

Nichtlinguisten als richtig/falsch klassifizieren lassen können (ARENDT/KIESENDAHL

2013:162), werden Sprachgebrauchsnormen anders bewertet. Hierbei verlässt sich der

Sprachkritiker auf seine persönliche Ansicht, die von SANDERS (1992:17) als

„Sprachgefühl“ definiert wird. Dieses Gefühl ist indes nicht linguistisch begründet und

„als Summe des erworbenen Sprachwissens und der lebenslangen Spracherfahrung

eines Menschen, […] in höchstem Grade subjektiv geprägt.“ Gerade daraus ergeben sich

kontrastive Meinungen zur Weiterverwendung von NS-Sprache. Die Sensibilität des

Sprechers ist in diesem Fall von großer Bedeutung. Dass eine Klassifikation nach

richtig/falsch insbesondere bei NS-Sprache fatale Folgen haben kann, zeigt die Umfrage

der Zeitung DIE TAGESZEITUNG in (71).

(71) DIE TAGESZEITUNG, 16.01.2009

„Jedem das Seine”? Kein Nazisprech! 66,7 Prozent Nein. Die Redewendung „Jedem das Seine” war schon in der Antike bekannt.

Der hochkomplexe Sachverhalt um die Sprache des Nationalsozialismus wird hier mit

einer simplen Umfrage abgetan. Die Teilnehmer der Internetumfrage haben

entschieden, dass Jedem das Seine kein „Nazisprech“ ist. Das Ergebnis ist eine

Legitimation zu unbedarften Weiterverwendung der Phrase und im Vergleich mit den

vielen dezidierten Artikeln zur sprachkritischen Auseinandersetzung sehr unreflektiert.

Die Legitimation wird mit der Aussage begründet, dass die Phrase „schon in der Antike

bekannt“ war. Dass sich aus dieser Schlussfolgerung ein Paralogismus ergibt, bleibt

unbemerkt. Aus dem Umstand, dass die Phrase schon in der Antike bekannt war, folgt

nicht zwangsläufig, dass sie nicht auch „Nazisprech“ ist. Die Umfrage wurde nach der

Werbung von ESSO und TCHIBO veröffentlicht, also einer Werbung, die viel Kritik erhalten

hatte (vgl. Kap. 5.1.5.3) und auch gesellschaftlich als inakzeptabel gewertet wurde.

Während also eine gesellschaftliche und mediale Sensibilität gegeben war, wird diese

durch die unreflektierte Umfrage relativiert.

Was die Diskussion um Jedem das Seine außerdem so komplex macht, wird von der

STUTTGARTER ZEITUNG in (72) sowohl zutreffend, marginalisierend als auch falsch

zusammengefasst.

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(72) STUTTGARTER ZEITUNG, 30.01.2009

Die Frage lautet zunächst, ob Wörter und Sätze, die von den Nationalsozialisten missbraucht wurden, ein für alle Mal diskreditiert sind. Es gibt Grenzfälle. Jüngst gab es Wirbel um die Formulierung "Jedem den Seinen". Tchibo und Esso zogen ihre rund 750 Werbeplakate mit diesem Slogan zurück, nachdem Salomon Korn vom Zentralrat der Juden auf den Missbrauch einer ähnlichen Formulierung hingewiesen hatte […]. Die Kampagne sei "von nicht zu überbietender Geschmacklosigkeit", ein Beispiel für "totale Geschichtsunkenntnis". Auch meldete sich der Leiter der Gedenkstätte Buchenwald, Volkhard Knigge, zu Wort und rügte, kaum jemand wisse noch, was "Jedem das Seine" im SS-Staat bedeutet habe. Reflexe und Unverständnis steuern die Debatte. Die einen empören sich, weil sie sich stets in solchen Fällen empören und weil nur sie bei bestimmten Wörtern oder Sätzen überhaupt noch Bauchschmerzen bekommen. Die anderen tun so, als sei alles nur ein Missverständnis, und entschuldigen sich mit Floskeln in der Hoffnung, dass das Ganze bald vergessen ist. Die Medien berichten darüber, ebenfalls oft reflexhaft, eben so, wie sie sonst über schiefe NS-Vergleiche (Hans-Werner Sinn), fragwürdige Sonntagsreden (Martin Walser) und rhetorisch verkorkste Reden zum 9. November (Philipp Jenninger) berichtet haben. Sie bekommen Leserbriefe, in denen sich Bürger beschweren, dass "schon wieder die Juden" respektive "schon wieder der Zentralrat" sich aufregen.

Die Debatte um Jedem das Seine wird als „Grenzfall“ der Sprache der Nationalsozialisten

definiert. Diese Definition ergibt insofern Sinn, da die Phrase konträr zu anderen

Wendungen nicht ausschließlich dem rassistischen Radikalwortschatz der NS-Zeit

zugewiesen werden kann. Insbesondere die Reaktionen verschiedener Gruppen werden

von der STUTTGARTER ZEITUNG näher beschrieben. Die Unternehmen „tun so, als sei alles

nur ein Missverständnis und entschuldigen sich mit Floskeln“. Betrachtet man die

unterschiedlichen Reaktionen der Unternehmen, so wird deutlich, dass sie immer

wieder auf Unkenntnis verweisen und die Werbung einstellen (vgl. (73)).

(73) SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 15.06.1998

Der Sprecher sagte: „Wir haben die Sache sofort gestoppt, nachdem die Verwendung in dem KZ bekannt wurde.” Der „makabere Hintergrund” des Reklamespruchs für Mobiltelephone in verschiedenen Farben sei der jungen Generation nicht mehr bekannt. Deshalb hätten „die Kontrollfunktionen bei dem mit der Kampagne beauftragten Reklamebüro nicht funktioniert”.

Dass die Medien „oft reflexhaft“ über die Verfehlungen berichten, sich daraus aber

keine Konsequenz ergibt, wurde u.a. in Kapitel 5.1.5.5 beschrieben. Was jedoch gerade

im Hinblick auf eine potenzielle Sensibilisierung der Gesellschaft besonders schwer

wiegt, ist die Aussage, dass sich nur ein kleiner Teil empört, „weil sie sich stets in solchen

Fällen empören und weil nur sie bei bestimmten Wörtern oder Sätzen überhaupt noch

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Bauchschmerzen bekommen“. Die Gruppe derer, die sich der Problematik bewusst ist,

wird kleiner gemacht als sie ist. Dass sich insbesondere seit 1998 eine breite sprachlich-

sensibilisierte Öffentlichkeit herausbildete, die keineswegs eine unbedeutende

Minderheit darstellte und gegen die bereits in Kapitel 4.3.2 beschriebene Verhöhnung

der Opfer durch die kommerzielle Weiterverwendung von Jedem das Seine vorging,

bleibt unerwähnt. Es waren nämlich nicht nur die „Altphilologen“ (KLENNER 2002:329)

und oder die „linguistically and historically conscious individuals“ (DOERR 2000:84), die

„Bauchschmerzen“ bekamen. Welche Folgen die Marginalisierung der Gruppe haben

kann, die sich einer unbedarften Weiterverwendung entgegenstellt, zeigt (74) aus der

Zeitung NEUES DEUTSCHLAND.

(74) NEUES DEUTSCHLAND, 23.02.2001

Die Deutsche Telekom AG wird ihre Werbebroschüre mit dem von den Nationalsozialisten missbrauchten Spruch »Jedem das seine!« nicht aus dem Umlauf nehmen. Nach Auskunft eines Sprechers bedauere das Unternehmen den Vorfall, sehe aber keine Veranlassung zu handeln. Der Slogan stehe nicht im Mittelpunkt einer Kampagne und erinnere nur Wenige an seinen zynischen Missbrauch durch die Nazis am Eingangstor des Konzentrationslagers Buchenwald. In Zukunft wolle man ihn aber nicht mehr verwenden.

Die Tatsache, dass die Redewendung nur noch wenige an die Gräueltaten der

Nationalsozialisten erinnert, ist Legitimation dafür, die von der TELEKOM veröffentlichte

Werbung, nicht zurückzuziehen. Eine angemessene Erinnerungskultur definiert sich

gerade dadurch, dass sie Erinnerungen wachhält, die primär nicht von einem selbst

erlebt wurden. Dass die Redewendung nur noch wenige an die Nationalsozialisten

erinnert, sollte das Interesse an einer angemessenen Aufklärung steigern und nicht

mindern. Salomon Korn positionierte sich bezüglich einer unbedarften

Weiterverwendung in (75) ebenfalls eindeutig.

(75) ST. GALLER TAGBLATT, 16.01.2009

Der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland sagte dazu, solange es noch einen einzigen Menschen gebe, der bei dieser Redewendung an Buchenwald denke, sei es unmöglich, sie zu verwenden. In der Tat: So viel Erinnerung muss sein. Und so viel Respekt. Auch vor dem Zitatenschatz. Das setzt jedoch – auch bei Werbern – etwas Geschichtskenntnisse voraus.

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Die Zahl derer, die sich durch die Redewendung angegriffen fühlen, ist für die Debatte

demnach zweitrangig. Dieses Argument wird jedoch auch bei der Debatte um

ESSO/TCHIBO im Jahr 2009 angewandt.

(76) SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 15.01.2009

„Die große Mehrheit der Deutschen empfinden den Spruch – anders als ‚Arbeit macht frei’ – nicht als belastet. Wenn man 100 Leute fragen würde, würden wohl 99 den Slogan als unbedenklich einstufen”, erklärt Frank Dopheide, Geschäftsführer der Werbeagentur Grey in Deutschland. Und auch Nickel vom Werberat gibt zu bedenken: „Jedem das Seine” stamme nicht von den Nationalsozialisten, sondern habe eine lange Historie. Die Worte gelten als die Gerechtigkeitsformel – sie ist Ausdruck für das Bestreben, jedem sein Recht zukommen lassen.

Bemerkenswert ist die Tatsache, dass sich das ST. GALLER TAGBLATT in (75) ebenfalls mit

der Frage auseinandersetzt und zu dem Ergebnis kommt, dass es unmöglich sei, die

Phrase in der Werbung zu verwenden. Betrachtet man darauf aufbauend wieder (72),

so wird noch ein weiterer wichtiger Aspekt deutlich, der eine angemessene

Erinnerungskultur erschwert.

Beschrieben wird hier die „Überdrussmentalität“ der Bürger, die sich über die

fortwährende Kritik der „Juden“ und des „Zentralrats“ beschweren. „Die Geschehnisse

in der NS-Zeit werden emotional nicht als moralische Last, die innerlich zu existenzieller

Trauer, Mitgefühl und Reflexion verpflichtet, sondern als ein Lästig-Sein empfunden, das

von den Juden oktroyiert wird und das es abzuschütteln gilt“ (SCHWARZ-FRIESEL/REINHARZ

2012:280). Die Gruppe derer, die sich über den unbedarften Gebrauch echauffieren,

wird auch in anderen Belegen negativ dargestellt. In (77) bewertet der

Rechtswissenschaftler und Professor der Humboldt-Universität zu Berlin, Prof. Dr. Dieter

Simon, die Gruppe als „Erinnerungswärter“ und „Korrektheitshüter“.

(77) SÜDDEUTSCHE ZEITUNG, 26.02.2001

[…] Es war wohl nur der massive Druck der Erinnerungswärter und Korrektheitshüter, die allerorten mit ihren Reinheitsgeboten herumfuhrwerken und den Andenkenfrevlern die nötige Befangenheit einbleuen, bis ihnen bei „Jedem das Seine” sofort die Angst vor der gesellschaftlichen Ächtung ins Gebein fährt.

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Während also die Gruppe, die antisemitische Tendenzen aufweist und ein Ende der

Erinnerungskultur fordert, in ihrer Größe hochstilisiert wird (vgl. „Sie bekommen

Leserbriefe, in denen sich Bürger beschweren“), erfährt die sprachlich-sensibilisierte

Gruppe negative Bewertungen wie „Erinnerungswärter“ und „Korrektheitshüter“ und

wird marginalisiert („weil nur sie bei bestimmten Wörtern oder Sätzen überhaupt noch

Bauchschmerzen bekommen“). Es muss beachtet werden, dass sich auch zahlreiche

Zeitungen sehr reflektiert mit der Phrase auseinandersetzen. Die vorangegangenen

Belege sollen jedoch aufzeigen, dass das Fehlen eines sprachlichen Konsenses auch

kontrastive Meinungen fördert, die zum Teil unreflektiert sind. Die Folge einer

Normalisierung und Eingliederung elementarer Wendungen der NS-Sprache in den

Alltag wird u.a. von der RHEIN-ZEITUNG in (78) beleuchtet.

(78) RHEIN-ZEITUNG, 18.08.2011

Doch wirken die Worte „Theater macht frei“ überhaupt noch als Provokation? Schließlich haben sich bereits mehrere große Konzerne mit der Verwendung des ebenfalls von den Nationalsozialisten missbrauchten Spruch „Jedem das Seine“ blamiert, wissen die Schüler. Gut möglich also, dass die Mehrheit der Passanten an den Plakaten vorbeigehetzt wäre, ohne sich des Zynismus der Aussage bewusst zu werden. „Und dafür ist das Thema einfach zu wichtig.“

Demnach ist es sogar möglich, dass eine Modifikation der Phrase Arbeit macht frei

unbemerkt bleibt. Soweit geht auch die THÜRINGER ALLGEMEINE in (79), wenn sie schreibt,

dass Arbeit macht frei in ferner Zukunft „nicht nach Massenmord, sondern nur noch wie

der Slogan eines Arbeitsvermittlers klingen wird.“

(79) THÜRINGER ALLGEMEINE, 27.01.2001

Noch leben Zeitzeugen. Opfer. Nicht nur Täter oder Mitläufer. Die nichts gewusst und nichts bemerkt haben wollen. Der authentische Bericht über das erlebte Grauen der Deportation kann heute in einer Schulklasse zum Nachdenken anregen. Hilft Lücken im Wissen dort zu schließen, wo trockener Lehrstoff nicht haften bleibt. Doch die Zeit rückt näher, da klingt der Spruch Arbeit macht frei nicht nach Massenmord, sondern nur noch wie der Slogan eines Arbeitsvermittlers. Mit Jedem das Seine hat bereits ein Reiseveranstalter um Kunden geworben.

Wie solch eine Normalisierung klingen könnte, wird in (80) beleuchtet.

(80) LEIPZIGER-VOLKSZEITUNG, 27.10.2011

Mit diesem Sprichwort möchte man zumeist ausdrücken, dass die Geschmäcker verschieden sind. Und über Geschmack lässt sich bekanntlich (nicht) streiten. Was jemanden ärgert und ihm nicht gefällt, kann eine andere Person durchaus mögen

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und für erstrebenswert halten. Einem sagt es zu und ist es zum Vorteil, den Anderen stößt es ab und bringt ihm Schaden. Alle Leute haben eben so ihre eigenen Ansichten und Vorlieben. Auch vergleichbare Wendungen tragen dem Rechnung. So kann man auch sagen: "jeder, wie es ihm beliebt" oder "jedem das Seine" - ein sehr altes ethisches Prinzip und geflügeltes Wort.

Die Phrase wird hier als „altes ethisches Prinzip und geflügeltes Wort“ definiert. Es findet

somit eine unreflektierte und selektive Darstellung statt, die die Verwendung in der NS-

Zeit völlig außen vorlässt und Unwissenheit fördert. Dass die Definition als Geflügeltes

Wort außerdem nicht zum Tragen kommt, zeigt Kapitel 5.2.9.1. Die Phrase wird

weiterhin als „Prinzip“ definiert und somit als eine „feste Regel, die jemand zur

Richtschnur seines Handelns macht, durch die er sich in seinem Denken und Handeln

leiten lässt“ (DUDEN-ONLINE79). Interessant ist darauf aufbauend die Frage, wie die Phrase

in anderen Kontexten gedeutet wird.

5.3.4 Metasprachliche Deutung der Phrase

Im Zuge der Verwendung von Jedem das Seine wird die Phrase in zahlreichen Belegen

ebenfalls metasprachlich gedeutet. Dieses Kapitel soll Aufschluss darüber geben, welche

Lexeme für die Deutung der Phrase verwendet werden. Die Lexeme sind in Abbildung

21 mit der jeweiligen Frequenz angegeben.

Abbildung 21: Metasprachliche Deutung

79 http://www.duden.de/rechtschreibung/Prinzip (zuletzt eingesehen am 08.05.2017).

139 137

96

69

3730 28

23 20 20 2015 15 11 8 7

0

20

40

60

80

100

120

140

160

An

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metasprachliche Deutung der Phrase als ...

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Bei der Deutung als Titel wurden lediglich die Belege ausgewählt, die tatsächlich die

Phrase beschreiben. Unter dem Lexem Grundsatz sind alle Belege zusammengefasst, die

die Phrase als Grundsatz und Rechtsgrundsatz definieren.

In der Domäne Buchenwald wird die Phrase nahezu ausschließlich als Inschrift,

Aufschrift oder Schriftzug gedeutet. Sie beziehen sich eindeutig auf die Verwendung am

Innentor des KZ-Buchenwald und gerade nicht auf die Deutungen, die die Phrase als

feststehende Regel definieren, wie es die u.a. die Lexeme Motto, Slogan, Grundsatz etc.

tun. Bei allen anderen Deutungen zeigen sich zwar gewisse Präferenzen für eine oder

mehrere Domänen, sie kommen jedoch in niedrigerer Frequenz in fast allen Domänen

vor. Die Deutung als Motto wird besonders häufig in den Domänen Bildung und Freizeit

angewandt. Gerade die Domäne Freizeit bietet häufiger Belege, die mit den Worten

unter dem Motto Jedem das Seine eingeletet werden (vgl. (52) und (81)).

(81) ST. GALLER TAGBLATT, 06.07.2010

Vor während und nach diesem offiziellen Auftakt wird - hoffentlich bei schönem Wetter - eine Programmfülle angeboten, die hier nur stichwortartig unter dem Motto «Jedem das Seine» angedeutet werden kann: Schwingen auf dem Kanzleiplatz, Seilziehen auf dem Schmäuslemarkt, Bungee Jumping auf dem Landsgemeindeplatz, Sumo Wrestling beim Rot-Tor, Kletterwand beim Haus Salesis, Elastorun in der Engelgasse, Lucky Rodeo am Platteneck, Gewichtheben am Schmäuslemarkt.

Die Definition als Slogan tritt insbesondere in der Domäne Werbung auf. Hier ist jedoch

festzuhalten, dass es auch einzelne Belege in der Domäne Buchenwald gibt, die dann

vom zynischen Slogan sprechen. Die Deutung als Titel verweist auf biografische oder

belletristische Werke im Bereich Literatur, Theater oder Ausstellung. Die hier nicht

aufgeführte, jedoch dreimal verwendete Deutung der Phrase als Wahlspruch bezieht

sich auf den geschichtlichen Kontext des Schwarzen Adlerordens von Preußen.

Festzuhalten ist, dass die unterschiedlichen Deutungen zu zwei kontrastiven

Hyperonymen zusammengefasst werden können.

Deutung als Inschrift in Buchenwald versus Deutung als Regel

Diese Erkenntnis ist für diese Arbeit von größter Bedeutung. Dass die Phrase als Motto,

Grundsatz, Devise, Prinzip etc. aufgefasst werden kann, macht sie universell einsetzbar,

praktikabel und zitierfähig. Die Phrase kann musterhaft, wenn nicht gar schablonenartig

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auf unterschiedliche Situationen angewandt werden und als feststehende Regel der

sprachlichen Einordnung verschiedener Gegebenheitden dienen (vgl. Kap. 5.2.10.1).

Diese Fähigkeit hat die Phrase Arbeit macht frei beispielsweise nicht inne. Würde man

von einer Welt ausgehen, in welcher Arbeit macht frei niemals im Nationalsozialismus

gebraucht wurde, so könnte man mit der Phrase trotzallem lediglich Situationen

beschreiben, die auf Arbeit oder körperliche Anstrengung referieren. Dieser enorme

Unterschied kann als ein weiteres wichtiges linguistisches Indiz dafür angesehen

werden, warum Jedem das Seine trotz Missbrauch im Nationalsozialismus hochfrequent

eingesetzt wird. In (82) wird die Komplexität der Phrase Jedem das Seine geeignet

zusammengefasst.

(82) THÜRINGISCHE LANDESZEITUNG, 16.01.2009

Jedem das Seine. Der Slogan geht leicht über die Lippen. Zu griffig, zu tolerant kommt diese Redensart rüber und deshalb auch zu leichtfertig. Es war der Spruch, den die Nazis ins Tor des Konzentrationslagers Buchenwald schmieden ließen in zynischer Abwandlung seines ursprünglichen Sinnes. Ähnlich dem Satz Arbeit macht frei in Auschwitz.

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6 Diskussion

Nach eingehender Analyse des gesamten Korpus können verschiedene Ansatzpunkte

dafür gegeben werden, warum Jedem das Seine trotz nationalsozialistischem Kontext so

frequent verwendet wird. Abbildung 22 fasst die gewonnenen Erkenntnisse zusammen.

Während zahlreiche Aspekte ausgemacht werden konnten, die auf gesellschaftlichen,

politischen sowie wissenschaftlichen Faktoren basieren, so hat die Analyse des Korpus

gezeigt, dass es auch diverse linguistische Gründe dafür gibt, dass eine

nationalsozialistisch belastete Phrase hochfrequent in verschiedensten thematischen

Domänen verwendet wird.

Abbildung 22: Zusammenfassung

Die vielfältigen linguistischen Aspekte sind jedoch nur deswegen so wesentlich für die

Beantwortung der Frage, warum Jedem das Seine so hochfrequent verwendet wird, weil

die Phrase soziale Geltung beanspruchen kann. Sprichwörter „werden als Normen

aufgestellt, die für das Handeln gültig sind“ (BURK 1953:62). Sie können „als autoritative

Norm des Kollektivs verstanden“ (GRZYBEK 1991:191) werden und stellen somit eine

allgemein anerkannte Routineformel dar, die es ermöglicht, Situationen zu bewältigen

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(vgl. Koller 1977:72 Situationsbewältigungsmuster). Jedem das Seine ist somit Teil „einer

Soziologie der Kommunikation“ (LUCKMANN 1989:33). Die Phrase ist sowohl

gesellschaftlich anerkannt als modellierende Maxime in der Bildung, als ideologisches

Prinzip in der Politik, als individuelles Lebensmotto in der Gesellschaft wie auch als

kollektiver rechtssprechender Grundsatz in der Judikative. Gleichzeitig steht die Phrase

stellvertretend für Freiheit, Individualität, Demokratie und Gerechtigkeit sowie

Selbstbereicherung, Ungleichheit und Willkür. Dass sie all diese Definitionen bedienen

kann, liegt wiederum an ihrer semantischen Vagheit und ihrer pragmatischen

Polyfunktionalität, was sich insbesondere dadurch bedingt, dass Jedem das Seine als

phraseologische Mischform unterschiedliche Modifikationen, Extensionen und

Variationen ermöglicht. Die soziologischen und linguistischen Aspekte der Phrase stehen

somit in einer reziproken Abhängigkeit zueinander, da Jedem das Seine keine

anerkannte Norm darstellen würde, wenn sie sich nur auf eine ganz spezifische Situation

anwenden lassen könnte. Jedem das Seine verbindet somit die Wissenschaftsbereiche

Linguistik, Soziologie und Geschichte miteinander.

Dass die Phrase ein solch prominentes und allgemein anerkanntes sprachliches Muster

für vielfältige Situationen darstellt, zeigt zugleich die unzureichende Aufklärung

bezüglich nationalsozialistisch belasteter Sprache. Die analysierten sprachkritischen

Zeitungsbelege beschreiben lediglich eine kurative Reaktion auf Verfehlungen und

geben weder Empfehlungen für einen kritischen Gebrauch ab, noch folgen sie selbst

einem stringenten Muster bei der Weiterverwendung. Dieser Mangel ist jedoch zum Teil

als Spätfolge der geringen wissenschaftlichen Auseinandersetzung sowie

gesellschaftlichen Aufklärung von 1945 bis 1998 zu betrachten, aus welcher ein

verbindlicher gesellschaftlicher Konsens zum Umgang mit NS-Sprache hätte folgen

müssen. Zu kritisieren sind hier insbesondere die sprachkritischen Beiträge von

Zeitungen, die unreflektiert für eine Weiterverwendung der Phrase plädieren, da sie

ihren Ursprung bereits in der Antike habe und auch dementsprechend gemeint sei. Die

Analyse der Domäne Buchenwald hat gezeigt, welche Bedeutung die Phrase für

zahlreiche Opfer nationalsozialistischer Gewalt hat. Diesen Aspekt außer Acht zu lassen

ist grob fahrlässig und widerspricht der aufklärerischen Fähigkeit, wenn nicht gar Pflicht

der Medien.

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Es ist nicht Aufgabe dieser Arbeit, zu entscheiden, ob man „die nationalsozialistische

Instrumentalisierung der epocheübergreifenden Bedeutung“ (BRUNNSEN 2010:308)

unterordnet, wie es beispielsweise VON DER PFORDTEN (2004:10) tut. Er sagt: „Wer eine

Gerechtigkeitsformel, die fast 2500 Jahre alt ist, schon durch die kurzzeitige

Pervertierung durch ein Terrorregime als nicht mehr zitierfähig ansieht, sorgt ungewollt

dafür, daß dessen geistiges Zerstörungswerk fortwirkt, anstatt offensiv und aufklärend

gegen die Pervertierung vorzugehen.“ Auch eine eindeutige Positionierung gegen eine

Weiterverwendung und für eine Tabuisierung ist weder Ziel dieser Arbeit, noch

gesellschaftlich zielführend. Wenn Kurt Scheel schreibt, dass Jedem das Seine durch den

Missbrauch im KZ-Buchenwald „verdorben“80 sei, so ist dem zuzustimmen. Doch der

„Missbrauch eines Schlagworts hebt dessen künftige Brauchbarkeit nicht auf“ (KLENNER

2002:329). Eine unbedarfte Weiterverwendung der Phrase ohne Rücksicht auf die

nationalsozialistische Vergangenheit ist indes zu kritisieren. Die in dieser Arbeit

beschriebene Unkenntnis bezüglich des Nationalsozialismus im Allgemeinen und der

Phrase Jedem das Seine im Besonderen zeigt, dass ein adäquater Gebrauch der Phrase

insbesondere durch eine fundierte wissenschaftliche Auseinandersetzung wie auch eine

breite gesellschaftliche Aufklärung erzielt werden kann. Wünschenswert wäre eine

„Konsensbildung über den angemessenen Umgang mit der lexikalischen

Hinterlassenschaft des Dritten Reichs“ (BRUNNSEN 2010:310), die auf einem hohen Grad

der „sprachlichen Zivilität“ basiert und einen historisch-kritischen Gebrauch der Phrase

zulässt. Gerade die Forderung nach einem Schlussstrich unter die NS-Vergangenheit und

eine daraus resultierende „Überdrussmentalität“ (SCHWARZ-FRIESEL/REINHARZ 2012:280)

macht dieses Vorhaben jedoch besonders komplex.

80 http://www.zeit.de/2001/08/46559/komplettansicht (zuletzt eingesehen am 09.05.2017).

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6.1 Zusammenfassung

Auf Basis eines eigens erstellten Korpus hat sich die vorliegende Arbeit mit der Frage

auseinandergesetzt, warum die Phrase Jedem das Seine trotz nationalsozialistischer

Vergangenheit hochfrequent in Pressetexten verschiedener deutscher wie

ausländischer Zeitungen verwendet wird. Ausgangspunkt dieser Untersuchung war eine

dezidierte Zusammenfassung des Forschungsstandes zur NS-Sprache und der Formel

Jedem das Seine, in welcher festgestellt werden konnte, dass die Phrase einem

nationalsozialistischen Umdeutungsprozess zum Opfer fiel und nicht zu den typischen

NS-Wendungen zählt. Trotz oder gerade wegen dieser besonderen Form wurde die am

Innentor des KZ-Buchenwald angebrachte zynische Losung gesellschaftlich wie

wissenschaftlich nicht adäquat aufgearbeitet. Das zeigte sich ebenfalls in der

mangelnden Kenntnis zum Nationalsozialismus und der fehlenden Erinnerungskultur.

Während seit dem Jahr 1998 ein allmähliches gesellschaftliches Interesse zum

historisch-kritischen Gebrauch ausgemacht werden konnte, führte die Analyse von 1242

Zeitungsbelegen der Phrase zu der Erkenntnis, dass sich abgesehen von der mangelnden

Aufklärung weitere Faktoren ergaben, warum die Phrase vielfach eingesetzt wird. So

weist die Phrase eine hohe semantische Vagheit auf, die zum Teil ambivalent ist.

Dadurch kann sie in zahlreichen thematischen Domänen eingesetzt werden. Zugleich

ermöglicht die besondere phraseologische Mischform der Wendung, ihre vielfältige

metasprachliche Deutung als Prinzip, Parole, Motto etc. und ihr Charakter als „All-Satz“

eine funktionale Einbettung in den Kontext. Mit der Phrase können Sachverhalte,

Situationen, Handlungen oder Beteiligte bewertet werden. Oftmals geht dabei eine

Regulierung der Beziehung zwischen Autor und Leser einher. Liegt eine zu bewertende

Situation vor, so kann der Autor mit Hilfe der Phrase warnen, legitimieren, verurteilen,

besänftigen, kategorisieren oder modellieren. Daraus resultiert dann oftmals eine

Handlungsanweisung für den Leser. Eine wichtige Erkenntnis ist die Tatsache, dass

Jedem das Seine nur deswegen als Handlungsanweisung oder

Situationsbewältigungsmuster verwendet werden kann, weil es als solches

gesellschaftlich akzeptiert ist und eine allgemein anerkannte Routineformel zur Lösung

eines kommunikativen Problems darstellt.

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Im Verlauf der Arbeit wurden ebenfalls zahlreiche metasprachliche Belege betrachtet,

in denen die Phrase weder semantisch noch funktional in den Kontext eingebunden war.

Hierunter zählten insbesondere sprachkritische Ansätze sowie Belege, die sich mit dem

KZ-Buchenwald auseinandersetzten. Die Domäne Sprachkritik beinhaltete oftmals

lediglich kurative Kritik an Unternehmen, Personen des öffentlichen Lebens oder

anderen Zeitungen, nachdem sich diese der Phrase bedient hatten. Weiterhin konnten

unreflektierte Belege gefunden werden, in denen für eine unbedarfte

Weiterverwendung der Phrase plädiert wurde. In der Domäne Buchenwald konnte auf

Basis einer KeyWord-Analyse des Programms AntConc eindeutig aufgezeigt werden,

dass die Phrase außerhalb der Definition als Gerechtigkeitsformel, Maxime oder

Lebensmotto eine weitere innehat. Sie ist Synonym für Massenmord und steht

stellvertretend für das Leid von Millionen von Menschen und die Willkür und

Gräueltaten des Nationalsozialismus. Da dies jedoch nicht der einzige Kontext ist, in dem

die Phrase verwendet werden kann und es keinen einheitlichen Konsens zur adäquaten

Weiterverwendung nationalsozialistisch belasteter Sprache gibt, kommt diese Arbeit zu

der Konklusion, dass sich ein angemessener Umgang mit der Phrase weder durch

Tabuisierung noch durch unbedarfte Weiterverwendung erzielen lässt. Das Ziel ist eine

sprachlich sensibilisierte Öffentlichkeit, die sich aus der Kombination aus

wissenschaftlicher Auseinandersetzung und gesellschaftlicher Aufklärung ergibt und

einen adäquaten Umgang mit NS-Sprache zur Folge hat.

6.2 Ausblick

Abbildung 10 zeigt, dass in den Jahren 2014 und 2015 erstmals zwei

aufeinanderfolgende Jahre eine Aufklärungsrate von über 40 Prozent aufweisen

konnten. Daher wäre eine Analyse der Jahre 2016 und 2017 insbesondere im

Zusammenhang mit einem fehlenden gesellschaftlichen Konsens erkenntnisreich. Eine

Stagnation oder Erhöhung der Rate in den Jahren 2016 und 2017 wäre zwar nicht

gleichbedeutend mit einem Konsens, eine positive Tendenz wäre jedoch auszumachen.

Gerade die Untersuchung der Phrase in einer Form der interaktiven Schriftlichkeit (z.B.

Forum, Chat etc.) könnte neue Erkenntnisse bezogen auf die Funktion als

Situationsbewältigungsmuster bringen. Darauf aufbauend könnte man untersuchen, ob

sich die jeweiligen Funktionen mit den hier beschriebenen gleichen oder ob die Phrase

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bei höherer Interaktivität weitere Funktionen aufweist. Aus den in dieser Arbeit

gewonnenen Erkenntnissen und einer Analyse der Nutzung in Foren, Chats und

eventuell sogar mündlichen Situationen könnte ein umfassendes linguistisches Muster

der Phrase erstellt werden, welches dann mit anderen polyfunktionalen Phrasen

verglichen werden kann. Das für diese Arbeit erstellte Korpus bietet jedoch ebenfalls

weitere Analysemöglichkeiten. So wäre eine Untersuchung weiterer thematischer

Domänen, bezogen auf phraseologische, semantische und syntaktische Aspekte der

Phrase, ebenfalls aufschlussreich.

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WETTE, W., 2003. Ein Hitler des Orients? NS-Vergleiche in der Kriegspropaganda von

Demokratien. In: Gewerkschaftliche Monatshefte Jg. 54 (2003). S.231-242.

ZEDLITZ-NEUKIRCH, L., 1836. ‘Statuten des königlichen Preussischen Ordens vom schwarzen

Adler. Vom 18. Januar 1701’. In: Neues preussisches Adels-Lexicon, Band 2. Leipzig:

Gebrüder Reichenbach.

ZICK, A., 2010. Aktueller Antisemitismus im Spiegel von Umfragen – ein Phänomen der

Mitte. In: SCHWARZ-FRIESEL, M./FRIESEL, E./REINHARZ, J., 2010. Aktueller

Antisemitismus – ein Phänomen der Mitte. Berlin: de Gruyter.

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8 Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Ergebnisse der Studie zum Wissen über den Nationalsozialismus aus

AHLHEIM/HEGER (2002:68). Aus: AHLHEIM, K./HEGER, B., 2002. Die unbequeme

Vergangenheit: NS-Vergangenheit, Holocaust und die Schwierigkeiten des

Erinnerns. Schwalbach: Wochenschau-Verlag. S.68.

Abbildung 2: Klassifikation der Phraseologie. Eigene Darstellung. Nach: BURGER, H.,

2010. Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. Berlin: Erich

Schmidt Verlag. S.37ff.

Abbildung 3: Anzahl der Belege nach Jahren. Eigene Darstellung.

Abbildung 4: Vorgenommene Einstellungen bei COSMAS II. Screenshot der

Einstellungen für KWIC/Volltext auf https://cosmas2.ids-mannheim.de/cosmas2-

web/faces/investigation/archive.xhtml

Abbildung 5: Häufigste Zeitungen des Korpus. Eigene Darstellung.

Abbildung 6: Aufklärungsrate gesamt. Eigene Darstellung.

Abbildung 7: Aufklärungsrate nach Ländern. Eigene Darstellung.

Abbildung 8: Aufklärungsrate nach Zeitungen (1). Eigene Darstellung.

Abbildung 9: Aufklärungsrate nach Zeitungen (2). Eigene Darstellung.

Abbildung 10: Aufklärungsrate nach Jahren. Eigene Darstellung.

Abbildung 11: Thematische Domänen. Eigene Darstellung.

Abbildung 12: Aufklärungsrate nach thematischen Domänen. Eigene Darstellung.

Abbildung 13: Werbung BURGER KING. http://www.claus-bach.net/bildarchiv/alle-jahre-

wieder/. Zuletzt eingesehen am 08.05.2017.

Abbildung 14: Werbung NOKIA. http://www.bpb.de/politik/grundfragen/sprache-und-

politik/42761/jedem-das-seine?p=all. Zuletzt eingesehen am 08.05.2017.

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Abbildung 15: Werbung AUSTRIAN-AIRLINES.

http://derstandard.at/1253596419957/Werbungs-Wortwahl-Direktflug-in-die-

Nazi-Falle. Zuletzt eingesehen am 08.05.2017.

Abbildung 16: IKEA Werbung Original.

http://riesenmaschine.de/index.html?nr=20060929145636. Zuletzt eingesehen

am 08.05.2017.

Abbildung 17: IKEA Werbung Deutschland.

http://www.kulturnation.org/archives/2006/08/29/ikea-demnachst-in-weimar-

ettersberg/. Zuletzt eingesehen am 08.05.2017.

Abbildung 18: Anteil Zitierung der Phrase. Eigene Darstellung.

Abbildung 19: Anteil Zitierung ohne Aussagen Dritter. Eigene Darstellung.

Abbildung 20: Aufklärungsrate ohne Domäne Buchenwald. Eigene Darstellung.

Abbildung 21: Metasprachliche Deutung. Eigene Darstellung.

Abbildung 22: Zusammenfassung. Eigene Darstellung.

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9 Tabellenverzeichnis

Tabelle 1: Analysierte Merkmale der Belege. Eigene Darstellung.

Tabelle 2: Extensionen von Jedem das Seine. Eigene Darstellung.

Tabelle 3: Zusammenfassung der Funktionen von Jedem das Seine. Eigene Darstellung.

Tabelle 4: Keywords der Korpora. Eigene Darstellung.

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10 Selbständigkeitserklärung

Hiermit erkläre ich an Eides statt gegenüber der Fakultät I der Technischen Universität Berlin, dass die vorliegende, dieser Erklärung angefügte Arbeit selbstständig und nur unter Zuhilfenahme der im Literaturverzeichnis genannten Quellen und Hilfsmittel angefertigt wurde. Alle Stellen der Arbeit, die anderen Werken dem Wortlaut oder dem Sinn nach entnommen wurden, sind kenntlich gemacht. Ich reiche die Arbeit erstmals als Prüfungsleistung ein. Titel der schriftlichen Arbeit _______________________________________________________________________ VerfasserInnen* Name, Vorname, Matr.-Nr. _______________________________________________________________________ Betreuende/r DozentIn Name, Vorname _______________________________________________________________________ Mit meiner Unterschrift bestätige ich, dass ich überfachübliche Zitierregeln unterrichtet worden bin und verstanden habe. Die im betroffenen Fachgebiet üblichen Zitiervorschriften sind eingehalten worden. Eine Überprüfung der Arbeit auf Plagiate mithilfe elektronischer Hilfsmittel darf vorgenommen werden. _______________________________________________________________________ Ort, Datum, Unterschrift** *Bei Gruppenarbeiten sind die Unterschriften aller VerfasserInnen erforderlich. **Durch die Unterschrift bürgen Sie für den vollumfänglichen Inhalt der Endversion dieser schriftlichen Arbeit