Tadeusz Borowski - Die steinerne Welt

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Tadeusz Borowski Die steinerne Welt Erzählungen Erzählungen, in denen der polnische Autor Stationen seines eigenen Lebenswegs nachzeichnet: Untergrundbewegung, KZ-Dasein und die Rückkehr in eine vergessende Umwelt. Tadeusz Borowski Die steinerne Welt Erzählungen Aus dem Polnischen von Vera Cerny © Maria Borowska, Warschau, 1959 © der deutschen Ausgabe R. Piper & Co. Verlag, München, 1963 Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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Narraciones

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Tadeusz Borowski

Die steinerne Welt

Erzählungen

Erzählungen, in denen der polnische Autor Stationen seines eigenen Lebenswegs nachzeichnet: Untergrundbewegung, KZ-Dasein und die Rückkehr in eine vergessende Umwelt.

Tadeusz Borowski Die steinerne Welt

Erzählungen Aus dem Polnischen von Vera Cerny © Maria Borowska, Warschau, 1959

© der deutschen Ausgabe R. Piper & Co. Verlag, München, 1963

Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!

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DAS BUCH

Die Erzählungen Borowskis (1963 unter dem Titel „Die steinerne Welt“ erschienen) gehören zu den beklemmendsten Zeugnissen des 20.Jahrhunderts. Einer, der das Inferno der Konzentrationslager erlebt hat, berichtet über Bedrohung und Versuchung, Angst und Hoffnung. Die Einmaligkeit von Borowskis Werk besteht nicht nur darin, daß er die Greuel der Vernichtungslager mit literarischen Mitteln zu be­schreiben versucht – ganz und gar eigenständig ist auch die Konzepti­on der Tragik, die einen Unterton von scheinbarem Zynismus, schein­barer moralischer Indifferenz bedingt. Mit einer Genauigkeit, „die sich und uns nichts schenken will“ (Reinhard Baumgart), schildert er die Mutter, die bei der Selektion ihr Kind verleugnet, die „Muselmanen“, die sich an der Hinterlassenschaft jener gütlich tun, die ins Gas ge­schickt wurden, die Arroganz der alteingesessenen Häftlinge gegen­über den Neuankömmlingen im Lager: Im Kampf um die nackte Exi­stenz macht sich auch das Opfer mitschuldig, wird der Mensch zum Wolf unter Wölfen. Um diese Situation begreiflich zu machen, wählt Borowski die Perspektive des Kapos, der in ein Zwischenreich gehört, weder Opfer ist noch Henker.

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DER AUTOR

Tadeusz Borowski, geboren 1922 in Schitomir (Ukraine). Seit 1933 in Polen. Später Bauarbeiter, zugleich Studium der Polonistik an der Untergrund-Universität in Warschau. Im Februar 1943 Verhaftung. Häftling in Auschwitz, dann in anderen Lagern, zuletzt in Dachau. Nach dem Krieg Aufenthalt in München, wo 1945 sein Gedichtband »Die Namen der Strömung« und 1946 in Zusammenarbeit mit zwei Mitgefangenen die literarische Dokumentation »Wir waren in Auschwitz« erschien. 1946 Redakteur in Warschau, 1949/50 Korrespondent in Berlin. Starb 1951 in Warschau durch Selbstmord.

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TADEUSZ BOROWSKI

DIE STEINERNE WELT ERZÄHLUNGEN

MIT EINEM NACHWORT VON ANDRZEJ WIRTH

R. PIPER & CO VERLAG MÜNCHEN

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Aus dem Polnischen von Vera Cerny

© Maria Borowska, Warschau, 1959 Schutzumschlag und Einband: Gerhard M. Hotop Gesamtherstellung: Ensslin-Druck Reutlingen © der deutschen Ausgabe R. Piper & Co. Verlag, München, 1963 Printed in Germany

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INHALT

DAS BUCH .................................................................................... 2DER AUTOR.................................................................................. 3INHALT ......................................................................................... 6AUS DEM VORWORT DER POLNISCHEN AUSGABE......................... 8ABSCHIED VON MARIA............................................................... 10

I.............................................................................................. 10II ............................................................................................ 25III ........................................................................................... 44

DER KNABE MIT DER BIBEL........................................................ 57EIN TAG IN HARMENCE .............................................................. 72

I.............................................................................................. 72II ............................................................................................ 79III ........................................................................................... 85IV........................................................................................... 89V ............................................................................................ 95VI......................................................................................... 100VII........................................................................................ 105

BITTE, DIE HERRSCHAFTEN ZUM GAS! ..................................... 111BEI UNS IN AUSCHWITZ … ....................................................... 140

II .......................................................................................... 142III ......................................................................................... 147IV......................................................................................... 154V .......................................................................................... 160VI......................................................................................... 168VII........................................................................................ 177VIII ...................................................................................... 181IX......................................................................................... 188

UND SIE GINGEN … .................................................................. 192DIE STEINERNE WELT .............................................................. 210

Eine Erzählung, die das Leben schrieb................................ 214Schillingers Tod ................................................................... 217Der Mann mit dem Päckchen............................................... 221Das Abendessen ................................................................... 225Das Schweigen..................................................................... 230

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Die Begegnung mit einem Kind ........................................... 233Das Kriegsende.................................................................... 236Independence Day ............................................................... 240Oper! Oper! ......................................................................... 243Die Reise im Pullman .......................................................... 247Das Zimmer ......................................................................... 249Sommer in dem Städtchen.................................................... 251Das Mädchen aus dem verbrannten Haus ........................... 253Der Vorschuß....................................................................... 256Ein heißer Nachmittag ......................................................... 258»Zum tapferen Partisan« ..................................................... 260Tagebuch einer Reise........................................................... 263Ein bürgerlicher Abend ....................................................... 268Der Besuch .......................................................................... 271

DIE UNVOLLSTÄNDIGE RECHNUNG DES TADEUSZ BOROWSKI.. 274

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AUS DEM VORWORT DER POLNISCHEN AUSGABE

Er starb – nicht ganz neunundzwanzig Jahre alt, und sein Leben war dramatisch und schwer. Die nazistische Okku­pation und das Auschwitzer Lager erlebte er noch in seiner ersten Jugend – er gehörte zu jener Generation, die viel zu früh und allzu grausam gezwungen war, ihren »Schatten­streifen« zu durchschreiten.

Er war der geborene Intellektuelle, aber trotzdem nicht frei von emotionellen Komplikationen. Nur wenige seiner Zeitgenossen verstanden es mit der gleichen Scharfsichtig­keit wie er, das dunkle Chaos menschlicher Schicksale zu erahnen: wahrscheinlich kam ihm niemand gleich in der künstlerischen Wiedergabe der Lagererlebnisse. Er war noch nicht einmal zwanzig, als er seine besten Erzählun­gen schrieb: Der Knabe mit der Bibel, Ein Tag in Har­mence, Bei uns in Auschwitz, Bitte, die Herrschaften zum Gas …

Schmächtig, kaum mittelgroß, mit dunklem, ewig zer­zaustem Haar, mit lebhaften, klugen Augen, war er intelli­gent, aggressiv, beinahe impertinent in der Diskussion, kapriziös im Umgang mit seinen Kollegen, abwechselnd mißtrauisch und herzlich, eher geneigt, seine Gefühle zu verbergen, eine schwer zu beschreibende Fremdheit aus­strahlend und dabei doch oft ausgelassen und lustiger Kumpan. Er gehörte zu jenen ewig Unruhigen, die nach umfassendem Wissen dürsten, nach Erfahrungen, nach Ruhm, Größe und dem Erlebnis eines tiefen, von einer Idee getragenen Glaubens. Nur zu gut kannte er die weiten Räume des Lebens, in denen unzählige Fragezeichen war­

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ten, wußte er, was Qualen bedeuten, die man umsonst er­leidet, kannte er die Verachtung und den Egoismus eines gefährdeten Lebens.

Sein kostbarster Besitz war seine Feder, mit ihr wollte erdienen. Über die Grenze des Lebens und des Todes schritt er mit der gleichen Gewaltsamkeit, mit der er alles tat. Er starb am 3. Juli 1951.

Jerzy Andrzejewski

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I

ABSCHIED VON MARIA

Ein Tisch, ein Telefon, ein eckiger Stoß Bücher. Dahinter ein Fenster und eine Tür. Die Tür hat zwei dunkle, glasige Augen, lichtlos wie die schwarze Nacht, die dahinter hockt. Ringsum Himmel, schwere, aufgedunsene Wolken, die am Fenster kleben, bis der Wind sie von den trüben Scheiben wischt und weiterjagt, immer weiter nach dem Norden, über die Mauern des niedergebrannten Hauses hinweg.

Das ausgebrannte Haus steht schwarz auf der anderen Straßenseite, der Gartenpforte gegenüber. Es ist von einem schützenden Drahtnetz umgeben, an dessen oberem Ende silbriger Stacheldraht schimmert. Das zittrige, flackernde Licht der Straßenlaterne verfängt sich in den engen Ma­schen, zeichnet violette Reflexe, die zart und flüchtig sind wie verklingende Töne. Rechts von dem Haus ragt ein Baum in den Himmel. Seine nackten Arme greifen pathe­tisch nach den Wolken. Seltsam reglos steht der Baum, nur ab und zu hüllen ihn die milchigen Dampfschwaden einer vorbeistampfenden Lokomotive ein. Schwere, voll­beladene Güterzüge rattern vorüber, hinaus an die Front.

Maria sah von ihrem Buch auf. Ein durchsichtiger Schat­ten lag auf ihrer Stirn, verdunkelte ihre Augen und schmiegte sich wie ein hauchzarter Schleier an ihre Wan­

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gen. Auf dem Tisch, zwischen leeren Flaschen, Tellern mit Salatresten, dunkelroten, bauchigen Gläsern auf ho­hen, blauen Stielen, glühte eine kleine, pilzförmige Tisch­lampe. Maria umschloß sie mit ihren Händen.

Das helle Licht, das die Konturen der Gegenstände nachzeichnete, ertrank in dem blauen Rauch, der wie eine dichte Nebelschicht unter der Decke hing, brach sich an den schmalen, zerbrechlichen Rändern der Gläser und funkelte in den Kelchen wie goldgelbe Blätter, die im Wind erbeben. Alles Licht schien in Marias behutsam ge­schlossenen Händen eingefangen, sie leuchteten wie eine kostbare Schale. Nur zwischen den Fingern, dort, wo dunkle Linien die lichte Form zerteilten, pulsierte fast un­merklich das Blut. Das winzige Zimmer versank in ein warmes, trauliches Halbdunkel, kuschelte sich noch mehr zusammen, bis es so klein wurde wie eine Muschel.

»Schau, es gibt keine Grenze zwischen Licht und Schat­ten«, flüsterte Maria. »Der Schatten ist wie die Flut. Zuerst berührt er unsere Füße, dann steigt er immer höher, und schließlich gibt es nichts mehr auf der Welt. Nur dich und mich.«

Ich beugte mich zu ihren Lippen, zu den winzigen Fält­chen, die sich in ihren Mundwinkeln verbargen.

»Deine Gedanken erinnern mich an einen jungen Baum, der immer neue Knospen trägt«, sagte ich halb im Scherz und schüttelte heftig den Kopf, um den widerlichen Rausch loszuwerden, von dem mir immer noch der Schä­del brummte.

Maria öffnete leicht den Mund. Zwischen ihren Zähnen schimmerte feucht die dunkle Zungenspitze. Sie lächelte, ihre Hände schlossen sich fester um die leuchtende Kugel der Lampe. Das Licht in der Tiefe ihrer Augen erlosch.

»Junge Bäume … Poesie … Davon verstehe ich nichts.

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Poesie begreife ich ebensowenig, wie ich eine Gestalt hö­ren oder einen Laut berühren kann.«

Sie lehnte sich zurück, stützte sich nachdenklich auf die Armlehne des kleinen Sofas. Ihr knapper, roter Pullover bekam eine saftige, purpurne Farbe. Dort, wo sich das Licht in den Falten brach, schienen kleine Flammen zu züngeln.

»Aber nur die Poesie vermag das wahre Bild eines Men­schen zu zeigen. Eines wahren Menschen, meine ich.« Ich trommelte mit den Fingerspitzen gegen ein Glas. Es gab einen unwirklichen, unendlich zarten Klang.

»Ich weiß nicht, Maria«, sagte ich achselzuckend. »Ich glaube, Poesie, und vielleicht auch Religion, kann man nur daran ermessen, wieviel Liebe von Mensch zu Mensch sie zu wecken vermag. Das ist, glaube ich, die objektivste Be­urteilung.«

»Liebe. Natürlich, Liebe«, sagte Maria, und ihre Augen wurden zu schmalen Schlitzen.

Draußen, hinter dem Fenster, hinter dem ausgebrannten Haus, ratterten die Straßenbahnen. Ab und zu schoß ein kurzer, violetter Blitz zum Himmel, das fahle Licht ergoß sich für einen Augenblick über die Straße, beleuchtete das Haus und das Tor und verlosch gleich darauf lautlos in der Dunkelheit. Nur den Bruchteil eines Augenblicks dauerte es noch, dann verklang auch das dünne, hohe Singen der vibrierenden Gleise.

Hinter der Tür, im Nebenzimmer, lief der Plattenspieler wieder an. Die krächzende Melodie erstickte fast in dem schlurfenden Geräusch der tanzenden Füße. Ab und zu ki­cherte ein Mädchen.

»Siehst du, Maria, es gibt noch eine andere Welt außer der unseren«, sagte ich lachend und stand auf. »Ja, so ist es nun mal. Könnte man die ganze Welt verstehen, wie

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man die eigenen Gedanken versteht, könnte man die ganze Welt sehen, wie man ein Fenster sieht, das Tor drüben und die Wolken über dem Tor, könnte man alles zugleich und alles ganz klar sehen, dann …«

Ich ging um das kleine Sofa herum, auf dem Maria saß, und blieb stehen. Zwischen ihr und dem Kachelofen, ne­ben dem sich ein Sack mit Kartoffeln duckte. Schon im Herbst hatten wir sie für den Winter gekauft. »… dann wäre die Liebe nicht nur der einzig gültige Maßstab, son­dern auch die letzte Instanz aller Dinge. Wir sind jedoch dazu verurteilt, den Weg des ewigen Suchens zu gehen, wir sind nur auf unsere eigenen, verwirrenden Erlebnisse angewiesen, auf die eigene, täuschende Erfahrung. Welch unvollkommenes, welch unzulängliches Maß!«

Die Tür vom Nebenzimmer ging auf. Thomas kam her­angewankt, schwer auf die Schulter seiner Frau gestützt. Ihr gewölbter Bauch erfreute sich seit geraumer Zeit des nie erlahmenden Interesses aller Freunde. Thomas torkelte zum Tisch, klammerte sich an die Tischkante und beugte sich schwankend über die Platte. Sein fleischiger Nacken bebte.

»Du kümmerst dich schlecht um deine Gäste«, sagte er mit leisem Vorwurf. »Es gibt überhaupt nichts mehr zu trinken.« Er untersuchte sorgfältig jedes Glas auf dem Tisch, und als er sie alle leer fand, taumelte er unsicher zur Tür. Seine Frau schob ihn sachte voran. Er stierte sie mit leeren, stumpfen Augen an, als wäre sie ein Bild. Man sagte ihm nach, dies sei sein berufsmäßiger Blick, denn er handelte mit gefälschten Corots, Noakowskis und Pankie­wiczs. Außerdem war er Redakteur, gab alle vierzehn Ta­ge ein syndikalistisches Käseblättchen heraus und hielt sich für einen Linksradikalen. Als sie aus der Wohnung traten, klirrte der festgefrorene Schnee unter ihren Füßen. Dicke weiße Schwaden eisigen Dampfes wälzten sich ins

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Zimmer und bauschten sich auf dem Boden wie frisch ge­pflückte Baumwolle.

Die Tür zum Nebenzimmer stand immer noch offen. Ei­nige Paare kamen ins Büro geschwebt, drehten sich ver­träumt um den Tisch, schlüpften zwischen dem Kachel­ofen und dem Kartoffelsack hindurch und umgingen sorg­fältig die Wasserpfütze, die sich unter dem Fenster ange­sammelt hatte. Endlich verschwanden sie wieder im Ne­benzimmer. Nur ein paar dunkle Schleifspuren blieben auf dem roten, frisch gebohnerten Fußboden zurück.

Maria erhob sich hinter dem Tisch, schob mit einer un­bewußten Handbewegung das Haar zurück und sagte:

»Ich muß laufen, Tadek. Der Chef möchte etwas früher anfangen.«

»Hast noch eine gute Stunde Zeit …«, versuchte ich sie aufzuhalten.

Zwischen einem halbaufgerollten Plakat, auf dem ein Kreisausschnitt prangte, und einer Kohlezeichnung, die einen Blick durchs Schlüsselloch in die Ecke eines kubi­stischen Schlafzimmers freigab, tickte friedlich eine uralte, runde Uhr. Sie war an langen Schnüren aufgehängt, und ihr blechernes Zifferblatt war rostig und zerbeult.

»Shakespeare nehme ich mit. Ich will schauen, daß ich den Hamlet bis Dienstag abend für unseren Geheimlehr­gang noch fertigkriege. Vielleicht geht’s heute doch.«

Maria ging ins Nebenzimmer und hockte sich vor das Bücherbrett. Es war aus groben, ungehobelten Brettern gezimmert, die sich unter der Last der Bücher bogen. Blaue und weiße Rauchschwaden ringelten sich in der Luft und vermischten sich mit dem schalen Geruch von Schnaps, dem Schweiß erhitzter Leiber und dem modrigen Geruch der feuchten, faulenden Mauern. Ein paar Farb­kleckse schimmerten durch den blauen Dunst, sie hingen

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an den Wänden und sahen aus wie leuchtende Korallen und Medusen auf dem Meeresgrund.

In der Fensternische, nur durch den dünnen Vorhang von der Nacht getrennt, stand ein trauriger, beschwipster junger Mann mit einer Geige unterm Kinn. Er hatte sich hoff­nungslos in die rötliche, zarte Spitze der Vorhänge verhed­dert, die wir für sündhaft teures Geld einer Eisenbahndiebin abgeschwatzt hatten, und – er hielt sich übrigens für impo­tent – bemühte sich seit zwei Stunden vergebens, mit seiner Geige gegen den krächzenden Plattenspieler anzukommen. Seit zwei Stunden spielte er immer die gleiche Passage: er übte hier für den Sonntag. Sonntags trat er nämlich auf, frisch gewaschen und mit seinem besten Anzug angetan, mit melancholischem Gesicht und verträumten Augen, als läse er irgendwo in unsichtbarer Ferne eine Partitur.

Auf der Tischdecke, die aus der gleichen Quelle stammte wie die Vorhänge, nur noch etwas teurer war, blühten rote Blumen. Dazwischen, neben Gläsern, Büchern und ange­bissenen Brötchen, lagen die bloßen Füße von Apolonius. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück, schaukelte behag­lich hin und her und starrte auf die Couch, deren Holz zum Schutz gegen Wanzen weiß gestrichen war. Ein paar be­nebelte Gestalten lagen auf dem Polster, und Apolonius hielt ihnen eine tönende Ansprache.

»Könnte Christus jemals ein guter Soldat sein? frage ich euch. Nein! Niemals! Viel eher ein Deserteur. Zumindest liefen die ersten Christen alle weg von der Armee. Weil sie sich dem Bösen nicht widersetzen wollten.«

»Ich widersetze mich dem Bösen«, brummte Peter. Er lag breit ausgestreckt zwischen zwei jungen Damen und spielte mit ihrem Haar.

»Nimm die Füße vom Tisch. Oder wasch sie dir wenig­stens!« – »Wasch dir die Füße, Polek!« sagte eins der

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Mädchen. Es hatte dicke, wabblige Schenkel und rote, fleischige Lippen.

»Das könnte euch so passen! Ich denke nicht daran! Hört doch zu. Es gab den Stamm der Wandalen, ganz feige Brüder. Immer wieder wurden sie geschlagen. Man ver­jagte sie von Dänemark oder von Ungarn, genau weiß ich das im Augenblick nicht. Egal, man verjagte sie jedenfalls und drängte sie bis nach Spanien ab. Dort bestiegen sie große Schiffe, segelten nach Afrika und liefen immer wei­ter, bis sie vor Karthago standen. Dort war der heilige Au­gustin gerade Bischof. Der von der heiligen Monika.«

»Und dann setzte sich der heilige Augustin auf seinen Esel und bekehrte die Wandalen«, sagte ein Jüngling, der neben dem Ofen saß, und zog an seiner Pfeife. Er hatte ro­sige Wangen, die er mächtig aufblies, bis sie wie reife, flaumige Pfirsiche aussahen. Unter den Augen hatte der Junge große, dunkle Ringe. Von Beruf war er Pianist, seit einiger Zeit lebte er mit einer begeisterten Pianistin zu­sammen, einem Mädchen mit verführerischen Grübchen und leidenschaftlichen, hungrigen Augen.

Im Sommer hatten wir ihn getauft – bis dahin war er konfessionslos gewesen –, bei brennenden Kerzen, duften­den Blumen und mit einem ganzen Eimer Weihwasser. Der treuherzige Pfarrer hatte sich so weit vergessen, daß er dem Täufling darin ganz gehörig den Kopf wusch. Gleich nach der Taufe gerieten wir allesamt in eine Straßenrazzia und konnten wirklich nur mit knapper Not entkommen.

Die Hochzeit der beiden folgte reichlich spät, erst im Winter schafften wir es, sie zu verheiraten. Beider Eltern gaben nur sehr widerwillig ihren Segen zu dieser Mesalli­ance. Schließlich blieb ihnen allerdings nichts anderes üb­rig, als den beiden Musikern ein Bett zum Schlafen und einen Flügel zum Üben zu überlassen. Als sie sich aber immer weiter dagegen sträubten, die Freunde des jungen

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Paares zur Hochzeit einzuladen, entschlossen sich die Freunde, die Hochzeit selbst zu veranstalten und zu feiern. Die Braut saß dabei hochaufgerichtet auf ihrem Stuhl, steif wie das blaßblaue Kleid, das sie trug, reglos, als hätte sie einen Stock verschluckt, sehr schläfrig, sehr müde und sehr betrunken.

»Schön ist es bei euch, wirklich schön, wißt ihr das?« Eine kleine, zierliche Jüdin kniete neben Maria und schlang den Arm um ihre Schultern. Sie war gestern aus dem Getto weggelaufen, und weil sie nicht wußte, wo sie sonst hätte schlafen sollen, kam sie einfach zu uns.

»Ich komme mir vor wie in einem Traum … Es ist so lange her, und ich habe fast schon vergessen, wie eine Zahnbürste aussieht … Es ist alles so ungewohnt … Aber dann das Gefühl, daß ich wieder weg muß … Ich hab sol­che Angst!«

Maria strich ihr schweigend über den kleinen, vogelarti­gen Kopf. Das dunkle, glatt zurückgekämmte Haar glänz­te. »Sie waren doch Sängerin?« fragte ich. »Hatten Sie nicht alles, was Sie brauchten?«

Sie sah mich erstaunt an. Auf ihrem gelben Kleid leuch­teten riesige Chrysanthemen, aus dem gewagten Dekolleté lugte verführerisch schmale, cremefarbene Spitze. Ein schweres, massives Kreuz glitzerte an einer langen Kette zwischen ihren Brüsten.

»Alles? Natürlich hatte ich alles –« Ihre großen Kuhau­gen schimmerten feucht. Sie hatte die breiten, ausladenden Hüften jener Frauen, die zum Gebären bestimmt zu sein scheinen.

»Sie müssen mich verstehen … Natürlich hatte ich alles. Sogar die Deutschen gehen mit einer Künstlerin anders um …« Sie stockte und starrte auf die Bücher. Plato, Thomas von Aquin, Montaigne … Der lange, tiefrot lackierte Na­

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gel glitt über die zerschundenen Rücken der Bücher, die teils bei fliegenden Händlern gekauft, teils aus Antiquaria­ten geklaut waren.

»Sie müßten all das sehen, was ich gesehen habe …« »Dreiundsechzig Bücher hat Augustin geschrieben«,

predigte Apolonius mit der verbissenen Wut eines Beses­senen. »Dreiundsechzig. Und als die Wandalen bei Kar­thago ankamen, las er gerade Korrektur. Dabei hat ihn dann der Tod erwischt.«

»Von den Wandalen ist nichts übriggeblieben, Augustin wird heute noch gelesen. Ergo: Kriege vergehen, Dichtung bleibt. Und meine Vignetten sind unsterblich.«

Unter der Decke waren lange Schnüre gespannt, und daran hingen die Einbanddeckel eines schmalen Gedicht­bändchens zum Trocknen. Sie rochen nach feuchter Druckfarbe, das Licht irrte zwischen den roten und schwarzen Flecken herum, das Papier knisterte wie trok­kenes Laub.

Die kleine Jüdin ging quer durchs Zimmer und legte eine neue Platte auf.

»Ich glaube, man wird auch noch ein Getto für die Arier aufmachen.« Sie sah Maria von der Seite an. »Nur, daß es dann kein Entkommen geben wird …« Sie schwebte da­von, Peter hielt sie in den Armen.

»Die Kleine ist nervös«, sagte Maria leise. »Ihre ganze Familie ist hinter den Mauern geblieben.«

Die Nadel des Plattenspielers verfing sich in einem Sprung. Die Melodie verlor sich, nur das widerwärtige, monotone Kratzen nahm kein Ende.

Thomas erschien in der Tür, sein Gesicht war gerötet. Hinter ihm stand seine Frau und zog sich das Kleid über dem gewölbten Bauch glatt.

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»Nur der schwere Schleier einer Wolke, den die Pferdenase durchstößt …«, deklamierte Thomas und wies zum Fenster. »Ein Pferd! Da! Ein Pferd!« Seine Stimme klang wie ei­

ne Posaune. Das Licht über der Tür fiel in einem Kegel goldener Hel­

ligkeit auf den Schnee. Es sah aus, als hätte jemand einen strahlend weißen Teller auf eine graue Tischdecke gelegt. Im Schatten, außerhalb des Lichtkreises, schimmerte der Schnee in bläulichem Grau, als spiegelte sich der Himmel auf der Erde wider. Erst am Gartentor hellte sich der Pfad auf, dort brannte die Straßenlaterne. Ein schwerer, hochbe­ladener Wagen stand in der Dunkelheit zwischen der Tür und der Toreinfahrt, groß und unbeweglich wie ein Berg. Unter den Rädern baumelte eine rote Laterne, der schwan­kende Schein beleuchtete den Bauch und die Beine des Pferdes. Auch das Tier sah größer und schwerer aus als gewöhnlich. Dicke Dampfwolken ringelten sich um seine Flanken, es ließ müde und erschöpft den Kopf hängen. Der Kutscher stand neben dem Wagen, er wartete gedul­dig, der Frost konnte ihm nicht viel anhaben. Nur fror er an den Händen, denn er schlug unentwegt die Fäuste ge­geneinander.

Als wir mit Thomas die schweren Torflügel öffneten, griff er ohne Hast nach den Zügeln, zog an und schnalzte mit der Zunge. Das Pferd hob mit einem Ruck den Kopf und legte sich ins Geschirr, aber der Wagen rührte sich nicht vom Fleck. Die Vorderräder waren im Rinnstein steckengeblieben.

»Pack den Gaul am Kopf und drück ihn zurück«, ver­langte ich fachmännisch. »Ich lege gleich ein Brett unter die Räder.« »Na, denn …«, sagte der Fuhrmann und stemmte sich gegen die Deichsel.

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Ein Gendarm im blauen Mantel, der das Nebengebäude bewachte, kam gemächlich näher. Früher einmal war das Nebenhaus eine städtische Schule gewesen, aber diese Zeiten waren längst vorbei. Jetzt war das ganze Gebäude bis unters Dach mit »Freiwilligen« vollgepackt, die zur Arbeit im Reich bestimmt waren und hier auf ihre Abreise warteten. Der Gendarm stapfte in den Lichtschein der Straßenlaterne, seine schweren, beschlagenen Stiefel schlugen hohl auf dem Pflaster auf. Er hatte einen kleinen, handlichen Scheinwerfer vor die Brust geschnallt. Den schaltete er jetzt ein und leuchtete uns bereitwillig bei der Arbeit.

»Viel zuviel aufgeladen«, bemerkte er sachlich. Seine Augen glühten wie Wolfslichter im tiefen Schatten unter dem Rand seines Stahlhelms. Wir kannten uns ganz gut, er kam jeden Morgen zu uns ins Büro, um seine Ablösung anzufordern und zu melden, in der Nacht sei nichts Au­ßerordentliches passiert.

Das Pferd setzte sich schnaubend mit den Hinterbeinen ab und drückte den geladenen Wagen über die holprigen Katzenköpfe zurück. Ich legte die Bretter unter, der Kut­scher schnalzte wieder mit der Zunge, und der Wagen, auf dem sich ganze Berge von Koffern, Kisten, Federbetten, Körben, Bündeln und sonstigen Klamotten türmten, ratter­te unter dem blechernen Klappern der Aluminiumschüs­seln und Töpfe in den Hof.

Der Gendarm schaltete seinen Scheinwerfer wieder aus, rückte sich den Riemen zurecht und schritt gemessen in Richtung Schule davon. Wie sonst auch ging er an der Schule vorbei, zu der kleinen Kirche des Pallottinerordens, die schon fast wiederaufgebaut war. Damals, im Septem­ber, brannte sie teilweise aus, und seitdem trugen wir nach Kräften dazu bei, den Wiederaufbau schneller voranzu­treiben. Der Gendarm ging weiter, an der halbverfallenen

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Mauer vorbei, die das Arbeitslosenlager abschloß. Hier war alles zu haben, en gros und en détail. Es gab Unter­wäsche, Decken, Stoffe, Konserven, Socken, Porzellan, Vorhänge, Tischdecken und Handtücher und überhaupt al­les, was aus den Güterzügen geklaut werden konnte, die dicht an dem Lager vorbei an die Front hinausratterten. Und was nicht geklaut war, stammte vom Zugpersonal, das die Lazarettzüge begleitete, die außer den Verwunde­ten auch Uhren, Möbel, Wäsche und Maschinen von der Front zurückbrachten.

Ein letzter Peitschenschlag knallte als dekorativer Ab­schluß, dann nahm der Fuhrmann das Pferd an den Zügeln und schob es rückwärts unter das überhängende Dach des Holzschuppens. Das Tier atmete schwer, seine Flanken dampften. Auch als es schon ausgespannt war, blieb es noch eine Weile still stehen, als wäre es nicht mehr fähig, nur noch einen einzigen Schritt zu tun. Erst auf ein lautes, scharfes Wort ging es zur Pumpe und steckte die Nase in einen Wasserkübel. Es trank den ersten Eimer leer, nippte am zweiten und ging endlich schleppenden Schrittes in den Stall.

»Einen schönen Haufen hast du da gebracht, Olek«, sag­te ich und besah die Ladung.

»Ja, sie wollte unbedingt, daß ich alles mitnehme«, nick­te der Fuhrmann. »Schauen Sie, sogar die Küchenhocker mußte ich aufladen und die Bretter aus dem Bad. Und auf­gepaßt hat sie wie ein Luchs.«

»Hatte sie denn keine Angst, so am hellichten Tag?« »Ach wo! Ihr Schwiegersohn hatte ihr die Erlaubnis be­

sorgt. Von seinen Kollegen«, erklärte Olek. Sein hageres, knochiges Gesicht hatte der Frost bläulich gefärbt. Er nahm die Mütze ab, um sich auf dem Kopf zu kratzen, und dabei fiel sein kalkverstaubtes Haar über der Stirn auseinander.

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»Und die Tochter?« »Ist bei ihrem Mann geblieben. Haben sich ganz schön

mit der Alten gezankt, aber die Junge blieb dabei, sie müs­se noch einen Tag warten.«

Olek spuckte sich in die Hände, die vom Kalk zerfressen waren.

»Na denn – wollen wir mal!« Er kletterte auf den Wagen und lockerte die Schnüre, die

die Ladung festhielten. Dann reichte er uns einen Stuhl nach dem anderen herunter. Nach den Stühlen folgten die Vasen, ein paar Kopfkissen, Körbe mit Wäsche, altmodi­sche Truhen, gebündelte Bücher.

Thomas und ich nahmen die Sachen in Empfang und trugen sie in den dunklen, muffigen Schuppen, wo die ganze Ladung auf dem Betonboden neben den Zement­säcken, Stößen schwarzer Pappe und anderen Baumateria­lien gestapelt wurde. Es roch nach Pech und ungelöschtem Kalk. Feiner Staub wirbelte durch die Luft und stieg uns beißend in die Nase. Thomas japste, sein angeknackstes Herz machte ihm offenbar wieder einmal zu schaffen.

»Sagen Sie mal«, fragte der Fuhrmann, als der Wagen endlich abgeladen war. »Warum hat sie der Chef eigent­lich hergenommen?«

»Weil sie ihn zum Menschen gemacht hat. Jetzt will er sich dankbar zeigen.«

»Dankbarkeit ist was Schönes«, sagte Thomas. Er zog in langen Zügen die eiskalte, klare Luft ein, bückte sich, nahm eine Handvoll Schnee und rieb sich damit die Hände ein. Als er den Eindruck hatte, daß sie nun sauber genug seien, wischte er sie an der Hose trocken.

»Aach war das ein harter Tag heute«, seufzte der Fuhr­mann und kletterte langsam von der Plattform. Sein

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schwerer Pelzmantel, den eine dicke Kruste von Kalk, Pech und Schmutz bedeckte, hinderte ihn daran, sich schneller zu bewegen. Er lehnte sich gegen den Wagen und wischte sich schnaufend die Stirn ab.

»Ach, Herr Tadek, wenn Sie wüßten, was ich dort alles gesehen habe! Einfach nicht zu glauben! Die Kinder – und die Weiber – wenn es auch Juden sind – wissen Sie …«

»Aber es ist doch alles gutgegangen, oder nicht?« »Das schon. Nur unterwegs hat uns der Ingenieur gese­

hen. Kann der uns was anhaben?« »Ach wo!« sagte ich geringschätzig. »Der kann uns ge­

stohlen bleiben. All diese Kerle können uns gernhaben. Wenn der Chef so etwas machen will, müssen sie den Mund halten. Nicht wahr? Morgen früh fährst du los. Mit Kalk. Schwarz. Vor sieben bist du wieder zurück.«

»In Ordnung. Ja, so etwas muß man zeitig erledigen. Ich werde jetzt das Pferd versorgen.«

Mit schweren, schlurfenden Schritten ging Olek in den Pferdestall. Als er an der Bürotür vorbeikam, lüftete er seine Mütze.

Von dem goldenen Lichtschimmer wie von einem Heili­genschein umgeben, stand dort Maria. Die dunkle Nacht umschloß sie wie mit weichen Armen, während an ihren Händen die Ringe wie Sterne funkelten. Sie hatte die Tür hinter sich zugezogen, still und schattenhaft stand sie da, abseits von Menschen und Musik, die Augen sehnsüchtig in die Dunkelheit gerichtet.

»Wie ist es nun morgen mit dem Ausfahren?« Ich nahm sie am Arm und führte sie über den knirschen­

den Schnee. Der ausgetretene Pfad endete an der Garten­pforte. »Kannst du bis Mittag warten? Wir können dann zusammen ausfahren.«

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Wir standen in der offenen Gartentür. Der Gendarm im blauen Mantel, der seine vollgestopfte Schule bewachte, schlenderte langsam über die verlassene Straße. Nur das trübe, zittrige Licht der Straßenlaterne begleitete seine dumpfen Tritte. Hoch über der Straße, über dem Licht der Laterne, über dem steilen Dach, das sich an den Schuppen schmiegte, brauste der Wind. Er trieb die Wolken vor sich her, wirbelte die feuchten Dampfschwaden der ratternden Züge auf. Und noch höher, über dem Wind und den Wol­ken, stand der Himmel, tief und dunkel, unbewegt wie kla­res, tiefes Wasser. Ab und zu schimmerte ein Mondzipfel zwischen den abgerissenen Wolkenfetzen hindurch, leuch­tend wie eine Handvoll goldenen Sandes. Maria lächelte mir zu. »Du weißt doch ganz genau, daß ich das Ausfah­ren selbst besorgen kann.«

Ein leiser, vorwurfsvoller Unterton schwang in ihrer Stimme, als sie mir den Mund zum Kuß hinhielt. Ein brei­ter, schwarzer Hut beschattete ihr Gesicht wie ein dunkler Flügel. Sie war einen halben Kopf größer als ich. Ich mochte es nicht, wenn sie mich vor fremden Leuten küßte.

»Da siehst du, du poetischer Solipsist, was Liebe ver­mag«, belehrte mich Thomas gutgelaunt. »Denn lieben heißt leiden. Ich weiß, was ich sage. Aus eigener Erfah­rung. Ich hatte mehr als eine Geliebte!«

Die Dunkelheit verwischte unsere Züge. Thomas sah größer und wuchtiger aus, als er war, sein kantiges Gesicht wirkte plötzlich wie aus Granit gemeißelt, nur das kleine Muttermal unter dem linken Auge, das fast schwarz wurde im Dunkel, gab ihm einen verschmitzten Ausdruck, der so ganz und gar nicht zu der schweren Masse passen wollte.

»Natürlich, Liebe«, lächelte Maria spöttisch. Mit einem leichten Kopfnicken ging sie davon, vorbei an dem schüt­zenden Drahtnetz, immer weiter, immer näher zu den Wolken, die über unseren Köpfen dahinjagten, vorbei an

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II

dem kleinen Krämerladen, in dem ich jeden Morgen mei­ne Frühstücksbrötchen holte und in dem die Bauern ihre Kinder trafen, die in der Schule eingesperrt waren. Endlich verschwand sie um die Ecke. Ich sah ihr noch eine Weile nach, als suchte ich ihre Spuren in der Luft.

»Liebe, natürlich, Liebe«, lächelte ich Thomas zu. »Gib dem Kutscher einen Schnaps, wenn du noch eine Flasche unter dem Bett versteckt hast. Und komm mit, es wird wieder langsam Zeit, daß wir uns unter das Volk mi­schen.«

In der Nacht war etwas Schnee gefallen. Bevor ich die Tür und das Hoftor öffnete, als Zeichen dafür, daß die Ge­schäftszeit offiziell angefangen habe, bevor ich die letzten betrunkenen Gäste aus der Bude gefeuert und die Trüm­mer weggeräumt hatte, war der Fuhrmann wieder zurück. Er mußte noch vor dem ersten Morgengrauen aufstehen, den Kalk aus dem Keller heraufholen und zu der Baustelle fahren, die wir schwarz belieferten.

Kurz vor sieben war er zurück, versorgte das Pferd und verwischte alle Spuren im Hof. So früh am Morgen war draußen noch alles grau und die Straße menschenleer.

Vom Bahnhof trug der Wind das Rattern der Züge her­über. Der patrouillierende Gendarm wurde mit dem zu­nehmenden Tageslicht immer kleiner und immer un­scheinbarer. Als der Morgen endlich die Dunkelheit aus der Straße getrieben hatte, sah der Mann wie eine Wasser­pflanze aus, die von der Flut auf den Strand geworfen und zurückgelassen worden war.

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In den Fenstern der ehemaligen Schule erschienen die ersten Köpfe, in dem kleinen Krämerladen tranken zwei Polizisten ihren ersten Schnaps. Der kleine Ofen glühte, der Krämer blinzelte aus roten, verschlafenen Augen. Sei­ne zittrigen Hände legten Brot und Käse vor mich hin.

Neben mir stand eine Bäuerin. Sie hatte eben einen Kranz Würstchen aus ihrem Korb gefischt, der im näch­sten Augenblick hinter der Doppelwand der Theke ver­schwunden war. Durch die trüben Fensterscheiben kroch das Dämmerlicht des Morgens in den Laden. An den ver­rosteten Gitterstäben hingen schmutzige Wassertropfen. Ab und zu klatschte einer schwer auf die Fensterbank nie­der, die kleine Pfütze, die sich dort angesammelt hatte, wurde immer größer, und schließlich lief ein dünnes Rinn­sal an der Wand herab zum Boden.

Die schmale, verlorene Gasse war mit runden, klobigen Katzenköpfen gepflastert. Es stank unerträglich, die Rinnsteine starrten vor Dreck und Schmutz. Auf beiden Seiten duckten sich kleine, niedrige Häuser mit winzigen, staubigen Fenstern, die eine Wäscherei beherbergten, ei­nen Friseurladen, einen Seifensieder, zwei oder drei Le­bensmittelgeschäfte und eine obskure Kneipe. Im Som­mer wie im Herbst, im Winter und im Frühling stank die Gasse, immer gleich modrig und faul. Jetzt füllte sie sich Tag für Tag mit lärmenden, schreienden, hastenden Men­schen.

Die Menge sammelte sich unter den großen, breiten Fen­stern der alten Schule. Sie waren das einzig Moderne an dem alten Gebäude, erst kürzlich eingesetzt und paßten ganz und gar nicht in das sonst einheitliche Bild. Die Leu­te auf der Straße verrenkten sich die Hälse, gestikulierten und schrien. Aus den offenen Fenstern der Schule winkten weiße Hände, es war wie in einem Hafen, wenn ein Schiff ausläuft. Laute Rufe begleiteten die Menge, die sich zwi­

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schen zwei dichten Reihen von Polizisten bis zu dem klei­nen Platz am unteren Ende der Gasse hinunterwälzte.

Von dort sah man die gelben Häuser der Stadt vor dem lichten Hintergrund des blassen Himmels, die friedlichen Wiesen unten am Fluß, gesprenkelt mit kleinen weißen Schneeflächen, dicht bewachsen mit fransigen, hohen Sträuchern. Über dem schimmernden Wasserspiegel lag leichter Dunst, hoch darüber spannte sich der kühne Bo­gen der Brücke. Die Menge ergoß sich über den Platz, er­starrte für eine Weile in einer ratlosen Stille und zog dann schreiend wieder zur Schule zurück.

Der kleine Krämerladen glich einer stillen, rettenden Bucht. Bei einem Glas selbstgebrauten Rübenschnapses freundeten sich die Polizisten mit den Bauern an, beim zweiten Glas begann der Handel mit den Menschen aus der Schule. In dunklen Nächten hoben die Polizisten ihre Handelsware aus den Fenstern der Schule über die Mauer, und die Ware verschwand im Handumdrehen in den dun­kelsten Winkeln der Gasse oder kletterte mit unmenschli­cher Anstrengung über den Stacheldraht in unseren Hof. Da mußte sie bis zum andern Morgen warten, weil unser Büro nachts immer abgeschlossen war. Meistens waren es Mädchen. Sie irrten dann nachts in unserm Hof umher, stolperten über die Haufen von Erde, Ziegelsteinen, Sand und Kies und verkrochen sich vor der Kälte. Wenn ich morgens aufwachte, warf ich sie dann regelmäßig hinaus, direkt dem Krämer in den Laden, und überließ ihm groß­zügig die Früchte der jeweiligen Verhandlungen mit der Polizei.

Mit dem Gendarm zu sprechen war sinnlos, der war un­empfänglich für jegliche Art von menschlicher Regung. Doch auch der Krämer zeigte sich keineswegs berührt von meinem überschäumenden Altruismus. Er fühlte sich mir gegenüber weder verpflichtet, noch hatte er das Bedürfnis,

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mir dankbar zu sein. Jeden Morgen holte ich bei ihm mein Brot, meine hundert Gramm Gries und zwanzig Gramm Butter. Und jeden Morgen beschummelte er mich mit rüh­render Regelmäßigkeit um ein paar Gramm, rundete den Preis ganz schön nach oben auf, und obwohl er mich Mor­gen für Morgen ein bißchen verschämt angrinste, griff er doch immer wieder mit gierigen Fingern nach meinem Geld.

Und überhaupt! Was sollen die ganzen Überlegungen. Sicher goß der Krämer niemals ein Glas Schnaps richtig voll, wie er auch niemals die Butter richtig auswog und den Bauern immer das Fell über die Ohren zog, wenn sie ihn darum baten, dies oder jenes Mädchen in der Nacht aus der Schule herauszuholen. Aber was hätte er sonst auch tun können? Er mußte ja leben, er und seine Frau, sein Sohn, der in die zweite Gymnasialklasse ging, seine Tochter, die die letzte Klasse einer Mädchenschule be­suchte und gerade dahintergekommen war, wie begeh­renswert schöne Kleider sind, wie nett junge Männer sein können, daß sogar Lernen schön und Konspiration reizvoll und das Leben überhaupt herrlich ist.

Und um wieviel besser war unsere Firma? Wir verkauf­ten Bauern und Baumeistern nasse Erde, versteinerten Zement, mischten Kalk mit Wasser und trugen im stillenEinverständnis mit der Eisenbahn bei der Übernahme der Ware bereits einen ansehnlichen Fehlbetrag in die Bücher ein. Der zuständige Amtmann hielt wohlweislich den Mund. Er hatte ebenfalls persönliche Geschäfte mit der Firma, die in keinen Büchern standen.

Unsere Baufirma! Wie eine geduldige Milchkuh sorgte sie dafür, daß alle leben konnten. Der rechtmäßige Inhaber unseres Unternehmens war ein dickbäuchiger Mann mit patriarchalisch angegrauten Schläfen, eingezwängt in ei­nen wildkarierten Sakko, mit blaurotem Gesicht, bei des­

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sen Anblick wir jeden Tag zitterten, es könne ihn der Schlag treffen. Außer der Firma besaß er noch eine bigotte Frau, die ein ganzes Vermögen an Bettler, Kirchen und Mönche verschwendete, und einen beinahe noch kostspie­ligeren erotomanischen Sohn. In den schlechtesten Zeiten, als wir alle nichts mehr zu fressen hatten und uns mit Kar­toffelschalen und Brot auf Lebensmittelmarken zufrieden­geben mußten, zog er schwere Tausender aus dem Unter­nehmen, baute seine Lagerhäuser aus, kaufte einen Bau­platz, der einer im September niedergebrannten Firma ge­hört hatte, stampfte eine Filiale seines Unternehmens aus dem Boden, beschaffte einen neuen Lastwagen, ein Zug­pferd und einen Kutscher mit dem dazugehörigen Wagen, erwarb zu alldem noch ein riesiges Grundstück dicht am Rande der Stadt und bezahlte dafür eine halbe Million, obwohl dies alles praktisch nutzlos war. Immerhin gehörte ein beachtliches Stück Wald dazu, und der Unternehmer fand, es sei prächtig geeignet für eine Jagd. Als er darauf Ton fand, träumte er von der Industrialisierung der ganzen Gegend. Schließlich, im dritten Kriegsjahr, machte sich der wahrhaft unternehmungslustige Unternehmer an die Deutsche Ostbahn heran, verhandelte eine Weile und hatte Erfolg. Er führte ein eigenes Nebengleis zu seinen Lager­plätzen, errichtete neue Lagerhäuser und schuf einen viel­benützten neuen Verladeplatz.

Das Schicksal der Mitarbeiter dieses Mannes gestaltete sich ähnlich gnädig wie sein eigenes. Zwar bestand die Besatzungsmacht eisern darauf, daß der Wochenlohn der Arbeiter keinesfalls dreiundsiebzig Złoty übersteigen dür­fe, doch scherte sich der Ingenieur einen Teufel darum. Er zahlte seinen Leuten runde hundert Złoty pro Woche, übernahm darüber hinaus die Steuern und die sozialen Abgaben und verlor kein einziges Wort über die sonstigen Unannehmlichkeiten, die sich nicht vermeiden ließen.

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Es kam nämlich immer wieder vor, daß eine Familie ins Lager gebracht wurde, daß jemand erkrankte oder durch eine Razzia verlorenging. Bei solchen unvorhergesehenen Zwischenfällen übernahm er, ohne mit der Wimper zu zucken, die ganze Verantwortung. Mir zum Beispiel be­zahlte er drei Monate lang das Studium an der Unter­grund-Universität. Die einzige Bedingung, die er daran knüpfte, war seine Ermahnung, ich solle fürs Vaterland lernen.

In der Zweigstelle des Unternehmens arbeitete man al­lerdings nach einer davon etwas abweichenden Methode. Die Fuhrleute verkauften den Kalk direkt auf der Straße, wobei die Käufer zwar immer für das volle Gewicht be­zahlten, es aber niemals wirklich bekamen. Was übrig­blieb, wurde auf eigene Rechnung an den Mann gebracht. Solange ich neu in der Firma war, trug ich noch ganze Körbe voll Kreide zu den Seifensiedern. Als ich dem Chef etwas näherkam, hatte ich das nicht mehr nötig. Wir wur­den nicht nur aufrichtige Freunde, sondern auch Ge­schäftspartner. Mit der Zeit lag die ganze Arbeitseintei­lung bei mir, außerdem war ich dafür verantwortlich, daß die Bücher stimmten.

Obendrein verband uns noch eine gemeinsame Schnaps­brennerei, die ich finanzierte, die aber in der Wohnung meines Chefs aufgebaut war. Der Chef überließ mir neid­los den Löwenanteil aus dem Kleinverkauf. Er selbst stürzte sich in den reißenden Strom des Großhandels, be­nutzte die Firma als eine Art Umschlaghafen und den dienstlichen Apparat als eine außerbetriebliche Nachrich­tenzentrale. Er verstand sich auf Gold und Kunsthandel, kaufte und verkaufte Möbel, kannte die Adressen einiger Wohnungsvermittler, betätigte sich oft und gern als Mak­ler, unterhielt handfeste Beziehungen zu renommierten Ei­senbahndieben, half ihnen, ihre Beute abzusetzen, hatte

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zahlreiche Freunde unter den Lastwagenfahrern und Auto­ersatzteilhändlern und führte einen lebhaften Tauschhan­del mit dem Getto. Dabei lebte er ewig in einem Zustand namenloser Angst, handelte wie unter einem unerklärli­chen Zwang und war doch fest überzeugt, nichts Unrech­tes zu tun.

Halbe Tage und wahrscheinlich ganze Nächte trauerte er dem längstvergangenen gefahrlosen Leben der Vorkriegs­zeit nach. Damals hatte er als Lagerverwalter in einer jüdi­schen Firma gearbeitet. Unter den wachsamen Augen sei­ner Chefin hatte er sich hochgedient; er kaufte sich einen schnittigen Sportwagen und verdiente nebenbei mit einer Taxe seine dreihundert Złoty am Tag, den Lohn des Taxi­fahrers nicht inbegriffen. Es dauerte gar nicht so lange, bis er stolzer Besitzer eines Bauplatzes an der Autobahn wur­de, nur ein kleines Stück außerhalb der Stadt.

Ein paar Monate später kaufte er ein zweites Grund­stück, diesmal in einem vornehmen Vorort. Seiner Mei­nung nach war das alles sein gutes Recht. Damals lebte er ein volles, sorgloses Leben, bar aller lästigen Konflikte ei­nes zweifelnden Geistes. Und aus jener Zeit rettete er sich ein untrügliches Gefühl für Geld und Werte sowie eine tie­fe Verbundenheit für die alte Doktorin, seine damalige Chefin.

Die alte Doktorin saß am Fußende des Holzsofas, auf Marias Platz. Sie hatte ein altes, verbrauchtes Gesicht, das wie ein Klumpen Erde aussah, leer wie eine Stadt ohne Menschen. Ihr schwarzes Kleid war verschlissen, die Är­mel abgewetzt. Um den Hals trug sie ein samtenes Band, auf dem Kopf einen altmodischen, breitkrempigen Hut mit einem Veilchenstrauß. Die schmutziggrauen Haare hingen in dünnen, zottigen Strähnen unter dem Hut herab. Auf ih­ren Knien lag sorgsam gefaltet ein alter Mantel mit einem altersschwachen, ausgefransten Pelzkragen. Ihre ganze

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Aufmachung war übertrieben schäbig für eine Frau, die vor dem Krieg unermeßlich reich gewesen sein mußte. Damals hatte sie ein Riesenlager mit Baustoffen besessen, eine ganze Reihe schwerer Lastwagen, ein eigenes Ab­stellgleis; sie beschäftigte an die hundert Arbeiter und ver­fügte über schier unerschöpfliche Konten bei jeder größe­ren inländischen und einigen Schweizer Banken. Selbst für den Haufen Klamotten, die der hochbeladene Wagen in den Hof gebracht, und für die vielen Buchungs- und Re­chenmaschinen, die sie vorsorglich dem schweizerischen Konsulat zur Aufbewahrung übergeben hatte, wirkte sie zu armselig. Ganz abgesehen von dem vielen Gold und den unzähligen Brillanten, die – nach Meinung der Arier – ein jeder Jude aus dem Getto mitbrachte. Nun saß sie, zerknit­tert und bescheiden, auf dem Sofa und starrte auf das Spinngewebe, das sich unter der Decke spannte. Es zitterte ein wenig, weil die Spinne sich darin bewegte.

»Jasiek, sie werden doch anrufen, nicht wahr?« fragte die Alte den Chef nach langem Schweigen. Erstaunt hob ich den Blick von den Seiten meines Buches über den mit­telalterlichen Aberglauben. Die Alte sprach mit einer knar­renden, heiseren Flüsterstimme; es hörte sich an, wie wenn man zwei Steine gegeneinander reibt. Das Flüstern drang gleichzeitig mit ihren kurzen Atemstößen aus der Kehle. Dabei funkelten zwei Reihen massiver Goldzähne in ih­rem Mund, die ich beinahe klirren hörte.

»Sie müssen mich doch wissen lassen, ob sie kommen! Das müssen sie doch, nicht wahr?« Die Alte richtete ihre toten, ausgebrannten Augen auf den Chef. Ihr Blick war kalt und leblos wie Eis.

»Ich glaube, es ist besser, wenn wir noch etwas warten, Frau Doktor«, beschwichtigte Jasiek. Er hauchte auf die vereiste Fensterscheibe. Unter den warmen Atemzügen bil­dete sich ein kleines, rundes Guckloch. Der Chef neigte den

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Kopf und blickte hinaus auf die Straße, auf das offene Tor, hinter dem sich langsam eine Menschenmenge sammelte. Seine Finger trommelten auf den Fensterrahmen, etwas ungeduldig, weil der erwartete Kunde noch nicht da war.

»Herr Direktor hat doch versprochen, anzurufen. Sicher kommt er heute mit dem Töchterchen von Frau Doktor heraus.«

»Jasiek«, sagte die Alte tadelnd, »Er schwatzt ja nur so daher. Und wenn es nicht gelingt, was dann? Wenn sie nicht herauskommen, Jasiek?«

Ihre Augen wanderten wieder von der Decke zum Fen­ster. Die welken, trockenen Hände spielten mit dem gel­ben Halstuch. Für einen Augenblick schlossen sich die Finger um den Stoff, als wollte sie das Tuch vom Hals ziehen, dann lockerte sich der Griff, und die Hände fielen kraftlos in den Schoß.

»Aber, Frau Doktor, wie können Sie nur so reden?« Der Chef strich sich das blonde, wellige Haar zurück, das ihm in die Stirn fiel. Bei der Bewegung schob sich die Man­schette seines Seidenhemdes zurück und gab das Handge­lenk frei, auf dem ein Andenken an seligere Zeiten sicht­bar wurde: eine breite, schwere Schweizer Armbanduhr, der Rundung des Gelenks angepaßt.

»Wo denken Sie hin? Ihr Schwiegersohn, Direktor der Kaufhäuser, der schafft es schon! Der kann doch gehen, wie und wann er will. Der braucht ja nur seine Brieftasche zu zücken, da ein Wort und dort ein Wort, und schon ist der Fall erledigt! Warum machen Sie sich solche Sorgen? Das wissen Sie doch alles selbst!« Jasiek rückte sich sei­nen Stuhl zurecht und streckte behaglich die Beine aus. Sie steckten in hohen Offiziersstiefeln.

»Überlegen Sie lieber, was wir weiter machen. Woher sollen wir eine Wohnung nehmen? Wissen Sie, Frau Dok­

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tor, was eine Wohnung kostet? Fünfzigtausend verlangen sie dafür. Ein Glück, daß man sich selbst noch im ersten Kriegsjahr ein Loch besorgt hat. Was täte ich heute? In Untermiete könnte ich wohnen oder im Massenquartier.«

»Jasiek wird sich schon zu helfen wissen«, die Alte lä­chelte aus den Mundwinkeln.

»Ja, Gott sei Dank. Ich habe zwei Hände und zwei Füße und ein bißchen Verstand im Kopf. Damit kommt man schon durch. Tadek«, der Chef beugte sich zu mir, »Ihre Braut hat fünfundzwanzig Liter gebrannt und dabei nur die Hälfte Kohle verbraucht. Ein tüchtiges Mädel, alles was recht ist! Einen Kuß extra verdient sie dafür.«

»Sie hat angerufen«, brummte ich von meinem Buch aus. »Ist in die Stadt gefahren, liefert den Schnaps aus. Muß jeden Augenblick zurück sein.«

In der Ecke zwischen dem Kachelofen und dem Kleider­ständer war es dämmrig und angenehm warm. Mein Kopf brummte noch vom gestrigen Rausch. Außerdem hatte ich wohl zu viele Eier gegessen, sie lagen mir noch schwer im Magen. Das Buch über das frühe Mittelalter schläferte mich ein, ich träumte mit brummendem Schädel von den dunklen Zellen mittelalterlicher Klöster, in denen durch­geistigte Mönche zwischen Folter, Gartenarbeit und dem Niederbrennen ganzer Städte immer noch Zeit genug fan­den, das Seelenheil der Menschheit zu retten, oder es zu­mindest zu versuchen.

»Jasiek, sind die Koffer alle in Ordnung? Es ist das ein­zige, was meine Tochter noch hat. Die Arme ist ja so un­beholfen. Sie ist so sehr daran gewöhnt, daß sich ihre Mut­ter um alles kümmert.«

Der Ofen glühte behaglich hinter meinem Rücken. Ich starrte auf den Boden unter dem Sofa. Die Decke, mit der das alte Holzgestell zugedeckt war, reichte nicht ganz bis

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hinunter und gab den Blick auf ein Stück der schwarzen Schutzhülle frei, mit der ich die Remington-Maschine zu­gedeckt hatte, bevor ich sie unters Sofa schob. Ich hatte sie lieber aus dem Lager herausgeholt. Hier war sie sicherer.

»Frau Doktor«, sagte Jasiek geduldig und rieb sich dabei aus alter Gewohnheit die Hände. »Bei uns ist alles in Ord­nung.« Er sah mich einen Augenblick an, bevor er weiter­sprach. »Bei uns klappts wie bei der Krankenkasse. Sie kennen mich doch lange genug.«

»Und wenn sie mich hier nicht finden? So ein enges Gäßchen, und dann noch so weit draußen …« Die Alte war plötzlich unruhig geworden. »Ich will doch lieber an­rufen …« Sie rutschte nervös auf ihrem Platz herum.

»Sind Sie auf Ihre alten Tage denn ganz verrückt gewor­den?« zischte der Chef sie an. Das treuherzige Blau seiner Augen verschwand für einen kurzen Augenblick hinter den fast strohfarbenen Wimpern. »Wollen Sie uns die Deutschen auf den Hals hetzen? Sollen sie auch das noch mithören? Rufen Sie an, wenn Sie wollen, bitte sehr, aber nicht von hier aus!«

Die Alte schrak zusammen, wie eine verärgerte Eule duckte sie sich in ihrer Ecke. Die dürren Finger spielten mechanisch mit der Brosche an ihrem Kleid.

»Wie haben Sie das überhaupt angestellt, hierher zu kommen?« fragte ich, um das Gespräch im Gang zu hal­ten.

Die Tür knarrte. Jemand stand draußen und stampfte sich den Schnee von den Schuhen ab. Der erwartete Kunde. Jasiek schob seinen Stuhl zurück und ging hinaus. Die Al­te hob den leeren Blick zu mir auf.

»Siebenundzwanzigmal war ich in einem Kessel. Weiß Er, was das ist? Wahrscheinlich nicht, aber das macht nichts.« Sie winkte nachsichtig ab.

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»Wir hatten unser Versteck in einer Wandnische. Wir hatten sie extra herausgebrochen. Zwanzig Menschen. Die ganz kleinen Kinder mußten es auch lernen. Wenn die Soldaten kamen und mit den Gewehrkolben die Wände abklopften, standen die Kinder ganz still. Sie weinten nicht, sie sahen uns nur mit großen Augen an. Auch wenn geschossen wurde, blieben sie still. Weiß Er, wie das ist? Ob sie herauskommen?«

Ich ging zum Bücherbord und schob mein Buch zwi­schen zwei andere Bücher über das Mittelalter. »Die Kin­der?« fragte ich verwundert.

»Ach was! Kinder! Mein Schwiegersohn und meine Tochter! Ob sie herauskommen können? Er ist ein großer Freund vom Chef. Noch von der Heidelberger Universität her.«

»Warum sind sie denn nicht mit Ihnen heraus?« Die Alte seufzte. »Er hatte noch ein Geschäft zu erledigen. Noch ein, zwei

Tage … Dort ist bald alles aus. Immer nur aus – aus – aus … Die Häuser stehen leer, Bettfedern wirbeln durch die Straßen, die Menschen werden weggebracht … Immer mehr Menschen werden weggefahren …«

Sie verstummte, ihr Atem ging schneller. Hinter der Tür stritten zwei Stimmen, laut und offenbar

aufgebracht. Der Chef verhandelte über den Preis einer Holzlieferung. Es ging um die verlassenen jüdischen Häu­ser, das ganze Zeug wurde vom deutschen Kreishaupt­mann Hals über Kopf an einen polnischen Unternehmer verkauft. Endlich waren sich die beiden einig, die Tür fiel krachend ins Schloß. Jasiek und sein Kunde gingen zum Krämer, das Geschäft mußte begossen werden. Jasiek war zwar Abstinenzler, aber bei einem so fetten Fisch ließ er sich gern mal überreden.

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»Ich will mir meine Sachen ansehen«, erklärte die Alte plötzlich. Bevor ich sie daran hindern konnte, schob sie ihren Mantel von den Knien, erhob sich und trippelte mit kleinen, eiligen Schritten auf den Hof hinaus.

Das kleine Bürofräulein lächelte mir über den Tisch zu. Sie war schmächtig und vertrocknet, den ganzen Tag über kauerte sie in einer Sofaecke, die Beine untergeschlagen und auf den Knien ein offenes Buch. Sie verschlang ganze Berge von billigen Romanen, einen nach dem andern. Ur­sprünglich hatte der Ingenieur sie uns auf den Hals ge­schickt, sie sollte die Kasse überwachen. Aber schon am Ende der ersten Woche fehlten in der Kasse runde tausend Złoty. Jasiek bezahlte das Fehlende aus eigener Tasche, und der Ingenieur traute der Kleinen nicht mehr über den Weg. Uns störte sie nicht. Sie kam Tag für Tag und blieb immer ein paar Stunden im Büro sitzen. Ins Lager ging sie nie, sie konnte Sand von Kies nicht unterscheiden, aber mit einer Regelmäßigkeit, die mich an die Postbehörde er­innerte, versorgte sie mich mit sämtlichen Flugblättern der Konkurrenz. Manchmal beneidete ich sie um ihre Bezie­hungen zum Untergrund, denn ich spielte selber mit dem Gedanken, mich anzuschließen. Vorerst beschränkte sich meine Mitarbeit allerdings darauf, einige private Bulletins zu vervielfältigen. Ab und zu schrieb ich auch ein Gedicht, und hie und da nahm ich an einer mehr oder minder harm­losen Veranstaltung teil.

»Was ist los mit der Alten? Hat sie viele Möbel?« fragte mich die Kleine. Ihre Stimme hatte einen ironischen Un­terton.

»Jeder tut, was er kann«, gab ich unbestimmt zurück. »Was die Nächsten können«, verbesserte sie mich mit

einem Seitenblick. Sie trug ihr Haar unordentlich auf dem Hinterkopf aufgebauscht. Ihr Gesicht war schlecht zu­rechtgemacht, die dünne, schmale Nase glänzte.

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»Sagen Sie mal, Herr Lagerverwalter, was machen ei­gentlich Ihre Gedichte? Sind die Einbanddeckel schon trocken?«

Jasiek kam herein, an der Hand führte er die Alte wieder zurück ins Zimmer. Hinter ihnen trat der Fuhrmann über die Schwelle, draußen war es beißend kalt. Der Kutscher hockte sich neben den Ofen und streckte behaglich die blaugefrorenen Hände aus. Sein Pelz dampfte, es roch nach feuchtem Leder.

»Die Grünen Minnas rasen durch die Stadt«, berichtete der Fuhrmann. »Ich war in der Zentrale. Die Straßen sind wie ausgestorben, es wird einem direkt unheimlich, so al­lein durch die Stadt zu fahren. Man erzählt sich, daß man uns aussiedeln will, sobald alle Juden weg sind. Bei uns geht die Jagd auch los. Am Bahnhof ist es schon ganz grün vor lauter Uniformen.«

»Schön …«, kicherte das Büromädchen nervös. Sie war aufgestanden und ging mit hastigen Schritten um den Tisch herum. Ihre dünnen Beine steckten in schweren Schuhen, die ihr zu groß waren, und bei jedem Schritt wand sie sich unfreiwillig in den Hüften.

»Wie komme ich jetzt heim?« Ich betrachtete den dünnen Rock, der sich über die kno­

chigen Hüften spannte. »Per pedes«, sagte ich grob, warf mir meine Pelzjacke über und ging schnell hinaus.

Der scharfe Wind fuhr mir ins Gesicht. Der Schnee wir­belte in kalten, nadelspitzen Kristallen durch die Luft. Über einen Trog gebeugt stand ein Arbeiter und löschte Kalk. Er wiegte sich von einem Bein aufs andere wie ein schlafendes Pferd. Sein Oberkörper schaukelte in weit ausholenden Bewegungen hin und her, dicke Rauchwol­ken stiegen aus dem Trog herauf und wehten ihm ins Ge­sicht. Der Mann arbeitete den ganzen Winter hindurch,

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damit wir im Frühjahr, wenn die Bausaison wieder be­gann, genug Kalk vorrätig hatten. Tag für Tag schaffte er an die zwei Tonnen.

Die Lagertür war nur angelehnt. Wenn die Razzia auch in der schmalen Gasse tobte, hängten wir immer ein Schloß vor. Betrunkene Polizisten jagten die Menge aus dem Gäßchen, die flüchtenden Menschen verliefen sich in den Feldern. Ein deutscher Gendarm, der die Masse um einen guten Kopf überragte, stapfte scheinbar gleichgültig durch die Straße, es entging ihm jedoch keine einzige Be­wegung der Polizisten. Unten auf dem kleinen Platz wim­melte es noch von Menschen. Die Leute standen an den Hauswänden entlang, traten sich gegenseitig auf die Füße, stritten miteinander über jedes einzelne Brötchen in den riesigen Körben, handelten mit Zigaretten, Brot und Grieß. Der Lärm war unbeschreiblich, selbst die Mauern der alten Häuser schienen mitzuschreien und mitzubeben. Fast in jeder Haustür stand eine primitiv zusammengebastelte Waage, auf der hastig frisches Schweinefleisch gewogen wurde, an jeder Ecke goß jemand Schnaps in Gläser und leere Flaschen um.

Auf dem großen, leeren Platz hinter der ehemaligen Schule krächzte unverdrossen ein uraltes Orchestrion. Ein paar Buden waren da aufgebaut, der Rummel ging weiter. Ein einziges Kind saß auf einem dämlich grinsenden Pferd des alten Karussells, aufgeplusterte Schwäne zogen maje­stätisch vorbei, hinter ihnen leere Autos und unbesetzte Fahrräder. Versteckt hinter bunt bemalten Holzplatten, trotteten die Leute, immer weiter im Kreis, und zogen das Karussell. Die Schießbude war leer, ebenso wie der Zoo­logische Garten, in dem laut der schreienden Plakate ein Krokodil, ein Kamel und ein Wolf friedlich zusammen­wohnten. Ein paar unentschlossene Zeitungsjungen stan­den herum, jeder mit einem dicken Bündel Zeitungen un­

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ter dem Arm, die keiner kaufte. Die Straßenbahnen fuhren leer heran, zogen ratternde Schleifen um den Platz und holperten leer wieder zurück, in die endlose Allee hinein. Die verschneiten Bäume glitzerten im strahlenden Son­nenschein, als hätte man sie aus zerbrechlichem Kristall­glas geschliffen. Es war ein ganz normaler Markttag.

In der Tiefe der Gasse schlossen graue Häusermauern und die hohen, kahlen Kronen der Bäume den Himmel ab. Drüben, hinter dem Viadukt, der mit Stacheldrahtverhau geschützt und von einem ganzen Kordon Gendarmen be­wacht wurde, brodelte die Menschenmenge. Hie und da ragte ein großes Lastauto über die Köpfe hinaus. Nach und nach setzten sich die schweren Wagen in Bewegung und ratterten langsam und schwerfällig auf die Brücke. Sie wa­ren alle mit großen Zeltplanen bedeckt. Hinter dem letzten Lastwagen stürzte eine Frau her. Sie hatte sich aus der Menge gelöst und lief mit ausgestreckten Armen, aber der Wagen fuhr immer schneller, die Räder gruben tiefe Spu­ren in den glattgefahrenen Schnee. Endlich sah die Frau ein, daß sie den Wagen nicht einholen konnte, sie blieb mit einer verzweifelten Bewegung stehen, taumelte und wäre gefallen, wenn nicht ein Polizist sie aufgefangen hät­te. Er schob sie in die Menge zurück.

›Liebe, natürlich, Liebe‹, dachte ich erregt und lief zum Lager hinüber.

Die Straße wurde leer, jeder versuchte, so gut er konnte, sich vor der drohenden Razzia in Sicherheit zu bringen.

»Ihr Braut hat angerufen«, begrüßte mich der Chef, als ich wieder ins Büro kam. Er war in glänzender Laune, summte vergnügt ein Lied vor sich hin und lief mit fe­dernden, tänzelnden Schritten im Büro umher. »Sie sagt, sie ist fertig und fährt zurück. Es geht nur langsam, überall ist die Jagd im vollen Gange. Gegen abend will sie wieder da sein.«

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Die kleine, vertrocknete Angestellte warf mir einen kur­zen, bösen Blick zu.

»Offenbar sind wir jetzt an der Reihe, gleich nach den Juden.« Und als ich keine Antwort gab, fügte sie hinzu: »Machen Sie sich keine Sorgen?«

»Sie kommt schon durch«, sagte ich zum Chef. Ich war vollkommen durchgefroren. Ich griff nach dem Schürha­ken, stocherte im Ofen und legte nach. Der Ofen paffte ei­ne dicke Rauchwolke ins Zimmer.

»Ob wir auch diesmal Waggons bekommen? Wahr­scheinlich gibt es diesen Monat eine Waggonsperre.«

Der Chef verzog unwillig das Gesicht. Er hatte sich wie­der auf seinen Stuhl gesetzt und trommelte mit den Fin­gerspitzen auf die Tischplatte. Er hatte die schmalen, fein­gliedrigen Hände eines Pianisten.

»Na schön. Und wenn wir Waggons kriegen, was haben wir davon? Der Ingenieur hat Angst, überhaupt etwas auf Lager zu halten. Gips und Zement haben wir so gut wie gar nicht, Kalk gibt es sowieso nur für die Deutschen und für ein paar Rüstungsbetriebe, und sonst? Wie soll es da mit der Firma noch aufwärtsgehn? Die anderen haben al­les, was das Herz begehrt. Und wir? Ein paar popelige Steinchen, drei Ziegelsteine und vier Latten.«

»Na, na«, sagte das kleine Bürofräulein. »Übertreiben Sie nur nicht. Im Lager liegt noch allerhand herum, wenn jemand bloß einmal gründlich nachschauen wollte …«

»Sicher liegt da allerhand herum! Aber nur, weil ich die Sache selbst in die Hand genommen habe! Möchte wissen, wer sonst zu uns käme! Vielleicht der Krämer von neben­an, wenn er gerade mal die Dezimalwaage braucht.«

Das Telefon klingelte. Der Chef drehte sich auf seinem Stuhl um, griff nach

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dem Hörer, erwischte ihn den Bruchteil einer Sekunde vor der Beamtin und reichte ihn mit einer stummen Geste zu mir herüber.

»Unser Wagen«, sagte ich und bedeckte die Sprechmu­schel mit der Hand. »Was soll ich ausrichten?«

»Fünfzig«, sagte der Chef lakonisch. »Fünfzig«, gab ich die Anweisung weiter. »Abends? Na

schön, also abends.« »Herrlich. Darauf könnten wir eigentlich etwas essen.« Die Alte saß immer noch in ihrer Sofaecke, wie ein in

die Enge getriebenes Tier. Der Chef erhob sich, ging ein paarmal auf und ab, räumte seinen Tisch ab und stellte ei­nen Suppentopf auf den Ofen.

»Sobald der Ingenieur merkt, daß unsere Umsätze klei­ner geworden sind, feuert er die Schlampe da hinaus. Das als erstes. Und als zweites … Sagen Sie, Tadek, haben Sie sich schon etwas überlegt?«

»Was soll ich Ihnen darauf antworten? Sie wissen doch am besten, daß ich ein armer Schlucker bin. Was wir hat­ten, hat alles die Brennerei geschluckt. Außerdem haben wir ein paar Bücher gekauft, ein paar Klamotten, Sie wis­sen doch, wie so etwas geht. Papier kostet auch allerhand Geld.«

»Verkaufen Sie wenigstens die Gedichte, die Sie schrei­ben?«

»Woher soll ich das wissen? Ich habe sie jedenfalls nicht dafür geschrieben, daß sie verkauft werden. Das sind keine Ziegelsteine«, sagte ich gekränkt.

»Wenn sie gut sind, wird man sie auch kaufen«, sagte der Chef mit einer entwaffnenden Logik und biß in sein Brötchen.

»Die paar Tausender, die Sie als Teilhaber brauchen,

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werden Sie schon noch zusammenkriegen. Auf den Kopf sind Sie ja nun gerade auch nicht gefallen.«

Die Alte aß langsam, mit sichtlichem Appetit. Die mas­siven Goldzähne gruben sich genießerisch in die weichen Brötchen. Ich sah ihr zu; ohne mir dessen bewußt zu sein, versuchte ich, das Gewicht und den Wert ihrer Goldzähne abzuschätzen.

Die Tür knarrte wieder, ein Kunde war hereingekom­men. Ein Pallottiner von der Nachbarkirche. Er trug eine breite Hornbrille und hatte ein scheues Lächeln aufgesetzt. Nach ein paar einleitenden Worten über die Razzia bestell­te er Zement und Sand. Er bezahlte im voraus, mit säuber­lich gebündelten Scheinen.

»Gelobt sei …«, sagte er zum Abschied, und sein breiter Hut verschwand samt der knisternden Soutane hinter der Tür.

»… in Ewigkeit«, antwortete die Kleine. Sie machte die Ofenklappe zu und wischte sich die Finger an einem Fet­zen Zeitungspapier sauber. »Was meinen Sie, was die Alte jetzt tut?«

»Der Chef wird schon eine Wohnung für sie finden. Sie hat zuviel Geld, er kann sie nicht einfach laufen lassen.«

»Ach nee? Wissen Sie denn nichts? Vorher, als der Chef draußen war, hat die Alte ihre Tochter angerufen. Sie und ihr Mann können nicht mehr heraus aus dem Getto. Zu spät. Totalsperre.«

»Na ja – wird halt die Alte eine Weile jammern und sich dann wieder beruhigen.«

»Vielleicht …« Die Kleine zog den schäbigen Pelzman­tel enger um ihre Schultern. Sie kuschelte sich in ihre Ek­ke und schlug das Buch wieder auf. Sie machte nicht den Eindruck, als wäre sie an einem weiteren Gespräch inter­essiert.

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III

Abends war ich meistens allein im Lager. Die Einband­deckel des neuen Gedichtbändchens hingen immer noch wie nasse Wäsche an den Schnüren unter der Decke. Apo­lonius hatte sie alle eigenhändig zugeschnitten, und zwar im Folio-Format, damit sie auf die Matrizen des altertüm­lichen Vervielfältigungsapparates paßten. Die ehrwürdige Maschine war nur ausgeliehen. Normalerweise diente sie weit edleren Zwecken, nämlich der Herstellung von un­endlich wertvollen Mitteilungen der Untergrund­bewegung, in denen die neuesten Radionachrichten ver­breitet und außerdem gute Ratschläge erteilt wurden, wie man Straßenkämpfe in mittelgroßen Städten führen soll. Davon abgesehen erwies sich die klapprige Maschinerie aber auch brauchbar für den Druck hochgestochener He­xameter, die meine Abneigung gegen den brausenden Wind der apokalyptisch vorbeihastenden Geschichte be­sangen. Der Einbanddeckel für mein Bändchen war sogar zweifarbig, und dieses Ereignis verdankten wir einem technischen Novum: Die Fetzen einer zerrissenen Wachs­matrize, die an der Walze klebten, lieferten uns die weißen Flecke, überall dort, wo das Netz nicht verklebt war, bilde­ten sich schwarze Flächen. Dieser Herstellungsvorgang war denkbar einfach, hatte aber einen beträchtlichen Nach­teil. Ein solches Verfahren verschlang nämlich riesige Mengen schwarzer Farbe, und obendrein dauerte es eine ganze Ewigkeit, bis die Einbanddeckel trockneten. Die Schnüre unter der Decke baumelten bereits seit einer Wo­che, und die Farbe war immer noch naß wie am ersten Tag.

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Ich nahm das Ganze also vorsichtig ab, legte starkes Pergamentpapier zwischen die klatschnassen Blätter, schnürte sie zu einem festen Bündel zusammen und schob sie unters Bett. Hinter der herabhängenden Bettdecke herrschte schon dichtes Gedränge. Da standen ein kaputtes Radio, das auf den Mechaniker wartete, eine handliche Vervielfältigungsmaschine im Taschenformat, flach wie eine Zigarrenkiste, die stabile Remington, die ich aus dem Schuppen hierher geschleppt hatte, damit sie drüben nicht naß wurde, und eine komplette Sammlung aller Publika­tionen einer bestimmten »imperialistischen« Organisation. Ein Bekannter, der seine Wohnung schnell verlassen muß­te, es aber nicht übers Herz brachte, sich von diesen Schätzen zu trennen, hatte sie mir zur Aufbewahrung übergeben.

An meinen einsamen Abenden vertrieb ich mir die Zeit mit Schrubben, Staubwischen und, so gut es eben ging, mit Fensterputzen. Wenn ich dann endlich den Eindruck hatte, daß das winzige Zimmerchen einigermaßen ordent­lich und aufgeräumt war, stülpte ich der Lampe ihren blaßgrünen Schirm über, verschloß sorgsam die Tür, damit es schön behaglich warm wurde, und setzte mich ins Büro. Dort schrieb ich meine tiefsinnigen Sentenzen und treffen­den Aphorismen, machte mir auf zahllosen Zettelchen bi­bliographische Notizen, sortierte die bekritzelten Papier­chen in verschiedene Schächtelchen und lernte sie aus­wendig. Von Zeit zu Zeit blieb mein Blick an der Tür hän­gen. Ich wartete. Auf Maria.

Der Schnee hinter dem Fenster verlor langsam sein leuchtendes Blau, die Dämmerung überzog ihn mit einem schmutziggrauen Zementton. Die ragende Wand des nie­dergebrannten Hauses färbte sich rot wie ein einziger nas­ser Ziegelstein, später stand sie schwarz und unbewegt, so als ließe die Stille der Dunkelheit sie erstarren. Über dem

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Bahnhof wirbelte der Wind rosige Rauchschwaden hoch in die Luft, zerriß sie in lange, flatternde Fetzen und trug sie hinauf zu den Wolken, wo sie hängenblieben wie wei­che große Flocken auf dem durchsichtigen Spiegel eines klaren, tiefen Wassers. Der Alltag mit seinen Sandhaufen, dem überdachten Fußpfad, dem Hoftor und den glanzlosen Häusern versank langsam in der steigenden Flut der Dämmerung.

Nur die Stille war geblieben, jene tiefe Stille, die man singen hört, wenn man in sie hineinlauscht, und das un­merkliche, brennende Beben eines menschlichen Sehnens, eine Sehnsucht nach etwas, was ein Mensch niemals erle­ben und niemals ergründen wird.

Im Vorhof bewegten sich noch die Schatten. Der Fuhr­mann schleppte dicke, klobige Bündel aus dem Schuppen und lud sie eins nach dem anderen auf den Wagen. Oben stand breitbeinig der Betonfritze und stapelte die einzelnen Stücke fachmännisch auf. Bei jeder Bewegung half er sich mit der Zunge, die lustig von einer Backe zur anderen wanderte. Hinter dem Wagen, neben der Alten, stand der Chef. Er hielt sich mit einer Hand an der Latte des Wagens fest, seine Fingernägel kratzten gedankenlos über das splitternde Holz.

»Ich habe keine Ahnung. Mir hat man es halt ganz an­ders beigebracht«, sagte er zu der Alten und schürzte die Lippen. Seine Stimme klang wütend. »Für meinen Verstand war das von Anfang an alles falsch. Was hat das für einen Sinn? Wofür die ganze Plagerei?«

Die Alte neigte den Kopf. Der schwarze Hut beschattete das erdige Gesicht, auf dem rote Frostflecken glühten. Ihre Lippen zuckten vor Kälte, die Goldzähne funkelten. »Paß Er gut auf!« mahnte sie den Arbeiter, der auf dem Wagen stand. Bei jedem Paket, das oben landete, zuckte die Alte zusammen, als hätte man sie selbst hinaufgeworfen.

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»Jasiek muß verzeihen«, wandte sie sich nach dem Chef um, »daß ich ihm so viel Mühe gemacht habe. Aber für Jasiek hat sich die Mühe gelohnt, nicht wahr?«

»Ich weiß nicht, was Sie meinen, Frau Doktor«, sagte der Chef. »Das Geld, das ich von Ihnen bekam, habe ich für die Wohnung ausgegeben, und die paar Klamotten, die Sie mir hiergelassen haben, von denen werde ich auch nicht reich.«

Die Alte duckte sich unter dem grauen Dach des Schup­pens. Sie trat von einem Fuß auf den andern, offensicht­lich fror sie wie ein Schneider, denn die abgetretenen dün­nen Schuhe boten keinen Schutz gegen die Kälte. Sie blin­zelte mit den geröteten, kurzsichtigen Augen, schniefte und lächelte verschmitzt vor sich hin.

»Sie werden ihnen auch so keine große Hilfe sein, Frau Doktor«, spottete der Chef. Er starrte mißmutig auf seine Schuhspitzen. »Wissen Sie denn nicht, wie das weiter­geht? Tod, Tod und Vernichtung. Sonst nichts! Ist es nicht besser, sich aus allem herauszuhalten und weiterzuleben? Ich glaube immer noch, daß es wieder Zeiten geben wird, in denen ein friedlicher Mensch ruhig seinen Geschäften nachgehen kann.«

Ein schwerer Diesel mit Anhänger bog in die enge Gasse ein, hinter ihm flatterte die schwere, schwarze Fahne der Auspuffgase. Der Chef verzog das Gesicht zu einem er­leichterten Grinsen und öffnete hastig den zweiten Schup­pen. Ich war mit zwei langen Sprüngen am Hoftor. Der schwere Wagen drückte sich rückwärts bis an das gegenü­berliegende Haus heran und kroch dann langsam in unse­ren Hof, bis an den zweiten Schuppen. Der Fahrer sprang aus seiner Kabine. Er trug einen schmutzigen, verschmier­ten Overall, auf dem kurzen, krausen Haar saß verwegen eine deutsche Mütze.

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»Abend. Fünfzig?« fragte er, klatschte in die Hände und ging mit langen, wiegenden Schritten in den Schuppen. Mit flinken Augen sah er sich dort in allen Ecken um.

»Oh – la – la! Alles verkauft?« Er schnalzte anerkennend mit der Zunge. »Großer Umsatz, großer Gewinn! Aber der Preis hat wieder angezogen. Zehn Złoty mehr pro Sack. Also, sagen wir fünfunddreißig?«

»Nichts zu machen«, sagte der Chef und hob mit einer unmißverständlichen Geste die Hände.

»Zweiunddreißig. Unten auf dem Platz zahlt man schon fünfundfünfzig und mehr«, meinte der Soldat geduldig.

»Hat Er Leute zum Abladen?« wandte sich der Chef zu mir um. »Haben müssen wir’s.«

»Keine Leute«, grinste der Soldat breit. Er hatte starke, gesunde Zähne und glattrasierte, glänzende Backen. Er drehte sich zum Wagen um und schnürte die Zeltplane hoch. »Meine Herren!« kommandierte er. »Alles raus! Ab­laden!«

Zwei verschlafene Gestalten hockten auf den Zement­säcken. Bei dem Klang seiner Stimme warfen sie die Män­tel ab, mit denen sie sich zugedeckt hatten, und rappelten sich hoch. Der unsanfte Befehl hatte sie schnell auf die Beine gebracht, es dauerte keine Sekunde, bis sie an der Arbeit waren. Der eine schob die Säcke an den Rand des Wagens, der andere drückte sie flach an seine Brust, pack­te sie am unteren Ende und trug sie in den Schuppen. Dort ließ er sie einfach los, und die schweren Säcke fielen auf den Betonboden. Ich versuchte, ihn zu einer anderen Ar­beitsweise zu bringen, denn ich wollte nicht, daß die Säk­ke platzten und das kostbare Material zum Teufel ging.

Da streckte der Beifahrer, der in der Fahrerkabine ge­blieben war und wohl inzwischen ein Nickerchen gemacht hatte, den zerzausten Kopf zum Fenster heraus.

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»Peter! Sag ihnen, daß sie sich beeilen sollen! Wir müs­sen gleich weiter!«

Er stemmte sich mit dem Ellbogen gegen den Fenster­rahmen und glotzte schläfrig in die dunkle Tiefe des Schuppens. Auf seinem groben, behaarten Handgelenk glitzerte ein schmales Damenarmband. Seine unrasierten Wangen mit den langen Stoppeln sahen fast schwarz aus.

»Mach schnell, alter Slawe!« brummte er zwischen den Zähnen. Als er meinen fragenden Blick auffing, grinste er mich freundlich an.

Ich ging wieder in den Schuppen. Einige Säcke waren doch geplatzt, und der Arbeiter drehte sich nach mir um. Er war von oben bis unten mit dem feinen grauen Staub bedeckt, sein Atem ging keuchend. Er hob die Hand, als wollte er sich die Stirn abwischen, und flüsterte mir ver­stohlen zu:

»Sind fünf Sack mehr. Wollen Sie haben?« »Zwanzig pro Stück«, brummte ich, fast ohne die Lippen

zu bewegen. »Komm mit ins Büro«, forderte ich den Soldaten auf,

»wir rechnen ab.« Der blies sein Streichholz aus, warf es weg und zog gie­

rig den Rauch seiner Zigarette ein. Seine Augen leuchteten für einen kurzen Augenblick gelb auf, die glimmende Zi­garette erhellte eine Sekunde sein pausbäckiges Gesicht.

»Fünfzig Stück?« Der Alte zeigte dem Arbeiter fünf ge­spreizte Finger.

»Ja, Chef! Ich zähle mit«, nickte der Arbeiter eifrig. Unser Fuhrmann war mit dem Aufladen fertig. Sein Hel­

fer stopfte noch das letzte Bündel zu den anderen und zog die Stricke, die die Ladung zusammenhielten, fester an. Alles war liebevoll verschnürt, die beiden hatten sich Mü­

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he gegeben, als hätten sie zerbrechliches Glas verpackt. Die wertvollen Sachen waren in der Mitte, ringsherum be­fanden sich Koffer und Körbe, ganz oben schepperndes Geschirr und sonstiger Plunder. Der Wagen wartete ge­duldig. Die Alte trippelte unter dem schützenden Dach auf und ab, die blaugefrorenen Hände in ihren alten Muff ver­graben. Als ein Soldat vorbeiging, versteckte sie sich blitzschnell hinter der offenen Schuppentür.

»Umzug?« fragte der Soldat im Vorbeigehen. »Natürlich. Was denn sonst?« Der Himmel war ganz dunkel geworden, er stand hoch

über den Wolken, lautlos wie ein kreisender Falke. Über dem Tor kämpfte der kahle Baum immer noch gegen den reißenden Wind, verbissen wie ein Mensch, der fest ent­schlossen ist, nicht kampflos nachzugeben.

»So lebt ihr dahin, ruhig hinter dem Ofen versteckt«, sagte der Soldat mit gutmütiger Verachtung in der Stim­me. »Und unsereins trägt seine Haut zu Markte für euren Frieden.«

Der Chef bot uns Stühle an. Er telefonierte gerade mit seiner Frau.

»Also was ist? Ist dir das Essen gelungen oder nicht? Was? Rüben? Ach was! Nimm doch Kraut!« Er lächelte versonnen. »Was? Der Kleine schläft immer noch? Weck ihn doch auf, er schläft schon länger als zwei Stunden.«

Der Soldat öffnete die Tür zum Nebenzimmer und späh­te hinein.

»Neue Bücher dazugekommen, was? Hübsch! Und wie behaglich! Man müßte nur noch eine Platte auflegen. Und wie geht’s dem Fräulein Braut?«

Er zeigte auf den roten Morgenmantel, der am Kleider­haken hing. Dann besah er die beiden Bilder, die Apoloni­

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us gemalt hatte. Von dem einen blickte ein Kind mit gro­ßen, erstaunten Augen ins Leere. Eine alte, magere Bettle­rin hielt das Kleine an der Hand. Auf dem zweiten Bild leuchtete ein gelber Krug aus einem schmutziggrünen Stilleben.

Als der Soldat die Tür wieder schloß, blieben ein biß­chen Dreck und ein scharfer, soldatischer Geruch im Raum hängen.

Der Chef fischte ein Bündel Banknoten aus der Tasche, zählte andächtig flüsternd die gefalteten Scheine ab und reichte sie dem Fahrer.

»Nächste Woche Mittwoch, ja?« fragte der Soldat. »Ist gut. Sehr gut«, sagte der Chef. »Sehen Sie, Tadek«,

wandte er sich an mich, »man müßte ein eigenes Lager ha­ben, dann könnte man sich mit Ware eindecken, alles ein paar Tage stehenlassen und einen Haufen Geld verdienen.«

»Die Schlampe rennt schon hin zum Ingenieur.« »Wenn er nichts findet, glaubt er ihr doch nicht. Alles,

was da ist, geht gleich weiter. Ist schon vorbereitet. Und außerdem weiß er, daß er sich mit uns gut stehen muß. Sein Schäfchen hat er längst ins trockene gebracht, aber die Finger davon lassen kann er doch nicht«, sagte der Chef etwas neidisch. »Schauen Sie zu, Tadek, daß Sie die Bruchbude kaufen können. Die paar Tausender, die noch fehlen, lege ich dazu.«

»Und wenn ein allgemeines Bauverbot kommt?« »Das haben wir jetzt auch, und trotzdem bauen die Leute

weiter. Das, was Sie in der Schublade haben, reicht Ihnen zum Leben. Das Grundstück und der Schuppen darauf bleiben auch nach dem Krieg unser Eigentum. Als hätten wir’s gefunden. Na, sehen Sie. Und jetzt kommen Sie mit, wir müssen die Alte hinausbugsieren. Sie hat ihre Maschi­ne bei Ihnen vergessen.«

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Der Chef schob sich die Haare aus der Stirn und setzte mit einer fast übermütigen Geste die Straßenbahnermütze auf. Die Verkleidung als Straßenbahner war sehr prak­tisch. Erstens konnte er umsonst fahren, und zweitens fühlte er sich sicherer, wenn er in eine Razzia geriet.

»Die Firma kann die Maschine ganz gut gebrauchen.« Der Soldat hatte sein Geld nachgezählt und schob es in

die Hosentasche. »Geht in Ordnung«, sagte er, drückte uns die Hand und

stapfte hinaus. Unser Fuhrmann nahm dem Pferd den Haferbeutel ab,

zündete die rote Laterne an, hängte sie unten an den Wa­gen, griff nach den Zügeln und schnalzte mit der Zunge. Der Wagen schaukelte langsam auf die Straße hinaus, hol­perte über das Pflaster und versank in der Tiefe der Gasse, festlich wie ein Wagen im Karnevalsumzug im roten Licht seiner Laterne.

Oben auf den Koffern und Bündeln, fest eingewickelt in eine rote Decke, saß die alte Jüdin. Sie hatte die Knie angezogen und den alten Pelzkragen hoch über die Oh­ren geschlagen. Über ihr stachen die Beine eines Ti­sches in den Himmel, es sah aus, als drohten vier starre, tote Finger den dunklen Wolken. Die Alte hielt die Au­gen geschlossen, vielleicht war sie eingenickt. Hinter dem Wagen liefen ein paar zerlumpte Kinder her; sie hofften wohl, daß sie während der Fahrt etwas stehlen könnten.

Mit dem einbrechenden Abend belebte sich die Straße. Der goldene Mond spielte mit den federleichten Wolken, er hing wie eine Scheibe Ananas über den Dächern, sein Licht fiel in die Spitzenvorhänge der Baumkronen, auf die dunklen Häuser und auf den glitzernden Schnee, der auf den Gehsteigen lag.

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Vor der Schule ging der Gendarm auf und ab, dunkel­blau wirkte seine Gestalt. Die Wäscherinnen huschten durch den violetten Schimmer der Laterne und verschwan­den im Dunkel des ausgebrannten Hauses. Aus dem Krä­merladen kamen angeheiterte Polizisten, einer nach dem anderen trat seinen Nachtdienst an. Die Glocke an der Kir­che, die dank unserem schwarz gehandelten Kalk und Ze­ment im vollen Glanze strahlte, fing leise zu bimmeln an, verspielt und lachend wie ein Kind, und weckte die Tau­ben aus dem Schlaf. Sie flogen hoch, umkreisten mit lau­ten Flügelschlägen den Turm und fielen dann schwerfällig wieder auf das Dach herab.

Der schwere Diesel umfuhr vorsichtig die Schlaglöcher, hupte nochmals zum Abschied und bog aus dem Hof auf die Straße hinaus. Ich sprang schnell zum Anhänger und drückte das Geld in die harte Hand, die unter der Zeltplane hervorragte.

»Es waren zehn Stück!« rief mir der Arbeiter zu, aber gleich darauf verdeckte die Zeltplane wieder sein Gesicht.

»Das war wieder mal ein Tag!« seufzte der Chef und zog sich den Riemen enger um seinen Straßenbahnermantel. Er wollte immer schlanker aussehen, als er wirklich war, auch wenn der enggeschnallte Riemen drückte.

»So, jetzt bleiben Sie allein. Was ist, kommt Ihre Braut nicht?«

»Ich sorge mich auch schon. Eigentlich müßte sie längst wieder dasein. Die Razzia dauerte heute den ganzen Tag. Sicher haben sie wieder eine Menge Leute erwischt.«

»Was kann man da machen?« Der Chef schob seufzend ein großes Stück Fleisch in die Aktentasche. Das morgige Mittagessen. »Hoffentlich kommt sie durch.«

»Warten Sie doch. Ich muß nur schnell etwas zum Abendbrot holen. Nach so einem Tag kriegt man Hunger.«

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Wir traten zusammen auf die Straße hinaus. Der große Diesel versperrte gerade die Einfahrt in die enge Gasse. Er dampfte und spuckte, die Auspuffgase hüllten die Leute ein, die auf dem Gehsteig standen und auf den Platz hin­unterschauten. Unser Fuhrmann wartete geduldig am Stra­ßenrand, bis er freie Fahrt bekommen würde.

Die Nacht sank immer tiefer herab. Hinter dem schwar­zen Streifen der Felder, hoch über dem silbrigen Band des Flusses spannte sich die kühne Brücke über den Strom. Auf dem anderen Flußufer versank die schwere Masse der Stadt langsam im dickflüssigen Brei der Dunkelheit. Nur die schmalen, scharfen Strahlen der Scheinwerfer glitten lautlos über den Himmel, trafen sich wie steife Arme von Marionetten über der Stadt, fielen kraftlos zurück zur Er­de. Für einen kurzen Augenblick sah es aus, als wäre die Gasse alles, was von der Welt noch übriggeblieben war. Hier pulste das Leben, hier staute sich die Menge.

Ratternd, mit aufgeblendeten Scheinwerfern, fuhren die Lastwagen vorüber. Sie waren vollgestopft mit Menschen, unter den Zeltplanen schimmerten dicht nebeneinander die blassen Flecken der Gesichter. Wie Lichter, die im Wind verlöschen, verschwanden sie dann wieder im Dunkel. Hinter den Lastwagen knatterten Motorräder, die Fahrer hatten Stahlhelme auf, ihre langen, flatternden Schatten sahen wie häßliche Nachtfalter aus. Beißender Benzin­gestank füllte die enge Gasse. Wie ein Geisterzug bewegte sich die Kolonne auf die Brücke zu.

»Bei der Kirche hatten sie die Leute geschnappt«, sagte der Krämer. Seine Stimme klang wie erstickt, seine Hände legten sich schwer auf meine Schultern. »Verdammtes Ge­sindel!«

»Bald sind wir an der Reihe«, sagte der Polizist düster. Er hatte den Riemen dienstlich unters Kinn geklemmt, und diese amtliche Würde drückte ihn ganz erbärmlich. Als er

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den Helm abnahm, um sich über den Kopf zu wischen, leuchtete seine Glatze matt auf. Quer über die Stirn zog sich ein breiter, roter Streifen, der vom Helm herrührte.

»Ist die Jüdin schon wieder weg?« fragte der Krämer im vertraulichen Flüsterton. »So schnell?«

»Sie ist woanders hingezogen.« »Und was ist aus der Wohnung geworden?« Er beugte

sich zu meinem Ohr. »Ich habe schon vorgefühlt deswe­gen. Der Herr Chef wollte mir heute eine Anzahlung ge­ben.«

»Suchen Sie doch den Chef«, knurrte ich ihn an. »Entschuldigung«, flüsterte der Krämer. Das gleißende

Licht der Scheinwerfer, das ihm in die Augen fiel, ließ ihn zusammenzucken. Unmittelbar darauf schob sich der ste­chende Lichtstrahl weiter in die Gasse hinein, und die Krämeraugen erloschen.

»Sie geht zurück ins Getto. Ihre Tochter und deren Mann können nicht mehr heraus.«

»Klar«, sagte der Krämer aus tiefster Überzeugung. »Stirbt wenigstens mit ihr wie ein Mensch …« Er seufz­

te und starrte in die Gasse. Unten in der Biegung war die Gasse verstopft. Die Ko­

lonne blieb stehen, die Laster fuhren dicht hintereinander. Kehlige, unverständliche Rufe wurden laut.

Die Motorräder fuhren aus der Reihe der Laster heraus, und ihre Scheinwerfer tauchten die Gasse, die Häuser und die Menge in weißes, flutendes Licht. Die Menschen sa­hen aus wie bleiche Knochengerippe, die leeren Fenster blinkten auf, nur die buntscheckigen Pferde auf dem Ka­russell grinsten … Die Scheinwerfer rutschten weiter, be­tasteten den leeren Zoologischen Garten, die schreienden Plakate, die Schießbude, die leeren Straßenbahnen unten

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an der Haltestelle, schwankten zögernd von links nach rechts und blieben schließlich an den Lastwagen hängen.

Marias Gesicht unter dem schwarzen Hut war kalkweiß. Sie hob in einer rührenden Bewegung die kalkweißen Hände, drückte sie gegen ihre Brust, um Abschied zu nehmen. Sie stand auf einem der Lastwagen, eingeklemmt in der Menge, dicht neben einem Gendarm. Wie eine Blinde sah sie in einen der Scheinwerfer hinein, und ich hatte das Gefühl, als blickte sie direkt in mein Gesicht. Ih­re Lippen bewegten sich, vielleicht wollte sie noch etwas sagen, vielleicht wollte sie mich rufen. Sie schwankte, beinahe wäre sie gefallen. Dann erzitterte der Wagen, knurrte wie ein böses, gereiztes Tier und zog mit einem Ruck an. Ich wußte überhaupt nicht mehr, was ich tun sollte …

Erst später erfuhr ich, daß Maria in ein berüchtigtes La­ger am Meer gebracht worden war. Sie war Mischling. Man hat sie vergast. Und vielleicht zu Seife verkocht.

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DER KNABE MIT DER BIBEL

Der Aufseher schloß die Tür auf. Ein Knabe trat in unsere Zelle und blieb zögernd an der Schwelle stehen. Hinter ihm fiel die Tür wieder zu.

»Wofür hat man dich denn eingesperrt?« fragte Kowals­ki, der Setzer aus der Bednarskastraße.

»Für nichts«, sagte der Knabe und strich sich mit der Hand über den kahlgeschorenen Kopf. Er trug einen ab­gewetzten schwarzen Anzug wie die Internatsschüler. Über dem Arm hielt er einen Mantel mit schmalem Pelz­kragen.

»Wofür kann man den schon eingesperrt haben! Ist doch ein Fratz! Und sicher ein Jude«, sagte Kozera, der Schmuggler aus Małkinia.

»Halten Sie den Mund, Kozera«, mahnte Schreier, der Beamte aus der Mokotowskastraße. Er streckte sich an der Wand aus. »Sieht nicht danach aus.«

»Still jetzt! Sonst glaubt er, es säßen lauter Banditen hier«, befahl Kowalski. »Komm, Junge, setz dich hierher auf den Strohsack. Und denk nicht nach, das hat keinen Sinn.«

»Nicht dahin! Der Platz gehört Mławski, und der kann jeden Augenblick vom Verhör zurückkommen«, sagte Schreier, der Beamte aus der Mokotowskastraße. Bei ihm hatte man illegale Schriften gefunden.

»Sind Sie denn schon ganz verrückt geworden, Alter?« fragte Kowalski, der Setzer aus der Bednarskastraße, ver­wundert. Er rückte etwas zur Seite und machte dem Kna­

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ben Platz. Der setzte sich hin und legte seinen Mantel auf die Knie.

»Was glotzt du denn so? Das hier ist ein Keller, sonst nichts. Hast noch nie einen Keller gesehen?« fragte Matula, der als Gestapomann verkleidet bei den Bauern Schweine requiriert hatte.

»So einen Keller nicht«, sagte unwillig der Knabe. Die Zelle war klein und niedrig. Wenn es dunkel wur­

de, glitzerten winzig kleine Wassertropfen an den Kel­lermauern. Die schmutzige, verzogene Tür war verkratzt und verschmiert, fast jeder ehemalige Insasse hatte sei­nen Namen und die Daten seines Aufenthaltes hineinge­schnitzt. Neben der Tür stand ein Kübel. Auf dem Beton­boden, dicht an der Wand, lagen zwei Strohsäcke. Die Menschen hockten hier eng aneinandergedrängt, ihre Knie berührten sich.

»Na, dann schau dich gut um. So etwas siehst du so bald nicht wieder«, lachte Matula derb. Er rückte auf seinem Platz ein Stück zur Seite.

»Noch eine?« »Noch eine«, sagte ich und nahm eine Karte. »Und du?« Er nahm drei Karten und sah hinein. »Von mir aus. Schluß.« »Zwanzig«, sagte ich und legte meine Karten auf. »Wieder verloren«, sagte Matula und klopfte sich den

Staub von den Knien. Seine Reithose wies noch Spuren von Bügelfalten auf.

»Der Brotkanten gehört dir. Und die Karten sind sowieso alle gezinkt.«

Draußen auf dem Gang knackten die Lichtschalter. Un­ter der Decke flammte ein trübes Licht auf. In dem klei­nen, vergitterten Fenster ganz oben an der Wand hingen

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ein Stück Himmel und eine Ecke des Küchendachs. Die Gitterstäbe waren schwarz.

»Wie heißt du, Junge?« fragte Schreier, der Beamte. Au­ßer den Flugblättern hatte man bei ihm auch noch Quit­tungen gefunden, für Beiträge zu irgendeiner geheimen Organisation. Schreier hockte den ganzen Tag auf seinem Strohsack, rührte sich nicht vom Fleck und mahlte unun­terbrochen mit seinem falschen Gebiß. Seine abstehenden Ohren wurden immer abstehender.

»Ist doch egal, wie ich heiße. Mein Vater ist Bankdirek­tor.«

»In diesem Fall bist du ein Bankdirektorsöhnchen«, sag­te ich und wandte mich zu ihm um.

Der Knabe saß leicht nach vorn gebeugt und hielt ein Buch dicht vor die Augen. Sein Mantel lag immer noch ordentlich gefaltet auf seinen Knien.

»Ach, ein Buch. Was ist denn das für ein Buch?« »Die Bibel«, sagte der Knabe, ohne den Blick zu heben. »Die Bibel? Glaubst du, daß sie dir hier hilft? Einen

Dreck hilft sie dir!« sagte Kozera, der Schmuggler, von der Tür her.

Er ging mit langen, weitausholenden Schritten von Wand zu Wand, zwei Schritte auf, zwei Schritte ab, um­drehen, auf der Stelle.

»Ich kriege so oder so eins aufs Dach.« »Je nachdem«, sagte ich und nahm neue Karten von

Matula. »Siebzehn und vier.« »Bin gespannt, wer von uns heute dran ist«, sagte

Schreier, der Beamte aus der Mokotowskastraße. Jeden Tag, wenn die Zellentür aufging, glaubte er, er sei nun an der Reihe, erschossen zu werden.

»Schon wieder?« knurrte böse Kowalski, der Setzer.

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»Noch einmal«, entschied Matula, der verhinderte Ge­stapomann. Bei der letzten Requirierung hatte sein Revol­ver versagt. »Mitgegangen, mitgehangen!«

Unsere Karten waren aus Pappe, unsere Vorgänger hat­ten sie uns hinterlassen. Sie waren aus einer Schachtel gemacht, die von einem Freßpäckchen übriggeblieben war. Die Figuren waren mit Tintenstift gezeichnet. Jede einzelne Karte war gezinkt.

»Dem kann nicht viel passieren«, sagte ich und legte mir die Blätter zurecht. »Pappi blecht, Mammi lächelt den zustän­digen Herrn an, und der junge Herr spaziert nach Hause.«

»Ich habe keine Mutter«, sagte der Knabe und hob das Buch noch näher an die Augen.

»So, so«, sagte Kowalski, der Setzer, und legte dem Knaben seine schwere Hand auf den Kopf. »Wer weiß, ob wir morgen noch am Leben sind.«

»Schon wieder?« zischte Schreier, der Beamte aus der Mokotowskastraße.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte ich zu dem Knaben. »Wichtig ist nur, daß man zu Hause keine Sorgen um dich hat, wenn du erst tot bist. Wann haben sie dich verhaftet?«

»Mich haben sie überhaupt nicht verhaftet«, sagte der Knabe.

»Bist du nicht auf der Polizei gewesen?« »Nein.« Der Knabe klappte das Buch zu und schob es

vorsichtig in die Manteltasche. »Mich haben sie auf der Straße behalten.«

»War heute wieder ›Haschen‹? Wo? In welcher Straße?« fragte Schreier beunruhigt. Bei ihm hatte man Flugblätter und Quittungen gefunden. Seine beiden Töchter nahmen am geheimen Schulunterricht teil. Jeden Tag hoffte er auf ein Freßpaket von zu Hause.

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»Da stimmt was nicht«, erklärte Kowalski, der Setzer. »Wenn ›Haschen‹ gewesen wäre, hätten sie einen ganzen Haufen Leute eingeliefert, nicht nur einen. Das hätten wir bis hierher gehört.«

»Denkst du vielleicht, daß du von diesem Loch bis zum Tor blicken kannst? Alles, was du siehst, ist das Küchen­dach und ein Stück der Werkstatt«, sagte ich und wies mit dem Kopf zu dem winzigen Fenster.

Ich hielt Matula, dem »Gestapomann«, meine Karten hin: »Neunzehn.«

»Das kommt darauf an«, sagte Kozera, der Schmuggler aus Małkinia. Er hatte Speck geschmuggelt, und man hatte ihn an der »klassischen Stelle«, an der Grenze, erwischt. Jetzt stand er neben der Tür und schaute durchs Fenster.

»Hier sieht man mehr. Vor der Küchenbaracke geht ein Wachmann mit Hund auf und ab. Die Kartoffeln für mor­gen werden ausgeladen.«

»Schon wieder nichts«, sagte Matula und warf seine Karten hin. »Ich hab heute kein Glück. Sicher bin ich dran. Warum hätten sie mich sonst hergebracht?«

»Hast du gedacht, daß sie dich laufen lassen?« fragte Kozera, der Schmuggler. Er ging mit großen Schritten zwischen der Tür und dem Fenster hin und her.

»Ja …«, seufzte Matula. »Vielleicht gewinne ich doch noch. Wenn nicht, kannst du auch mein Brot für morgen haben.« Er mischte die Karten, die aus einer Pappschach­tel ausgeschnitten waren.

»Wenn sie dich heute holen, hab ich von deinem Brot für morgen auch nicht viel«, ich streckte die Hand aus.

»Du gibst!« »Ein Polizist hat mich auf der Koziastraße behalten«,

sagte der Knabe.

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»Ein Blauer?« fragte Kozera, der Schmuggler, interes­siert. »Mich auch.«

»Ein ganz gewöhnlicher Polizist. Und der brachte mich hierher.«

»Einfach hierher? Durchs Tor? Übers Getto? Das gibt’s nicht«, sagte Schreier, der Beamte aus der Mokotowska­straße.

»Er brachte mich in einer Droschke her. Dazu sagte er noch, es sei schon zu spät, um mich zur Polizei zu fahren. Er lieferte mich einfach hier am Tor ab«, sagte der Knabe und lächelte uns allen zu.

»Der Polizist hatte Sinn für Humor«, sagte ich zu dem Knaben. »Hast wohl die Mauern mit Farbe beschmiert?«

»Mit Kreide«, verbesserte er mich. »Das hast du nun von deiner Malerei«, sagte Kowalski,

der Setzer aus der Bednarskastraße. »Hast Glück, daß ich nicht dein Vater bin.« Er strich dem Knaben über den kahlgeschorenen Kopf.

»Kowalski, warum hast du eigentlich deine Zeitung ge­druckt?« fragte Kozera, der Schmuggler. Er lief immer noch mit großen Schritten von Wand zu Wand.

»Ich hab keine Zeitung gedruckt. Ich wollte eine Otto­mane kaufen.«

»Ausgerechnet in einer Druckerei des Untergrunds, was? Keine Mätzchen.« Ich reichte Matula meine Karten. »Du paßt hier herein wie ein französisches Goldstück in die Hand einer Straßendirne. Das ist frei nach Shakespeare, Setzer Kowalski.«

»Noch mal, dann hab ich gewonnen«, sagte Matula und teilte die Karten wieder aus.

»Ich mag nicht mehr. Zwei Brotkanten reichen mir«, ich schob die Karten zurück.

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»Ich bin genauso unschuldig hineingeschliddert wie du auch«, sagte Kowalski, der Setzer aus der Bednarskastraße.

»Du weißt doch ganz genau, daß ich nur meine Braut su­chen ging, weil sie zwei Tage lang nicht nach Hause ge­kommen war.«

»Ausgerechnet bei den Helden, die die Waffen schmie­den, wie?« lachte Kowalski, der Setzer.

Ich beugte mich zu dem Knaben hinüber und berührte seine Hand:

»Leihst du mir nachher dein Buch?« Der Knabe schüttelte verneinend den Kopf. »Und überhaupt, woher sollte ich’s wissen?« sagte Ko­

walski, der Setzer. »Die Anzeige hing ja draußen.« Wir verstummten. Unter der Decke blinkte trübe das

Licht. Wir saßen auf zwei zerrissenen Strohsäcken. In der Ecke, gleich unter dem Fenster, hockte Schreier, der Be­amte aus der Mokotowskastraße, dessen zwei Töchter am geheimen Schulunterricht teilnahmen. Er hielt den Kopf auf die Knie gesenkt, seine Ohren standen weit ab. Matula, der verkleidete Gestapomann, der sich auf Requirieren spezialisiert hatte, saß mit dem Rücken gegen die Tür ge­lehnt. Er betrachtete trübsinnig die Karten, die vor ihm auf dem Strohsack ausgebreitet lagen. Auf dem zweiten Stroh­sack saß Kowalski, der Setzer aus der Bednarskastraße, der in eine Untergrunddruckerei gegangen war, um dort eine Ottomane zu kaufen. Neben ihm der Knabe, der Mauern mit Kreide beschmiert hatte und in der Bibel las. Kozera, der Schmuggler, marschierte vom Fenster zur Tür und zurück.

Die Tür war schwarz und niedrig, vollgekratzt mit Na­men und Daten. Hinter den dunklen Gitterstäben des aus­

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geschlagenen Fensters glänzte rot das Küchendach und verblaßte der violette Himmel. Ein Stück weiter stand die Mauer, und dahinter reihten sich die Wachttürme der Po­sten.

Noch weiter hinter der Mauer lag das Getto. Die Häuser standen leer, in den blinden, toten Fenstern jagten sich zahllose Federn, der Wind spielte in aufgeschlitzten Pol­stern und Kopfkissen.

Schreier, der Beamte aus der Mokotowskastraße, hob den Kopf und sah den Knaben mit der Bibel an.

Der Knabe las schon wieder, er hielt das Buch ganz nahe an die Augen.

Auf dem Gang hallten Schritte. Die Eisenplatten, mit denen der Boden belegt war, klirrten laut und hohl. Die Zellentüren knallten.

»Endlich«, sagte Kowalski, der Setzer. Auch er hatte ge­lauscht. »Bin gespannt, wieviel Neue es diesmal gibt.«

»Das ist die einzige Ware, die niemals knapp wird. Die braucht man nicht zu schmuggeln. Die kommt von allein«, meinte Kozera, der Schmuggler aus Małkinia.

»Na, wenigstens werden wir hören, was sich draußen in der Welt tut«, fand Matula, der verkleidete Gestapomann, der Todeskandidat war und nur noch auf die Vollstreckung des Urteils wartete.

»Vor zwei Wochen wart ihr noch draußen, in der Welt. Habt ihr viel gehört, was sich tut?«

»Ich weiß aber nicht, ob ich in zwei Wochen immer noch auf der Welt bin«, gab Matula zurück.

»Was kann’s dich dann noch interessieren, was sich draußen tut? So oder so ist es aus, oder?«

»Wenn der Krieg ganz schnell zu Ende geht, muß es nicht unbedingt aus sein, meinst du nicht auch?«

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»Ein polnisches Gericht hätte dir auch eins drauf gege­ben. Raub ist Raub«, sagte Kowalski, der Setzer.

»Ja. Und dir hätten sie einen Orden umgehängt, nur weil du eine Ottomane kaufen wolltest.«

Die Zellentür flog auf. Mławski trat ein. Er kam von ei­nem Verhör zurück. Die Zellentür fiel hinter ihm zu.

»Na, Jungs, wie steht’s? Ich hatte Schiß. Sah schon fast so aus, als könnte ich über Nacht draußen bleiben. Aber dann kam doch noch ein zweiter Wagen.«

»Die Bäume blühen schon, oder? Und die Leute draußen laufen herum, als wäre gar nichts geschehen?« fragte ich und drehte eine Karte in den Händen.

»Hast du doch auch gesehen, als man dich herbrachte. Die Menschen leben halt einfach weiter.«

»Hier, da hast du deine Suppe.« Setzer Kowalski reichte ihm den Napf mit dem Abend­

essen. »Das Mittagessen haben natürlich die anderen ge­gessen.«

»Nicht schlimm«, sagte Mławski. »Ich hab mittags ge­gessen, gar nicht schlecht. Erbsensuppe mit Brot. Dafür haben sie mir mächtig eingeheizt.« Er stand neben dem Strohsack und schnitt mit dem Löffel die dickflüssige, breiige Masse.

»Wie war’s? Kannst du überhaupt sitzen?« »Es ging. Dort habe ich so gut wie gar nichts abgekriegt.

Erst im Vorzimmer der Gestapo ging’s los. Heute hatten wir einen Bekannten dabei. Er und mein Vater hatten frü­her mal geschäftlich zusammengearbeitet. Noch in Radom. Du weißt doch, wie so etwas ist.«

Mławski aß langsam, ohne Hast. »Die Suppe schmeckt gut, ich mag sie gern, auch wenn

sie kalt ist. Fast so viele Kartoffeln wie zu Hause.«

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»Ich hab auch dem Kalfaktor gesagt, daß es für dich ist, und er hat den Schöpflöffel ganz schön tief in den Kessel getaucht«, erklärte ich.

»Was sagt der Referent?« wollte Schreier wissen, der Beamte aus der Mokotowskastraße, bei dem sie Zeitungen und Quittungen gefunden hatten.

»Nichts«, knurrte Mławski. Er stellte seinen Napf neben dem Kübel ab und zog sich den Mantel aus. »Deinetwegen habe ich ganz schön was in die Fresse gekriegt«, wandte er sich an mich. »Die Glasscherbe im Futter. Warum schleppst du das Zeug eigentlich mit? Willst du dir damit die Gurgel durchschneiden oder was?«

»Für den Fall des Falles«, sagte ich und schob mir den Mantel ins Kreuz. Jedesmal, wenn Mławski zum Verhör mußte, nahm er meinen Mantel mit. Seine Lederjacke war fast neu, wie leicht hätte sie ihm einer abnehmen können.

Mławski setzte sich neben mich auf den Strohsack. »Weißt du was? Er hat meinem Vater vorgeschlagen, als

Spitzel zu arbeiten. Was meinst du dazu?« »Was meint dein Vater dazu?« »Er hat zugesagt, natürlich. Was blieb ihm anderes üb­

rig?« Ich hob die Schultern. Mławski wandte sich um und sah

den Knaben mit der Bibel an: »Neu, was? Hab ich dich nicht schon auf der Polizei gese­

hen? Oder warst du am Ende gar mit mir auf der Gestapo?« »Nein«, sagte der Knabe von seinem Buch herüber. »Ich

war in keiner Zelle.« Kozera war bei seinem Spaziergang gerade wieder an

der Tür angelangt. »Er sagt, ein blauer Greifer hat ihn in einer Kutsche her­

gebracht.«

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»Ich könnte wetten, daß ich dich auf der Polizei gesehen habe«, überlegte Mławski. »Aber wenn du sagst – ko­misch, aber es mag stimmen …«

Wir schwiegen. Zwischen dem Himmel und den dunklen Gitterstäben hing der laue Frühlingsabend, von unten an­gestrahlt, weil alle Lichter im Gefängnis brannten. Schrei­er saß da, das Gesicht in den Händen vergraben, seine Oh­ren standen ab. Kozera marschierte immer noch zwischen den Strohsäcken und der Tür hin und zurück.

»Spielst du mit?« fragte mich Matula. »Man hockt hier herum wie ein Klotz. Vielleicht gewinne ich doch noch.«

Der Knabe las immer noch in seiner Bibel. »Hört doch mit den ewigen Karten auf!« schimpfte

Schreier ohne den Kopf zu heben. »Ihr würdet noch um die eigene Mutter spielen! Und ich …«

Er verstummte und mahlte wieder mit seinem künstli­chen Gebiß.

»Na, na«, brummte Matula. »Der intelligente Zeitungs­fritze hat natürlich wieder etwas zu meckern. Also, was ist? Spielst du mit?«

»Laßt die Karten und macht euch fertig!« befahl Ko­walski, der Setzer aus der Bednarskastraße. »Der Kalfak­tor brüllt schon.«

Wir erhoben uns von den Strohsäcken und stellten uns mit dem Gesicht zur Tür. Draußen auf dem Gang wurden Stimmen laut.

»Der Ukrainer hat heute Dienst. Aber vielleicht geht doch noch alles glatt über die Bühne«, flüsterte ich Mławski zu.

Unsere Zellentür wurde aufgeschlossen. Ein dicker, kleiner SS-Mann blieb an der Schwelle stehen. Er hatte ein rotes, viereckiges Gesicht und helles, schütteres Haar. Sein

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Mund war fest zusammengekniffen, die kurzen, stämmi­gen Krummbeine steckten in hohen, glänzenden Schaft-stiefeln. Im Gürtel trug er einen schweren Revolver, von der linken Hand baumelte eine lange, dünne Peitsche her­ab. Hinter ihm stand ein baumlanger Ukrainer und rasselte mit dem Schlüsselbund. Seine Mütze saß verwegen über einem Auge. Neben ihm duckten sich der Kalfaktor und ein kleines, schmächtiges Männlein. Der Schreiber, ein jü­discher Advokat aus dem Getto, hielt ein Bündel Papiere in den Händen. Schreier, der Beamte aus der Moko­towskastraße, leierte die paar auswendig gelernten deut­schen Sätze herunter.

Die-und-die Zelle, belegt mit so-und-soviel Mann, alle anwesend.

Der rotgesichtige Wachmann deutete jeweils mit dem Finger.

»Ja«, nickte er. »Stimmt. Schreiber, wer von hier?« »Benedikt Matula«, las der Schreiber und sah uns alle

an. »Gott, jetzt krieg ich eins aufs Dach«, flüsterte Matula,

der falsche Gestapomann, der auf eigene Faust requiriert hatte.

»Los! Rauskommen!« brüllte ihn der Wachmann an, packte ihn am Hals und riß ihn aus der Zelle auf den Gang hinaus. Die Tür blieb sperrangelweit offen.

Ein Stück weiter im Gang standen die Wachtposten, bis an die Zähne bewaffnet. Die Stahlhelme blinkten düster im trüben Licht der Birnen, in jedem Gürtel steckten ein paar Handgranaten.

Der Wachmann drehte sich nach dem Schreiber um. »Alles? Gehen wir weiter?« »Nein, noch nicht alles«, lispelte der jüdische Schreiber,

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ein ehemaliger Advokat. »Noch einer. Zbigniew Namo­kel.«

»Hier«, sagte der Knabe mit der Bibel. Er drehte sich um und ging zu seinem Eckchen Stroh­

sack. Dort bückte er sich, nahm seinen Mantel auf und leg­te ihn wieder über den Arm. Dann trat er zur Tür, blieb ei­nen Augenblick stehen und sah sich um. Er schaute uns alle an, sagte aber nichts. Er ging hinaus auf den Gang. Hinter ihm fiel die Tür krachend zu.

»Vorbei. Der Appell ist vorbei, der Tag ist um. Zwei Mann weniger. Wieder ein Tag mehr. Der nächste.« Das war Kozera, der Schmuggler aus Małkinia.

»Es gibt noch ein paar«, sagte Kowalski farblos. »Ein Knabe war da, und nun ist er weg.«

Er stellte sich breitbeinig über den Kübel. »Los! Alle Mann antreten! Es ist Zeit, daß wir die Stroh­

säcke auseinanderlegen, und ich mag nicht, daß mir dann einer über die Visage trampelt, wenn er mal muß. Los jetzt, solange es noch hell ist!«

Wir zogen die Strohsäcke auseinander. »Schade, daß er die Bibel mitgenommen hat. Hätten wir

wenigstens was zu lesen gehabt«, sagte ich zu Mławski. »Ach, laß doch! Hilft ihm auch nichts mehr. Aber ich

hab ihn heute auf der Polizei gesehen, darauf könnte ich schwören«, sagte Mławski. »Was mag er bloß getan ha­ben, der Bengel? Und warum hat er wohl gelogen? Warum hat er uns denn erzählt, daß ihn ein Polizist auf der Straße festgenommen und direkt hierher gebracht hat?«

»Er sah wie ein Jude aus. Sicher war er ein Jude, sonst würden sie ihn nicht kaltmachen«, sagte Schreier unter dem Fenster. Er hatte sich schon hingelegt und wickelte sich stöhnend seinen Mantel um die Füße. Seine Stimme

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klang anders als sonst, denn er hatte sein Gebiß schon he­rausgenommen, säuberlich in ein Papierchen eingepackt und in der Tasche verstaut.

»Wozu braucht er dann eine Bibel?« »Sicher war er ein Jude. Sonst hätten sie ihn nicht mit­

genommen. Obwohl Matula auch erschossen wird«, sagte Kowalski und streckte sich auf dem Strohsack aus. Er lag neben Kozera.

»Krimineller! Lump, verdammter! Zog sich als Gesta­pomann an und ging, mit dem Revolver in der Faust, auf die eigenen Leute los! Geschieht ihm recht«, knurrte Kozera böse.

Mławski und ich legten uns auch hin und deckten uns zu, mit Mławskis Lederjacke an den Füßen und oben mit mei­nem Mantel. Ich zog den Pelzkragen über den Kopf.

Vom Fenster her zog es kalt und feucht. Der Himmel war inzwischen ganz dunkel geworden, fast schwarz. Das Stückchen Welt, das zwischen dem Himmel und dem ebenerdigen Fenster lag, schimmerte wie goldener Staub. Immer noch brannten alle Lichter im Gefängnis, und durch ihren Schein hindurch blinkten fern und verloren die Sterne.

»Wie schön die Welt ist«, sagte ich halblaut zu Mławski. »Nur nicht für uns, wir gehören nicht mehr dazu.«

Wir lagen dicht nebeneinander, einer wärmte den andern. »Ich möchte wissen, ob sie meinen Vater geholt haben«,

flüsterte Mławski zurück. Ich drehte mich auf die Seite und sah ihm ins Gesicht. »Heute ist es herausgekommen, daß er ein Jude ist«, sag­

te Mławski sehr leise. »Der Referent hat ihn wiederer­kannt. Sie haben zusammen Geschäfte gemacht, in Radom, im Getto.«

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»Dann hätten sie dich auch mitgenommen«, versuchte ich ihn zu trösten.

»Ich bin Mischling. Meine Mutter war Polin.« »Dein Vater soll doch als Spitzel arbeiten? In diesem

Fall können sie ihn nicht holen.« »Hoffentlich tut er’s. Das wäre gut.« »Haltet doch den Mund!« Kozera reckte den Kopf.

»Habt ihr noch nicht genug? Eine kleine Sportveranstal­tung vor dem Schlafengehen gefällig?«

Wir verstummten. Langsam schliefen wir ein. Plötzlich riß uns ein Schuß hoch, der irgendwo ganz in der Nähe fiel. Gleich danach ein zweiter.

»Offenbar war es ihnen zu weit bis in den Wald. Sie le­gen sie gleich hier um.« Ich fing an zu zählen: »Vierzehn … fünfzehn … sechzehn …« – »Gleich neben dem Tor …«, sagte Mławski. Er drückte krampfhaft meine Hand.

»Der Knabe mit der Bibel … Sicher ein Jude … Welcher Schuß mag ihm gegolten haben?« fragte Kowalski, der Setzer.

»Legt euch hin und schlaft. Schlaft doch endlich!« zisch­te Schreier, der Beamte aus der Mokotowskastraße.

»Ja, schlafen wir«, sagte ich zu Mławski. Wir legten uns wieder hin, deckten uns zu, mit seiner Lederjacke und meinem Mantel. Ganz eng schmiegten wir uns aneinander. Vom Fenster zog es. Kalt und feucht.

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I

EIN TAG IN HARMENCE

Der Schatten der Kastanien ist grün und weich. Er wiegt sich sanft über der Erde, die noch feucht und schwarz ist, frisch aus der Furche ausgehoben. Oben, hoch über unse­ren Köpfen, schließt sich das Blättergewirr zu einer zarten, seidigen, blaßgrünen Kuppel, die nach dem morgendlichen Tau duftet. Die Bäume stehen wie ein hochgewachsenes Spalier auf beiden Seiten der Straße. Das zarte Grün löst sich fast ohne Übergang in dem blassen Blau des Himmels auf. Von den Teichen, drüben, zieht der eklige, modrige Geruch der Sümpfe herüber. Das Gras glitzert, es ist dicht und weich wie Plüsch, an jedem Halm hängt ein funkeln-der Tropfen Tau. Die Erde ist noch silbrig, aber sie dampft schon. Der Tag wird heiß werden.

Das Laub der Kastanien ist grün und weich. Ich sitze im Sand, im Schatten des Laubes, und ziehe mit einem gro­ßen ›Franzosen‹ die Schrauben an den Gleisen der Schmalspurbahn nach. Der Franzose fühlt sich angenehm kühl an, er liegt gut in der Hand, ab und zu hole ich aus und lasse ihn auf die Schiene sausen. Dann hallt der metal­lene, harte Klang über ganz Harmence und kommt nach einer Weile in einem singenden, unwirklichen Echo von fern her wieder zurück. Um mich herum, auf ihre Spaten gestützt, stehen Griechen. Sie kommen aus Mazedonien, aus Saloniki, aus den weiten, fruchtbaren Weingärten und haben Angst vor dem Schatten. Sie haben ihre Hemden

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ausgezogen, die grelle Sonne brennt unbarmherzig auf ihre nackten Schultern und Lenden, die mit Geschwüren und Krätze bedeckt sind.

»Was bist du heute fleißig, Tadek! Guten Morgen. Hast du keinen Hunger?«

»Guten Morgen, Fräulein Hanna. Nein, danke, ich habe keinen Hunger. Und außerdem muß ich heute mächtig auf die Pauke hauen. Unser neuer Kapo … Ich bitte um Ver­zeihung, daß ich nicht aufstehen kann. Sie wissen ja, ›Krieg, Bewegung, Arbeit‹ …«

Fräulein Hanna lächelt. »Aber natürlich, ich weiß. Wenn ich nicht wüßte, daß du

es bist, ich hätte dich nicht erkannt. Weißt du noch, wie du die Kartoffelschalen weggeputzt hast, die ich für dich den Hühnern geklaut habe?«

»Weggeputzt? Weggefressen habe ich sie, Fräulein Han­na! Achtung! SS-Mann in Sicht. Von rückwärts!«

Fräulein Hanna warf ein paar Handvoll Körner unter die Hühner, die von allen Seiten herbeiliefen. Aber als sie sich wieder zu mir drehte, winkte sie nur ab.

»Das ist bloß der Chef«, sagte sie geringschätzig. »Der frißt mir aus der Hand.«

»Aus einer so kleinen Hand? Eine tüchtige Frau sind Sie geworden, Fräulein Hanna!«

Ich holte wieder aus, der Franzose fiel dröhnend auf die Schiene nieder. Ihr zu Ehren ließ ich die Melodie La don­na è mobile erklingen.

»Mann! Hör doch auf mit dem Krach! Aber vielleicht möchtest du doch etwas essen? Ich gehe gerade in den Hof hinüber. Soll ich etwas mitbringen?«

»Danke, danke, Fräulein Hanna. Sie haben mich wirk­lich genug gefüttert, damals, als ich so arm …«

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»… aber ehrlich war«, ergänzte Hanna mit einem leicht ironischen Lachen.

»Und hauptsächlich ungeschickt«, setzte ich hinzu. »A propos ungeschickt: Ich hatte zwei Stück Seife für Sie or­ganisiert. Zwei wunderschöne Stück Seife, mit dem schönsten Namen der Welt: Warschau … Und …«.

»… und nun sind sie weg. Geklaut, wie üblich.« »Geklaut, wie üblich. Solange ich nichts hatte, schlief

ich ruhig wie ein Kind. Jetzt kann ich mein Bündel schnü­ren, wie ich will, aufpassen, wie ich will, am Morgen sind die Knoten doch auf, und alles ist beim Teufel!«

Ich sah sie an. »Vor ein paar Tagen war es ein volles Glas Honig, heute

die Seife. Aber wenn ich den erwische, der das getan hat! Der kann sich auf etwas gefaßt machen!«

Fräulein Hanna lachte laut auf. »Kann ich mir vorstellen! Aber laß doch! Wegen der

Seife brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Ich habe gerade heute zwei schöne Stück Seife von Iwan bekom­men. Ach, beinah hätte ich’s vergessen. Hier, gib Iwan das Päckchen, es ist Speck.« Sie legte ein kleines Päckchen unter den Baum. »Schau, da ist die Seife.«

Sie wickelte ein Päckchen aus, das mir sonderbar be­kannt vorkam. Ich trat etwas näher heran und schaute zu. Zwei Stück Seife kamen zum Vorschein, auf jedem prang­te der Name Warschau. Ich reichte sie Hanna zurück.

»Schöne Seife, wirklich«, bestätigte ich. Meine Augenwanderten über das Feld. Über die weite Fläche verstreut, bewegten sich kleine Gruppen, alles arbeitende Menschen. Ganz hinten, am äußersten Ende, dort, wo das Feld an den Kartoffelacker grenzte, erspähte ich Iwan. Wie ein treuer Schäferhund lief er um die Herde herum, feuerte seine

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Leute mit Rufen an, die ich nicht verstehen konnte, und schwang einen dicken Knüppel, den er sich selbst aus ei­nem Ast zurechtgeschnitten hatte.

»Der wird was erleben, der Dieb!« knurrte ich und merk­te gar nicht, daß ich in die Luft sprach. Hanna war schon weitergegangen. Erst nach einigen Metern drehte sie sich nochmals um und rief mir über die Schulter zu:

»Mittagessen wie gewöhnlich, unter den Kastanien.« »Danke.« Ich machte mich wieder an die Schrauben. Von Zeit zu

Zeit sauste mein Franzose auf die Schienen, es klang noch härter als vorher.

Für die Griechen ist Hanna eine kleine Sensation. Nicht zuletzt auch wegen der Kartoffeln, die sie ihnen ab und zu mitbringt.

»Fräulein Hanna gut, extra prima. Ist deine Madonna?« »Ach wo, Madonna!« Aus Versehen habe ich mir mit

dem Schraubenschlüssel auf die Finger geklopft. »Nix Madonna! Bekannte, na, camerade, filos, compris,

Greco bandito?« »Greco nix bandito, Greco gut Mensch! Aber warum du

nicht von sie essen? Kartoffel? Patatas?« »Ich bin nicht hungrig. Ich habe genug zu essen.« »Du nix gut, nix gut«, ein alter Grieche schüttelt den

Kopf. Früher mal war er ein angesehener Kaufmann in Sa­loniki, er spricht fließend zwölf Sprachen, mit denen er hier nichts anfangen kann. »Wir Griechen haben Hunger, immer Hunger, ewig ewig.« Unter der räudigen Haut, die mit Krätze und Geschwüren bedeckt ist, bewegen sich die mageren Muskeln. Jeder einzelne Muskel scheint sein ei­genes Leben zu führen, es ist ein seltsames, faszinierendes Spiel. Ein kleines Lächeln mildert den gespannten Aus­

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druck seines Gesichts, nur die Augen glühen, das fiebrige Feuer in seinen Augen kann er nicht verbergen.

»Sagt ihr’s doch, wenn ihr Hunger habt. Sie bringt euch was. Und jetzt tut endlich was, langweilige Bande! Labo­rando! Laborando! Ich gehe woandershin, mit euch ist nichts los!«

»Das war falsch, Tadek, wirklich, das hast du nicht richtig gemacht«, tadelte ein alter, dicker Jude, der plötzlich hinter den anderen auftauchte. Er stützte sich auf seinen Spaten und schaute auf mich herunter. »Du hast doch auch Hunger ge­habt, du solltest uns verstehen. Es kostet dich doch nichts, wenn sie mal einen Eimer Kartoffeln für uns mitbringt.«

Die Betonung liegt eindeutig auf dem Wort »Eimer«. »Du, Beker, hau ab und laß das Philosophieren! Schau

dir deinen Spaten an und mach dich an die Arbeit. Und laß mich in Ruh. Compris? Nur das eine noch: Wenn du am Verrecken bist, geb ich dir den Rest. Weißt du wofür?«

»Wofür denn?« »Für Posen. Oder stimmt es nicht, daß du der Lagerälte­

ste im jüdischen Lager in Posen warst?« »War ich. Und weiter?« »Hast du keine Leute totgeschlagen? Hast du keine Leu­

te aufhängen lassen, für ein lächerliches Stück Margarine oder für ein jämmerliches Stück Brot?«

»Ich habe Diebe aufhängen lassen.« »Beker, es heißt, dein Sohn ist in der Quarantäne.« Bekers Hände krampften sich um den Spatenstiel, sein

Blick wanderte bedächtig von meinen Schultern über den Nacken bis zu meinem Kopf.

»Du, laß den Spaten los und schau nicht so kriegerisch drein! Stimmt es etwa nicht, daß dein Sohn befohlen hat, dich zu erledigen, für die dort in Posen?«

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»Stimmt. Und meinen zweiten Sohn habe ich aufhängen lassen. Nur nicht an den Händen, sondern am Hals. Weil er Brot gestohlen hat.«

»Vieh!« brach es aus mir heraus. Aber Beker, ein älterer, angegrauter Jude, der etwas zur

Schwermut neigte, war schon wieder vollkommen ruhig und beherrscht. Er sah mich an, von oben herab:

»Wie lange sitzt du schon im Lager?« »Oh, ein paar Monate.« »Weißt du, Tadek«, sagte er völlig unerwartet. »Ich mag

dich, ich mag dich sehr gern. Aber Hunger, wirklichen Hunger, den hast du noch nicht gehabt, was?«

»Es kommt darauf an, was man darunter versteht.« »Wirklichen Hunger hat man erst dann, wenn man einen

anderen Menschen als etwas Eßbares betrachtet. Ich hatte schon solchen Hunger, verstehst du?«

Ich schwieg, schlug weiter auf die Schienen ein und sah ab und zu nach links und rechts, ob der Kapo nicht ir­gendwo unerwartet auftauchte.

Währenddessen sprach Beker weiter: »Das Lager dort – unser Lager – war ganz klein. Es lag

direkt neben der Straße. Leute gingen vorüber, gut angezo­gene Leute, auch Mädchen. Zum Beispiel sonntags, wenn sie in die Kirche gingen. Oder junge Pärchen. Ein Stück­chen weiter lag ein Dorf. Ein gewöhnliches Dorf, und die Leute dort hatten alles. Nur eine halbe Stunde von uns weg … Und wir hatten Rüben … Mensch, bei uns wollten sich die Menschen bei lebendigem Leibe gegenseitig auffressen. Und da sollte ich die Köche nicht erschlagen, die Fett gegen Schnaps eintauschten und Brot für Zigaretten? Mein Sohn hat gestohlen, und darum habe ich ihn getötet. Ich bin Ge­päckträger, ich kenne das Leben.«

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Ich sah ihn an, als sähe ich ihn zum erstenmal. »Und du? Hast du nur deine Portion gegessen?« »Wieso? Das ist was anderes! Ich war doch der Lageräl­

teste!« »Aufpassen! Laborando, laborando! Presto!« brüllte ich

plötzlich los. Aus der Straßenbiegung war ein SS-Mann auf einem

Fahrrad aufgetaucht. Er radelte an uns vorbei, seine Blicke glitten über uns hinweg. Wie auf Befehl hatten sich alle Köpfe gesenkt, die bereitgehaltenen Spaten flogen durch die Luft, mein Schraubenschlüssel klirrte auf den Schie­nen. Der SS-Mann verschwand unter den Bäumen, die Spa­ten senkten sich wieder und verharrten. Die Griechen fie­len in ihren gewohnten Scheintod zurück.

»Wie spät ist es?« »Keine Ahnung. Noch weit bis zum Mittagessen. Noch

was, Beker, zum Abschied: Heute gibt’s wieder ›Sieb‹ im Lager. Und ich hoffe, daß du samt deinen Geschwüren in den Kamin wanderst.«

»Sieb? Woher weißt du das?« »Warum bist du so erschrocken? Es gibt Sieb, das reicht.

Angst hast du, was? Man geht so lange zum Brunnen …« Mit einem boshaften Lächeln gehe ich weiter. Der Gedan­ke gefällt mir. Ich summe einen neuen Tango vor mich hin.

Den neuesten Schlager. Krematorium-Tango heißt er. Zwei leere Augen blicken unbeweglich vor sich hin.

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II

Die Schienen meiner Eisenbahn ziehen sich kreuz und quer über das Feld. Das eine Ende führt zu einem hohen Knochenhaufen, den die Lastwagen aus dem »Kremo« hier abgeladen haben, das andere mündet in einem Teich, wo alle diese Knochen schließlich landen werden. Mein Weg führte an einem großen Sandberg vorbei. Sein Sand wird eines Tages das ganze Feld bedecken, in einer dün­nen Schicht, die alle überflüssige Feuchtigkeit aufsaugen soll. Außerdem passierte ich mit meinen Schienen noch einen hohen Berg frischer Erde. Auch die Erde wird später einmal über das Feld verteilt werden, doch das dauert noch, zuerst kommt der Sand.

Kreuz und quer laufen meine Schienen. Und überall, wo sich die Gleise kreuzen, müßte eine große, eiserne Dreh­scheibe liegen. Wir haben aber nur eine, die tragen wir einmal dahin, einmal dorthin, je nachdem, wo sie gerade gebraucht wird.

Ein Haufen halbnackter Gestalten bückte sich, griff nach der Scheibe, krallte die Finger hinein. »Hooooch! Hoo­ooch!« brüllte ich und hob, wegen der besseren Wirkung, beide Arme in die Luft. Ich sah aus wie ein besessener Di­rigent. Die Leute rissen an der Drehscheibe, einer fiel hin und plumpste schwer vornüber. Er konnte sich kaum auf den Beinen halten. Die anderen beförderten ihn mit ein paar kräftigen Tritten aus dem Kreis. Der Unglückliche hob das Gesicht, in dem sich Tränen mit Sand vermisch­ten, und stöhnte:

»Schwer … Kollege … Ist zu schwer …«

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Dann steckte er die zerschundene Hand in den Mund und leckte gierig das fließende Blut.

»Los! An die Arbeit! Nochmals! Hooooch!« »Doguri!« Die Menge antwortet im Chor, und die Rük­

ken krümmen sich wieder, die Wirbelsäulen sind scharf­kantig wie die Rückenflosse eines Raubfischs, an den ma­geren Schultern spannen sich die Muskeln.

Nur die Arme, die nach der Scheibe greifen, sind schlaff und hängen kraftlos herab.

»Doguri!« »Doguri!« Plötzlich prasselt ein ganzer Regen Hiebe auf die ge­

bückten Gestalten hernieder. Der Stiel trommelt durch die Luft, trommelt über die Schädel, die Haut auf den mage­ren Knochen platzt, die schlaffen Arme straffen sich. Ein wilder Tumult bricht plötzlich um die Platte herum aus, die Menge heult, verstummt ebenso jäh, und schließlich hebt sich die Platte, schwankend und zitternd, über die Köpfe der Gruppe und setzte sich unsicher in Bewegung. Jeden Augenblick droht sie zu fallen und die kahlgescho­renen Menschen, die sie weitertragen, unter sich zu begra­ben.

»Ihr Hunde!« knurrte der Kapo im Weggehen. »Ich werd’s euch zeigen!« Er wischte sich schweratmend das rote, aufgedunsene Gesicht mit den gelben Flecken. Seine leeren, glanzlosen Augen blickten der Gruppe nach, als hätte er die Leute noch nie gesehen. Dann drehte er sich nach mir um:

»Du, Eisenbahner, warm heute, was?« »Warm. Kapo, die Platte kommt doch zum dritten Inku­

bator, nicht? Und die Schienen?« »Direkt zum Graben.«

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»Da liegt aber ein ganzer Berg Erde im Weg.« »Schau zu, wie du durchkommst. Bis Mittag bist du da­

mit fertig. Und für heute abend machst du mir vier Trag­bahren zurecht. Vielleicht muß jemand ins Lager getragen werden. Warm heute, was?«

»Ja, warm … Aber, Kapo, Kapo! Weiter mit der Schei­be! Weiter! Zum dritten Häuschen! Kapo schaut zu!«

»Eisenbahner, gib mir eine Zitrone!« »Schicken Sie den ›Pipel‹ zu mir! In der Tasche hab ich

keine.« Der Kapo, um dessen Lieblingslaufburschen es sich

handelt, nickt zerstreut, dann geht er hinkend davon. Ich weiß, wohin er geht. Zum Hof hin, in der Hoffnung, er könne irgendeinen leckeren Bissen erwischen. Doch die Hoffnung trügt, ich weiß es besser. Er kriegt nichts, weil ihn keiner mag. Er schlägt die Leute.

Wir bringen die Drehscheibe an ihren Platz, ziehen mit letzter Kraft die Schienen nach, schieben die Schwellen darunter, drehen die Schrauben mit bloßen Händen fest. Die fiebernden, halbverhungerten Gestalten liegen herum, erschöpft, gehetzt und blutend. Die Sonne steigt immer höher, die Hitze wird immer unerträglicher.

»Wie spät ist es, Kollege?« »Zehn«, sage ich, ohne die Augen von den Schienen zu

heben. »Gott, noch zwei Stunden bis Mittag! Stimmt es, daß es

heute ein Sieb fürs Krematorium geben soll?« Alle wissen schon davon. Verstohlen säubern sie ihre Wunden, damit sie besser

und kleiner aussehen, sie reißen die Verbände ab, massie­ren die Muskeln, bespritzen sich mit Wasser, nur damit sie abends bei der Besichtigung frischer und strammer wir­

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ken, als sie sind. So kämpfen viele um das nackte Leben. Anderen ist alles egal. Sie bewegen sich nur, wenn ein Hieb auf sie niedersaust und sie glauben, ihm noch ent­kommen zu können. Gras fressen sie und die lehmige, klebrige Erde, um das nagende Hungergefühl damit zu betäuben. So irren sie umher, nichts als lebende Leich­name.

»Wir alle – Krematorium. Aber Deutsche auch kaputt. Alle. Krieg fini: alle Deutsche Krematorium. Alle. Frauen, Kinder. Verstehst?«

»Versteh, Greco gut. Aber stimmt nicht. Keine Auslese. Keine Angst.«

Ich muß buddeln, ich muß durch den Erdwall hindurch, der meinen Schienen im Wege steht. Der leichte, kurze Spaten hüpft mir wie von selbst in den Händen. Die Erde ist weich und locker, mit jedem Spatenstich fliegt ein Erd­haufen in die Luft. Es arbeitet sich gut, wenn man zum Frühstück ein ganzes Viertel Speck verschlungen, mit Knoblauch gewürzt und mit einer ganzen Dose Kondens­milch nachgespült hat.

In dem schmalen Schattenstreifen des dritten Inkubators hockt der Kommandoführer, ein vertrocknetes, runzliges SS-Männchen mit offenem Hemdkragen. Das Herumkrie­chen unter den Arbeitern hat ihn zu sehr angestrengt, er­schöpft und hochgradig ermüdet sitzt er jetzt da und ruht sich aus. Seine Spezialität ist eine dünne, schwingende Rute. Gestern hat er mich damit zweimal erwischt, heute noch tut mir der Rücken weh.

»Gleisbauer, was gibt’s Neues?« Ich schwinge meinen Spaten, die Erde fliegt hoch.

»Dreihunderttausend Bolschewiken bei Orel gefallen.« »Das ist gut, meinst du nicht auch?« »Sicher. Weil dort doppelt soviel Deutsche gefallen sind.

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Wenn es so weitergeht, sind die Bolschewiken in einem Jahr da.«

»So? Glaubst du?« Er lächelt dünn und boshaft und stellt die obligate Frage:

»Wie weit ist es noch bis zum Mittagessen?« Ich fische eine silberne Uhr aus der Tasche. Ein uraltes

Stück, mit lächerlichen, römischen Ziffern. Irgendwie mag ich die Klamotte, sie erinnert mich an die Uhr meines Va­ters. Ich habe sie für ein Päckchen Feigen gekauft.

»Elf.« Das Männchen ist aufgestanden, nimmt mir seelenruhig

die Uhr aus der Hand. »Gib mir die Uhr. Sie gefällt mir.« »Kann ich nicht. Ist ein Familienstück.« »Kannst du nicht? Na, dann eben nicht.« Er holt aus und schleudert die Uhr gegen die Mauer. An­

schließend setzt er sich wieder in den Schatten, zieht die Beine unter sich.

»Warm heute, was?« Ich hebe wortlos die Uhr auf, schwinge meinen Spaten

und beginne zu pfeifen, weil ich sonst an meiner Wut er­sticken müßte.

Zuerst kommt der Fox von der lustigen Johanna. Dann folgt ein alter Tango zu Ehren der Rebecca, danach das »Warschauer Marschlied«. Als mir kein Schlager mehr einfällt, greife ich nach dem Repertoire von der Linken.

Ich bin gerade bei der Internationale angelangt, als ein langer Schatten über mich fällt und eine schwere Hand sich auf meinen Nacken legt.

Ich hebe den Kopf und erstarre. Über mir glänzt das breite, aufgedunsene Gesicht mit den gelben Flecken.

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Darüber zittert bedenklich ein Spatenstiel. Die makellosen weißen Streifen heben sich scharf von dem dunklen Grün der fernen Bäume ab. An der breiten Brust bibbert das rote Dreieck mit der Nummer 3277, kommt immer näher, scheint immer größer zu werden.

»Was pfeifst du da?« fragt der Kapo und schaut mir un­verwandt in die Augen.

»Das ist ein altes Lied, Herr Kapo, international be­kannt.«

»Kennst du das Lied?« »Ja – ein wenig – von verschiedenen Seiten …«, verbes­

sere ich vorsichtig. »Und kennst du das?« fragt er und fängt mit krächzender

Stimme die ›Rote Fahne‹ an. Er schmeißt den Spaten hin, in seinen Augen flackert ein gefährliches, unruhiges Feu­er. Plötzlich bricht er ab, hebt den Spaten auf, nickt ein paarmal, halb bedauernd, halb verächtlich: »Wenn das ein richtiger SS-Mann gehört hätte, wär’s aus mit dir. Aber der Jammerlappen da …«

Der Jammerlappen unter der Mauer grinst uns breit und gutmütig an.

»So was heißt bei euch Zwangsarbeit?« »Kommandoführer, einen ganzen Teich haben wir schon

mit Knochen vollgeschüttet, und was in die Weichsel ging, wissen weder Sie noch ich.«

»Halt die Fresse, Schweinehund!« fährt mich der SS-Mann an, steht auf und greift nach seiner Rute.

»Nimm die Leute und hau ab! Essen holen!« befiehlt der Kapo schnell.

Ich werfe meinen Spaten weg und flitze um das Häu­schen. Von weitem noch kann ich den Kapo hören:

»Ja, Schweinehunde sind das. Alle, einer wie der andere,

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III

erschlagen müßte man sie. Sie haben recht, Herr Kom­mandoführer.«

Ich werfe den beiden einen letzten, haßerfüllten Blick zu.

Wir gehen los. Die Straße führt nach Harmence und über Harmence hinaus. Die hohen Kastanien flüstern, das Laub ist dichter, noch grüner, aber irgendwie trockener. Es scheint zu knistern wie welke Blätter. Das ist der Schatten des Mittags.

Die Straße führt dicht an einem winzigen Haus mit grü­nen Fensterläden vorbei. Winzige, ungeschickt geschnitzte Herzen zieren die Läden, in den kleinen Fenstern strahlen weiße Vorhänge, schmale, bunte Bänder halten die Gardi­nen in der Mitte zusammen. Unter den Fenstern blühen blasse, zarte Kletterrosen. Von den Blumenkästen hängen sonderbare violette Blüten herab. Auf den niedrigen Stu­fen vor dem Häuschen spielt ein kleines Mädchen mit ei­nem großen, brummigen Hund. Das Spiel scheint ihm nicht viel Spaß zu machen, aber er läßt sich geduldig an den Ohren ziehen, nur ab und zu schnappt er gelangweilt nach einer allzu aufdringlichen Fliege. Das Mädchen trägt ein blütenweißes Kleidchen, die nackten, dicken Arme sind braungebrannt, sie glänzen in der Sonne. Der Hund ist ein Dobermann mit glatter, hellbrauner Kehle, das Mädchen ist die Tochter des Unterscharführers, des Haus­herrn in Harmence. Und die blassen Kletterrosen, die blü­tenweißen Gardinen, das ist sein Heim.

Bevor man auf die Straße gelangt, muß man einen brei­ten Streifen klebrigen, widerlichen Morasts überqueren.

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Erde vermischt mit Torf, und das Ganze mit einer stinken­den, desinfizierenden Lösung übergossen. Dieser Streifen soll Harmence gegen Seuchen schützen. Ich gehe vorsich­tig um den tiefen Dreck herum, dann klettern wir alle ge­meinsam über die Böschung und sind endlich auf der Straße. Hier oben stehen, in Reihen aufgebaut und peinlich ausgerichtet, die Suppenkessel. Jedes Kommando hat ei­gene Kessel, die mit Kreide beschriftet sind. Ich gehe um die Kessel herum. Unsere Kessel stehen noch da, heute haben wir es als erste geschafft, noch keiner hat uns unse­re Suppe geklaut. Heute sind wir dran, heute versuchen wir’s.

»Vier sind uns, geht in Ordnung, mitnehmen. Diese zwei Reihen sind für die Frauen, da gibt’s nichts. Aha, hier«, denke ich laut und schleife einen Kessel vom Nachbar­kommando heran. Dafür schiebe ich einen von unseren Kesseln zurück, er ist nur halb so groß. In meiner Hosen­tasche ist ein Stück Kreide, damit male ich neue Zeichen auf den vertauschten Kessel.

»Los!« kommandiere ich. Die Griechen haben mit offe­nen Mündern, aber mit offensichtlichem Beifall die ganze Prozedur verfolgt.

Das Nachbarkommando erscheint, nur noch einige zwanzig Meter entfernt.

»Du! Halt! Warte! Du hast die Kessel vertauscht!« brül­len sie schon von weitem.

»Wer hat dir was vertauscht? Halt die Fresse, Mann!« Sie haben Pech, denn wir sind heute die ersten gewesen.

Die anderen fangen zu laufen an, aber die Griechen haben verstanden. Sie stöhnen und ächzen, der eine schubst den andern, sie treiben sich gegenseitig an, ich höre die wohl­klingenden griechischen Worte »putare« und »porka«, aber die Kessel gelangen glücklich über den Streifen, der

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die Welt von Harmence trennt. Ich klettere als letzter über den Schlagbaum, höre noch, wie lobend und anerkennend sich die vom anderen Kommando über mich und meinen Stammbaum äußern, aber das alles stört mich nicht. Das ist unser täglicher Sport, es geht streng nach den Spielre­geln, und die heißen ganz eindeutig: Heute ich, morgen du.

Die Suppe schwappt in den Kesseln. Die Griechen stel­len alle paar Schritte die schwere Last ab, verschnaufen, japsen nach Luft wie Fische, die das Meer an den Strand gespült hat, wischen verstohlen über die Ränder der Kes­sel und lecken die heiße Flüssigkeit ab, die an ihren Fin­gern haftenbleibt. Ich kenne den Geschmack dieser dün­nen Rinnsale, die unter den angeschraubten Deckeln her­vordringen. Sie schmecken nach Staub, vermischt mit Dreck und dem Schweiß der Hände. Es ist noch gar nicht lange her, da habe ich selber diese Kessel geschleppt.

Wieder ein paar Meter, dann stellen die Griechen die Kessel abermals hin und schauen mich erwartungsvoll an. Ich trete langsam an den mittleren Kessel heran, lockere bedächtig die Deckelschraube, halte für eine endlose halbe Sekunde den Deckel fest und hebe ihn endlich hoch.

Die glühenden Augenpaare ringsum verlöschen. Bren­nessel. Dünnes, widerliches, weißliches Zeug schwappt im Kessel. Oben schwimmen ein paar gelbliche Fettaugen. Margarine. Aber alle kennen die Farbe, alle wissen, daß unter der dampfenden Oberfläche stinkige, faserige Sten­gel sind, unzerhackte Brennesseln, die mit ihrer schmut­ziggrünen Farbe an faulende Sümpfe erinnern. Von oben bis unten Wasser, nichts als Wasser … Für einen Augen­blick verdunkelt sich die Welt vor den Augen der Men­schen, die die schweren Kessel schleppen. Ich schraube den Deckel wieder fest. Schweigend tragen wir die Kessel hinunter.

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In einem großen Bogen gehe ich um das Feld herum, bis zur letzten Gruppe am äußersten Rand, mit der Iwan die Wiesennarbe am Kartoffelacker abträgt. Eine lange Reihe Menschen in gestreiften Anzügen steht reglos neben einem schmalen, dunklen Streifen Erde. Ab und zu bewegt sich eine Schaufel, jemand beugt sich vor, erstarrt für eine Weile mitten in seiner Bewegung, richtet sich langsam wieder auf, hebt den Spaten, verharrt in der halben Umdrehung, reglos und ungerührt wie ein Faultier. Nach einer Weile regt sich ein anderer, ein Spaten bewegt sich, dann versinkt alles in stumpfe Reglosigkeit. Es ist unheimlich, wie sie arbeiten, nicht mit den Händen, sondern mit den Augen.

Sobald ein SS-Mann oder ein Kapo am Horizont auf­taucht, sobald ein Aufseher erscheint, schwirren die Spa­ten schneller durch die Luft, wenn sie auch, so oft es eben geht, leer sind. Die Figuren bewegen sich abgehackt, es mutet an wie ein schlecht gedrehter Film.

Ich bin bis dicht an Iwan herangekommen. Er sitzt im Schatten, hält einen Hirtenstock und ist eifrig damit be­schäftigt, kleine Vierecke, Dreiecke, Blumen und Schlan­gen in die Holzrinde zu schneiden. Ab und zu fügen sich ukrainische Worte in das zierliche Ornament. Neben ihm kniet ein alter Grieche, und ich kann gerade noch den wei­ßen Hals einer Gans erspähen, die der Grieche in Iwans Tasche hineinstopft. Als Iwan mich erblickt, springt er auf und wirft blitzschnell seine Jacke über die Tasche.

Ich habe einen häßlichen Fleck auf der Hose, der Speck ist warm geworden.

»Von Fräulein Hanna«, sage ich nur. »Hat sie sonst was gesagt? Sie sollte mir Eier bringen.« »Sie dankt für die Seife. Hat sich sehr gefreut.« »Das glaube ich. Ich hab sie gestern von einem Kanada-

Juden gekauft. Drei Eier hab ich dafür gegeben.«

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IV

Iwan wickelt den Speck aus. Er sieht nicht sehr einla­dend aus, das fette Stück ist in der Wärme aufgeweicht, ist ziemlich ranzig und gelb. Mir wird schon vom Anblick übel, entweder habe ich zum Frühstück zuviel gegessen, oder sonst was, jedenfalls verspüre ich einen faden Ge­schmack im Mund.

»Verdammtes Biest! Ist das alles, was sie schickt? Hat sie dir keinen Kuchen mitgegeben?« Er sieht mich miß­trauisch an.

»Weißt du, Iwan, eigentlich hast du recht. Für die Seife hättest du mehr verdient. Ich hab sie gesehen.«

»So? Hast du das?« Iwan rutscht unbehaglich hin und her. »Ich muß gehen, die Leute tun sicher wieder nichts.«

»Ja, hab ich. Und du hast wirklich zu wenig dafür be­kommen. Hast mehr verdient, vor allem von mir. Und das kriegst du auch, verlaß dich drauf!«

Eine Weile blicken wir uns in die Augen.

Ganz oben an dem schmalen Rand des Grabens wächst Kalmus. Drüben, auf der anderen Seite, dort, wo der bärti­ge Posten mit dem blöden Gesicht steht, wachsen Himbee­ren. Sie haben blasse Blätter, als wären sie verstaubt. Un­ten im Graben fließt Wasser, sonderbare, glitschige Pflan­zen schimmern durch das trübe Wasser hindurch, ab und zu schlängelt sich ein erschrockener, kurzer, schwarzer Aal heraus. Die Griechen fischen ihn hastig aus dem Schlamm und essen ihn roh.

Ich stelle mich breitbeinig über den Graben und lasse

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meinen Spaten ganz langsam über den Grund gleiten. Da­bei muß ich aufpassen, daß meine Schuhe nicht naß wer­den. Der Posten kommt heran und sieht mir schweigend zu. Nach einer Weile fragt er:

»Was wird hier gemacht?« »Der Graben muß gesäubert werden.« »Woher hast du die schönen Schuhe?« Meine Schuhe sind wirklich wunderschön. Doppelte,

handgenähte Sohle und versierte Kappe nach der neuesten ungarischen Mode. Meine Freunde haben sie mir von der Rampe mitgebracht.

»Habe ich im Lager gekriegt. Und das Hemd auch«, ich zeige ihm stolz mein Seidenhemd, für das ich mindestens zwei Pfund Tomaten hergeben mußte.

»Solche Schuhe kriegt man bei euch? Schau, wie ich he­rumlaufen muß!«

Er zeigt mir seinen Fuß. Seine Schuhe sind verrunzelt und aufgesprungen, auf dem Blatt klebt ein großer Flicken.

Ich nicke verständnisinnig. »Willst du mir die Schuhe nicht verkaufen?« Ich sehe ihn an, mit großen, kindlich erstaunten Augen. »Wie kann ich etwas verkaufen, was dem Lager gehört?

Wie könnte ich?« Der Posten lehnt seinen Karabiner gegen die Bank und

kommt noch näher heran. Als er sich zu mir beugt, spie­gelt das Wasser seine dunkle, plumpe Gestalt wider. Ich steche mit meinem Spaten danach und zerstöre das Bild.

»Man kann alles, nur darf es keiner sehen. Kriegst Brot von mir, ich habe genug.«

Brot habe ich auch genug. Allein aus Warschau habe ich diese Woche sechzehn Laibe bekommen. Außerdem ko­

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sten solche Schuhe unter Brüdern mindestens einen halben Liter Schnaps. Ich lache ihn also an.

»Danke, aber Brot bekommen wir genug im Lager. Ich habe wirklich keinen Hunger. Brot und Speck habe ich genug. Wenn Sie aber zuviel Brot haben, Herr Posten, dann geben Sie etwas davon den Juden, die drüben am Graben arbeiten. Der Kleine dort, der das Gras trägt, das ist ein anständiger Kerl.«

Ich zeige ihm ein mageres, kleines Kerlchen mit triefen­den Augen.

»Obendrein sind die Schuhe nicht viel wert, schauen Sie, die Sohle reißt schon ab.«

Das stimmt, ein Stück Sohle klafft, aber das hat seinen Sinn. Der Zwischenraum zwischen den beiden Sohlen ist ein ideales Versteck, mal stecken ein paar Dollars drin, mal ein paar Mark, je nachdem, wie sich das gerade ergibt. Hie und da auch ein Brief. Die Augen des Postens haben sich zu schmalen Schlitzen verengt, er sieht mich unter zu­sammengezogenen Brauen an:

»Wofür hat man dich eigentlich eingesperrt?« »Ich ging über die Straße und geriet in eine Razzia. Und

da wurde ich festgenommen, eingesperrt und hergebracht. Völlig unschuldig.«

»Das sagt ihr alle.« »O nein, nicht alle. Mein Freund, zum Beispiel, wurde

eingelocht, weil er falsch gesungen hat. Verstehen Sie, Herr Posten, falsch gesungen.«

Mein Spaten, der über den Grund gleitet, ist an etwas Hartes gestoßen. Draht. Ich fluche wie ein Droschkenkut­scher, der Posten glotzt mich dämlich an.

»Was? Falsch gesungen?« »Ach das … Ja, das ist eine lange Geschichte … Das

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war noch in Warschau, in der Kirche. Die andern haben Kirchenlieder gesungen und mein Freund die National­hymne. Und da haben sie ihn eingesperrt, weil er falsch gesungen hat. ›Du wirst erst wieder entlassen‹, haben sie zu ihm gesagt, ›wenn du die Noten gelernt hast.‹ Geschla­gen haben sie ihn auch, aber das hilft alles nichts, wahr­scheinlich wird er bis Kriegsende sitzen müssen, denn er ist schrecklich unmusikalisch. Einmal hat er sogar einen deutschen Marsch mit einem Marsch von Chopin ver­wechselt.«

Der Posten brummt etwas Unverständliches und geht zu­rück zu seiner Bank. Er setzt sich hin, nimmt seinen Kara­biner, spielt mit dem Verschluß und repetiert. Dann hebt er den Kopf, offenbar ist ihm plötzlich etwas eingefallen.

»Du, Warschauer, komm mal her, ich geb dir das Brot für die Juden.«

Ich grinse ihn an, freundlicher kann ich bald wirklich nicht mehr.

Drüben, auf der anderen Seite des Grabens, läuft der To­desstreifen. Dort dürfen die Posten ohne Warnung auf die Menschen schießen. Pro Kopf kassieren sie fünf Mark und drei Tage Urlaub.

»Wir dürfen leider nicht hin, Herr Posten. Aber Sie kön­nen mir das Brot herüberwerfen, ich fange es ganz be­stimmt.«

Ich stehe da und warte. Aber der Posten läßt ganz plötz­lich seinen Brotbeutel fallen, schnellt hoch und meldet ei­nem vorbeikommenden Wachtkommandanten, daß »nichts Besonderes« vorgefallen sei.

Neben mir arbeitet Janek, ein Warschauer Junge, der von dem Ganzen, was um ihn herum vorgeht, nichts versteht. Er hat ein sanftes, kindliches Gemüt, völlig unbelastet von irgendwelchen Gedankengängen. Er schuftet, sein Spaten

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befördert riesige Klumpen glitschigen Schlamms direkt vor die Füße des Postens.

Der Postenführer kommt heran und sieht uns an, wie man Pferde ansieht, die einen schweren Wagen ziehen, oder wie man weidendes Vieh auf einer Wiese mustert. Janek grinst ihn breit und freundlich an und erklärt:

»Der Graben ist sauber, Herr Rottenführer. Er war schauderhaft verschlammt.«

Der Rottenführer zuckt zusammen. Er blickt Janek so er­staunt an, als hätte tatsächlich ein Zugpferd gesprochen oder eine Kuh einen Tango gesungen.

»Komm mal her!« fordert er Janek auf. Janek legt seinen Spaten hin, springt über den Graben

und geht zu ihm. Der Rottenführer holt aus und schlägt Janek mit voller Wucht ins Gesicht. Janek taumelt, ver­sucht, an einem Strauch Halt zu finden, aber seine Füße rutschen auf dem Schlamm aus, und er fällt ins Wasser. Das Wasser spritzt auf, ich verschlucke mich vor La­chen.

Der Rottenführer sagt: »Es geht mich einen Scheißdreck an, was du machst.

Von mir aus brauchst du gar nichts zu tun. Aber wenn du mit einem SS-Mann sprichst, nimm deine Mütze ab und halte deine Pfoten an die Hosennaht.«

Er geht weiter, ich ziehe Janek aus dem Schlamm. »Warum hat er mich geschlagen? Was hab ich falsch

gemacht?« Er versteht nichts, er wird nie verstehen. »Geh nicht zu deinem Fürst, bevor du nicht gerufen

wirst«, sage ich kurz. »Und mach dich jetzt sauber.« Wir sind beinahe fertig mit dem Graben, als der Pipel,

der junge Laufbursche vom Kapo, kommt. Ich greife nach meinem Brotbeutel, hole zuerst mein Brot, Speck und

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Zwiebel heraus, dann eine Zitrone. Von drüben schaut mir der Posten schweigend zu.

»Pipel, komm her. Ich hab was, du weißt, für wen.« »Ist gut, Tadek. Hör mal, hast du was zu essen dabei?

Etwas Süßes. Oder Eier. Nein, nein, Hunger hab ich nicht, ich hab im Hof gegessen. Fräulein Hanna hat mir ein paar Rühreier gemacht. Prima Mädchen, die Hanna! Nur will sie alles über Iwan wissen. Du weißt ja, wenn der Kapo auf den Hof geht, kriegt er nichts.«

»Soll er nicht schlagen, dann kriegt er auch was.« »Sag’s ihm doch!« »Wofür hat er dich? Aber du verstehst nichts davon.

Schau dich doch um, andere fangen Gänse und braten sie abends im Block, und dein Kapo frißt Wassersuppe. Ha­ben ihm gestern die Brennesseln gut geschmeckt?«

Der Pipel blickt mich fragend an. Er ist noch jung, aber sehr gerissen. Nur vom Organisieren versteht er of­fenbar nichts. Ist ein Deutscher, erst sechzehn, war aber schon in der Armee. Er schmuggelte, deswegen ist er hier.

»Tadek, sag, was los ist. Wir kennen uns doch. Auf wen willst du mich hetzen?«

»Ich? Auf gar niemanden. Aber schau dich gut nach den Gänsen um!«

»Du, gestern ist wieder eine Gans verschwunden. Der Kapo hat deswegen vom Unterscharführer eins in die Fresse gekriegt, aus lauter Wut hat ihm der Chef auch noch die Uhr abgeknöpft. Also gut, ich schau mal.«

Wir gehen miteinander, es ist Mittagspause. Die an den Kesseln pfeifen und winken wie wahnsinnig mit den Ar­men. Überall stecken Spaten in der Erde. Von allen Seiten des Feldes kommen Leute her, langsam und schleppend,

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V

jeder versucht, den langersehnten Augenblick vor dem Es­sen noch etwas zu verlängern.

Es ist ein herrliches Gefühl, ein Hochgenuß, zu wissen, daß man jetzt gleich, sofort, seinen Hunger stillen kann.

Iwan und seine Gruppe kommen als letzte. Iwan bleibt bei »meinem« Posten stehen, beide sprechen

lange miteinander. Der Posten hebt den Arm, zeigt etwas, Iwan nickt. Die Rufe zwingen ihn weiterzugehen. Als er an mir vorbeikommt, brummt er:

»Heute fängst du nichts mehr.« »Ist noch lange bis zum Abend«, sage ich. Er sieht mich gehässig und herausfordernd an.

Im leeren Inkubator wischt der Pipel die Stühle ab, legt die Bestecke zurecht und deckt den Tisch. In der Ecke krümmt sich der Kommandoschreiber, ein Altsprachler, der sich auf Griechisch spezialisiert hatte. Er versucht, so wenig wie möglich aufzufallen, aber sein krebsrotes Ge­sicht und seine wässerigen Froschaugen sind schon von weitem zu sehen.

Draußen, auf einem großen, viereckigen Platz, den ein hoher Erdwall säumt, sitzen die Gefangenen. Sie sitzen genauso, wie sie gestanden haben, ausgerichtet in Reihen zu fünf Mann und aufgeteilt in Gruppen. Sie haben die Beine gekreuzt, ihre Arme hängen schlaff am Körper her­ab, die Hände berühren den Boden. Während der Es­sensausgabe dürfen sie sich nicht bewegen. Später, nach dem Essen, können sie sich nach hinten legen, den Kopf

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auf die Knie des Hintermannes stützen, aber wehe ihnen, wenn die ausgerichteten Reihen durcheinandergeraten.

Etwas abseits, im Schatten des Erdwalles, sitzen die SS-Männer, nachlässig auf die Ellbogen gestützt, die Maschi­nenpistolen auf den Knien. Sie haben Brot und Margarine aus ihren Brotbeuteln genommen, streichen bedächtig die Schnitten und essen langsam und feierlich. Rubin, ein Jude aus dem Kanada-Kommando, hockt neben einem der SS-Männer, leise und eindringlich redet er auf ihn ein. Es ist eine rein geschäftliche Unterhaltung, der Jude verhandelt für sich und seinen Kapo. Der Kapo selbst, ein Riese mit rotem Gesicht, steht schweigend neben dem Kessel.

Wir flitzen mit den Suppenschüsseln hin und her, die be­sten Kellner könnten nicht geschickter sein als wir. In atemloser Stille verteilen wir das Essen, in atemloser Stille winden wir die leeren Schüsseln aus den Händen, die sie krampfhaft festhalten, auch dann noch, wenn der letzte Tropfen längst verschwunden ist. Jeder versucht, den seli­gen Augenblick des Essens zu verlängern, nochmals die leere Schüssel auszulecken, nochmals mit dem Finger über den schon trockenen Rand zu fahren.

Plötzlich springt der Kapo mit einem einzigen Satz vom Kessel weg und mitten in die Reihen. Er hat etwas gese­hen: Dem Mann, der seine Schüssel ausgeleckt hat, ver­setzt er einen fürchterlichen Tritt ins Gesicht, noch im Umdrehen tritt er ein zweites Mal nach ihm, diesmal in den Bauch. Endlich geht er zurück, stapft achtlos über Hände und Knie, weicht aber vorsichtig denen aus, die ge­rade essen.

Alle Augen hängen am Gesicht des Kapos. Zwei Kessel stehen noch da, es gibt Nachschlag. Jeden Tag genießt der Kapo diesen Augenblick, es ist sein heiliges Recht, diese Macht über Menschen auszuüben, und er hat sie mit zehn langen Jahren bezahlt, die er schon im Lager sitzt. Mit

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dem Ende des Kochlöffels zeigt er auf die, die Nachschub bekommen sollen. Er irrt sich nie. Nur die, die besser ar­beiten, die Kräftigeren, die Gesünderen erhalten einen zweiten Schlag.

Ein kranker, ein schwacher Mensch hat kein Recht auf eine weitere Schüssel Brennesselsuppe. Es darf kein Trop­fen verschwendet werden, nicht an Leute, die sowieso in den Kamin wandern werden.

Den Vorarbeitern stehen von Amts wegen zwei Schüsseln Kartoffelsuppe mit Fleisch zu, ganz tief aus dem Kessel ge­schöpft. Mit der Schüssel in der Hand blicke ich unschlüs­sig um mich. Ich spüre, wie mich jemand durchdringend ansieht. In der ersten Reihe sitzt Beker, seine vorstehenden Augen hängen an der Schüssel in meiner Hand.

»Hier, iß, hoffentlich wird dir schlecht davon.« Er nimmt schweigend die Schüssel und fängt an, die

Suppe hinunterzuschlingen. »Stell die Schüssel nachher neben dich, damit sie der Pi­

pel einsammeln kann, sonst kriegst du vom Kapo eine ge­schmiert.«

Die zweite Schüssel bekommt Andrej. Er arbeitet imGarten und bringt mir immer ein paar Äpfel mit.

»Rubin, was hat der Posten gesagt?« frage ich im Vor­beigehen. Ich will in den Schatten.

»Der Posten sagt, sie haben Kiew genommen«, sagt Ru­bin leise.

Ich bleibe verwundert stehen, aber Rubin drängt mich mit ungeduldigen Handbewegungen weiter. Also gehe ich in den Schatten, lege mich auf meine Jacke, damit ich mir das Seidenhemd nicht beschmutze, und schicke mich an, ein Nickerchen zu machen. Jeder ruht sich aus, so gut es eben geht.

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Der Kapo ist zum Inkubator gegangen, hat zwei Schüs­seln Suppe gegessen und sich ebenfalls aufs Ohr gelegt. Sobald er eingeschlafen ist, fischt der Pipel ein schönes Stück Schweinefleisch aus der Tasche, schneidet es in dicke, gleichmäßige Scheiben und legt sie aufs Brot. Er ißt ostentativ vor den Augen der hungrigen Menge, beißt in eine Zwiebel, wie wenn es ein Apfel wäre.

Die Menschen auf dem Platz haben sich auch hingelegt, sie schlafen, die Köpfe mit den Jacken zugedeckt, den schweren, unruhigen Schlaf der Erschöpfung.

Wir liegen im Schatten. Uns gegenüber lagert das Mäd­chenkommando. Alle haben schneeweiße Kopftücher. Von weitem rufen sie zu uns herüber, geben uns Zeichen. Hie und da antwortet einer, mit Nicken, mit Gesten, einige der Botschaften kann man verstehen.

Eins der Mädchen kniet abseits von den anderen. Sie hat die Arme hochgestreckt und balanciert einen schweren, großen Balken über dem Kopf. Der SS-Mann, der das Kommando bewacht, hetzt jeden Augenblick seinen Hund auf das Mädchen. Die Leine spannt sich, das Tier springt wütend an der Knienden hoch und hechelt ihr ins Gesicht.

»Eine Diebin?« frage ich ohne sonderliches Interesse. »Nein. Man hat sie mit Peter im Mais ertappt. Peter ist

davongelaufen«, sagt Andrej. »Hält sie die fünf Minuten durch?« »Aber ja. Die ist stark wie ein Pferd.« Sie hält nicht durch. Ihre Arme knicken ein, der Balken

fällt zu Boden, und das Mädchen wirft sich laut auf­schluchzend mit dem Gesicht auf die Erde.

Andrej wendet sich ab, sieht mich an. »Hast du eine Zigarette, Tadek? Schade um das Mäd­

chen! Wieder ein Menschenleben.«

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Dann zieht er sich die Jacke über den Kopf, streckt sich hin und schläft ein. Ich bin auch gerade am Einnicken, als mich Pipel hochreißt.

»Kapo ruft nach dir. Vorsicht, er hat eine Stinkwut!« Der Kapo ist wach, er reibt sich die geröteten Augen und

stiert ins Leere. »Du!« Sein Zeigefinger bohrt sich drohend in meine

Brust. »Warum hast du deine Suppe weggegeben?« »Ich habe genug anderes zu essen.« »Was hat er dir dafür gegeben?« »Nichts.« Er wiegt ungläubig den dicken Kopf. Die schweren Kie­

fer mahlen. »Morgen kriegst du überhaupt keine Suppe. Deine Sup­

pe bekommen die andern, die überhaupt nichts zu essen haben. Kapiert?«

»Ist gut, Kapo.« »Warum hast du mir nicht die vier Tragbahren gemacht,

wie ich dir befohlen habe?« schnauzt er mich an. »Hast du das vergessen?«

»Nein. Aber ich kam nicht dazu. Sie haben doch selbst gesehen, was ich getan hab.«

»Gut. Machst du gleich nach dem Mittagessen. Und paß auf, daß man dich nicht tragen muß auf einer der Bahren. Ich besorge das ganz gern.«

»Kann ich wieder gehen?« Erst jetzt blickt er mich an. Sein Blick ist leer. Er sieht

aus wie jemand, den man unvermittelt aus tiefen Gedan­ken gerissen hat.

»Was willst du hier noch?« fragt er mich.

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VI

Unter den Kastanien ertönt das halberstickte Schreien ei­nes Menschen. Ich packe mein Werkzeug zusammen, lege die Tragbahren aufeinander und ermahne Janek:

»Vergiß nicht den Kasten mitzunehmen, sonst wird Mut­ti böse.«

Dann gehe ich zu den Kastanien. Beker liegt dort, wälzt sich auf der Erde, röchelt und

spuckt Blut. Über ihm wütet Iwan, tritt ihn mit Füßen, in den Bauch, ins Gesicht, in den Unterleib …

»Schau, was das Schwein gemacht hat! Dein Mittag­essen hat er aufgefressen, der Dieb, der verdammte!«

Neben Beker liegt die Schüssel von Fräulein Hanna, ein bißchen Grütze ist noch drin.

»Ich hab ihn mit der Fresse in die Schüssel gestoßen«, erklärt Iwan, und sein Atem geht schwer. »Mach ihn fer­tig, ich muß weiter.«

»Wasch die Schüssel aus«, sage ich zu Beker. »Und stell sie unter den Baum. Und paß auf, daß dich der Kapo nicht erwischt. Ich habe eben vier Tragbahren fertig gemacht, du weißt, was das bedeutet.«

Ein Stück weiter weg auf der Straße exerziert Andrej mit zwei Juden. Der Kapo hat sie beinahe totgeschlagen, weil sie nicht marschieren können. Jetzt muß es ihnen Andrej beibringen, so hat es der Kapo befohlen. Andrej hat jedem der beiden einen Stock ans Bein gebunden und erklärt mühsam: »Siehst du, du Teufelsbraten, so ist es, ganz ein­fach, das ist links und das ist rechts. Links! Links!«

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Die Griechen marschieren mit, die Augen weit aufgeris­sen, immer im Kreis herum. Eine dichte Staubwolke wir­belt durch die Luft.

Am Graben, dort wo der dumme Posten steht, der mich nach den Schuhen fragte, arbeiten unsere Jungen. Sie »planieren« den Boden, schlagen ihn mit den Spaten fest und glätten die Oberfläche, als wäre es Teig. Wenn einer darübergeht und Spuren hinterläßt, erhebt sich ein aufge­regtes Geschrei.

»Tadek, was gibt’s Neues?« »Nicht viel. Kiew haben sie genommen.« »Ist das wahr?« »Dumme Frage!« Laut schreiend gehe ich vorüber und weiter am Graben

entlang. Plötzlich ruft eine Stimme hinter mir her: »Halt! Halt! Du, Warschauer!« Nach einer Weile ruft die

Stimme wieder, diesmal unerwarteterweise auf Polnisch: »Stoj! Stoj!« Auf der anderen Seite des Grabens läuft »mein Posten«

hinter mir her, er hält den Karabiner gesenkt, wie beim Sturmangriff.

Ich bleibe stehen. Der Posten bahnt sich einen Weg durch das Gestrüpp, legt den Karabiner an, entsichert. »Was hast du eben gesagt wegen Kiew? Ihr habt hier be­stimmt eine Geheimorganisation! Deine Nummer!«

Der Posten zittert vor Wut und Empörung. Er zieht ein Stück Papier aus der Tasche, sucht nach einem Bleistift, findet keinen, die Suche dauert ewig.

Ich fühle, wie mir der Schweiß ausbricht, aber schon ha­be ich mich wieder gefaßt.

»Entschuldigen Sie, Herr Posten, aber Sie verstehen nicht genug Polnisch. Ich habe eben von etwas ganz ande­

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rem gesprochen. Von Kije – nicht Kiew. Kije bedeutet die Stöcke, Andrej hat den Juden Stöcke an die Beine gebun­den. Und das finde ich köstlich.«

»Ja, Herr Posten«, meldet sich der Chor der Stimmen be­reitwillig. »Das hat er eben gesagt.«

Der Posten packt den Karabiner fester, es sieht aus, als wollte er mir damit den Schädel einschlagen.

»Verrückter Hund! Ich melde dich heute noch bei der politischen Abteilung. Nummer? Deine Nummer!«

»Hundertneunzehn! Hundert …« »Zeig her!« »Hier!« Ich strecke ihm über den Graben meinen Arm entgegen,

auf dem die Nummer eintätowiert ist. Ich weiß, daß er sie auf die Entfernung nicht lesen kann.

»Komm näher!« »Ich darf nicht. Sie können mich melden, aber ich bin

nicht der ›Weiße Wania‹.« Der »Weiße Wania« war vor Tagen auf einen Baum ge­

klettert, um ein paar Zweige herunterzuholen. Für Birken­besen bekommt man im Lager Brot oder Suppe. Nur wuchs die Birke schon am Todesstreifen, und ein Posten legte an und schoß. Die Kugel traf Wania seitwärts in die Brust und flog im Nacken wieder heraus. Wir haben Wa­nia dann ins Lager tragen müssen.

Ich gehe wütend davon, aber schon am Kohlenhaufen holt mich Rubin ein.

»Tadek, was hast du bloß getan? Was wird nun werden?« »Was soll denn werden?« »Wirst du nicht sagen, daß ich …« Er ist ganz außer

sich. »Da hast du uns was eingebrockt! Wie kann man nur

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so brüllen?« Er schlotterte vor Angst. »Willst du mein Grab schaufeln?«

»Warum hast du Angst? Bei uns petzt man nicht.« »Ich weiß, und du weißt. Aber sicher ist sicher. Du,

willst du die Schuhe nicht doch dem Posten geben? Er wird sicher mit sich reden lassen. Ich kann’s versuchen. Soll ruhig was kosten. Ich hab schon früher mit ihm ver­handelt.«

»Wunderbar. Hättst du auch gleich sagen können.« »Tadek, ich sehe schwarz. Gib die Schuhe her, ich werde

mit ihm reden. Er ist ein prächtiger Kerl, wenn’s drauf an­kommt.«

»Kann sein, er lebt mir nur zu lange. Meine Schuhe gebe ich auf keinen Fall her, die sind mir zu schade. Aber eine Uhr habe ich. Sie geht zwar nicht, und das Glas ist ge­sprungen, aber dafür bist du ja da. Oder noch besser, gib ihm deine Uhr, hat dich ja nichts gekostet.«

»Ach, Tadek, Tadek …« Rubin steckt die Uhr ein, ich höre von weitem: »Eisenbahner!« Ich renne quer übers Feld. Das Gesicht des Kapos ist rot

angelaufen, seine Augen funkeln drohend, in seinen Mundwinkeln steht Schaum. Seine langen, riesigen Hände baumeln an seinem Körper herab, die Finger ballen sich zur Faust und strecken sich wieder wie im Krampf.

»Was für ein Geschäft hast du da mit Rubin gemacht?« »Ich hab ihm meine Uhr gegeben. Sie haben es doch ge­

sehen, Kapo, Sie sehen ja immer alles.« »Was?« Die Riesentatzen heben sich zu meinem Hals.

Ich bin zu Stein erstarrt. Der Kerl ist wie ein wildes Tier. Ich lasse kein Auge von ihm, die Worte sprudeln mir von den Lippen: »Ich hab meine Uhr hergegeben, weil mich

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der Posten bei der Politischen anzeigen will wegen Ge­heimarbeit.«

Ganz langsam öffnen sich die Hände des Kapos, die Arme erschlaffen. Sein Unterkiefer hängt leicht herunter, er sieht aus wie ein Hund, dem es zu heiß ist. Er hört mir zu, der Stiel seines Spatens baumelt unschlüssig hin und her.

»Geh an die Arbeit. Kann sein, daß man dich heute zu­rücktragen muß.«

Im gleichen Augenblick springt er blitzschnell zur Seite und steht stramm. Ein Fahrrad hat ihn von hinten angefah­ren. Ich ziehe meine Mütze. Der Unterscharführer steigt von seinem Fahrrad ab.

»Was ist denn schon wieder los bei diesem verrückten Kommando? Warum laufen die Kerle dort drüben mit Stöcken an den Füßen herum?« Er ist so aufgeregt, daß sich seine Stimme fast überschlägt. »Ist doch Zeit zum Arbeiten!«

»Sie können nicht marschieren.« »Wenn sie nicht marschieren können, soll man sie töten.

Wissen Sie, daß wieder eine Gans verschwunden ist?« »Warum stehst du noch rum?« brüllt mich der Kapo an.

»Los! Lauf zum Andrej, er soll Ordnung schaffen!« Ich schieße davon. »Andrej, Schluß damit, der Kapo hat’s befohlen!« Andrej faßt seinen Knüppel. Der Grieche heult auf und

fällt. Andrej legt ihm den Knüppel quer über den Hals, stellt sich drauf und fängt an zu wippen.

Ich gehe schnell weiter. Von weitem sehe ich, wie der Kapo mit dem SS-Mann zu

meinem Posten geht und lange mit ihm redet. Der Kapo gestikuliert wild mit dem Stiel seines Spatens. Die Mütze

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hat er sich wieder auf den Kopf gestülpt. Als die beiden endlich weg sind, geht Rubin zu dem Posten. Der steht von seiner Bank auf, macht zwei Schritte zum Graben, geht endlich ganz nahe ran. Nach einer Weile winkt mir Rubin:

»Bedank dich beim Herrn Posten, daß er keine Meldung machen wird.«

Rubins Handgelenk ist leer, die Uhr ist verschwunden. Ich bedanke mich und gehe davon, in Richtung Werkstatt. Unterwegs hält mich der alte Grieche an, der von Iwan.

»Camarade, camarade, der SS, das ist der aus dem Lager, nicht wahr?«

»Ja, und?« »Dann stimmt es also, daß heute wieder gesiebt wird?« Der alte, graue Grieche hebt in einer sonderbar anmu­

tenden Erregung beide Arme gegen den Himmel. »Nous sommes les hommes misérables, O Dieu, Dieu!«

Seine blauen, blassen Augen blicken in den Himmel. Auch der Himmel ist blau und blaß.

VII

Wir müssen den Waggon anheben. Vollbeladen mit Sand, wie er war, sprang er aus dem Gleis, direkt bei der Dreh­scheibe. Vier Paar magere Arme schieben den Waggon hin und her, schaukeln die Lore vor und zurück, heben die Vorderräder an, stellen sie aufs Gleis. Wir schieben etwas unter die Räder, der Waggon ist fast schon wieder auf den Schienen. Da! Plötzlich lassen wir den Waggon stehen und recken die Hälse.

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»Appell! Antreten!« Rufe und Pfiffe. Die Lore ist wieder vom Gleis gerutscht, der Sand rieselt

heraus, direkt auf die Drehscheibe. Aber das ist jetzt egal, das kann man morgen wieder aufräumen.

Wir gehen, wir müssen antreten. Erst nach einer Weile fällt uns ein, daß es eigentlich noch viel zu früh ist. Die Sonne steht hoch, sie muß noch ein ganzes Stück an dem Baum hinaufwandern, an dessen Spitze sie sonst steht, wenn wir antreten. Es kann höchstens drei Uhr sein.

Die Gesichter zeigen Unruhe, in aller Augen steht die gleiche bange Frage. Wir stellen uns auf, zu fünft, richten die Reihen aus, zupfen unsere Beutel und Schnallen zu­recht.

Der Schreiber zählt und zählt, immer wieder. Vom Hof her kommen die SS-Männer und unsere Posten.

Sie stellen sich rings um uns auf. Wir warten regungslos. Am Ende der Reihen erblicken wir zwei Tragbahren, dar­auf zwei Tote.

Auf der Straße ist es etwas lebhafter geworden als sonst. Die Menschen aus Harmence laufen hin und her, unser Aufbruch zu so ungewohnter Stunde hat sie beunruhigt. Den Lagerveteranen ist die Situation klar. Das alles kann nur eins bedeuten: Es wird gesiebt.

Gleich hinter den SS-Männern kommt der Kapo, mit ihm der Kommandoführer.

Ich sehe das helle Kopftuch von Fräulein Hanna leuch­ten. Sie steht an der Scheune, lehnt sich mit dem Rücken gegen die Mauer und blickt fragend zu uns herüber. Ich folge ihrem Blick, der ängstlich auf Iwan gerichtet ist.

»Auseinandertreten! Arme hochheben!« kommandiert der Kapo.

Da begreifen wir: Revision!

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Wir knöpfen unsere Jacken auf, schnallen die Brotbeutel los. Der SS-Mann ist geschickt und schnell. Er tastet uns ab, greift in die Beutel.

Außer Brot und Zwiebeln und einem Stückchen altem Speck habe ich noch ein paar Äpfel im Beutel, zweifellos aus dem Obstgarten.

»Woher hast du die?« Ich hebe den Kopf, »mein« Posten! »Aus einem Päckchen, Herr Posten.« Er schaut mir einen Augenblick lang ironisch in die Augen.

»Dieselbe Sorte Äpfel hatte ich heute zum Mittagessen.« Sie fischen alles mögliche aus unseren Taschen. Son­

nenblumenkerne, Maiskolben, Krautköpfe, Äpfel, Gemü­se. Jeden Augenblick ertönt ein erstickter Schrei. Hiebe und Schläge prasseln auf uns nieder.

Plötzlich tritt der Unterscharführer heran, springt zwi­schen uns und zerrt den alten Griechen mit der prall ge­füllten Tasche aus der Reihe.

»Mach auf!« befiehlt er knapp. Der Grieche öffnet mit zitternden Händen die Tasche. Der SS-Mann schaut hinein und ruft den Kapo. »Kapo! Schau her! Unsere Gans.« Er zieht die riesige Gans aus der Tasche. Der Pipel ist auch da, er schreit: »Da! Hab ich’s nicht gesagt?« Der Kapo holt aus, aber der SS-Mann fällt ihm in den

Arm. »Nicht schlagen!« Er zieht seinen Revolver und richtet die Waffe auf den

Griechen. »Woher hast du das? Wenn du nicht redest, erschieße ich

dich.«

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Der Grieche sagt kein Wort. Der SS-Mann hebt die Waf­fe höher.

Ich schaue Iwan an. Er ist leichenblaß. Unsere Augen treffen sich. Da beißt Iwan die Zähne zusammen und tritt aus der Reihe heraus. Er geht die paar Schritte, die ihn von dem SS-Mann trennen, nimmt seine Mütze ab und sagt:

»Ich habe ihm die Gans gegeben.« Alle Augen wenden sich zu Iwan. Der Unterscharführer

hebt langsam die Peitsche und schlägt zu. Iwans Gesicht färbt sich rot, das Blut rinnt in dünnen Strömen, Iwan ver­zieht vor Schmerz das Gesicht, aber er fällt nicht. Wie eine Statue steht er, hoch aufgerichtet, die Mütze in der Hand, beide Arme an den Seiten.

Der Unterscharführer läßt den Arm sinken. »Nummer aufschreiben, Meldung erstatten. Kommando

weggetreten!« Wir gehen, mit gleichmäßigen, militärischen Schritten.

Hinter uns bleibt ein großer Haufen Gemüse, Sonnenblu­menkerne, Äpfel, Fetzen und Beutel, obendrauf liegt eine große, dicke Gans mit weißem Hals und breiten Flügeln. Am Ende des Kommandos geht Iwan, keiner stützt ihn, er geht stramm und gleichmäßig wie alle andern. Hinter ihm schwanken die beiden Tragbahren mit den Toten. Die Träger haben sie mit grünem Laub zugedeckt.

Als wir an Fräulein Hanna vorbeikommen, blicke ich sie an. Sie steht stumm da und hat die Hände gegen die Brust gedrückt, ihre Lippen beben. Als sie mich anschaut, sehe ich Tränen in ihren großen dunklen Augen schimmern.

Nach dem Appell hat man uns in die Baracke getrieben. Wir liegen auf unseren Pritschen, spähen durch die Spalte und warten, bis alles vorüber ist.

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»Ich hab das Gefühl, als hätte ich das ganze Theater ver­schuldet. Jedes Wort kann hier ein Schicksal bedeuten. In diesem verfluchten Auschwitz hat jeder böse Wunsch die Macht, sich zu erfüllen.«

»Sei still und mach dir nichts draus«, mahnt Kaziek. »Gib mir lieber noch etwas, sonst schmeckt die Pastete nach gar nichts. Hast du keine Tomaten?«

»Alle Tage ist nicht Sonntag.« Ich schiebe die belegten Brötchen zurück. »Ich kann nicht essen.« Draußen ist die Auslese getroffen. Der SS-Arzt hat die

Listen mit den Nummern mitgenommen und geht nun wei­ter, zur nächsten Baracke. Kaziek steht auf.

»Ich gehe Zigaretten holen. Weißt du, Tadek, eigentlich bist du ein Schlappschwanz. Wenn mir jemand mein Mit­tagessen weggefressen hätte, aus dem hätte ich Hack­fleisch gemacht.«

Im gleichen Augenblick taucht ein großer, grauer Kopf am Rand unserer Pritsche auf. Verlegen blinzelnde Augen sehen uns an. Erst danach erscheint das zerknitterte, alte Gesicht von Beker.

»Tadek, ich habe eine Bitte.« »Los!« »Tadek, ich komme in den Kamin.« Ich neige den Kopf und blicke ihm in die Augen. Sie

sind leer und friedlich. »Tadek, ich war so lange hungrig. Gib mir etwas zu es­

sen, am letzten Abend.« Kaziek schlägt mir mit der flachen Hand aufs Knie. »Kennst du ihn?« »Das ist Beker«, sage ich leise.

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»Du, Jud, komm hier herauf und friß! Wenn du genug gegessen hast, nimmst du den Rest mit für den Schorn­stein. Komm hier herauf. Das ist nicht meine Koje. Mei­netwegen darfst du Läuse haben.«

Er dreht sich nach mir um. »Komm, Tadek, gehen wir. Ich hab einen Kuchen in

meiner Bude, so was haste noch nie gegessen. Direkt von der Mutti!«

Er klettert von der Pritsche herunter und stößt mich mit der Schulter an.

»Schau mal!« Ich drehe mich um. Beker hält die Augen geschlossen

und tastet sich wie ein Blinder auf die Pritsche.

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BITTE, DIE HERRSCHAFTEN ZUM GAS!

Im Lager liefen alle nackt herum. Wir hatten zwar die Ent­lausung bereits hinter uns, und auch die Kleider waren uns wieder zurückgegeben worden, nachdem man sie sorgfäl­tig in den riesigen Bottichen geschwenkt hatte, die mit je­nem hervorragenden Mittel gegen Ungeziefer aller Art ge­füllt waren, das Läuse in Kleidern genauso erfolgreich vertilgt wie Menschen in Gaskammern. Aber die in den Baracken drüben, hinter den Spanischen Reitern, hatten keine Kleider bekommen. So liefen eben alle nackt, die drüben und wir hüben. Die Hitze war kaum noch zu ertra­gen. Keine Laus und kein Mensch durften das Tor passie­ren, das Lager war hermetisch abgeschlossen. Die Ar­beitskommandos hatten ihre Tätigkeit eingestellt. Tausen­de nackter Menschen lungerten den ganzen Tag über auf den Appellplätzen herum, wälzten sich über die Wege, la­gen unter den Mauervorsprüngen und auf den Dächern. Strohsäcke und Decken waren in der Desinfektion, man schlief auf kahlen Brettern.

Von der letzten Baracke aus war das Frauenlager zu se­hen. Auch dort wurde fleißig entlaust. Achtundzwanzig­tausend nackte Frauen hatte man aus den Baracken hin­ausgejagt, sie trieben sich draußen herum, entlang der Wege und auf den großen Plätzen.

Seit dem frühen Morgen wartet man auf das Mittag­essen. Man stochert in den Freßpaketen herum, besucht sich gegenseitig. Die Stunden vertropfen träge, in der Hit­ze scheint sogar die Zeit stillzustehen. Es gibt nicht einmal die üblichen Spektakel, die breiten Wege zum Krematori­

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um dösen verlassen vor sich hin. Seit einigen Tagen kom­men keine Transporte mehr. Das Kanada-Kommando wurde zum Teil aufgelöst und einem anderen Kommando zugeteilt. Weil die Männer bereits so fett und vollgefres­sen waren, hatte man sie zu schwererer Arbeit abgestellt, hatte sie nach Harmence geschickt.

Eine unerbittliche, gnadenlose Gerechtigkeit herrscht im Lager. Wenn die Einflußreichen fallen, sorgen die Freunde dafür, daß sie auch tief genug fallen.

Kanada, unser Kanada, duftet nicht nach Harz und wür­zig blauer Luft, hier riecht es nach französischen Parfüms; und die Tannen im wirklichen Kanada können nicht höher sein als die Berge von Gold und Brillanten, die man hier aus ganz Europa zusammengetragen und aufgetürmt hat.

Ein paar von uns sitzen auf der Pritsche, unsere Beine baumeln trostlos herunter. Nachdenklich drehen wir unse­re Brotschnitten in den Händen. Weißes, besonders stark ausgebackenes Brot. Es bröckelt und bricht, ist vielleicht eine Spur zu scharf im Geschmack, dafür aber hält es sich ganze Wochen, ohne zu schimmeln. Brot, Brot aus War­schau! Wenn ich daran denke, daß es vor kaum acht Tagen noch meine Mutter in den Händen hielt – ach Gott, lieber Gott …

Wir holen uns noch Bauchspeck dazu, Zwiebeln, einer öffnet eine Dose Kondensmilch. Henri, groß und triefend von Schweiß, träumt laut von französischen Weinen, die die Transporte aus Straßburg, aus der Pariser Gegend, aus Marseille bringen …

»Hör mal, mon ami, wenn wir wieder an die Rampe ge­hen, bringe ich dir Champagner mit. Original. Hast du si­cher noch nie getrunken, was?«

»Nein. Aber hör auf mit der ewigen Angeberei. Mit Champagner kommst du am Tor gar nicht durch. Versuch

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lieber, mir ein Paar Schuhe zu organisieren. Du weißt ja, mit Doppelsohle und perforiertem Blatt. Vom Hemd will ich gar nicht erst reden, du weißt selbst, daß es eine Ewig­keit her ist, seit du es mir versprochen hast.«

»Geduld, nur Geduld. Sobald neue Transporte kommen, sollst du alles haben. Dann gehen wir wieder an die Rampe.«

»Und wenn es keine Kamintransporte mehr gibt?« warf ich ärgerlich ein. »Was dann? Siehst doch selbst, wie libe­ral es schon im Lager aussieht. Jede Menge Päckchen, Schlagen verboten. Es ist erlaubt nach Hause zu schreiben … Man spricht von neuen Richtlinien, du selbst hast auch schon davon geredet. Am Ende kommt’s noch so weit, daß es nicht genug Leute gibt.«

»Was für einen Blödsinn du verzapfst«, sagt ein dicker Kerl aus Marseille mit vollem Mund. Er ist mein Freund, aber ich habe keine Ahnung, wie er heißt. Sein Gesicht sieht aus wie eine Miniatur von Cosway, nur daß er im Augenblick beinahe an einem belegten Brötchen erstickt.

»So ein Blödsinn«, sagt er nochmals. Gott sei Dank, es ist ihm doch noch gelungen, die Sardinen hinunterzu­würgen.

»Quatsch nicht so dämlich! Zu wenig Leute! Das gibt’s nicht, das darf es nicht geben, sonst müßten wir alle hier im Lager verrecken. Wir leben doch alle von dem, was sie mitbringen!«

»Wieso alle? Alle nicht! Wir haben unsere Freßpakete!« »Du hast, dein Kollege, vielleicht noch zehn andere. Ihr

Polen habt’s, und auch nicht alle. Aber wir Juden und Russen? Und glaubst du vielleicht, sie ließen euch eure Päckchen essen, wenn wir selbst nichts hätten? Glaubst du, wir würden ruhig zuschauen, wie ihr futtert, wenn wir selbst nichts organisieren könnten? O nein, mein Lieber, nie und nimmer!«

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»O doch! Entweder ihr würdet zuschauen, oder aber ihr würdet verhungern wie die Griechen. Im Lager hat der die Macht, der was zu fressen hat.«

»Ihr habt und wir auch. Wozu also der Streit?« Sicher, der Streit hat gar keinen Sinn. Ihr habt und ich

habe, wir essen zusammen, wir schlafen zusammen auf ei­ner Pritsche. Henri schneidet das Brot, dazu macht er To-matensalat. Mit dem Senf aus der Kantine schmeckt er vorzüglich.

Unten in der Baracke, unter unseren Füßen, wimmelt es von Menschen. Sie sind nackt und triefen von Schweiß. Sie liegen in den schmalen Gassen zwischen den Prit­schen, um den riesigen Ofen, zwischen den verschiedenen Verbesserungen, die den ehemaligen Pferdestall (an der Tür hängt noch eine Tafel »Für verseuchte Pferde«) in ein gemütliches Heim für mehr als ein halbes Tausend Men­schen verwandelten. Sie drängeln sich zu acht auf den un­tersten Pritschen, manchmal liegen sogar neun nebenein­ander. Splitternackt sind sie, abgemagert bis auf die Kno­chen, stinken nach Schweiß und Ausdünstungen, haben tief eingefallene, hohle Wangen.

Unter mir, ganz unten, liegt ein Rabbiner. Er hat sich den Kopf mit dem Zipfel einer Decke zugedeckt und brabbelt monoton seine hebräischen Gebete. Ganze Berge von Ge­betbüchern gibt es hier im Lager.

»Sollte man den da nicht lieber zum Schweigen bringen? Führt sich auf, als wollte er den lieben Gott an den Füßen schnappen.«

»Ach laß doch! Bei der Hitze habe ich keine Lust hinun­terzuklettern. Soll ruhig weitermachen, kommt wenigstens eher in den Schornstein.«

»Religion ist Opium für das Volk«, sagt nachdenklich mein dicker Freund zur Linken. »Ich rauche ganz gern

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Opium.« Er ist Kommunist und Rentier zugleich. »Wenn sie nicht an Gott glauben würden und an das Leben nach dem Tode, hätten sie längst das Krematorium kaputtge­schlagen.«

»Warum tun Sie es denn nicht?« Es ist zwar nur bildlich gemeint, aber mein dicker

Freund antwortet doch darauf. »Idiot!« sagt er und stopft sich eine ganze Tomate in den

Mund. Es sieht so aus, als wollte er noch etwas sagen, aber er winkt nur ab und schweigt, offenbar hat er sich’s doch anders überlegt.

Wir sind allmählich mit der Fresserei fertig, als es plötz­lich eine heftige Bewegung in der Baracke gibt. Die Mu­selmanen flüchten sich zwischen die Pritschen, ein Melder flitzt in die Bude des Blockältesten. Nach einer Weile kommt der Blockleiter majestätischen Schrittes heraus.

»Kanada! Antreten! Schnell! Ein Transport kommt!« »Großer Gott!« schreit Henri und springt von der Prit­

sche. Der Dicke verschluckt sich an der zweiten Tomate, brüllt denen, die unter ihm sitzen, ein kreischendes »raus!« zu, greift hastig nach seiner Jacke, und im nächsten Au­genblick sind sie alle aus der Tür. Auf den anderen Prit­schen gibt es ebenfalls einen plötzlichen Wirbel. Kanada geht an die Rampe.

»Henri! Meine Schuhe!« rufe ich zum Abschied. »Keine Angst!« ruft er zurück, schon vom Hof her. Ich packte das Essen wieder ein, verschnürte sorgsam die

Schachtel, in der Tomaten und Zwiebeln aus dem väterlichen Garten friedlich neben echten portugiesischen Sardinen lie­gen, neben dem Bauchspeck aus Bacutil (von meinem Bru­der), vermischt mit Süßigkeiten aus Saloniki. Ich legte das Päckchen weg, zog mir die Hose an und kletterte hinunter.

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»Platz!« brüllte ich und bahnte mir einen Weg zwischen den herumliegenden Griechen. Manche machten Platz, über andere mußte ich hinwegsteigen. In der Tür stieß ich mit Henri zusammen.

»Allez, allez, vite, vite!« »Was ist los?« »Willst du mit uns an die Rampe?« »Warum nicht?« »Dann mach schnell! Nimm deine Jacke! Es fehlen ein

paar Leute. Mit dem Kapo hab ich schon gesprochen.« Und er schubste mich aus der Baracke.

Wir stellten uns an, jemand schrieb unsere Nummern auf, jemand schrie »marsch, marsch!«, und dann liefen wir zum Tor, begleitet von Zurufen und Bemerkungen in allen möglichen Sprachen. Die zurückgebliebene Menge wurde bereits wieder mit Peitschen und Knüppeln in die Barak­ken getrieben. Nicht jeder darf an die Rampe …

Wir haben uns schon verabschiedet, jetzt stehen wir am Tor.

»Links – zwei, drei, vier, Mützen ab!« Hoch aufgerich­tet, die Hände an der Hosennaht, marschieren wir durch das Tor, zackig, mit federnden Schritten, beinahe graziös.

Ein verschlafener SS-Mann hält eine große Tafel in der Hand und zählt die Leute. Mit einer schlaftrunkenen Handbewegung teilt er uns zu je fünf Mann ein.

»Hundert«, schreit er, als die letzte Reihe an ihm vorbei­geht.

»Stimmt«, brüllt eine heisere Stimme vorn. Wir gehen schnell, fast im Laufschritt. Alle paar Meter

steht ein Posten, mit einer Maschinenpistole bewaffnet. Wir gehen an allen Abteilungen des Lagers II B vorbei, dem unbewohnten Abschnitt C, dem tschechischen Lager,

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der Quarantäne, dann tauchen wir in das Grün der Apfel­bäume und der Birnbäume, die das Krankenrevier umge­ben. Das Laub, hervorgeschossen in den paar heißen Ta­gen, mutet uns wie eine unbekannte Mondlandschaft an. In großem Bogen marschieren wir um einige Baracken her­um, passieren eine dichte Postenkette und erreichen end­lich im Laufschritt die Landstraße. Wir sind da. Noch ein paar hundert Meter weiter, mitten unter den Bäumen, ist die Ausladestelle.

Es ist wie überall in diesen gottverlassenen Winkeln: ein kleiner Platz, Schutt, ringsum hohe Bäume. Früher war hier eine winzige Bahnstation, irgendwo in der Provinz. Etwas abseits, dicht am Straßenrand, ein kleines, geduck­tes Haus, kleiner und häßlicher noch als das kleinste, häß­lichste Haus, das ich jemals gesehen habe. Ein Stück wei­ter, hinter der hölzernen Bude, türmen sich ganze Halden von Schienenschwellen, Berge von Schienen, riesige Hau­fen von Brettern, zerbrochene Barackenwände, Ziegel, Steine, Brunneneinfassungen. Hier ist der Ladeplatz für alles, was nach Birkenau geht. Material zum Aufbau des Lagers und Menschenmaterial für die Gasöfen. Es ist ein Arbeitstag wie jeder andere: Lastwagen fahren vor, laden Bretter auf, Zementsäcke und Menschen …

Die Wachen beziehen ihre Posten, entlang den Schienen, im Schatten der grünen schlesischen Kastanienbäume. Ei­ne dichte Postenkette umschließt den Platz. Sie wischen sich die Schweißperlen von der Stirn, trinken aus den Feldflaschen. Die Hitze ist schrecklich, die Sonne nähert sich dem Zenit.

»Rührt euch!« Wir sitzen in dem schmalen Schatten der Böschung. Die

hungrigen Griechen (ein paar von ihnen sind doch dabei, weiß Gott, wie sie das geschafft haben) suchen zwischen den Gleisen nach verschimmelten Brötchen, nach einer

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geöffneten Konservendose, nach Abfällen. Sie essen alles, was sie finden.

»Drecksäue!« Ein junger Posten spuckt nach ihnen aus. Er hat blondes, welliges Haar und verträumte blaue Au­gen.

»Gleich werdet ihr so viel zu fressen haben, daß euch der Wanst platzt! Dann werdet ihr endlich Ruhe geben!«

Er rückt das Koppel zurecht und wischt sich mit einem Tuch das Gesicht ab.

»Lumpenpack!« bestätigen wir. »Du, Dicker!« Die Schuhspitze des Postens berührt

leicht Henris Hals. »Paß mal auf. Möchtest du was trin­ken?«

»Möchte schon, aber Mark hab ich keine«, sagt der Franzose. Er ist Fachmann, er kennt sich aus.

»Schade.« »Aber, aber! Herr Posten, ist Ihnen mein Wort nichts

mehr wert? Haben wir noch nie miteinander Geschäfte gemacht? Wieviel?«

»Hundert. Gemacht?« »Gemacht.« Wir trinken das abgestandene, lauwarme Wasser. Es

schmeckt nach gar nichts, aber wir trinken, auf das Konto von Menschen, die noch gar nicht da sind.

»Du! Paß auf!« sagt der Franzose zu mir und wirft die Flasche in weitem Bogen von sich. Sie schlägt berstend auf den Schienen auf. »Nimm kein Geld, es könnte eine Revi­sion geben. Außerdem ist Geld sowieso für die Katz, und zu futtern hast du ja genug. Kleider darfst du auch keine nehmen, ein Anzug erweckt immer Fluchtverdacht. Ein Hemd kannst du nehmen, aber nur ein Seidenhemd und mit Kragen. Und ein Unterhemd darunter. Ruf mich nicht etwa,

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wenn du etwas zum Trinken finden solltest. Ich paß schon selbst auf, und schau zu, daß du nichts abkriegst.«

»Schlagen sie?« »Na klar. Mußt überall Augen haben. Auch im Hintern.« Um uns herum sitzen die Griechen. Ihre Kiefer mahlen

gierig und unentwegt. Wie große, häßliche Insekten sehen sie aus, wie sie so dasitzen und das alte, aufgeschwemmte Brot kauen. Sie sind ein bißchen durcheinander, wissen offenbar nicht, was für eine Arbeit sie erwartet. Die Schienen und die Schwellen beunruhigen sie. Griechen mögen keine schwere Arbeit.

»Was wir arbeiten?« fragen sie. »Nix. Transport kommen, alles Krematorium, compris?« »Alles verstehen«, geben sie im Krematorium-Esperanto

zurück. Sie sind beruhigt, sie werden weder Schienen auf­laden noch Schwellen schleppen müssen.

Auf der Rampe wird es immer lebendiger. Vorarbeiter teilen die Leute ein. Es werden Gruppen gebildet, die erstezum Öffnen der Waggons, die zweite zum Ausladen, eine weitere soll die fahrbare Holztreppe bedienen, eine wirk­lich praktische Einrichtung, die wie die Stufenleiter zu ei­ner Tribüne aussieht. Vorarbeiter geben die letzten Befeh­le, erklären ihren Männern den Arbeitsablauf.

Mit lautem Gebrumm fahren Motorräder vor, immer mehr SS-Unteroffiziere springen ab. Es sind dicke, fettlei­bige Kerle, ihre Abzeichen glitzern in der Sonne, die blankgeputzten Stiefel glänzen, die roten, pausbäckigen Gesichter strahlen. Einige tragen große Aktentaschen, an­dere schwingen dünne, biegsame Gerten. Die mit den Ger­ten sehen dienstlicher aus, zackiger.

Sie gehen direkt in die Kantine – eine schäbige Holzba­racke –, im Sommer trinken sie Mineralwasser, das sie

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Studentenquelle nennen, im Winter wärmen sie sich durch Glühwein. Zuerst begrüßen sie sich mit der stolzen römi­schen Geste der erhobenen Rechten, aber gleich danach schütteln sie sich herzlich die Hände, lächeln sich an, er­zählen sich die letzten Neuigkeiten, berichten von zu Hau­se, von den Kindern und Briefen, zeigen sich gegenseitig Bilder und Photos. Ein paar von ihnen gehen mit langen, gemessenen Schritten auf dem Platz hin und her. Der Kies knirscht unter den blankgeputzten Schuhen, die Abzeichen funkeln in der Sonne, die Gerten pfeifen dünn und unge­duldig durch die Luft.

Die in gestreiftem Zeug lagen im schmalen Schatten der Böschung, ihr Atem ging schwer und stoßweise, sie tu­schelten in allen Sprachen, ihre Augen folgten träge und gleichgültig den majestätischen Gestalten in den grünen Uniformen, irrten zum nahen und doch so unerreichbar fernen Grün der Bäume, zum spitzen Turm der Kirche, von der ein verspätetes Angelus-Läuten herüberklang.

»Der Transport kommt!« sagte jemand, und alle Hälse reckten sich. Aus der Kurve krochen Güterwagen heran, der Zug fuhr rückwärts ein. Der Eisenbahner, der am Schlußlicht stand, beugte sich weit heraus, wedelte ein paarmal mit dem Arm durch die Luft, pfiff. Die Lokomo­tive antwortete mit einem langgezogenen, durchdringen­den Pfeifen, paffte zwei dicke Dampfwolken, der Zug schlängelte sich langsam in die Station.

Hinter den kleinen, vergitterten Fenstern sahen wir Ge­sichter, blaß, zerknittert und übernächtigt sahen sie aus, die zerzausten, erschrockenen Frauen, die Männer, die – es war wie ein Wunder – noch ihre Haare hatten.

Der Zug schob sich langsam weiter, die Menschen blick­ten schweigend hinaus. Plötzlich fing es an, drinnen in den Waggons zu kochen. Hohle Schläge trommelten gegen die Wände.

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»Wasser! Luft!« Verzweifelte Rufe, Geschrei, das Hämmern der Fäuste. Köpfe drängten sich an den Fenstern, offene Münder

schnappten gierig nach Luft. Nach ein paar durstigen Zü­gen verschwanden die ersten Gesichter, neue erschienen an ihrer Stelle, und auch sie wurden wieder zurückge­drängt. Immer lauter wurden die Schläge, immer durch­dringender das Geschrei.

Ein Mann in grüner Uniform, mit mehr Silber behangen als die anderen, verzog angewidert das Gesicht. Er sog noch einmal an seiner Zigarette, dann warf er sie weg, nahm seine Aktentasche in die andere Hand und winkte einem Posten. Dieser nahm langsam die Maschinenpistole von der Schulter, legte sich bedächtig hin und überflog die Reihe der Waggons mit einer kurzen, knatternden Serie. Es wurde still.

Lastwagen fuhren heran, wurden bei den Türen abge­stellt, die Räder festgekeilt, die Arbeiter bezogen Stellung.

Der Riese mit der Aktentasche hob die Hand. »Wer Gold nimmt oder sonst etwas, was nicht eßbar ist,

wird wegen Diebstahl von Reichseigentum erschossen. Klar? Verstanden?«

»Verstanden!« brüllte die Menge, zwar ungleich und in­dividuell, doch aus innigster Überzeugung.

»Also! Los! An die Arbeit!« Die Riegel knarrten, die Waggons wurden geöffnet. Eine

Welle frischer Luft drang hinein, schlug den Menschen entgegen und warf sie fast um. Sie waren unendlich zer­schlagen, beinahe erdrückt von der schweren Last der Koffer, Päckchen, Pakete, Ranzen und Bündel, Rucksäcke und Taschen jeder Art, denn sie brachten alles mit, was ihr früheres Leben bedeutete und ein neues Leben bedeuten

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sollte. Sie waren auf unglaublich engem Raum zusammen­gepfercht, fielen um vor Hitze, erstickten selbst und er­drückten andere. Nun drängten sie alle zu den offenen Tü­ren und japsten nach Luft wie Fische auf dem Strand.

»Achtung! Alles mitnehmen beim Aussteigen! Alle Klamotten auf einen Haufen neben dem Waggon! Mäntel abgeben! Ist Sommer. Links antreten! Verstanden?«

»Mein Herr, was wird aus uns?« Die ersten springen ab, unruhig, zitternd vor Angst.

»Woher seid ihr?« »Sosnowiec, Bendzin.« Sie wiederholen immer wieder

die angstvolle, bange Frage, gespannt forschen sie in fremden, müden Augen.

»Was wird aus uns?« »Ich weiß nicht, ich kann kein Polnisch.« Es ist ein ungeschriebenes Gesetz des Lagers, daß man

Menschen, die in den Tod gehen, bis zum letzten Augen­blick belügt. Das ist die einzig zulässige Form von Mit­leid. Die Hitze ist schrecklich. Die Sonne hat den Zenit er­reicht, der glühende Himmel bebt, die Luft flimmert, der Wind, der ab und zu herüberweht zu uns, ist nichts als flüssige, siedende Glut. Wir haben schon gesprungene Lippen, der Mund schmeckt salzig, nach Blut. Vom lan­gen Liegen in der Sonne sind unsere Leiber matt und steif. Trinken, oh, trinken …

Aus den Waggons ergießt sich eine bunte Flut von Men­schen, kopflos wie ein überschäumender Strom, der ein neues Flußbett sucht. Noch bevor sie Zeit haben, sich an die frische Luft und das ungewohnte Grün zu gewöhnen, noch bevor sie zu sich kommen, reißt man ihnen alles aus den Händen, zieht man ihnen die Mäntel aus, nimmt den Frauen Taschen und Schirme ab.

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»Ach bitte, lassen Sie mir doch meinen Sonnenschirm! Mein Herz! Ich kann nicht …«

»Verboten!« zischt man scharf durch die Zähne. Hinter uns, in unserem Rücken, steht ein SS-Mann. Ru­

hig und beherrscht schaut er zu. »Meine Herrschaften! Bitte die Sachen nicht so hinzu­

werfen! Zeigen Sie doch wenigstens etwas guten Willen!« Seine Stimme klingt sanft, begütigend, die dünne Gerte

in seiner Hand züngelt nervös, windet sich wie eine gifti­ge, ungeduldige Schlange.

»Ja – ja«, antworten die Menschen wie aus einem Mund und laufen noch schneller an den Waggons vorbei. Eine Frau bückte sich nach ihrer Tasche. Die Gerte pfiff durch die Luft, die Frau schrie auf, taumelte und fiel unter die Füße der Menge. Hinter ihr lief ein Kind.

»Mamele …«, schreit es verzweifelt, ein liebes, kleines, zerzaustes Mädchen …

Die Halde der weggeworfenen Sachen wächst. Koffer, Taschen, Bündel, Ranzen, Rucksäcke, Plaids, Kleider, Mäntel, Handtaschen, die sich geöffnet haben und aus de­nen bunte Banknoten hervorquellen, Gold, Uhren, Schmuck. Vor der Tür des Waggons türmt sich hoch auf­geschichtet Brot, daneben leuchten Gläser mit Marmelade, Powideln und eingemachtem Obst, noch ein Stück weiter wachsen Berge von Schinken, Wurst, Salami; Zucker liegt verstreut im Sand. Lastwagen, vollgestopft mit Menschen, fahren mit höllischem Getöse davon, weg von Tumult und Geschrei der Frauen, die nach ihren Kindern weinen, weg vom betretenen Schweigen der Männer, die plötzlich al­lein geblieben sind. Jene, die man nach rechts geschickt hat, sind jung und gesund. Die gehen ins Lager. Vom Gas werden sie nicht verschont bleiben, aber zuerst sollen sie arbeiten.

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Autos fahren und fahren, immer wieder kommen neue Wagen, wie auf einem endlosen Fließband. Pausenlos jagt der Rotkreuzwagen hin und her. Das große rote Kreuz auf der Motorhaube weicht in der Sonne auf. Unermüdlich ist der Wagen. Immer wieder leuchtet das rote Zeichen auf, unter dem man das Gas heranfährt, mit dem Menschen vergiftet werden.

Die vom Kanada-Kommando – das sind die, die an der tragbaren Treppe arbeiten –, haben keinen Augenblick Zeit zum Verschnaufen. Sie trennen die, die ins Lager ge­hen, von den anderen. Sie schubsen die ersten auf die Lastwagen, sechzig Stück pro Wagen, ein paar mehr oder ein paar weniger, darauf kommt es nicht so genau an. Ein­fach so, plus-minus.

Neben ihnen steht ein SS-Mann. Er ist jung und glatt ra­siert, hält ein Notizbuch in der Hand, macht für jeden Lastwagen einen Strich. Wenn sechzehn Lastwagen weg­gefahren sind, ist das Tausend voll, einfach so, plus­minus.

Der junge Herr arbeitet ohne Hast, bedächtig und gründ­lich. Ohne sein Wissen und ohne seinen Strich fährt kein einziger Wagen davon. Ordnung muß sein.

Die Striche mehren sich, bald sind es ganze Tausender, die Tausender mehren sich, ganze Transporte werden dar­aus.

»Aus Saloniki«, sagt man kurz. Oder »aus Straßburg« oder »aus Rotterdam«. Von diesem da wird man heute noch sagen können »aus Bendzin«. Ordnungsgemäß be­kommt dieser Transport den Namen »Bendzin-Sosnowiec«, und diejenigen, die ins Lager gehen, bekom­men die Nummer 131. bis 132. Tausend, kurz 131-132.

Die Zahl der Transporte wächst in den Wochen, Mona­ten, Jahren. Wenn einmal der Krieg vorbei sein wird, wird

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man die Vergasten zählen. Viereinhalb Millionen werden sie zählen. Opfer der blutigsten Schlacht des Krieges, größter Sieg des solidarisch vereinten Deutschland. Ein Volk – ein Reich – ein Führer – und vier Krematorien! In Auschwitz wird es allerdings sechzehn Krematorien ge­ben, runde fünfzigtausend pro Tag wird man dort verbren­nen können. Das Lager wird immer größer, es wird bald so weit reichen, daß der Draht, der nicht elektrisch geladen ist, bis an die Weichsel stößt. Dreihunderttausend Men­schen in sauberen gestreiften Anzügen werden dort woh­nen. »Verbrecherstadt« wird das Lager heißen.

Nein, es wird niemals soweit kommen, daß es zu wenig Leute geben wird. Juden werden verbrannt, Russen wer­den verbrannt. Vom Westen kommen die Menschen, vom Süden, vom Kontinent und von den Inseln. Menschen in gestreiften Anzügen werden kommen und die zerschlage­nen deutschen Städte wieder aufbauen, sie werden das brachliegende Land pflügen, und wenn sie von der erbar­mungslosen Arbeit der ewigen »Bewegung! Bewegung!« ermatten, werden sich die Türen der Gaskammern öffnen. Bis dahin wird man die Gasöfen verbessert haben, sie werden sparsamer im Verbrauch sein und besser getarnt, werden so sein wie die in Dresden, von denen man sich heute schon Legenden erzählt.

Die Waggons sind leer. Ein magerer, pockennarbiger SS-Mann blickt ruhig hinein, nickt angewidert, sieht uns an und winkt mit der Hand.

»Rein! Saubermachen!« Wir springen hinein. In den Ecken, zwischen den verlo­

renen Uhren und den Pfützen und Häufchen, die hier die Menschen hinterlassen haben, liegen totgetrampelte und erstickte Kinder, kleine, häßliche Leichen mit riesengro­ßen Köpfen und aufgedunsenen Bäuchen. Wir tragen sie hinaus wie Hühner, zwei in jeder Hand.

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»Trag sie nicht auf den Wagen. Gib sie den Frauen!« sagt der SS-Mann und steckt sich eine Zigarette an. Das Feuerzeug nimmt seine ganze Aufmerksamkeit in An­spruch, es will und will nicht anspringen.

»Nehmt doch die Kinder! Barmherziger Himmel!« plat­ze ich heraus, weil die Frauen erschreckt vor mir zurück­weichen, den Kopf zwischen die Schultern gezogen.

Sonderbar, wie falsch sich hier das Wort »Gott« anhört! Die Frauen gehen doch auf den Lastwagen. Alle, ohne Ausnahme. Wir wissen genau, was das bedeutet, und spü­ren, wie der Haß in uns hochsteigt.

»Was, sie will die Kinder nicht?« fragt der SS-Mann ge­dehnt. Seine Stimme klingt verwundert, vorwurfsvoll. Langsam zieht er seinen Revolver.

»Sie brauchen nicht zu schießen, ich nehme sie.« Eine hochgewachsene, grauhaarige Frau nahm mir die

kleinen Leichen ab. »Kind, Kind«, flüsterte sie lächelnd. Einen Augenblick

sah sie mir gerade in die Augen, dann ging sie stolpernd über den Platz.

Ich lehnte mich mit dem Rücken gegen den Waggon. Ich war sehr müde. Jemand reißt mich an der Hand.

»En avant! Herunter vom Gleis!« Ich hebe den Blick, das Gesicht tanzt mir vor den Au­

gen, verschwimmt, kommt wieder näher, wächst und wächst, wird immer größer und durchsichtiger, vermischt sich mit den Bäumen, wird so lang wie die Stämme, weiß Gott, warum die Biester auf einmal alle schwarz sind, warum sie mit der Menge verfließen, die sich an mir vor­beischiebt … Ein paarmal muß ich scharf blinzeln: Henri.

»Du, Henri, ob wir gute Menschen sind?« »Warum fragst du so dumm?«

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»Siehst du, Freund, in mir kocht eine vollkommen un­verständliche Wut auf diese Menschen, weil ich ihretwe­gen dasein muß. Es tut mir gar nicht leid, daß sie vergast werden. Möge die Erde sich öffnen und sie alle verschlin­gen! Ich könnte auf sie losgehen, auf alle! Wahrscheinlich ist das pathologisch, ich verstehe es nicht.«

»Ach wo! Ganz im Gegenteil! Das ist normal, vorgese­hen und im voraus berechnet. Die Rampe geht dir auf die Nerven, du kriegst Wut, und die Wut kannst du am besten an den Schwächeren auslassen. Es wird sogar verlangt, daß du deine Wut ausläßt, compris?«

Der Franzose spricht mit einer leisen Ironie und legt sich unterhalb der Böschung bequem hin.

»Schau dir doch die Griechen an! Die wissen den Vorteil zu nutzen. Die fressen alles, was ihnen in die Finger kommt. Vorhin hat einer neben mir ein ganzes Glas Mar­melade leergefressen.«

»Schweine! Morgen kratzt die Hälfte von ihnen ab. Tot­scheißen werden sie sich!«

»Schweine? Du hast doch auch Hunger gehabt.« »Schweine!« wiederhole ich verbissen. Ich schließe die

Augen, höre immer noch das Geschrei, fühle, wie die Erde bebt, die heiße Luft streicht über meine Augenlider. Meine Kehle ist völlig ausgedörrt.

Immer mehr Menschen gehen vorüber, die Lastwagen knurren wie gehetzte Hunde. An meinen Augen ziehen die Leichen vorbei, die aus den Waggons herausgetragen wer­den, die totgetrampelten Kinder, die Krüppel, die man mit den Toten auf einen Haufen wirft. Und die Menge – die Menge …

Die Waggons rücken weiter, die Berge von Kleidern, Kof­fern und Gepäckstücken werden immer höher. Menschen steigen aus, blinzeln in die Sonne, atmen gierig die reine, fri­

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sche Luft, betteln um Wasser, klettern auf die Lastwagen, fahren weg. Neue Waggons kommen, wieder Menschen …

In meinem Innern überlagern sich die Bilder, ich weiß nicht mehr, was wirklich geschieht und was ich träume. Plötzlich sehe ich grüne Bäume, sie schaukeln, und eine ganze Straße schaukelt mit, die Menge schaukelt … Aber das sind doch die Alleen! Das ist doch Warschau! Mein Schädel brummt, ich fühle, daß ich mich erbrechen werde.

Henri reißt mich am Arm. »Wach auf! Schlaf nicht! Wir gehen jetzt los! Klamotten

aufladen!« Die Menschen sind weg. Eine dicke Staubwolke wirbelt

hinter dem letzten Wagen auf der Straße her, der Zug ist weggefahren, auf der Rampe marschieren würdig und ge­messen die SS-Männer auf und ab, das Silber glitzert in der Sonne. Die Stiefel glänzen, die roten Gesichter leuchten. Unter ihnen ist eine Frau, erst jetzt wird mir bewußt, daß sie die ganze Zeit über hier war. Sie ist knochig, hat ein grobes, vertrocknetes Gesicht und flache Brüste. Das schüttere, blonde Haar ist glatt nach hinten gekämmt, im Nacken hat sie es zu einem dünnen »nordischen« Knoten geschlungen. Ihre Hände stecken tief in den Taschen der breiten Rockhose. Sie geht auf und ab, von einem Ende der Rampe zum anderen, auf den weichen Lippen klebt ein hartes, giftiges Lächeln. Sie haßt weibliche Schönheit mit dem verzweifelten Haß einer häßlichen Frau, die weiß, wie häßlich sie ist. Ja, ich hab diese Frau oft gesehen, ich kann mich genau an sie erinnern. Es ist die Kommandantin des Frauenlagers, sie ist hergekommen, um sich den Zu­wachs anzusehen, den ihr Lager bekommt. Ein Teil der Frauen wurde abgestellt und wird zu Fuß ins Lager gehen. Unsere Jungens, die Friseure von der Sauna, werden ihnen alle Haare wegputzen; sie haben ihre Freude an der Verle­genheit dieser Frauen.

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Wir laden also Klamotten auf. Die schwereren Stücke werden mit großer Wucht auf die Wagen geworfen. Dort werden sie zu hohen Stößen geschichtet, zurechtgestupst, aufgeschlitzt und durchgestöbert. Einmal nur so, zum Spaß, und zum anderen auf der Suche nach Schnaps und Parfüm. Die Parfümflakons kippt man einfach über sich aus. Einer der Koffer springt auf. Anzüge fallen heraus, Kleider, Hemden und Bücher. Etwas Schweres, in ein Tuch eingewickelt, rollt vor meine Füße. Ich hebe es auf und wickle es neugierig auf. Gold, zwei Handvoll schwere Schmuckstücke, Ringe, Armbänder, Colliers, Brillanten … »Gib her«, sagt der SS-Mann hinter mir und hält mir seelenruhig seine offene Tasche hin. Sie ist voll, Gold und farbige Steine glitzern, daneben schimmern bunte Scheine, fremde Valuta. Er schließt die Tasche, reicht sie dem Offi­zier und bekommt von ihm eine neue, leere. Der Offizier geht mit der vollen Tasche davon, in die Holzbude. Das Gold ist fürs Reich.

Hitze. Große Hitze. Die Luft steht, glühend heiß und un­bewegt. Unsere Kehlen sind ausgetrocknet, jedes Wort, das wir sagen, tut weh. Trinken, ach, trinken … Wir arbei­ten wie die Wilden, immer schneller, nur damit wir fertig werden, nur damit wir endlich im Schatten verschnaufen können. Schließlich sind wir fertig, die letzten Lastwagen fahren ab, jetzt müssen wir bloß noch alles das einsam­meln, was auf den Gleisen herumliegt. Papier, Fetzen, al­les, was als Abfall nach einem Transport übrigbleibt, da­mit keine Spur das »dreckige Geschäft« verrät. Als wir endlich auch damit fertig sind und uns ein bißchen im Schatten ausstrecken wollen – vielleicht kauft der Franzo­se wieder einen Schluck Wasser vom Posten –, pfeift hin­ter der Kurve ein Eisenbahner. Langsam, unendlich lang­sam schieben sich Waggons heran, ein langer, durchdrin­gender Pfiff der Lokomotive zerreißt die Luft, hinter den

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vergitterten Fenstern drängen sich blasse, müde Gesichter, flach, wie aus Papier ausgeschnitten, mit übergroßen, fieb­rig glänzenden Augen.

Auch die Lastwagen sind wieder da, hier kommt auch schon wieder der junge, ruhige Herr mit seinem Notiz­büchlein, aus der Kantine schlendern die SS-Männer mit ihren Taschen für Gold und Geld herbei. Wir öffnen die Waggontüren.

Nein, man kann sich nicht mehr beherrschen. Das Ge­päck wird den Menschen brutal aus den Händen gerissen, ein Ruck, und der Mantel ist ausgezogen. Schneller! Schneller! Geht doch schon! Macht doch schneller, macht, daß ihr weiterkommt! Sie gehen, sie machen schneller, sie hasten weiter. Männer, Frauen, Kinder. Einige von ihnen wissen … Da, eine Frau. Sie geht sehr schnell, beeilt sich kaum merklich, aber sie fiebert. Hinter ihr läuft ein Kind, es hat ein Gesichtchen wie eine Putte, mit rosigen Paus­backen, die kurzen Beinchen können nicht Schritt halten mit den eiligen, leichten Füßen der Frau. Mit ausgestreck­ten Ärmchen läuft es hinter ihr her.

»Mama … Mama …« »Du Weibstück, nimm doch das Kind auf den Arm!« »Es ist nicht mein Kind!« schreit die Frau, wild und hy­

sterisch, bedeckt ihr Gesicht mit beiden Händen und fängt an zu laufen. Sie will unter denen untertauchen, die nicht auf die Lastwagen müssen, will zu Fuß gehen, mit denen, die leben werden. Sie ist jung, gesund und schön. Sie will leben.

»Mama … Mama … Lauf nicht weg … Warte … Ma­ma!«

»Das ist nicht mein Kind!« Andrej, der Seemann aus Sewastopol, hat sie eingeholt.

Seine Augen sind verschleiert, die Hitze und der Schnaps

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haben sie getrübt. Er hat sie eingeholt, ein einziger Stoß seiner breiten Schultern wirft die Frau zu Boden.

Noch im Fallen reißt er sie an den Haaren wieder hoch. Sein Gesicht ist wutverzerrt.

»Du! Du Miststück! Jüdische Hure! Vor deinem Kind läufst du davon? Ich zeig dir’s, du Hure!«

Er packt die Frau in der Mitte, drückt ihr mit der Hand die Kehle zu, aus der ein Schrei dringt, holt aus und wirft die Frau auf den Lastwagen. »Hier! Das auch! Das ist auch deins, du Hündin!«

Und Andrej wirft ihr das Kind vor die Füße. »Gut gemacht! So straft man Rabenmütter«, sagt der SS-

Mann, der neben dem Wagen steht. »Gut, gut, Russki.« »Schweig!« knirscht Andrej mit den Zähnen und geht

zurück zum Waggon. Unter einem Haufen Lumpen holt er eine Feldflasche hervor, schraubt den Verschluß ab und hebt die Flasche zuerst an seinen, dann an meinen Mund. Der Fusel brennt wie Feuer in der Kehle. Mein Kopf dreht sich, die Beine knicken mir ein, der Oberkörper beugt sich nach vorn.

Wie von einer unsichtbaren Hand gelenkt, fließt der Menschenstrom zu den Lastwagen. Plötzlich taucht ein Mädchen aus der Menge auf. Sie springt leichtfüßig aus dem Waggon, sieht sich forschend um, wie jemand, der sich über etwas wundert. Das dichte, helle Haar fällt ihr in schweren Wellen bis auf die Schultern herab. Sie wirft es mit einer ungeduldigen Bewegung zurück. Ihre Hände zupfen automatisch das sommerliche Blüschen zurecht, streichen glättend über den Rock. Für einen Augenblick bleibt sie regungslos stehen. Endlich lösen sich ihre Augen von der Menge, ihr Blick wandert forschend über unsere Gesichter. Ohne es zu wissen, suche ich ihren Blick. Unse­re Augen begegnen sich.

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»Hör mal, sag, wohin bringt man uns?« Ich sehe sie an. Vor mir steht ein Mädchen mit dichtem,

hellem Haar, die festen, jungen Brüste zeichnen sich unter dem leichten Batistblüschen ab, die klugen, wachen Au­gen blicken mich an, sie steht da und wartet.

Und hier die Gaskammer: gemeinsamer Tod, häßlich, scheußlich, widerlich. Und dort das Lager: kahlgeschore­ner Kopf, wattierte sowjetische Hose für die Hitze, ekli­ger, stickiger Gestank der schmutzigen, erhitzten Leiber, tierischer Hunger, unmenschliche Arbeit und am Ende die gleiche Gaskammer. Nur der Tod ist noch häßlicher, noch scheußlicher, noch widerlicher als dieses Leben. Wer ein­mal hier hereinkommt, der bringt noch nicht mal seine Asche an der Postenkette vorbei wieder hinaus. Der kehrt nie wieder ins andere Leben zurück.

›Wofür hat sie das hergebracht‹, denke ich, als ich die kleine, schmale Uhr an dem dünnen, goldenen Armband erblicke, die an ihrem Gelenk glitzert. ›Man wird es ihr sowieso wegnehmen.‹ Genau die gleiche Uhr hatte seiner­zeit meine Tuschka gehabt, nur trug sie sie an einem schmalen, schwarzen Band.

»Sag doch was!« Ich schweige, und sie preßt die Lippen zusammen. »Ich weiß schon«, sagt sie, und etwas wie hochnäsige

Verachtung klingt in ihrer Stimme. Sie wirft stolz den Kopf zurück. Dann geht sie mit frei­

en, federnden Schritten auf die Lastwagen zu. Jemand will sie aufhalten. Sie schiebt die Hand einfach

zurück und springt die Stufen hinauf, auf den Lastwagen, der schon mit Menschen vollgestopft ist. Ich sehe nur noch das lange, blonde Haar, das bei der schnellen Fahrt um ih­ren Kopf flattert.

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Ich ging wieder in die Waggons hinein, trug Kinderlei­chen hinaus, warf Gepäckstücke aus der Tür. Ich berührte die Toten, aber die aufsteigende, wilde Angst konnte ich nicht mehr überwinden. Ich versuchte, vor den Leichen wegzulaufen, aber sie lagen überall. Aufgereiht auf dem Schotter, auf dem zementierten Rand des Bahnsteigs, in den Waggons. Kinder, häßliche, nackte Weiber, konvulsiv verdrehte Männerleiber. Ich lief, so weit ich konnte. Je­mand schlug mit der Gerte auf mich ein. Aus dem Au­genwinkel erspähte ich den wütend schreienden SS-Mann, ich riß mich los und tauchte zwischen den fetten »Kanadi­ern« unter. Endlich kann ich wieder die Böschung hinun­terkriechen. Die Sonne hat sich tief über den Horizont ge­neigt, ihr blutrotes, sinkendes Licht überflutet die Rampe. Die Schatten der Bäume sind länger geworden, das Ge­schrei der Menschen hallt immer lauter und immer ein­dringlicher in den abendlich ruhigen Himmel. Sanfte Stille senkt sich langsam über die Natur.

Erst hier, unterhalb der Schienen, kann man die Hölle des Gewimmels oben an der Rampe ganz ermessen. Zwei Menschen sind zu Boden gefallen, ineinander verkrampft in einer letzten, verzweifelten Umarmung. Er vergrub sei­ne Finger in ihren Körper, seine Zähne zerreißen ihr Kleid. Sie stöhnt auf, stößt kurze, hysterische Schreie aus; erst als sie ein mit Nägeln beschlagener Stiefel trifft, wird sie still. Wie ein Stück Holz reißt man die beiden auseinander und treibt sie wie Schlachtvieh auf den Wagen.

Vier »Kanadier« heben die aufgedunsene Leiche einer riesigen alten Frau. Alle vier schwitzen unter der schweren Last, sie fluchen und treten nach den Kindern, die ihnen im Weg sind. Kinder sind überall, sie laufen herum wie verirrte Hunde, von einem Ende der Rampe zum andern, suchen und wimmern, weinen und schreien. Die Männer fangen sie ein, schnappen sie, wo sie sie gerade erwischen,

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am Kopf, am Hals, an den Händen, und werfen sie auf die Lastwagen. Die vier Kanadier schaffen die Frauenleiche nicht. Sie rufen Verstärkung herbei, endlich kann die schwere, leblose Masse auf die Plattform gehievt werden.

Von überallher schleppt man Leichen herbei. Große, aufgequollene, gedunsene Kadaver. Dazwischen wirft man Krüppel, Gelähmte, Halberstickte. Der Berg der »Toten« bewegt sich, stöhnt und heult. Der Fahrer läßt den Motor an, der Wagen fährt los.

»Halt! Halt doch!« Von weitem brüllt ein SS-Mann. »So halt doch, zum Teufel!«

Ein alter Mann im Frack wird herangeschleift. Er trägt eine Armbinde, sein Kopf schlägt auf dem Boden auf, der Alte wimmert und jault.

»Ich will mit dem Herrn Kommandanten sprechen!« Seine Stimme ist nur ein monotones Wimmern, starrsinnig wiederholt er immer die gleichen Worte.

»Ich will mit dem Herrn …« Sie werfen ihn zu den anderen auf den Wagen. Jemand

hat ihn zu Boden getreten, aber die alte Stimme jammert immer noch: »Ich will …«

»Sei doch endlich still, Mensch!« lacht ihm der junge SS-Mann nach. »In einer halben Stunde wirst du mit dem Höchsten Kommandanten sprechen. Vergiß nur ja nicht, Heil Hitler zu sagen!«

Zwei andere Männer tragen ein Mädchen herbei. Es hat nur ein Bein. Die Männer halten das Kind an den Händen und an dem einen Bein. Tränen kullern über das Kinderge­sicht.

»Oh, das tut weh, meine Herren«, flüstert die Kleine kläglich. Man wirft sie zu den Leichen. Auch sie wird ver­brannt, zusammen mit den Toten, bei lebendigem Leibe.

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Der Abend senkt sich herab. Der kühle, dunkle Himmel ist mit Tausenden glitzernder Sterne übersät.

Wir liegen auf den Schienen, es ist unendlich still. Auf den hohen Pfosten blinken schwache Lampen. Außerhalb der Lichtkreise liegt undurchdringliches Dunkel. Ein ein­ziger Schritt in dieses Dunkel, und der Mensch ist unwie­derbringlich verloren – oder gerettet. Aber die Posten ha­ben aufmerksame, wache Augen. Die Maschinenpistolen sind schußbereit.

»Hast du deine Schuhe vertauscht?« fragt mich Henri. »Nein.« »Warum?« »Mann! Mir reicht’s! Ich hab’s satt!« »Schon nach dem ersten Transport? Wenn ich es mir so

überlege … Seit Weihnachten sind sicher an die Million Menschen durch meine Hände gegangen. Das schlimmste sind die Transporte aus der Pariser Gegend. Man trifft immer wieder Bekannte.«

»Und was sagst du ihnen?« »Daß sie zuerst baden gehen und daß wir uns nachher im

Lager sehen werden. Was würdest du ihnen sagen?« Ich schweige. Wir trinken Kaffee, gemischt mit Fusel. Jemand öffnet

eine Dose Kakao, verrührt ihn mit Zucker. Die klebrige Masse muß aus der hohlen Hand geschleckt werden, der Kakao verklebt uns den Mund. Dazu trinken wir wieder Kaffee mit Fusel.

»Henri, worauf warten wir?« »Es gibt noch einen Transport. Ist aber nicht sicher.« »Wenn er kommt, gehe ich nicht hin. Ich kann nicht.« »Hat dich schön mitgenommen, was?«

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Henri lächelt, sanft und gütig. »Kanada ist eine prima Sache, was?«

Er verschwindet lautlos im Dunkel. Nach einer Weile kommt er leise wieder zurück.

»Ist gut. Paß nur auf, daß dich kein SS-Mann erwischt. Bleib hier sitzen und rühr dich nicht vom Fleck. Und die Schuhe werd ich dir besorgen.«

»Laß mich doch in Ruhe mit den Schuhen!« Ich bin schläfrig. Es ist Nacht. Wieder antreten, wieder ein Transport. Aus der Dunkel­

heit tauchen einer nach dem anderen die Waggons auf, gleiten durch den Lichtkreis, versinken wieder im Dunkel. Die Rampe ist sehr klein, der Lichtkreis jedoch noch klei­ner. Irgendwo brummen Motore, gespenstisch schwarze Autos fahren an die Treppe heran, Scheinwerfer tauchen die Bäume in gleißende Lichtkegel.

»Wasser! Luft!« Es ist wieder dasselbe. Nur eine verspä­tete Wiederholung des gleichen Films: eine kurze, knat­ternde Serie aus der Maschinenpistole, dann Stille in den Waggons. Ein kleines Mädchen hat sich zu weit aus dem Waggon hinausgelehnt, verliert das Gleichgewicht und fällt vornüber auf den Schotter.

Eine Weile bleibt die Kleine betäubt liegen. Dann erhebt sie sich und dreht sich im Kreis, immer schneller, immer rasender, die Arme schlagen wie lahme Flügel, sie japst nach Luft, wimmert leise und monoton vor sich hin. Das Kind ist beinahe erstickt, wahrscheinlich hat es einen Schock bekommen und den Verstand verloren. Sie fällt al­len auf die Nerven. Plötzlich verliert ein SS-Mann die Be­herrschung. Er springt herbei, versetzt dem Kind einen Tritt. Die Kleine fällt, der SS-Mann hält sie mit dem Fuß am Boden, zückt seinen Revolver und schießt, einmal, zweimal. Die kleinen Beine strampeln, scharren über den

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Schotter, dann bleiben sie still. Das Kind bewegt sich nicht mehr. Der erste Waggon wird geöffnet.

Ich war wieder an der Arbeit. Warmer, süßlicher Gestank schlug uns entgegen. Ein

Berg menschlicher Leiber füllte den halben Waggon. Die Körper sind unentwirrbar ineinander verflochten, der Hau­fen rührte sich nicht mehr, aber er dampfte noch.

»Ausladen!« erscholl die Stimme hinter uns im Dunkel. Der SS-Mann tauchte aus der Nacht auf. An seiner Brust hing ein handlicher Scheinwerfer. Er leuchtete in den Waggon.

»Was steht ihr so dämlich herum? Ausladen!« Sein Knüppel fegt über unsere Rücken. Ich packe die Hand eines Toten, und die Finger kramp­

fen sich um meine Hand wie ein Schraubstock. Mit einem Aufschrei reiße ich mich los und renne davon.

Mein Herz schlägt wie ein Hammer, mein Magen dreht sich um, die Knie geben nach. Ich rollte mich unter einem Waggon zusammen und erbrach mich. Dann kletterte ich zitternd die Böschung hinunter.

Ich lag auf kühlem, hartem Stahl und träumte davon, wieder ins Lager zurückzukehren. Ich träumte von der kahlen Pritsche ohne Strohsack, von den Splittern der Träume, die man gemeinsam mit den wenigen Freunden träumt, die heute nacht nicht vergast werden. Ganz plötz­lich erschien mir das Lager wie ein Hafen der Sicherheit, der Geborgenheit. Immer sind es die anderen, die sterben. Man selbst lebt irgendwie weiter, hat immer noch etwas zu essen, hat immer noch die Kraft zu arbeiten, immer noch ein Zuhause, eine Heimat, ein Mädchen … Die Lichter flimmern, der Menschenstrom fließt unaufhörlich weiter, fiebernd, trüb und betäubt. Diese Menschen glauben wirk­lich, daß sie im Lager ein neues Leben beginnen werden,

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sie schicken sich an, den harten Kampf ums nackte Dasein aufzunehmen. Sie wissen nicht, daß sie gleich sterben werden, daß sie all das Gold, all die Brillanten, die sie so sorglich und ängstlich in den Nähten ihrer Kleider ver­steckt haben, überhaupt nicht mehr brauchen werden.

Geschulte, routinierte Leute werden in ihren Eingewei­den herumstochern, werden das Gold unter ihren Zungen hervorholen, die Brillanten aus der Scheide und aus dem After fischen. Sie werden ihnen die Goldzähne ausbre­chen, und die ganze Beute wird sorgfältig verpackt in gro­ßen Kisten nach Berlin gehen.

Die schwarzen Schatten der SS-Männer bewegen sich ru­hig, mit fachmännischer Sicherheit. Der Herr mit dem No­tizbüchlein malt die letzten Striche, überschlägt das Er­gebnis: fünfzehntausend. Viele, sehr viele Autos sind zu dem Krematorium gefahren.

Die Arbeit geht zu Ende. Der letzte Wagen sammelt die Leichen ein, die auf der Rampe aufgereiht waren. Auch die Klamotten sind schon alle verstaut. Die Kanadier stel­len sich auf, zum Abmarsch. Sie sind schwer beladen. Mit Brot, Marmelade, Zucker, sie duften nach französischen Parfüms und nach frischer Wäsche.

Der Kapo ist eifrig mit einem großen Teekessel beschäf­tigt. Er stopft Seide hinein, Gold und Kaffee. Das ist für die Wachtposten am Tor. Dafür werden sie das Komman­do ohne Kontrolle passieren lassen. Ein paar Tage lang wird das Lager von diesem Transport leben, wird seine Schinken und seine Würste essen, seinen Schnaps und sei­ne Liköre trinken, seine Wäsche tragen und mit seinem Geld und seinen Schmucksachen handeln. Eine ganze Menge Dinge befördern die Zivilisten aus dem Lager. Nach Schlesien, nach Krakau, vielleicht noch weiter. Da­für bringen sie Zigaretten, Eier, Schnaps und Briefe von zu Hause … Ein paar Tage lang wird das Lager vom

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Transport »Bendzin-Sosnowiec« sprechen. Ein guter, rei­cher Transport ist es gewesen.

Als wir ins Lager zurückmarschieren, verblassen schon die Sterne. Der Himmel wird immer durchsichtiger, immer höher, der Morgen dämmert herauf. Es wird ein schöner Tag werden, klar und heiß.

Aus dem Krematorium steigen Rauchsäulen empor, die oben zu einer schweren, dunklen Wolke zusammenfließen. Unendlich langsam wälzt sich der schwarze, träge Strom über Birkenau und zieht über die Wälder dahin, bis er sich irgendwo in der Ferne verliert.

Der Transport aus Bendzin-Sosnowiec brennt schon. Eine SS-Einheit kommt uns entgegen. Sie trägt Maschi­

nengewehre und löst die Wachen ab. Sie marschiert in dichten, geschlossenen Reihen. Schulter an Schulter, eine Masse, ein Wille.

»Und morgen die ganze Welt …«, singen sie aus vollem Hals.

»Rechts ran!« ertönt das Kommando von vorn. Wir geben ihnen den Weg frei.

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BEI UNS IN AUSCHWITZ …

… und so bin ich also schon im Pflegerkurs. Man hat uns ausgewählt, uns paar Männer aus all den vielen von Bir­kenau, und jetzt werden wir geschult, fast so gut wie die Doktoren. Wir sollen wissen, wieviel Knochen der Mensch hat, wie das Blut kreist, was ein Bauchfell ist, wie man den Bandwurm bekämpft und die Parasiten, wie man keimfrei den Blinddarm operiert und wozu ein Ödem gut ist.

Eine wahrhaft edle Aufgabe haben wir: Wir werden un­sere Kollegen kurieren, die das »böse Schicksal« mit Krankheit straft, mit Apathie oder die keine Lust mehr ha­ben, weiterzuleben. Wir – ausgerechnet wir paar Männer von den vielen Tausenden aus Birkenau – sollen die Sterb­lichkeit im Lager mindern und den Lebensmut der Gefan­genen heben. Das sagte jedenfalls der Lagerarzt schon im Wegfahren, fragte uns noch nach unserem Beruf, und als ich ihm sagte: »Student«, hob er erstaunt die Brauen:

»Was haben Sie studiert?« »Literaturgeschichte«, sagte ich bescheiden. Er nickte enttäuscht mit dem Kopf, stieg in seinen Wa­

gen und fuhr davon. Dann marschierten wir auf einer sehr schönen Straße

nach Auschwitz, sahen das weite Land, irgend jemand teil­te uns irgendwo ein, als Gastpfleger im Krankenhaus­block, glaube ich, aber ich habe mich nicht übermäßig da­für interessiert, weil ich mit Staschek (weißt Du, das ist der, der mir die braune Hose schenkte) ins Lager ging, ich

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– um jemanden zu finden, der Dir diesen Brief bringen sollte, und Staschek zum Küchenblock und zum Magazin, um ein Stück Weißbrot zum Abendessen zu organisieren, ein Stück Margarine und wenigstens eine Wurst, weil wir zu fünft sind.

Ich fand natürlich keinen, denn ich bin schon ein »Mil­lionär«, und hier gibt es lauter alte, niedrige Nummern, und mich sieht man nur von oben herab an. Aber Staschek versprach, den Brief über seine Verbindungen wegzu­schicken, nur dürfe er nicht allzu lang sein, weil »es doch langweilig sei, jeden Tag an sein Mädchen zu schreiben«.

Sobald ich also gelernt habe, wieviel Knochen ein Mensch hat und was ein Bauchfell ist, werde ich Dir hof­fentlich sagen können, was Du gegen Deine Pyodermie machen kannst und was Deine Bettnachbarin mit ihrem Fieber anfangen soll. Ich fürchte nur, daß ich – auch wenn ich weiß, wie man einen Ulcus duodeni behandelt – immer noch nicht imstande sein werde, für Dich ein Tiegelchen mit Wilkinson-Salbe zu klauen, weil es im Augenblick in ganz Birkenau kein Gramm Krätzesalbe gibt. Bei uns ha­ben wir die Kranken mit Pfefferminztee begossen und da­bei die Krätze beschworen, allerdings mit Worten, die man leider nicht wiederholen kann.

Und was »Kampf dem Tod« anbelangt: ein Prominenter aus meinem Block erkrankte, es ging ihm schlecht, er fie­berte, sprach immer öfter vom Sterben. Eines Tages rief er mich zu sich. Ich setzte mich zu ihm ans Bett.

»Ich war doch bekannt im Lager, nicht wahr?« fragte er und sah mir unruhig in die Augen.

»Wer könnte dich jemals vergessen«, sagte ich unschul­dig.

»Schau«, sagte er und wies mit der Hand auf die Fen­sterscheiben, die der Feuerschein gerötet hatte.

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II

Es brannte, dort, hinter dem Wald. »Weißt du, ich möchte allein liegen. Nicht mit den ande­

ren zusammen. Nicht auf dem Haufen. Verstehst du?« »Hab keine Angst«, sagte ich herzlich. »Ich werde dir

sogar ein Bettlaken geben. Und mit den Totenträgern wer­de ich auch reden.«

Er drückte mir schweigend die Hand. Aber es klappte nicht. Er wurde wieder gesund und schickte mir aus dem Lager ein Stück Margarine. Ich schmiere mir damit die Schuhe ein, weil sie aus Fischen gemacht ist. So habe ich zu der Minderung der Sterblichkeit im Lager beigetragen. Aber Schluß damit, das ist zu sehr aus dem Lager.

Und es ist beinahe einen Monat her, daß ich keine Post von zu Hause habe …

Herrliche Tage für uns: kein Appell, keine Pflichten. Das ganze Lager ist angetreten, und wir stehen am Fenster, halb hinausgelehnt, Zuschauer aus einer anderen Welt. Die Menschen lächeln uns zu, wir lächeln zurück, man nennt uns: »die Kollegen aus Birkenau«, halb mitleidig, weil un­ser Schicksal so schäbig ist, halb beschämt, weil das der anderen so gnädig ist. Der Ausblick aus dem Fenster ist ganz harmlos, das »Kremo« sieht man nicht. Die Leute sind in Auschwitz verliebt, stolz sagen sie »bei uns in Auschwitz …«

Übrigens haben sie Grund genug, stolz zu sein. Versuche doch, Dir Auschwitz vorzustellen: Nimm den Warschauer Pawiak, diesen riesigen Gefängniskasten, dazu Serbien,

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beides mal achtundzwanzig, dann stelle das Ganze so dicht zusammen, daß zwischen den einzelnen Pawiaks nur schmale Lücken bleiben, jage zweimal Stacheldraht um das Ganze, baue von drei Seiten eine hohe Mauer auf, be­lege den Schlamm mit festen Pflastersteinen, pflanze hier und da ein anämisches Bäumchen – und setze einige zig­tausend Leute da hinein, die seit Jahren im Lager saßen, phantastische Qualen litten, die schlimmste Zeit überleb­ten und die jetzt messerscharfe Bügelfalten haben und beim Gehen die Hüften wiegen – wenn Du das alles getan hast, wirst Du begreifen, warum diese Menschen für uns nur ein mitleidiges Lächeln haben, für uns aus Birkenau, wo es nur Pferdebaracken aus Holz gibt, keinen einzigen gepflasterten Gehsteig und statt Bädern mit heißem Was­ser – vier Krematorien.

Vom »Pflegerheim« aus – der Betonboden erinnert an ein Gefängnis, außerdem gibt es viele, allzu viele drei­stöckige Pritschen –, hat man eine prächtige Aussicht auf die Straße draußen, in der Freiheit. Ab und zu geht ein Mensch vorbei, manchmal fährt ein Wagen vorüber, ein Leiterwagen, und manchmal kommt jemand geradelt – si­cher ein Arbeiter, der nach Hause fährt. Noch weiter, ganz weit entfernt (Du hast keine Ahnung, wieviel Raum in so einem kleinen Fenster Platz findet; nach dem Krieg – wenn ich überlebe – möchte ich in einem hohen Haus wohnen, mit Fenstern aufs Feld), sind ein paar Häuser und dann ein dunkler Wald. Die Erde ist schwarz und muß feucht sein. Wie in Staffs Sonetten »Spaziergang im Früh­ling«, weißt Du noch? Doch bei uns im Pflegerhaus gibt es auch durchaus zivile Sachen: Ein riesiger Kachelofen steht da, mit farbigen Majolika-Kacheln, wie sie bei uns im La­ger gelegen hatten. Dieser Ofen hat ausgesprochen klug angeordnete Bratroste: Außen sieht man sie nicht, aber man könnte ein Schwein darauf braten. Auf den Pritschen

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»kanadische« Decken, mollig wie Katzenfell. Weiße, fal­tenlose Bettlaken. Und auf dem Tisch eine Tischdecke, aber nur für die Feiertage und zum Essen.

Unter dem Fenster führt ein von Birken eingesäumter Weg vorbei – der Birkenweg. Schade, daß es Winter ist und die kahlen Zweige »weinend« herabhängen wie aus­gefranste Besen und daß der Rasen unter ihnen im Schlamm erstickt ist – genau wie draußen, in der »ande­ren« Welt jenseits des Weges, nur daß man ihn hier mit Füßen treten muß.

Abends, nach dem Appell, spazieren wir den Birken­weg auf und ab. Gemächlich, würdevoll schreiten wir da­hin, grüßen mit einem Kopfnicken Bekannte. An einer Kreuzung steht ein geschnitzter Wegweiser. Die Schnit­zerei stellt zwei Gestalten dar, die nebeneinander auf ei­ner Bank sitzen und miteinander flüstern, und eine dritte beugt sich zu ihnen herab und hält lauschend ein Ohr hin. Das Ganze ist eine Warnung: Jedes deiner Worte wird belauscht, kommentiert und hingebracht, wohin es ge­hört. Hier weiß jeder von jedem alles: was und von wem er organisierte, wen er verriet und mit bloßer Hand er­würgte, und jeder lächelt, sobald du über jemanden ein gutes Wort sagst.

Stell Dir also Pawiak vor, mal soundsoviel, ein paarmal mit Stacheldraht umwickelt. Nicht wie in Birkenau, wo auch die Wachttürme auf hohen Pfählen stehen, wie Stör­che auf dünnen, langen Beinen; wo die Lampen nur an je-dem dritten Pfosten hängen; wo der Stacheldraht nur ein­fach ist, dafür aber so viele Abschnitte hat, daß man sie gar nicht zählen kann.

Hier ist es anders: die Lampen leuchten von jedem zwei­ten Pfosten, und die Türme sind solide untermauert, der Stacheldraht zweifach gezogen und außerdem noch die Mauer. Wir promenieren auf dem Birkenweg, angetan mit

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unseren Zivilkleidern – die einzigen fünf Menschen in ganz Auschwitz, die keine Streifen tragen.

Wir gehen den Birkenweg entlang, glattrasiert, frisch und unbekümmert. Grüppchen bilden sich, man bleibt ste­hen, oft vor dem zehnten Block, in dem hinter Gittern und schalldicht vernagelten Fenstern Mädchen sitzen – Ver­suchskaninchen; aber den größten Andrang gibt es vor der Schreibstube, nicht weil dort der Konzertsaal ist, die Bi­bliothek und das Museum, sondern ganz einfach deswe­gen, weil im ersten Stock der Puff untergebracht wurde. Was ein Puff ist, schreibe ich Dir ein andermal. Heute kannst Du ruhig ein bißchen neugierig sein …

Du weißt gar nicht, wie sonderbar es ist, Dir zu schrei­ben, Dir, die ich so lange nicht mehr gesehen habe. Dein Bild verschwimmt in meiner Erinnerung und läßt sich auch bei großer Konzentration nicht mehr zurückrufen. Eigenartig, wie klar und deutlich ich Dich im Traum sehe! Weißt Du, ein Traum ist nicht wie ein Bild, sondern wie ein Erlebnis, man empfindet den Raum, und man fühlt die Schwere der Gegenstände und die Wärme Deines Körpers … Es fällt mir schwer, Dich zu sehen, wie Du jetzt auf ei­ner Pritsche liegst, das Haar abgeschnitten nach dem Ty­phus. Ich erinnere mich an Dich noch vom Pawiak her: an das hochgewachsene, schöne Mädchen mit dem leichten Lächeln und den traurigen Augen. Im Gestapogebäude hast Du mit geneigtem Kopf dagesessen, ich sah nur Dein dunkles Haar, das sie jetzt abgeschnitten haben.

Das ist das Stärkste, was mir aus der anderen, der fernen Welt geblieben ist: Dein Bild, obwohl ich mich kaum noch daran zu erinnern vermag. Deshalb schreibe ich Dir lange Briefe: Das sind meine abendlichen Gespräche mit Dir, wie damals in der Skaryszewskastraße. Und deshalb sind meine Briefe so behaglich, so heiter. Ich habe mir viel Heiterkeit bewahrt, und ich weiß, daß auch Du sie nicht

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verloren hast. Trotz allem. Trotz Gestapo und gesenktem Kopf, trotz Typhus und Lungenentzündung und – kurzge­schorenem Haar.

Und die Menschen … Schau, diese Leute haben eine schreckliche Schule hinter sich, die Schule des Lagers, so wie es am Anfang war, des Lagers, von dem man sich heute Legenden erzählt. Jeder von ihnen wog damals knapp dreißig Kilo, man schlug sie, sie wurden für die Gaskammern ausgewählt. Verstehst Du jetzt, warum sie heute in lächerlichen, taillierten Sakkos herumlaufen, war­um sie sich beim Gehen in den Hüften wiegen und nichts als Lobeshymnen für Auschwitz haben?

Ja, so ist es … Wir promenieren den Birkenweg entlang, elegant in unseren Zivilanzügen. Aber was hilft uns das al­les, wenn wir doch Millionäre sind! Hundertdreitausend, hundertneunzehntausend, Jammer, nichts als Jammer. Schade, daß wir es nicht geschafft haben, eine kleinere Nummer zu erwischen. Jemand im gestreiften Anzug kommt heran, siebenundzwanzigtausend, alte Nummer, schwindlig kann man davon werden. Ein ganz junger Ben­gel mit dem leicht getrübten Blick eines Onanisten und dem vorsichtigen Gang eines Tieres, das Gefahr wittert.

»Kollegen, woher kommt ihr?« »Aus Birkenau, Kollege.« »Aus Birkenau?« Er sah uns kritisch an. »Und da seht

ihr so gut aus? Dort ist es doch schrecklich … Wie konntet ihr das bloß aushalten?«

Witek, mein langer Freund, ein brillanter Musiker, zupf­te sich die Manschetten zurecht und sagte:

»Ja, Konzertflügel hatten wir allerdings nicht, aber aus­halten konnte man’s schon.«

Die alte Nummer sah ihn wie durch einen Nebelschleier an: »Wir fürchten uns vor Birkenau …«

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III

Die Kurse schleppen sich langsam dahin, wir warten noch auf die Pfleger aus der Umgebung: Janina, Jaworzu, Buna. Auch die Pfleger aus Gleiwitz und Mysłowice sollen kommen, das sind etwas abgelegene Lager, die noch zu Auschwitz gehören. Vorerst haben wir ein paar hochtra­bende Reden des schwarzen Kursusleiters gehört; so ein kleines, vertrocknetes Männchen, unser kleiner Adolf, kam erst kürzlich aus Dachau und ist bis oben mit Kame­radschaft vollgepumpt. Er will die Gesundheit im Lager durch die Ausbildung von Pflegern verbessern, die Sterb­lichkeit dadurch mindern, daß er uns das menschliche Nervensystem erklärt.

Der kleine Adolf ist ein ungewöhnlich sympathischer Bursche und augenscheinlich nicht von dieser Welt, aber er ist ein Deutscher, und als solcher versteht er nicht den Zusammenhang zwischen den Begriffen und der Welt der Erscheinungen; sagt »Kameraden« und denkt wirklich und wahrhaftig, Kameradschaft sei hier möglich. Auf dem La­gertor besagen kunstvoll verflochtene Buchstaben: »Arbeit macht frei!« Vielleicht glauben sie tatsächlich daran, die SS-Männer und die deutschen Gefangenen. Die, die mit Luther, Fichte, Hegel und Nietzsche großgeworden sind. Da es also im Augenblick keine wirklichen Kurse gibt, bummele ich im Lager herum und sammele neue Eindrük­ke. Eigentlich bummeln wir zu zweit, manchmal zu dritt: Staschek, Witek und ich. Staschek meistens um den Kü­chenblock herum, ewig auf der Suche nach jemandem, dem er einmal etwas gegeben hat und der jetzt an der Rei­

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he wäre, etwas dagegen zu leisten. Gegen Abend beginnt dann die Prozession. Sonderbare Typen kommen zu uns, mit unguten, tückischen Augen, aber mit freundlichem Grinsen in den glattrasierten Visagen, und fischen allerlei Dinge unter den knappsitzenden Jacken hervor: Einer bringt ein Stück Margarine, der andere ein Stück Weißbrot aus dem Krankenrevier, noch ein anderer hält uns eine lange Wurst hin, sein Freund hat Zigaretten. Sie schmei­ßen alles auf die untersten Pritschen und verschwinden wie im Film. Wir teilen die Beute auf; was noch fehlt, wird aus unseren Päckchen dazugetan, dann kochen und braten wir in unserem Kachelofen mit den schönen, farbi­gen Majolika-Kacheln.

Witek hat keine Ruhe. Ihn zieht es zu dem Fortepiano. Der schwarze Kasten steht im Konzertsaal, im gleichen Block, wo der Puff ist, aber es ist verboten, während der Arbeitszeit zu musizieren, und nach dem Appell spielen die Musiker, die auch jeden Sonntag Sinfoniekonzerte ge­ben. Da muß ich übrigens auch einmal hin.

Gleich gegenüber dem Konzertsaal haben wir eine Tür mit der Aufschrift »Bibliothek« entdeckt, aber Eingeweih­te behaupten, die sei nur für Reichsdeutsche und es gäbe dort nichts als ein paar Krimis. Ich konnte mich leider nicht selbst überzeugen, weil die Tür ewig verschlossen ist. Neben der Bibliothek, auch noch im Kulturblock, ist die Politische Abteilung und ein Stück weiter – das Muse­um. Dort werden die Bilder aufbewahrt, die man aus den Briefen herausgeholt hat, sonst nichts. Schade, der Platz würde sich hervorragend zur Aufbewahrung der halbge­backenen menschlichen Leber eignen, die mein griechi­scher Freund angeknabbert hatte und für die er fünfund­zwanzig auf den nackten Arsch bekam.

Doch das Wichtigste ist oben, im ersten Stock. Das ist der Puff. Da sind Fenster, die sogar im Winter halb offen­

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stehen. In den Fenstern sieht man – nach dem Appell – Frauenköpfe in allen Farben und Schattierungen, und aus den blauen, rosafarbenen und hellgrünen (die Farbe mag ich am liebsten) Schlafröcken tauchen Arme auf, die wei­ßer sind als Meerschaum. Fünfzehn Köpfe, glaube ich, und dreißig Arme, die alte Madame nicht mitgezählt, de­ren schwerer, epischer, legendärer Busen die Köpfe, Nak­ken, Arme und so weiter bewacht. Madame pflegt nicht am Fenster zu stehen, dafür amtiert sie wie ein Zerberus an der Pufftür.

Um den Puff herum drängt sich die Lagerprominenz. Wenn es zehn Julias gibt, so kommen auf sie mindestens tausend Romeos, und bei Gott nicht die schlechtesten. Um jede Julia gibt es hier Gedränge und harte Konkurrenz. Die Romeos stehen in den Fenstern der gegenüberliegenden Blocks, schreien, signalisieren mit den Armen und locken. Der Lagerälteste gehört dazu, der Lagerkapo, die Ärzte aus dem Spital, die Kapos von den einzelnen Kommandos. Manche Julia hat einen festen Verehrer, und außer Beteue­rungen der ewigen Liebe, außer Versprechungen eines besseren, glücklicheren, gemeinsamen Lebens nach dem Lager, neben Streit und Vorwürfen hört man auch konkre­te Gespräche, die sich vorwiegend mit Seife, Parfüm, sei­denen Höschen und Zigaretten beschäftigen.

Eine gewisse Solidarität verbindet die Menschen hier; es gibt keinen unlauteren Wettbewerb. Die Mädchen in den Fenstern sind zwar reizend, aber, wie Goldfische im Aqua­rium, unerreichbar.

So sieht der Puff von außen aus. Hinein kommt man nur über die Schreibstube, und zwar mit einer Karte, die man als Belohnung für gute und fleißige Arbeit bekommt. Wir, Gäste aus Birkenau, haben allerdings auch hier den Vor­tritt, aber wir lehnten ab, weil wir die roten Wimpel der »Politischen« tragen; sollen die Kriminellen haben, was

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ihnen zusteht. Mag es Dir auch leid tun, mein Bericht muß ein Bericht aus zweiter Hand bleiben, selbst wenn er sich auf so verläßliche Zeugenaussagen und so alte Nummern stützt wie Pfleger M. (fast schon ehrenhalber) aus unserem Block, dessen Nummer dreimal kleiner ist als die letzten zwei Zahlen meiner Nummer. Verstehst Du? Einer von den Gründern! Darum watschelt er auch wie eine Ente und trägt breite Hosen mit Zwickeln, vorn mit Agraffen zu­sammengehalten. Abends pflegt er fröhlich zu sein. Er ga­loppiert in die Schreibstube, stellt sich auf, und sobald ei­ne der »zugelassenen« Nummern aufgerufen wird und nicht da ist, schreit er »Hier!«, grabscht nach dem Passier­schein und trabt zu Madame. Er drückt ihr ein paar Päck­chen Zigaretten in die fetten Pranken, sie unterzieht ihn einer ganzen Reihe vornehmlich hygienischer Behandlun­gen, und der frischgespritzte Pfleger jagt mit großen Sät­zen die Treppe hinauf. Im Gang spazieren die Julias aus dem Fenster, die Schlafröcke nachlässig um den Körper gewickelt. Hie und da kommt eine an den Pfleger heran und fragt so nebenbei: »Welche Nummer haben Sie?«

»Acht«, sagt er und schaut sicherheitshalber auf seine Karte.

»Ach, das bin ich nicht, das ist die Irma, die kleine Blondine«, haucht sie, etwas enttäuscht, und schwebt da­von, zum Fenster hin.

Und der Pfleger geht zu der Tür mit Nummer acht. Schnell liest er noch den Anschlag, der besagt, dies und jenes Vergnügen ist verboten, sonst gibt es Bunker, das und das ist erlaubt (einzeln aufgezählt), und soundsoviel Minuten darf man bleiben. Er schickt einen Stoßseufzer zum ›Judas‹ hin, durch den manchmal die Kolleginnen hineinlinsen, ab und zu mal die Madame und manchmal der Kommandoführer vom Puff oder sogar der Lagerfüh­rer selbst. Der Pfleger schließt die Tür, legt eine Packung

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Zigaretten auf den Tisch, dann … Ach so, er bemerkt noch, daß auf dem Nachttischchen zwei Packungen engli­sche Zigaretten liegen. Dann erst kommt es, und … da­nach geht der Pfleger wieder hinaus und steckt zerstreut die zwei Packungen englische Zigaretten ein. Draußen wird er wieder desinfiziert, und anschließend erzählt er uns glücklich und fröhlich jede Einzelheit.

Ab und zu versagt die Desinfektion, und als Folge davon brach kürzlich im Lager eine Epidemie aus. Der Puff wur­de gesperrt, sämtliche Nummern wurden geprüft, amtlich vorgeladen und behandelt. Da aber der Handel mit den Passierscheinen eine breit angelegte Aktion ist, wurden auch diejenigen behandelt, die keine Behandlung brauch­ten. Ja, so ist das Leben. Außerdem machten die Mädchen aus dem Puff auch Ausflüge ins Lager. Nachts kletterten sie aus ihren Fenstern und zogen los, als Männer verklei­det, zu Trinkgelagen und Orgien. Leider mißbilligte der Posten vom Wachtturm in der Nachbarschaft die Ausflüge der Damen, und das Vergnügen fand ein jähes Ende.

Anderswo gibt es auch Frauen: im zehnten Block, dem Versuchsblock. Dort werden sie künstlich befruchtet (so sagt man jedenfalls), man impft ihnen Typhus ein, Mala­ria, chirurgische Eingriffe werden dort probiert. Ich habe den Mann, der es tut, flüchtig gesehen: Er trug einen grü­nen Jägeranzug, einen Tirolerhut mit Sportabzeichen, sein Gesicht sah aus wie das eines gutmütigen Satyrs. An­scheinend ein Universitätsprofessor.

Die Frauen sind mit Gittern und Brettern gegen die Au­ßenwelt geschützt. Aber es kommt recht häufig vor, daß einer einbricht und die Frauen befruchtet, und zwar kei­neswegs künstlich. Der alte Professor muß dann ganz schön wütend sein.

Verstehe bitte: die Menschen, die so etwas tun, sind kei­neswegs abnormal. Das ganze Lager, sobald es gegessen

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und geschlafen hat, spricht nur von Frauen, das ganze La­ger träumt von Frauen, das ganze Lager ist hinter Frauen her. Der Lagerälteste wurde zum Straftransport geschickt, weil er durchs Fenster in den Puff gekrochen war. Ein neunzehnjähriger SS-Mann erwischte den Kapellmeister, einen würdigen, fetten, älteren Mann, und ein paar Ärzte in unmißverständlichen Positionen mit Frauen, die in die Ambulanz gekommen waren, um sich Zähne ziehen zu lassen. Der SS-Mann zögerte nicht, mit dem Knüppel, den er gerade in der Hand hielt, entsprechende Portionen auf entsprechende Körperteile zu verabreichen. So ein Ereig­nis ist keine Blamage: Sie hatten einfach Pech.

Im Lager wächst die Frauenpsychose. Deswegen werden die Frauen aus dem Puff wie normale Frauen behandelt, man spricht mit ihnen von Liebe und vom häuslichen Glück. Zehn Frauen gibt es im Puff, und das Lager hat ei­nige zigtausend Insassen.

Deswegen reißt sich jeder darum, nach Birkenau zu kommen, ins Frauen-KZ. Diese Menschen sind krank. Und denke Dir: Es gibt nicht nur Auschwitz. Es gibt Hunderte großer Lager. Weißt Du, woran ich denke, während ich Dir das alles schreibe?

Es ist später Abend; ein Schrank trennt mich von dem großen Schlafsaal, in dem die Kranken stöhnen, und ich sitze in dem winzig kleinen Zimmer, unter dem dunklen Fenster, in dessen Scheibe sich mein Gesicht spiegelt, der lichtgrüne Schirm der Lampe und die weiße Karte, die vor mir auf dem Tisch liegt. Franz, der Junge aus Wien, moch­te mich schon am ersten Abend – und ich sitze jetzt an seinem Tisch, seine Lampe leuchtet mir, und auf seinem Papier schreibe ich Dir. Und doch schreibe ich nichts von dem, worüber wir heute mit Franz geredet haben: deutsche Literatur, Schuld, romantische Philosophie, Probleme des Materialismus.

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Weißt Du, woran ich denke, wenn ich Dir schreibe? Ich denke an die Skaryszewskastraße. Ich blicke aus dem Fen­ster, sehe mein Gesicht, das sich in der Scheibe spiegelt, sehe die dunkle Nacht hinter dem Fenster und die jähen Blitze der Scheinwerfer von den Wachttürmen, die Frag­mente der Gegenstände, die plötzlich erstrahlen. Ich schaue und denke an unsere Skaryszewskastraße. Ich erin­nere mich an den Himmel, blaß und erloschen, an das aus­gebrannte Haus gegenüber und an das Fenstergitter, das dieses Bild in Stücke schneidet.

Ich denke daran, wie sehr ich mich nach Deinem Körper sehnte, und möchte lachen, wenn ich mir vorstelle, welchen Krach es gegeben haben muß, als sie uns verhaftet und ne­ben meinen Büchern und Gedichten auch Deine Parfüm­fläschchen gefunden hatten und Deinen Morgenmantel, rot wie der Brokat auf Velazquez’ Bildern (ich habe den Mor­genmantel sehr geliebt – darin hast Du immer am schönsten ausgesehen –, obwohl ich es Dir nie gesagt habe).

Ich denke daran, wie reif Du warst, wieviel guten Willen und – verzeih, daß ich es Dir erst jetzt schreibe – wieviel andächtige Hingabe Du in unsere Beziehung gebracht hast, wie freudig Du in mein Leben kamst, in das kleine Zimmer ohne Wasser, in meine Abende mit kaltem Tee, mit den halbverwelkten Blumen, mit meinem Hund, der jeden biß, mit der Petroleumlampe meiner Eltern.

Daran denke ich, und habe nur ein glückseliges Lächeln für all die hochtrabenden Reden von Moral, Recht, Tradi­tion und Pflicht … Oder wenn sie jegliche Verweich­lichung und jede Sentimentalität verpönen und mit geball­ter Faust das Zeitalter der Härte predigen. Ich lache und denke, daß ein Mensch immer wieder einen anderen Men­schen finden wird – durch Liebe. Und daß Liebe das Wichtigste und das Dauerhafteste ist, was es im Leben ei­nes Menschen gibt.

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IV

Daran denke ich und erinnere mich an meine Zelle im Pawiak. In den ersten Wochen konnte ich nicht begreifen, daß es einen Tag ohne Buch geben sollte, ohne den Licht­kreis der Abendlampe, ohne ein Blatt Papier, ohne Dich …

Aber sieh, was die Gewohnheit vermag: Ich ging in mei­ner Zelle auf und ab, und der Rhythmus meiner Schritte formte sich zu Versen. Einen dieser Verse habe ich mei­nem Zellengenossen in seine Bibel geschrieben, aber von den anderen weiß ich noch einen, den für meine Freunde in der Freiheit:

Freunde in Freiheit; mit meinem Gefangenenlied grüße ich euch, damit ihr wißt, ich bin nicht verzweifelt gegangen. Weil ich weiß: meine Liebe bleibt und meine Poesie, und, solange ihr lebt, die Erinnerung meiner Freunde.

Heute ist Sonntag. Vor dem Mittagessen waren wir spazie­ren, sahen uns von oben den Versuchsblock mit den Frau-en an (sie steckten die Köpfe durch die Gitter, genau wie die Kaninchen meines Vaters, das weißt Du doch noch, grau waren sie, mit einem heruntergeklappten Ohr), da­nach haben wir uns den SK-Block angesehen (unten im Hof ist die schwarze Mauer, vor der früher mal die Men­schen erschossen wurden, heute machen sie es leiser und diskreter – im Krematorium). Wir erblickten ein paar Zivi­listen: zwei verängstigte Frauen in Pelzmänteln und einen Mann mit zerknittertem, übernächtigten Gesicht. Ein SS­

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Mann begleitete sie – hab keine Angst –, sie wurden nur in die hiesige Arrestzelle gebracht, vorübergehend, es ist im SK-Block. Die Frauen betrachteten erstaunt die Menschen in den gestreiften Anzügen und die eindrucksvollen La­gereinrichtungen: die hohen Häuser, den doppelten Sta­cheldraht, die Mauer hinter den Drähten, die soliden Wachttürme. Wenn sie wüßten, daß die Mauer zwei Meter tief in die Erde reicht – so sagt man wenigstens –, damit sie nicht untergraben werden kann! Wir lächelten ihnen zu, weil es doch eine Komödie ist: Ein paar Wochen brummen sie, und dann sind sie frei. Es sei denn, man könnte ihnen wirklich nachweisen, daß sie Schwarzhandel getrieben haben. Dann allerdings wandern sie ins Krema­torium. Diese Zivilisten sind komische Leute. Sie reagie­ren beim Anblick des Lagers wie die Wildschweine beim Anblick einer Feuerwaffe. Sie verstehen nichts vom Me­chanismus unseres Lebens und wittern dahinter etwas Unwahrscheinliches, etwas Mystisches, etwas, was über menschliche Kräfte geht.

Weißt Du noch, wie Du Dich überrascht hingesetzt hast, als man Dich verhaftete? Du hast es mir selbst geschrie­ben. Ich habe damals bei Maria den ›Steppenwolf‹ gelesen (die hatte auch alle möglichen Bücher), aber ich weiß nicht mehr genau, wie es alles war.

Heute sind wir mit dem Unwahrscheinlichen, dem My­stischen, auf du und du. Das Krematorium gehört zu unse­rem täglichen Brot, es gibt Tausende Fälle von Phlegmo­nen und Tuberkulose, wir wissen, was Wind und Regen ist, Sonne und Brot und Rübensuppe und Arbeit, wir wis­sen, wie man es macht, daß man nicht erwischt wird, wir kennen Unfreiheit und Obrigkeit, weil wir – sozusagen – gut Freund mit der Bestie sind, und daher sehen wir die von draußen ein bißchen herablassend an, wie ein Gelehr­ter einen Laien, wie ein Geweihter den Profanen.

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Versuche einmal, den täglichen Geschehnissen ihre All­täglichkeit zu nehmen, denke Dir die Ungläubigkeit weg und den Ekel und die Verachtung, und dann finde für das Ganze eine philosophische Formel. Für Gas und Gold, für Appelle und den Puff, für die Zivilisten und die alten Nummern.

Hätte ich Dir gesagt, damals, als wir beide in meiner kleinen Kammer tanzten, unter der orangefarbenen Lam­pe, nimm eine Million Menschen, nimm zwei Millionen Menschen oder drei Millionen und töte sie, aber so, daß niemand etwas davon erfährt, selbst die Getöteten nicht, nimm einige hunderttausend Menschen gefangen, brich ihr Solidaritätsgefühl, hetze einen Menschen auf den anderen Menschen und … Du hättest mich glatt für verrückt erklärt und wahrscheinlich sogar aufgehört, mit mir zu tanzen. Ich hätte es natürlich niemals gesagt, auch dann nicht, wenn ich damals schon ein Lager gekannt hätte, denn damit hät­te ich die Stimmung verdorben.

Und hier, schau: zuerst eine gewöhnliche Scheune, weiß gestrichen und – darin werden Menschen vergast. Dann vier größere Gebäude – zwanzigtausend, wie ein Kinder­spiel. Ohne Zauber, ohne Giftmischerei, ohne Hypnose. Ein paar Kerle, die den Verkehr regeln, damit es keine Stauungen gibt, und die Menschen fließen dahin wie Was­ser aus dem aufgedrehten Wasserhahn. Das alles geschieht unter ein paar blutarmen Bäumchen eines schütteren, ver­qualmten Waldes. Gewöhnlich bringen schwere Lastwa­gen die Menschen heran, kehren um wie auf einem Fließ­band und bringen neue. Ohne Zauber, ohne Giftmischerei, ohne Hypnose.

Wie kommt es, daß keiner aufschreit, niemand einem ins Gesicht spuckt, niemand sich auflehnt? Wir ziehen unsere Mützen vor den SS-Männern, wenn sie fertiggezählt haben und aus dem Wald zurückkommen, wir gehen mit ihnen in

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den Tod und – nichts! Wir hungern, wir stehen im Regen, man nimmt uns unser Liebstes. Siehst Du, das ist die My­stik. Das ist die sonderbare Macht eines Menschen über einen anderen. Die wilde Überrumpelung, die keiner bre­chen kann. Und die einzige Waffe, die wir haben, ist unse­re Zahl – wir sind zu viele, die Kammern fassen uns nicht.

Oder noch anders: einen Spatenstiel in die Gurgel, und hundert Menschen pro Tag. Oder Suppe aus Brennesseln, Brot mit Margarine, danach ein junger SS-Mann mit einem zerknitterten Papierchen in der Pranke, eine Nummer, in den Arm tätowiert, und dann ein Laster, einer von denen … Weißt Du, wann man zum letztenmal die »Arier« ins Gas geschickt hat? Am elften April; und weißt Du, wann wir ins Lager gekommen sind? Am neunundzwanzigsten April. Was wäre wohl aus Deiner Lungenentzündung ge­worden, wenn wir drei Monate früher gekommen wären?

… ich weiß, daß Deine Freundinnen, die mit Dir zu­sammen auf der Pritsche liegen, sich über meine Worte wundern werden. »Du hast doch gesagt, Dein Tadek sei ein gemütlicher, heiterer Bursche. Und da schau mal, was er für düstere Sachen sagt.« Bestimmt sind sie mir böse. Aber man kann doch reden über das, was um uns herum geschieht. Wir sind es doch nicht, die das Böse leichtfertig und unverantwortlich heraufbeschwören, wir stecken doch mittendrin …

… siehst Du, wieder ein später Abend nach einem Tag voll sonderbarer Ereignisse.

Nach dem Mittagessen habe ich mich auf den Weg ge­macht, zum Boxkampf, in die große Waschraumbaracke, in der früher vergast wurde. Wir wurden ohne weiteres hi­neingelassen, obwohl die Baracke bereits zum Bersten voll war. Im großen Warteraum hatte man den Ring errichtet. Flutlicht von oben, der Richter (nebenbei bemerkt ein pol­nischer Olympia-Richter) da, die Boxer von internationa­

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lem Ruhm, aber alles nur Arier, Juden dürfen nicht auftreten. Und die Menschen – dieselben Menschen, die Tag für Tag den anderen Zähne einschlagen, die selbst manchmal zahnlo­se Kiefer haben –, die begeistern sich für Czortek, für Walter aus Hamburg und für irgendeinen Bengel, den man im Lager bis zur großen Klasse trainiert hat. Heute noch erzählt man sich bei uns von der Nummer 77, einem Mann, der hier die Deutschen klopfte, wie er wollte, und der sich im Ring für alles rächte, was den anderen draußen angetan wurde. Der Saal war blau von Zigarettenqualm, und die Boxer trommel­ten aufeinander los, was das Zeug hielt. Zwar nicht fach­männisch, dafür aber mit um so größerem Aufwand.

»Der Walter«, sagt Staschek, »schau nur hin. Auf dem Kommando legt er den Muselmanen mit einem Schlag um, wenn er will, und hier – drei Runden und nichts. Hat auch noch eins in die Fresse gekriegt. Offenbar zuviel Zu­schauer, was?«

Zuschauer waren wirklich viele, zusammengepfercht bis zum Ersticken, und wir – schön bequem in der ersten Rei­he. Natürlich – Gäste.

Gleich nach dem Boxkampf bin ich zur Konkurrenz ge­gangen – zum Konzert. Ihr dort, in Eurem Birkenau, Ihr habt überhaupt keine Ahnung, welche Wunder an Kultur man hier, ein paar Kilometer von den Krematorien, erle­ben kann. Stelle Dir nur vor: Sie spielen die Ouvertüre zum ›Tancred‹ und danach etwas von Berlioz und noch ir­gendwelche Finnischen Tänze von einem Kerl, dessen Name zu viele aaa’s hat. So ein Orchester gibt es in ganz Warschau nicht! Aber laß mich der Reihe nach erzählen, und höre gut zu, es lohnt sich. Also zuerst kam ich aus dem Waschraum, freudig erregt, und ging gleich in den Block, in dem auch der Puff ist. Direkt unter dem Puff ist der Konzertsaal. Es war ziemlich voll und laut hier, die Zuhörer standen an den Wänden entlang, die Musiker

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stimmten ihre Instrumente, jeder saß dort, wo es gerade Platz gab, verstreut über den ganzen Saal. Gegenüber dem Fenster ist ein kleines, erhöhtes Podium, der Küchenkapo (zugleich Kapellmeister) kletterte da hinauf, die Kartoffel­schäler und der Kerl von der Rollwaage (das habe ich ver­gessen, die Musiker schälen sonst Kartoffeln und bedienen die Loren) fingen an zu spielen. Ich konnte mich gerade noch zwischen das Fagott und die zweite Klarinette set­zen, und schon ging’s los. Ich hockte also auf dem unbe­setzten Stühlchen der ersten Klarinette und gab mich ganz dem Lauschen hin. Du würdest es nie für möglich halten, wie mächtig ein dreißigköpfiges Orchester in einem gro­ßen Zimmer klingt! Der Kapellmeister schwang seinen Taktstock sehr gemäßigt, damit er nicht mit der Hand ge­gen die Wand käme, dazwischen drohte er mit geballter Faust jedem, der falsch spielte. Bei den Kartoffeln werden sie es ja kriegen! Aus einer Ecke dröhnte die Trommel, aus der anderen Ecke tönten die Timpani, beide taten, was sie konnten, um alles noch zu retten. Das Fagott übertönte alles, vielleicht deswegen, weil ich dicht daneben saß. Nur noch die Timpani waren zu hören. Die fünfzehn Zuhörer (mehr Leute gingen nicht hinein) lauschten mit sachkun­diger Hingabe und belohnten die Musiker mit sparsamem Applaus … Irgend jemand nannte unser Lager »Betrugs­lager« – das Lager der Schwindler. Eine dünne Hecke ne­ben dem weißen Haus, der Vorplatz wie in einem Dorf, Tafeln mit der Inschrift »Bad« – das reicht schon, um Mil­lionen Menschen zu täuschen, bis zum Tod. Ein bißchen Boxen, magere Rasenstreifen vor den Blocks, zwei Mark monatlich für die fleißigsten Häftlinge, Senf in der Kanti­ne, wöchentliche Entlausung und die ›Tancred‹-Ouvertüre reichen, um die ganze Welt zu täuschen – uns auch. Die draußen meinen zwar, es sei abscheulich, aber doch nicht so abscheulich, daß man es nicht aushalten könnte – wo es

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doch Boxen gibt, Rasenstreifen und Decken auf den Prit­schen … Auch der Brotkanten trügt, den man sich besor­gen muß, damit man am Leben bleibt.

Die Arbeitszeit trügt, während der man weder sitzen noch reden noch ausruhen darf. Betrug ist jede Schaufel Erde, die wir – nicht ganz voll – auf den aufgeschütteten Wall heben.

Sieh Dir das alles an, und verliere nicht den Mut, wenn es Dir schlecht geht.

Denn es könnte ja sein, daß wir einmal darüber berichten müssen, daß wir einmal den Lebenden Rechenschaft ab­geben müssen und daß wir uns zur Verteidigung der Toten erheben müssen.

Früher einmal marschierten wir im Kommando ins Lager zurück. Und ein Orchester spielte dazu schmissige Märsche. Dann kamen DAW und andere Kommandos und warteten vor dem Tor; zehntausend Männer. Gerade in dem Augenblick rollten Lastwagen vom Frauen-KZ herüber und brachten nackte Frauen. Die Frauen rangen die Hände und riefen:

»Helft uns! Rettet uns! Wir werden vergast! Hilfe!« Und sie fuhren an uns vorüber – an zehntausend schwei­

genden Männern. Kein Mensch rührte sich, keine Hand hob sich. Weil die Lebenden immer recht haben und die Toten nie.

Zuerst waren wir im Kursus. Das heißt, im Kursus sind wir eigentlich schon lange, nur habe ich Dir nie etwas dar­über geschrieben, weil er oben im Dachgeschoß stattfin­

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det, wo es ziemlich kalt ist. Wir sitzen auf organisierten Stühlen und haben jede Menge Spaß, hauptsächlich mit großen Modellen des menschlichen Körpers. Die Neugie­rigen schauen zu, wie das Ganze aussieht, aber Witek und ich spielen mit dem Schwamm und fechten mit den Linea­len, und unser kleiner Adolf wird langsam verrückt. Er fuchtelt mit den Händen und faselt von Kameradschaft und Lager. Wir setzen uns also still in die Ecke, Witek holt das Photo seiner Frau aus der Tasche und fragt mich leise:

»Ich möcht wissen, wieviel Männer er eigentlich in Da­chau umgebracht hat. Sonst hätte man ihn nicht hierher versetzt. Könntest du ihn erwürgen?«

»Hm – hübsche Frau hast du. Wie bist du zu einem so hübschen Mädchen gekommen?«

»Das war so. Einmal waren wir spazieren. Du weißt, wie das ist. Alles grün, schmaler Seitenweg, ringsherum nur Wald. Wir gehen dicht aneinandergeschmiegt, und da stürzt plötzlich ein SS-Hund aus dem Wald …«

»Nun mach mal einen Punkt! Das war doch in Pruszkόw, nicht in Auschwitz.«

»Doch, tatsächlich ein SS-Hund. Nebenan war eine Villa, und der SS-Mann hatte sie beschlagnahmt. Und das Vieh raste auf das Mädel los! Was hättest du getan? Ich schnappte mir den Revolver, ballerte auf den Köter los, dann packte ich das Mädchen bei der Hand und sagte: ›Komm, schnell!‹ Und Irene steht wie angewachsen, macht große Augen und fragt mich: ›Woher hast du denn das?‹ Ich konnte sie gerade noch rechtzeitig wegbekom­men, von der Villa her kamen schon Stimmen. Wir liefen über die Felder wie zwei Hasen. Ich brauchte ewig, um Irene zu erklären, daß man in meinem Beruf ohne ein Schießeisen nicht auskäme.«

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Zwischendurch erzählt einer der vortragenden Doktoren etwas über Schleimhäute und sonstiges Zeug, was der Mensch drinnen hat, und Witek berichtet unbekümmert weiter:

»Ich bekam Streit mit meinem Freund. Er oder ich, dach­te ich. Er dachte ebenso, ich kannte ihn gut. Ich schlich ihm nach, drei Tage lang, und meine einzige Sorge war, ob mir jemand im Rücken saß. Abends auf der Chmielna­straße habe ich ihn endlich erwischt, aber leider nicht so getroffen, wie ich hätte treffen müssen. Am nächsten Tag kommt er an, die Hand in der Schlinge, und schaut mich von unten an. ›Bin gestolpert‹, sagt er.«

»Und du?« frage ich, weil es eine äußerst aktuelle Ge­schichte war.

»Nichts. Ich wurde ja gleich eingesperrt.« Schwer zu sagen, ob sein Freund nachgeholfen hatte

oder nicht, aber Witek gab sich nicht geschlagen. Noch auf dem Pawiak war er Pipel bei Kronschmidt: das ist der, welcher mit einem Ukrainer zusammen die Juden folterte. Kannst Du Dich an die Keller im Pawiak erin­nern? Die eisernen Böden? Auf diesen Böden mußten die Juden robben, hin und zurück, nackt, nach dem Ba­den, wenn sie richtig erhitzt waren. Hast Du jemals Sol­datenstiefel von unten gesehen? Weißt Du, wieviel Nä­gel in jeder Sohle sitzen? Kronschmidt stieg den rob­benden Juden mit solchen Stiefeln auf die Rücken und ließ sich herumfahren. Für uns Arier war es etwas leich­ter. Robben mußte ich zwar auch, aber über einen ande­ren Boden, und keiner ließ sich von mir spazierenfah­ren. Wir hatten nur Gymnastik. Jeden zweiten Tag eine Stunde. Eine Stunde lang: um den Hof herumlaufen, hinlegen, auf die Hände stützen. Gute Turnübung, wie auf der Schule.

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Meine persönliche Bestleistung: sechsundsiebzigmal aufstützen und Schmerzen bis zur nächsten Stunde. Aber die schönste Übung, die ich überhaupt kenne, ist das Ge­sellschaftsspiel »Flieger in Deckung«. Man stellt sich auf, zu zweit, dicht hintereinander, so daß die Brust des einen den Rücken des anderen berührt, auf den Schultern eine Leiter, die man aber nur mit einer Hand festhalten kann. Auf das Wort »Flieger in Deckung« lassen sich alle Mann zu Boden fallen, ohne die Leiter von den Schultern zu ver­lieren. Läßt einer los, stirbt er unter dem Knüppel oder wird von den Hunden zu Tode gehetzt. Dann klettert ein SS-Mann auf die Leiter und spaziert auf und ab über die Sprossen, immer wieder auf und ab. Schließlich müssen sich die Männer wieder erheben und wieder fallen lassen, ohne die Reihe durcheinanderzubringen.

Siehst Du, das alles klingt so unwahrscheinlich: kilo­meterweit Purzelbäume schlagen – wie in Sachsenhausen, stundenlang über den Boden rollen, Hunderte von Knie­beugen machen, ganze Tage und Nächte lang unbeweglich auf einer Stelle stehen, monatelang in einem Betonsarg sitzen, im Bunker, oder an den Händen festgebunden auf einem Pfosten aufgehängt werden oder an einem Draht, den man zwischen zwei Stühlen gespannt hat, man springt wie ein Frosch oder kriecht wie eine Schlange auf dem Boden herum, man trinkt ganze Eimer Wasser, bis man er­trinkt, erduldet Tausende von Schlägen, verteilt von tau­send verschiedenen Menschen mit tausend verschiedenen Stöcken, Peitschen, Knüppeln, Ruten – und sieh mal, ich höre atemlos zu, wenn man mir Berichte aus Gefängnissen erzählt, die kein Mensch kennt, die irgendwo in der Pro­vinz liegen: Małkinia, Suwałki, Radom, Puławy, Lublin – eine unheimlich entwickelte Foltertechnik, und ich weige­re mich zu glauben, daß diese Erfindung dem menschli­chen Kopf entsprang wie einst die Minerva dem Kopf des

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Jupiter. Ich kann diese plötzliche Mordlust nicht verste­hen, die man offenbar bei allen Betrachtungen über Ata­vismus übersehen hat.

Und noch etwas: der Tod. Man hat mir von einem Lager erzählt, wo jeden Tag neue Transporte ankamen, ich weiß nicht mehr, wieviel Menschen pro Tag. Das Lager hatte eine bestimmte Zuteilung von Portionen, ich weiß nicht mehr, wieviel, vielleicht drei-, vielleicht viertausend, und der Lagerkommandant wollte nicht, daß seine Leute Hun­ger hatten. Jeder Häftling mußte seine Portion bekommen. Auf diese Weise waren jeden Tag soundso viele Menschen im Lager zuviel. Jeden Abend wurde in jeder einzelnen Baracke gelost, entweder mit Karten oder mit Würfeln, die aus Brot geknetet waren. Diejenigen, auf die das Los fiel, gingen am nächsten Tag nicht zur Arbeit. Um die Mittags­zeit brachte man sie aus dem Lager hinaus, und sie wurden erschossen.

Und mitten in diesem Massenatavismus steht ein Mensch aus einer anderen Welt, einer, der konspiriert, damit es keine Verschwörungen mehr gebe, der stiehlt, damit es keinen Raub mehr gebe unter Menschen, einer, der mordet, damit Menschen nicht mehr gemordet würden.

Witek war so einer, ein Mensch aus einer anderen Welt, und dabei Pipel von Kronschmidt, dem schlimmsten Hen­ker von Pawiak. Jetzt sitzt er neben mir und lauscht an­dächtig, wenn man ihm erzählt, was ein Mensch drinnen hat und wie man es mit Hausmitteln wieder zurechtbastelt, wenn dieses Etwas kaputtgeht. Dann gab es einen Zwi­schenfall. Der Doktor wandte sich an Staschek, das ist der, der ein wahres Wunder im Organisieren ist, und befahl ihm, etwas über die Leber zu sagen. Staschek sagte etwas über die Leber, aber es war falsch.

Der Doktor sagte:

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»Sie antworten auf meine Frage sehr dumm. Außerdem könnten Sie aufstehen.«

»Ich sitze im Lager, also kann ich auch im Kursus sit­zen«, sagte Staschek und wurde rot. »Und außerdem, hö­ren Sie auf, mich zu beleidigen.«

»Schweigen Sie, Sie sind im Kursus.« »Sicher, das könnte Ihnen so passen, daß ich schweige.

Weil ich sonst etwas darüber ausplaudern könnte, was Sie im Lager gemacht haben.«

Daraufhin fingen wir anderen an, auf unsere Tische zu hämmern, und der Doktor rannte davon. Unser Adolf kam, hielt uns eine lange Rede von seiner Kameradschaft, dann gingen wir zurück in unseren Block, ausgerechnet mitten im Verdauungssystem. Staschek machte sich sofort auf die Beine, zu seinen zahlreichen Freunden, damit ihm der Doktor keine Knüppel zwischen die Beine werfen konnte. Staschek hat einflußreiche Freunde im Lager, dem Doktor dürfte es schwerfallen, ihm eins auszuwischen. Das einzig Wichtige aus der Anatomielehre: Wer eine gute Rücken­deckung hat, dem kann nicht viel passieren. Und der Dok­tor sollte lieber aufpassen, seine Position ist nicht die al­lerbeste: Er hat Chirurgie an den Kranken studiert. Wie viele er für die Wissenschaft zu Tode geschnitten hat und wie viele er aus Unkenntnis unter die Erde brachte, ist schwer zu sagen. Aber sicher eine ganze Menge, denn im Krankenrevier herrscht immer Gedränge, und das Lei­chenhaus ist immer voll.

Du wirst beim Lesen sicher glauben, ich hätte die Welt draußen, bei uns zu Hause, schon ganz vergessen. Ich schreibe und schreibe nur vom Lager, von den kleinen Episoden aus dem Lager, und suche nach deren Sinn, als gäbe es keine andere Welt mehr, als hätte es nie eine ande­re Welt gegeben, als wartete nichts mehr auf uns …

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Kannst Du Dich noch an unser Zimmer erinnern? Die Thermosflasche, die Du mir gekauft hast? Sie war zu groß – ein Liter Inhalt – und ging nicht in meine Tasche, und am Ende, sehr zu Deiner Empörung, wanderte sie unters Bett. Und weißt Du noch, damals, das Sieb in Zoliborz, als Du mich den ganzen Tag über telefonisch auf dem laufen­den hieltest? Wie die Leute aus den Straßenbahnen her­ausgeholt wurden, und wie Du eine Haltestelle zuvor aus­gestiegen warst, wie sie einen Wohnblock umstellten und Du durch den Hinterausgang entwischen konntest? Bis zur Weichsel bist Du damals gelaufen. Und wie Du mir gesagt hast, als ich damals über den Krieg klagte, über die Barba­rei und über die Generation der Idioten, zu der wir heran­wuchsen:

»Denk an die, die im Lager sind. Wir vergeuden nur un­sere Zeit, und sie leiden.«

Es war viel Naivität in dem, was ich damals sagte, es war kindisch und selbstsüchtig. Aber ich glaube doch, daß wir unsere Zeit nicht vergeudet hatten. Trotz allem, was der Krieg mit sich brachte, lebten wir in einer anderen Welt. In einer Welt, die vielleicht erst kommen wird. Ver­zeihe, wenn meine Worte zu kühn sind. Vielleicht sitzen wir hier, damit diese neue, andere Welt einmal kommen kann. Oder glaubst Du, daß wir auch nur einen einzigen Tag im Lager säßen, wenn wir nicht die Hoffnung hätten, daß diese neue Welt einmal kommt und daß die Men­schenrechte wieder zurückkehren zu den Menschen? Die Hoffnung ist es, die den Menschen befiehlt, gleichgültig in die Gaskammer zu gehen; die sie davon abhält, Aufruhr zu planen; Hoffnung macht sie tot und stumpf. Hoffnung be­fiehlt den Müttern, sich von ihren Kindern loszusagen, den Frauen, sich für ein Stück Brot zu verkaufen, den Män­nern, Menschen zu töten. Die Hoffnung treibt sie dazu, um jeden weiteren Tag des Lebens zu kämpfen, weil es gerade

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der kommende Tag sein könnte, der die Freiheit bringt. Vielleicht nicht einmal die Hoffnung auf eine neue, besse­re Welt, sondern nur noch die Sehnsucht nach einem Le­ben, in dem es wieder Ruhe und Frieden gibt. Noch nie war die Hoffnung stärker als der Mensch, aber noch nie hat sie soviel Böses heraufbeschworen wie in diesem Krieg, wie in diesem Lager. Man hat uns nicht gelehrt, die Hoffnung aufzugeben. Deswegen sterben wir im Gas.

Schau doch, wie originell die Welt ist, in der wir leben: Wie wenig Menschen es in Europa gibt, die noch nie einen anderen Menschen getötet haben. Und wie wenig Men­schen es gibt, die nicht ein anderer umbringen möchte!

Und wir sehnen uns nach einer Welt, in der es wieder Liebe unter Menschen gibt, wir möchten uns von unseren Instinkten ausruhen. Offenbar ist es das Recht der Liebe und der Jugend.

PS

Aber zuerst, weißt Du, möchte ich dem einen oder dem anderen die Gurgel durchschneiden, nur so, einfach um die Lagerpsychose loszuwerden, um den Lagerkomplex zu überwinden, den Komplex des ewigen Mützeziehens, des ohnmächtigen Zusehen-müssens, wenn wehrlose Men­schen erschlagen und gemordet werden, den Komplex der Angst. Ich fürchte, wir werden das alles nie wieder los. Ich weiß nicht, ob wir es überleben, aber ich wünsche, daß wir einmal wieder soweit sind, daß wir die Dinge beim richti­gen Namen nennen, wie es mutige Menschen tun.

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VI

Seit ein paar Tagen ist für unsere Mittagsunterhaltung ge­sorgt: Aus der Baracke »Für Deutsche« kommt eine Men­schenkolonne herausmarschiert und geht singend einige Male ums Lager. Sie singen »Morgen in die Heimat«, der Lagerälteste dirigiert und schlägt mit seinem Stock den Takt.

Das sind die Kriminellen, auch »Freiwillige« genannt. Alle grünen Wimpel hatte man herausgeholt, und die leichteren müssen an die Front. So einer, der seine Frau und seine Schwiegermutter umgebracht hat und den Kana­rienvogel hinausließ, damit das arme Vögelchen nicht im Käfig darben muß, hat es besser; der bleibt hier. Vorläufig sind sie noch alle zusammen.

Vorerst wird ihnen das Marschieren beigebracht, und man wartet, ob sie sich in die Gemeinschaft einfügen wer­den oder nicht. Die Gemeinschaft hat es ihnen offenbar angetan, sie geben sich jede Mühe. Kaum ein paar Tage sind sie hier zusammen, und schon haben sie das Magazin erbrochen, eine Menge Päckchen geklaut, die Kantine zu Kleinholz geschlagen und den Puff demoliert (was zur Folge hatte, daß der Puff zum allgemeinen Bedauern wie­der geschlossen wurde). – Warum, sagen sie vollkommen vernünftig, sollen wir uns schlagen lassen und die Köpfe den SS-Männern hinhalten? Und wer wird uns die Stiefel putzen, wenn es uns hier so gut geht? Vaterland hin, Va­terland her, auch ohne uns geht es zum Teufel, und wer wird uns an der Front die Schuhe putzen, und wer weiß, ob es dort junge Burschen gibt?

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Da gehen sie nun, eine ganze Horde, und singen »Mor­gen in die Heimat«. Alles berühmte Totschläger, einer be­kannter als der andere: Seppel, der Schreck aller Dachdek­ker, der unbarmherzig bei Schnee und Regen arbeiten läßt und einen für einen einzigen falsch eingetriebenen Nagel vom Dach herunterwirft; Arno Böhm, Nummer 8, ein langjähriger Blockleiter, Kapo und Lagerkapo, der jeden Stubenältesten erschlug, wenn er ihn dabei erwischte, daß er Tee verkaufte, der jedes Wort, das man nach dem abendlichen Gong sagte, mit fünfundzwanzig Hieben be­strafte; derselbe, der seinen alten Eltern in Frankfurt rüh­rende – wenn auch kurze – Briefe von Abschied und Wie­dersehen schrieb. Wir kennen sie alle, einen wie den ande­ren: Der dort war auf der DAW der da bei der Buna, jener ein Bieronkel, aber als er krank war, kroch er zum Block­leiter und bettelte um Tabak, bis man ihn einmal erwischte und so verprügelte, daß er halbtot ins Lager kam, wo er dann irgendein unglückliches Kommando in seine diebi­schen Klauen bekam. Und andere gehen mit, bekannte Pä­derasten, Alkoholiker, Rauschgiftsüchtige, Sadisten, und ganz am Schluß marschiert Kurt, elegant gekleidet, schaut herum, kommt aus dem Tritt und singt nicht. Na ja, denke ich, schließlich hat er Dich ja für mich gefunden, hat mei­ne Briefe zu Dir hingetragen, ich laufe also schnell nach unten, packe ihn am Hals und sage:

»Kurt, sicher hast du Hunger, komm doch mit nach oben, du Krimineller-Freiwilliger« – und ich zeige ihm unser Fenster. So gegen Abend kam er dann, gerade recht zum Essen, das wir in unserem herrlichen bunten Kachelofen gekocht hatten. Kurt ist sehr nett (es klingt exotisch, ist aber nicht anders zu sagen) und kann gut erzählen. Er wollte ur­sprünglich Musiker werden, aber sein Vater, ein reicher Kaufmann, warf ihn aus dem Haus. Kurt fuhr nach Berlin, traf dort ein junges Mädchen, Tochter eines anderen reichen

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Kaufmanns, die beiden lebten zusammen. Kurt schrieb kleine Artikel für Sportzeitungen, dann wurde er für einen Monat eingesperrt, weil er sich mit einem von den »Stahl­helm«-Leuten geprügelt hatte, und traute sich dem Mäd­chen nicht mehr unter die Augen. Er besorgte sich einen Sportwagen und fing an, Devisen zu schmuggeln. Irgend-wann bei einem Spaziergang traf er sein Mädchen wieder, durfte sich aber nicht zu erkennen geben. Er fuhr nachÖsterreich und Jugoslawien, wiederholte diese Fahrten im­mer häufiger, bis sie ihn eines schönen Tages erwischten, und weg war er. Und weil er bereits vorbestraft war (jener unglückliche Monat von damals zählte ja), kam er aus dem Knast direkt ins KZ und kann nun auf das Kriegsende warten.

Der Abend neigt sich herab, im Lager haben sie den Ap­pell schon hinter sich. Wir sitzen um den Tisch herum und erzählen. Man redet überall: auf dem Weg nach Hause, während der Arbeit, abends auf der Pritsche, beim Antre­ten zum Appell. Wir erzählen uns Geschichten, wir erzäh­len aus unserem Leben. Heute sprechen wir über das La­ger, vielleicht, weil Kurt bald weggeht.

»Ja, man weiß ja draußen eigentlich nicht richtig Be­scheid über das Lager. Ein paar Gerüchte über unnütze Ar­beit, zum Beispiel Asphaltieren und Wiederaufreißen. Und natürlich, daß es schrecklich ist. Die Leute flüstern. Aber man interessiert sich kaum dafür. Man weiß doch, daß man nicht mehr herauskommt, wenn man einmal drin ist.«

»Ja, wärest du vor zwei Jahren gekommen, hätte dich längst der Wind aus dem Schornstein getragen«, sagte Sta­schek, das Organisationstalent.

Ich hob die Schultern. »Oder auch nicht. Dich hat er auch nicht hinausgetragen.

Aber etwas anderes: In dem Pawiak traf ich einen aus Auschwitz.«

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»Offenbar zur Verhandlung gekommen.« »Ja. Wir fragten ihm Löcher in den Bauch. Aber er sagte

nichts – als hätte er Wasser im Mund. Nur das eine sagte er: ›Kommt, dann werdet ihr sehen‹ Und jetzt – was soll ich euch erzählen? Kindermärchen?«

»Hast du Angst vor dem Lager gehabt?« »Hab ich. Wir fuhren zeitig los, vom Pawiak zum Bahn­

hof brachten sie uns mit Lastwagen. Die Sonne schien uns in den Rücken. Schlimm. Das hieß, wir fuhren nach We­sten. Nach Auschwitz. Im Affentempo wurden wir in die Waggons verladen, und los! Sechzig Mann im Waggon, nach dem Alphabet abgezählt, es war nicht mal gedrängt.«

»Hast du deine Sachen mitgenommen?« »Klar habe ich das. Ein Plaid, eine Morgenjacke von

meiner Braut und zwei Bettlaken.« »Trottel. Hättest du es bloß deinen Kollegen zurückge­

lassen. Hast du nicht gewußt, daß sie dir alles abnehmen?« »Ja, schade drum. Dann haben wir aus der Wand alle

Nägel herausgeholt, die Bretter herausgenommen, und hurra! Aber auf dem Dach war ein Maschinengewehr, die ersten drei waren sofort weg. Der letzte hatte den Kopf hinausgestreckt, und die Kugel traf ihn in den Hals. Der Zug hielt sofort an, und wir nichts als in die Ecke. Lärm, Gebrüll, Hölle! Warum Fluchtversuche? Feiglinge! Er­schlagen wird man uns! Und Flüche, aber was für Flü­che!«

»Schlimmer konnten sie auch nicht sein, als sie im Frau­enlager sind.«

»Stimmt. Aber auch so waren sie schlimm genug. Und ich saß unter einem ganzen Knäuel Menschen ganz tief am Boden. Gut, dachte ich. Wenn sie schießen, bin ich wenig­stens nicht der erste. Es war wirklich gut, denn sie

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schossen tatsächlich. Eine ganze Serie jagten sie in den Haufen, zwei waren tot und einer an der Hüfte verletzt. Und dann los, hinaus, ohne Gepäck. Na, denke ich, jetzt ist es vorbei. Ich dachte an die Morgenjacke, schade dar­um, weil ich meine Bibel darin hatte, und außerdem, es war doch ein Geschenk von meiner Braut.«

»Das Plaid war doch auch von deiner Braut?« »Ja. Um das tat es mir auch leid. Aber mitnehmen konn­

te ich nichts, weil sie mich die Treppe hinuntergeworfen hatten. Ihr habt keine Ahnung, wie groß die Welt ist, wenn man aus einem zugesperrten Waggon hinausfliegt! Der Himmel ist so hoch …«

»… und blau …« »Eben, blau, und die Bäume duften, umarmen möchte

man sie. Ringsherum die SS-Männer, jeder ein Maschinen­gewehr in den Pranken. Vier Mann wurden zur Seite ge­führt, uns andere jagten sie in den zweiten Waggon. Jetzt waren wir hundertzwanzig, drei Tote und ein Verletzter. Beinahe wären wir erstickt. Es war so stickig heiß, daß das Wasser von der Decke tropfte, buchstäblich. Kein Fenster, nichts, alles fest vernagelt. Wir schrien nach Luft und Wasser, aber sobald sie schossen, wurden wir schnell wie­der ruhig. Dann fielen wir einer nach dem anderen um und lagen auf dem Boden herum wie gestochene Schweine. Zuerst zog ich meinen Sweater aus, dann zwei Hemden. Ich war naß, der Schweiß rann mir am Körper herunter. Langsam lief mir das Blut aus der Nase. In den Ohren brauste es. Ich sehnte mich nach Auschwitz, denn das be­deutete frische Luft. Als die Tür an der Rampe aufging, habe ich mit dem ersten Atemzug wieder meine ganze Kraft zurückbekommen. Es war eine klare, kalte April­nacht. Ich spürte die Kälte nicht, obwohl ich mein nasses Hemd angezogen hatte. Jemand legte mir von hinten den Arm um den Hals und küßte mich. ›Bruder‹, flüsterte er.

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In der Dunkelheit, die schwarz und tief über der Erde lag, glitzerten die Lichter des Lagers wie lange Schnüre. Dar­über peitschte eine rötliche, unruhige Flamme die Nacht. Das Dunkel schien zum Feuer hinzudrängen. Es war, als loderte es direkt am Himmel, hoch über der Erde. ›Krema­torium‹, flüsterte es durch unsere Reihen.«

»Mensch, kannst du aber übertreiben, man merkt gleich, daß du ein Dichter bist«, bemerkte Witek anerkennend.

»Wir gingen ins Lager, die Toten trugen wir mit. Hinter mir hörte ich das schwere Atmen der vielen Menschen, und ich glaubte, auch meine Braut ginge hinter mir her. Jeden Augenblick ertönte ein dumpfer Schlag. Knapp vor dem Tor traf mich ein Bajonett am Schenkel. Es tat nicht weh, ich spürte nur die plötzliche Wärme. Das Blut floß mir am Schenkel herab auf die Wade. Nach einigen Schrit­ten versagten die Muskeln, ich begann zu hinken. Der SS-Mann, der uns eskortierte, stach noch auf ein paar andere vor mir ein, und als wir durch das Gittertor ins Lager mar­schierten, sagte er:

›Hier könnt ihr euch gut erholen.‹ Das war Donnerstag nacht. Und am Montag marschierte

ich mit zum Arbeitskommando, sieben Kilometer vom Lager weg. Telegraphenmaste tragen. Das Bein schmerzte wie tausend Teufel. Aber Erholung gab’s, und zwar mäch­tig!«

»Sei doch ruhig«, mahnte Witek. »Die Juden haben es noch schlimmer. Da brauchst du dir gar nichts einzubil­den.«

Die Meinungen gingen auseinander, sowohl über die Transporte als auch über die Juden.

»Juden«, gelang es Staschek endlich, zu Wort zu kom­men. »Laß doch die Juden. Wirst sehen, die machen an Euch noch ein großartiges Geschäft mit ihrem Lager. Sie

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sind überall, im Krematorium, im Getto, und für eine Schüssel Rüben verkaufen sie die eigene Mutter. Eines Tages treten wir morgens zum Arbeitskommando an, ne­ben uns Sonderkommando, Kerle wie Bullen, Freude strahlt ihnen aus den Augen, was denn sonst? Neben mir mein Freund Mojsze. Er aus Mlava, ich aus Mlava, ihr wißt doch, wie es ist, Freunde und Geschäftspartner, man kennt sich, man hat Vertrauen zueinander. ›Was ist, Mojs­ze?‹ frage ich. ›Was machst du für ein Gesicht?‹ – ›Ach‹, sagt er, ›Bilder hab ich gekriegt, von zu Hause.‹ – ›Na und? Ist doch gut?‹ – ›’n Dreck ist gut‹, sagt er, ›meinen Vater hab ich in den Schornstein geschickt!‹ – ›Das ist doch nicht möglich!‹ – ›Und ob das möglich ist. Er kam mit dem Transport und sah mich vor der Kammer, wie ich die Leute hineinjagte. Er warf sich mir an den Hals, fing an, mich zu küssen und zu fragen, was denn werden sollte, daß er hungrig sei, weil sie zwei Tage nichts zu essen be­kommen hätten. Und da brüllt der Kommandoführer los, ich sollte nicht herumstehen, ich sollte arbeiten! Was soll­te ich tun! ›Geh, Vater‹, sag ich, ›geh baden, und dann werden wir reden, du siehst doch, daß ich jetzt keine Zeit habe.‹ Und Vater ging, hinein in die Kammer. Und die Bilder habe ich nachher aus der Tasche herausgezogen. Sag mir jetzt, wieso es gut ist, daß ich Bilder von zu Hause habe?‹«

Wir lachten. Eigentlich gut, daß zur Zeit keine Arier vergast werden. Alles, nur das nicht.

»Früher hat man sie auch vergast«, sagte einer der hiesi­gen Pfleger, der sich immer zu uns setzt. »Ich bin schon ewig lange hier, ich habe viel miterlebt. Wie viele Freunde und Bekannte durch meine Hände gegangen sind! Man kann sich gar nicht mehr an all die Gesichter erinnern. Das übliche – die Masse. Aber an einen Fall erinnere ich mich immer noch, den werde ich wahrscheinlich bis zu meinem

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letzten Tag nicht vergessen. Damals war ich Pfleger in der Ambulanz. Die Behandlungen, die ich machte, waren nicht allzu sanft, für Etepetete hatten wir bekanntlich nie­mals Zeit. Man stochert ein bißchen herum, in der Hand oder auf dem Buckel oder sonstwo, Verband darauf und los! Der Nächste! Man guckt sich das Gesicht gar nicht an. Keiner bedankt sich, es gibt ja auch nichts zu bedanken. Aber einmal habe ich irgendeine Phlegmone behandelt, und da sagt jemand nachher an der Tür: ›Spasibo, panie Pfleger.‹ Ich drehe mich um, so ein mageres, mickriges Gestell, kaum daß sich der Kerl auf den geschwollenen Beinen halten kann. Ich habe ihn besucht, brachte ihm ei­ne Schüssel Suppe. Die Phlegmone hatte ihn am Schenkel erwischt, dann bildete sich eine eitrige Fistel. Der arme Kerl litt schreckliche Qualen. Jammerte und sprach von seiner Mutter. ›Sei ruhig‹, sagte ich ihm, ›wir haben doch alle eine Mutter und weinen nicht.‹ Ich tröstete ihn, so gut ich konnte, weil er Angst hatte, er würde niemals zurück­kommen. Was konnte ich ihm schon geben? Eine Schüssel Suppe, ab und zu mal ein Stück Brot. Ich versteckte den Tolek, solange es ging, aber schließlich fanden sie ihn doch, und er wurde vorgemerkt. Ich ging gleich zu ihm. Er fieberte. Zu mir sagte er: ›Das macht nichts, daß ich ins Gas muß. Wahrscheinlich mußte es so sein. Aber wenn der Krieg vorbei ist und du überlebst …‹ – ›Das weiß ich doch nicht, Tolek, ob ich überleben werde.‹ – ›Doch, du wirst überleben‹, sagte er hartnäckig. ›Und nachher, nach dem Krieg, fährst du zu meiner Mutter. Nach dem Krieg gibt es keine Grenzen und keine Staaten, es gibt keine La­ger, und die Menschen werden sich nicht mehr gegenseitig umbringen. Dies ist das letzte Gefecht‹, sagte er nach­drücklich, ›hörst du, das letzte Gefecht!‹ – ›Ja, ich höre‹, sagte ich. ›Dann fährst du zu meiner Mutter und sagst ihr, ich sei umgekommen. Damit es keine Grenzen mehr gibt

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und keinen Krieg. Und keine Lager. Wirst du es ihr sa­gen?‹ – ›Werde ich.‹ – ›Merk dir: meine Mutter wohnt in Dalniewostocznyj Kraj, Stadt Chabarowsk, Leo-Tolstoi-Straße, Nummer fünfundzwanzig. Wiederhole!‹ Ich wie­derholte. Ich ging zum Blockleiter, dem Grauen, der ihn noch von der Liste streichen konnte. Der Blockleiter kleb­te mir eine in die Visage und schmiß mich raus. Tolek ging ins Gas. Ein paar Monate später kam der Blockleiter weg, mit einem Transport. Vor der Abfahrt bat er um Zi­garetten. Ich hetzte alle auf, keiner durfte ihm etwas ge­ben. Er bekam nichts. Vielleicht war es schlecht von mir, denn er fuhr zum Fertigmachen, nach Mauthausen. Und die Adresse von Tolkas Mutter weiß ich heute noch: Dal­niewostocznyj Kraj, Stadt Chabarowsk, Leo-Tolstoi-Straße, Nummer fünfundzwanzig …« Wir schwiegen. Kurt fragte etwas beunruhigt, was denn los sei, denn er verstand kein einziges Wort unseres Gesprächs. Witek übersetzte es ihm:

»Wir sprechen vom Lager und darüber, ob die Welt je­mals besser sein wird. Könntest auch du was sagen.«

Kurt sah uns lächelnd an und sprach langsam, damit wir alle verstehen konnten:

»Ich werde es ganz kurz sagen. Als ich in Mauthausen war, wurden dort zwei Flüchtige eingefangen, ausgerech­net am Heiligen Abend. Ein Galgen wurde aufgestellt, gleich neben dem großen Weihnachtsbaum. Das ganze Lager stand Appell, als sie gehenkt wurden. An dem Christbaum brannten die Lichter. Der Lagerführer trat vor, drehte sich zu den Häftlingen um und kommandier­te:

›Häftlinge, Mützen ab!‹ Wir nahmen die Mützen ab. Der Lagerführer hielt seine

traditionelle Weihnachtsansprache:

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›Wer sich wie ein Schwein benimmt, wird wie ein Schwein behandelt. Häftlinge, Mützen auf!‹

Wir setzten unsere Mützen auf. ›Auseinander gehen!‹ Wir gingen auseinander«, schloß Kurt. Wir rauchten schweigend. Jeder dachte an seine eigenen

Sorgen.

VII

Wenn plötzlich die Barackenwände einstürzten, hingen Tausende von zusammengepferchten Menschen, die sich auf den Pritschen zusammendrängen, in der Luft. Der An­blick wäre grausamer als die schlimmsten mittelalterlichen Bilder des Jüngsten Gerichts. Es gibt nichts, was einen Menschen mehr erschüttert als der Anblick eines anderen Menschen, der auf seinem Stückchen Pritsche schläft, auf dem Platz, den er braucht, weil er auch Fleisch hat. Das Fleisch haben sie bis zum äußersten ausgenutzt: eine Nummer eintätowiert, um das Hundehalsband zu sparen; nachts geben sie soviel Schlaf, daß der Mensch tagsüber arbeiten kann; tagsüber soviel Zeit, daß er essen kann. Und soviel Essen, daß er nicht unproduktiv verrecken kann. Es gibt nur einen Platz, auf dem man leben kann: das Stück Pritsche, wo man liegt. Der Rest gehört dem Lager, dem Staat. Aber auch dieses Stück gehört dir nicht, ebensowenig wie dir dein Hemd und dein Spaten gehört. Wirst du krank, nimmt man dir alles: deinen Anzug, deine Mütze, das hineingeschmuggelte Halstuch, das Taschen­tuch. Stirbst du, reißen sie dir die goldenen Zähne heraus,

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die sie schon vorher im Lagerbuch eingetragen hatten. Dann verbrennen sie dich, und mit deiner Asche düngt man die Felder und legt Teiche trocken. Es stimmt zwar, daß sehr viel Fett, Knochen und Fleisch beim Einäschern verlorengeht. Aber sonst macht man aus Menschen Seife, aus Menschenhaut Lampenschirme, aus den Knochen Ko­rallen. Wer weiß, vielleicht brauchen sie alle diese Dinge zum Export, wenn sie erst einmal alle die Neger erobert haben?

Wir arbeiten unter der Erde und über der Erde, unter dem Dach und im Freien, im Regen, mit dem Spaten und an der Lore, im Steinbruch und am Förderband. Wir schleppen Zementsäcke, stapeln Ziegelsteine, legen Ei­senbahnschienen, schaufeln Erde, treten sie fest … Wir le­gen die Grundsteine zu einer neuen, abscheulichen Zivili­sation. Jetzt erst habe ich den Wert der Antike entdeckt. Welch abscheuliches Verbrechen sind doch die ägypti­schen Pyramiden, die antiken Tempel, die griechischen Denkmäler! Wieviel Blut haben wohl die römischen Wege getrunken, wieviel Blut ist in die Grenzwälle eingesickert, in die Gebäude der Städte! Die Antike, in der man dem Sklaven das Zeichen seines Eigentümers auf die Stirn brannte, in der die Flucht mit Kreuzigung bestraft wurde. Die Antike, die nichts als eine große Verschwörung der Freien gegen die Sklaven war!

Du weißt, wie sehr ich Plato geliebt habe. Erst heute weiß ich, daß er log. Denn die irdischen Dinge spiegeln keine Ideale wider, in ihnen verbirgt sich schwere, blutige Arbeit der Menschen. Wir, wir haben Pyramiden gebaut, wir brachen Marmor für Gotteshäuser, und wir zertrüm­merten die Steine für die Straßen des Imperators, wir ha­ben die Galeeren gerudert und die Pflüge geschleppt – während sie ihre geistreichen Dialoge und Dramen schrie­ben, während sie ihre Intrigen mit dem jeweiligen Vater­

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land zu rechtfertigen versuchten, während sie um Grenzen und Demokratien ihre Kriege führten. Wir waren dreckig und starben. Sie waren die Ästheten und diskutierten.

Eine Schönheit, die mit dem Unrecht erkauft ist, das man den Menschen angetan hat, ist keine Schönheit. Es gibt keine Wahrheit, wenn sie die Unterdrückung verschweigt. Und eine Gerechtigkeit, die Unterdrückung zuläßt, ist kei­ne Gerechtigkeit.

Was weiß die Antike von uns? Sie kennt die listigen Sklaven aus den Schriften des Terentius und Plautus, sie kennt die Volkstribune – denke an Gracchus – und einen einzigen Sklaven, den Spartakus.

Sie waren es, die Geschichte machten, aber wir kennen Mörder wie Scipio oder Advokaten wie Cicero oder De­mosthenes. Wir sind hingerissen, wenn wir über die Ausrot­tung der Etrusker hören oder von der Vernichtung Kartha­gos lesen, wir begeistern uns für Verrat, Raub und Erobe­rung. Das römische Recht! Heute gibt es auch ein Recht!

Was wird die Welt von uns wissen, wenn die Deutschen siegen? Große Fabriken werden entstehen, Autostraßen werden gebaut, riesige Häuser und Denkmäler, deren Spit­zen die Wolken berühren werden. Unsere Hände werden jeden einzelnen Ziegelstein berühren, jede einzelne Schie­ne werden wir mit unseren Schultern heben, jede Beton­platte. Unsere Familien werden gemordet, Kranke, Alte. Und unsere Kinder auch.

Von uns wird niemals jemand etwas erfahren. Dichter, Advokaten, Philosophen und Priester werden uns ver­schweigen. Sie werden eine Schönheit schaffen, eine neue Gerechtigkeit, eine neue Wahrheit. Eine neue Religion wird entstehen.

Vor drei Jahren hat es hier noch Dörfer und kleine Sied­lungen gegeben. Felder waren hier, Feldwege und Bäume

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voller Früchte säumten die Straßen. Menschen haben hier gelebt, nicht besser und nicht schlechter als andere auch.

Dann kamen wir. Wir haben die Menschen verjagt, die Häuser zerstört, die Erde planiert und festgetreten. Dann haben wir Baracken aufgestellt, Zäune gezogen, Krematori­en errichtet. Mit uns kamen Krätze, Phlegmonen und Läuse.

Wir arbeiten in Fabriken und Gruben. Wir schuften, und jemand heimst den riesigen Gewinn ein.

Denke nur an die hiesige Firma Lenz: sie hat uns die Ba-racken aufgestellt, das Lager errichtet, unsere Hallen,Bunker, Magazine, Öfen, alles. Das Lager stellte die Men­schen zur Verfügung, die SS gab die Mittel. Und als es dann zur Abrechnung kam, griff sich nicht nur Auschwitz an den Kopf, sondern sogar Berlin. Das geht doch nicht an, meine Herren, sagten sie, das ist ganz und gar unmög­lich, Sie haben ja Millionen verdient. Mag sein, sagte die Firma Lenz, aber hier sind ja die Rechnungen, sehen Sie doch selbst. Ist alles gut und schön, sagte Berlin, aber so geht es nicht. In Ordnung, schlug die patriotische Firma vor, dann die Hälfte? Dreißig Prozent, versuchte Berlin zu handeln, und dabei ist es dann geblieben. Seit jenem Tage werden alle Rechnungen dieser Firma entsprechend ge­kürzt. Lenz macht sich weiter keine Sorgen: Wie die mei­sten deutschen Firmen hat auch sie ihr Stammkapital an­gehoben. Auschwitz war ihr bestes Geschäft, jetzt wartet sie ruhig das Kriegsende ab, wie andere bekannte Firmen auch. Alle warten sie, die Lieferfirmen für Ziegelsteine, Beton, die Hersteller von Barackenwänden, sogar die, die uns die gestreiften Anzüge machen. Und so wartet auch die große Autofabrik, warten die Grubenbesitzer in Mysłowice, Gleiwitz, Janina und Jaworzno. Derjenige von uns, der es überlebt, wird einmal auf den Lohn für diese Arbeit warten müssen. Nicht mit Geld, sondern mit der­selben steinigen Arbeit sollten sie ihn zahlen.

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Wenn die Menschen schlafen, kann ich mit Dir reden. Aus der Ferne. Ich sehe in der Dunkelheit Dein ernstes Gesicht, und wenn ich auch weiß, daß mein Haß und mei­ne Bitterkeit Dir fremd sind, so weiß ich doch, daß Du mir aufmerksam zuhörst.

Denn Du bist ein Teil meines Schicksals. Deine Hände eignen sich nicht dazu, einen Spaten zu halten, und Dein Körper ist nicht für die Krätze da. Aber unsere Liebe ver­bindet uns, und die Liebe zu jenen, die noch am Leben sind. Die für uns leben und in unsere Welt gehören. Die Gesichter unserer Eltern, unserer Freunde, die Umrisse je­ner Gegenstände, die uns noch geblieben sind. Das gehört noch uns, das können wir noch teilen. Und das Teuerste, was wir haben: Erlebnisse. Und auch wenn wir nur die Bretter der Krankenstube haben, auf denen unser Körper liegt, unsere Gedanken und unsere Gefühle bleiben bei uns. Das ist genug, denn ich habe immer geglaubt, daß die Würde eines Menschen in seinen Gedanken und seinen Gefühlen liegt.

VIII

Du hast keine Ahnung, wie glücklich ich bin. Zunächst einmal – der lange Elektriker. Morgen für

Morgen gehen wir mit Kurt zu ihm (er ist mit ihm be­freundet) und geben ihm unsere Briefe für Dich ab. Der Elektriker hat eine phantastisch alte Nummer – eintausend und etwas –, behängt sich mit Würsten, Säcken mit Zuk­ker, Damenwäsche, und irgendwo in seinem Schuh steckt ein Haufen Briefe. Er ist vollkommen glatzköpfig, und je­des Verständnis für unsere Liebe geht ihm ab. Er feixt

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über jeden Brief, den ich ihm gebe. Und wenn ich versu­che, ihm eine Packung Zigaretten zuzustecken, sagt er:

»Kollege, bei uns in Auschwitz nimmt man nichts für Briefe. Und die Antwort bring ich auch, wenn ich kann.«

Gegen Abend gehe ich wieder zu ihm. Die ganze Proze­dur fängt wieder an, diesmal in umgekehrter Reihenfolge: Der Elektriker greift in seinen Schuh, holt eine Karte von Dir heraus, reicht sie mir und feixt. Weil er kein Gefühl für unsere Liebe hat. Und ganz bestimmt mag er auch den Bunker nicht, der ihm als Strafe noch obendrein droht, wenn man ihn erwischt. Weil er viel zu lang ist für den Käfig von anderthalb Metern im Quadrat.

Zunächst also – der lange Elektriker. Dann – die Hoch­zeit des Spaniers. Der Spanier hat Madrid verteidigt, dann ist er nach Frankreich geflohen, und zuletzt hat man ihn nach Auschwitz gebracht. Der Spanier hatte sich eine Französin angelacht, und sie bekam ein Kind. Als das Kind etwas größer wurde und der Spanier immer noch im Lager saß, fing die Französin ein Mordsgeschrei an, daß sie geheiratet werden wollte. Folge davon: Eine Bitt­schrift an den Herrn H. persönlich. Herr H, war empört: So eine Unordnung im neuen Europa! Sofort wird gehei­ratet!

Die Französin mit dem Kind wurde umgehend ins Lager geschleppt, dem Spanier hatten sie die gestreiften Kleider mit Gewalt vom Leib gerissen und ihm einen eleganten Anzug angezogen, der Lagerkapo selbst hatte ihn in der Wäscherei gebügelt, aus den reichen Lagerbeständen wur­de dazu eine passende Krawatte ausgewählt, auch noch Socken gebracht, und die Hochzeit konnte stattfinden.

Darauf schritten die Neuvermählten zum Photographie­ren: Sie mit einem Hyazinthenstrauß und dem Söhnchen auf dem Arm, er daneben, bei ihr eingehängt. Hinter ihnen

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das ganze Orchester in corpore, gefolgt von dem wütend schimpfenden SS-Mann aus der Küche:

»Ich zeige euch alle an! Statt Kartoffeln zu schälen, während der Arbeitszeit zu spielen! Ich zeig’s euch schon noch! Meine Suppe steht da ohne Kartoffeln! Könnt mich alle …«

»Ruhe«, versuchten die anderen ihn zu besänftigen. »Das ist doch ein Befehl direkt aus Berlin. Und die Suppe kann auch mal ohne Kartoffeln auf den Tisch kommen!«

Die Aufnahmen von den Neuvermählten waren inzwi­schen fertig; und die beiden durften sich für die Nacht in den Puff zurückziehen, den man ihnen großzügig zur Ver­fügung stellte. Die Puffmädchen wurden in die Baracke zehn einquartiert. Am nächsten Tag wurde die Französin zurück nach Frankreich geschickt, und der Spanier mar­schierte in seinen Gestreiften wieder mit zum Arbeits­kommando.

Und im ganzen Lager stolzieren sie herum, als hätten sie einen Stock verschluckt.

»Bei uns in Auschwitz kann man sogar heiraten.« Zunächst also – und vor allem – der lange Elektriker.

Zum zweiten – die Hochzeit des Spaniers. Und zum drit­ten – unser Kursus geht zu Ende. Erst vor ein paar Tagen endete der Kursus für die Pflegerinnen aus dem Frauenla­ger. Wir verabschiedeten sie mit Kammermusik. Sie saßen alle an den Fenstern des zehnten Blocks, und aus unseren Fenstern spielten ihnen Teile des Kammerorchesters: die Trommel, das Saxophon und die Geige. Das Schönste ist natürlich das Saxophon: Es weint und lacht und funkelt.

Schade, daß unser Dichter Słowacki kein Saxophon kannte; sicher wäre er ein großer Spieler geworden, schon wegen des Ausdrucksvermögens, über das dieses Instru­ment verfügt.

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Zuerst die Frauen, dann wir. Wir haben uns im Dachge­schoß versammelt, und Dr. Rhode, der Lagerarzt (der »an­ständige«, der keinen Unterschied zwischen Juden und Ariern macht), kam, prüfte uns und dann unsere Verbände, sagte, er sei sehr erfreut und sicher würde jetzt alles bei uns in Auschwitz besser werden, und ging schnell wieder hinaus. Weil es im Dachgeschoß so kalt ist.

Bei uns in Auschwitz nimmt man den ganzen Tag Ab­schied von uns. Franz, der Junge aus Wien, hielt mir heute seinen letzten Vortrag über den Sinn des Krieges. Ein biß­chen stotternd erklärte er mir den Unterschied zwischen denen, die arbeiten, und denen, die zerstören. Und sprach vom Sieg der ersteren und dem Fall der letzteren. Und da­von, daß für uns sowohl der Genosse aus unserer Genera­tion in London als auch in Uralsk kämpfe, einer aus Chi­cago, einer aus Kalkutta, einer vom Kontinent und einer von einer Insel. Von der kommenden Brüderschaft aller schaffenden Menschen. Und ich dachte daran, daß hier, inmitten der Zerstörung und des Todes, wieder einmal ein neuer Messianismus geboren wurde – wie üblich. Dann packte Franz endlich sein Päckchen aus, das er aus Wien bekommen hatte, und wir konnten unseren abendlichen Tee trinken. Dabei sang Franz ein österreichisches Lied, und ich trug Verse vor, die er nicht verstand.

Bei uns in Auschwitz hatten sie mir einige Medikamente und ein paar Bücher mit auf den Weg gegeben. Denke Dir: Gedanken des Angelus Silesius. Und ich bin glücklich, weil es alles so zusammenkam: der lange Elektriker, die Hochzeit des Spaniers und das Ende der Kurse. Und zum vierten: Gestern habe ich Briefe von zu Hause gekriegt. Lange haben sie mich gesucht, endlich haben sie mich ge­funden.

Seit zwei Monaten hatte ich keine Nachricht mehr, und ich habe mir wirklich Sorgen gemacht, weil man hier

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phantastische Gerüchte über die Verhältnisse in Warschau hört. Ich hatte schon angefangen, ganz verzweifelte Briefe zu schreiben, und stell Dir vor: gestern gleich zwei Briefe, einer von Staschek, einer von meinem Bruder.

Staschek schreibt ganz einfach, wie jemand, der ver­sucht, in einer fremden Sprache ein paar herzliche Gedan­ken zu fassen: »Wir lieben Dich und denken an Dich und an Tuska, Deine Braut. Wir leben, arbeiten und schaffen.«

Sie »arbeiten und leben und schaffen«, nur Andrzej ist tot, und Wacek »lebt nicht«.

Es ist schrecklich, daß ausgerechnet die zwei aus der Generation, die die meiste schöpferische Kraft besaßen, umkommen mußten.

Du weißt, wie sehr ich gerade gegen diese beiden war: gegen ihre imperialistische Konzeption des alles ver­schlingenden Staates, gegen ihre Unaufrichtigkeit in sozia­len Dingen, gegen ihre Theorie der Nationalkunst, gegen ihre verworrene Philosophie, beinahe so verworren wie ihr Meister Brzozowski selbst, gegen ihre dichterische Praxis, die sich an der Mauer der »Avantgarde« den Kopf ein­rannte, gegen ihren Lebensstil der bewußten und unbe­wußten Heuchelei.

Und heute, da uns die Schwelle der zwei Welten trennt, jene Schwelle, über die auch wir einmal gehen werden, nehme ich diese Herausforderung an. Heute werfe ich ih­nen vor, daß sie sich den suggestiven Ideen des allmächti­gen Staates gebeugt hatten, ich nehme ihnen ihre Bewun­derung übel, die sie dem Bösen entgegenbrachten, das nicht unser Böses war. Auch noch heute behaupte ich, daß ihre Poesie ohne Ideologie und der Mensch darin abwe­send war.

Aber ich sehe ihre Gesichter hinter der Schwelle einer anderen Welt, ich denke an sie, die aus meiner Generation

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kamen, und ich fühle, daß die Leere um uns herum immer größer wird. Sie sind so lebendig gegangen, so unmittelbar aus dem Schaffen herausgerissen, an dem sie hingen. Sie gingen weg von dieser Welt, in die sie so sehr hineinge­hörten. Ich begrüße sie, meine Freunde von einer anderen Barrikade. Und wünsche ihnen, daß sie auf einer anderen Welt die Wahrheit und die Liebe finden, die sie auf dieser Welt vergebens gesucht hatten!

… Eva, jenes Mädchen, das so herrlich von Sternen und von Harmonie sprach, die immer wieder sagte, daß »es noch immer nicht so schlimm« sei, auch sie wurde er­schossen. Die Leere wird immer größer. Immer mehr ge­hen weg, die guten und die weniger guten Freunde, und diejenigen, die noch beten können, sollten nicht mehr für den Sinn dieses Kampfes beten, sondern nur noch für das Leben der Geliebten. Ich dachte, daß wir die letzten sein werden. Daß wir in eine Welt zurückkehren, der die schreckliche Atmosphäre, die uns würgt, erspart bleiben werde. Daß nur wir in die Tiefe hinabgestiegen seien. Aber es ist die andere Welt, aus der die Menschen wegge­hen, herausgerissen aus der Mitte des Lebens, des Krieges, der Liebe.

Wir sind gefühllos wie Bäume und Steine. Und wir schweigen wie gefällte Bäume, wie zerschlagene Steine.

Der zweite Brief ist von meinem Bruder. Du kennst die Briefe, die mir Julek schreibt. Und jetzt schreibt er mir, daß sie an uns denken und daß sie alle Bücher und Ge­dichte aufbewahren …

Wenn ich zurückkomme, werde ich auf meinem Bücher­regal ein neues Bändchen finden. »Die Gedichte von Dei­ner Liebe«, schreibt Julek. Und ich glaube, daß unsere Liebe und meine Gedichte sich hier symbolisch berühren, daß diese Gedichte, die ich nur für Dich geschrieben habe und mit denen man Dich verhaftet hatte, einen fernen Sieg

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bedeuten. Hat man sie als einen Nachruf an uns herausge­geben? Ich bin dankbar dafür, daß unsere Freunde unsere Liebe als Erinnerung an uns bewahren und daß man uns das Recht darauf zugestanden hat.

Und dann schreibt mir mein Bruder noch von Deiner Mutter: sie denkt an uns und glaubt, daß wir zurückkom­men und alle beisammen bleiben, weil es das menschliche Recht sei.

… Kannst Du Dich noch an die erste Karte erinnern, die Du mir geschrieben hast, als wir erst ein paar Tage im La­ger waren? Du hast geschrieben, Du seist krank und ver­zweifelt, weil Du mich ins Lager »gebracht« hättest. Wenn Du nicht gewesen wärst und so weiter. Und weißt Du, wie es wirklich war?

Es war so, daß ich Deinen Anruf von Maria erwartete, wie es verabredet war. Nachmittags war bei mir eine klei­ne Zusammenkunft – wie immer am Mittwoch –, und ich glaube, ich habe etwas über meine philologische Arbeit geredet, und außerdem, glaube ich, ist die Karbidlampe ausgegangen.

Danach wartete ich auf Deinen Anruf. Ich wußte, Du würdest anrufen, weil Du es versprochen hattest. Du hast nicht angerufen. Ich weiß nicht mehr, ob ich essen ging oder nicht. Wenn ja, dann wartete ich wieder auf Deinen Anruf, saß neben dem Telefon, weil ich Angst hatte, ich würde das Läuten aus dem Nebenzimmer nicht hören. Ich las Zeitungsausschnitte und irgendeine Novelle von Mau­rois über einen Menschen, der gelernt hat, wie man menschliche Seelen in unvergängliche Behälter ein­schließt, und der nun seine Seele und die Seele seiner Ge­liebten für immer aufbewahren will. Leider erwischte er aber die Seelen von zwei Clowns, und seine Seele und die Seele seiner Geliebten lösten sich im All auf. Gegen Mor­gen schlief ich ein.

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Am nächsten Tag ging ich nach Hause, wie immer un­term Arm die Aktentasche, vollgestopft mit Büchern. Ich frühstückte, sagte, ich käme zum Mittagessen zurück, streichelte meinen Hund, erwähnte noch, ich hätte es sehr eilig, und ging zu Deiner Mutter. Deine Mutter war beun­ruhigt, sie machte sich Sorgen um Dich. Ich fuhr mit der Straßenbahn zu Maria. Lange Zeit sah ich auf die Bäume im Łazienki-Park, die mag ich doch so gern. Über die Puławska-Straße ging ich zu Fuß, um mir ein bißchen Be­wegung zu verschaffen. Auf der Treppe lagen haufenweise Zigarettenstummel, und – wenn ich mich richtig erinnere – fand ich Blutspuren. Ich ging zur Tür und läutete, wie es verabredet war. Die Tür ging auf. Ich sah Männer mit Re­volvern in den Händen.

Ein Jahr ist seitdem vergangen. Aber ich schreibe es, damit Du weißt, daß es mir nie leid getan hat, daß wir zu­sammen sind. Und ich denke auch nie daran, daß es anders sein könnte. Ich denke nur oft an die Zukunft. An das Le­ben, das wir leben werden, wenn … An die Verse, die ich noch schreiben werde, an die Bücher, die wir zusammen lesen werden, an die Gegenstände, die dann bei uns ste­hen. Ich weiß, es ist naiv, aber daran denke ich. Sogar un­ser Exlibris ist mir schon eingefallen. Es ist eine Rose, die man auf ein großes, mittelalterliches Buch mit schweren Beschlägen geworfen hat.

Nun sind wir wieder zurück. Ich ging zu meinem alten Block, schmierte die Krätzekranken wie üblich mit dem Minztee ein, heute früh haben wir zusammen den Boden

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IX

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geschrubbt. Danach stand ich mit kluger, verständiger Miene neben dem Doktor, der gerade punktierte. Dann klaute ich die zwei letzten Prontosil-Ampullen, die wir noch hatten, und schicke sie Dir. Endlich ist es mir gelun­gen, unseren Barackenfriseur, der eigentlich von Beruf Gastwirt in Krakau war, davon zu überzeugen, daß ich un­ter allen Literaten der beste Pfleger bin.

Sonst bin ich den ganzen Tag auf den Beinen – damit mein Brief Dich erreicht. Mein Brief für Dich, das sind diese Blätter. Aber damit sie Dich erreichen, müssen sie Beine haben. Darum muß ich mich kümmern. Endlich fand ich ein Paar geeignete Beine – sie stecken in hohen, roten, geschnürten Schuhen, oben tragen sie eine schwarz­geränderte Brille, haben einen dicken Hintern und laufen Tag für Tag hinüber ins Frauenlager, um die männlichen Kinderleichen abzuholen. Das bedeutet, daß sie jeden Tag auch durch unsere Schreibstube gehen müssen, über unser Leichenhaus, und außerdem muß unser Sonderkommando-Mann persönlich seinen Segen dazu geben. Ja, meine Lie­be, die ganze Welt steht und fällt mit einer bestimmten Ordnung, oder – weniger poetisch ausgedrückt – Ordnung muß sein.

Diese Beine marschieren also jeden Tag ins Frauenlager und sind mir offenbar wohlgesonnen. Einmal haben mir diese Beine erzählt, daß sie selbst eine Frau im FKL hätten und wüßten, wie schwer das sei. Und meinen Brief neh­men sie mit, einfach so, aus Freundschaft. Mich auch, wenn es sich einmal so ergibt. Zuerst schicke ich also meinen Brief, und wenn ich kann, komme ich selbst. Ein bißchen Reisefieber habe ich jetzt schon. Meine Freunde haben mir geraten, das Plaid zu nehmen und es da hinzu­legen, wo es hingehört. Sie haben recht, denn bei meinem Glück und der allgemeinen Stimmung, die im Lager herrscht, platzt die ganze Sache schon bei meinem ersten

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Ausflug. Wahrscheinlich werde ich mich dann besonderer Fürsorge erfreuen. Vorläufig habe ich ihnen geraten, sich mit peruanischem Balsam gegen Krätze einzuschmieren.

Die Landschaft ist unverändert, nur schlammiger ist es geworden, ich weiß nicht, wieso. Es riecht nach Frühling. Und die Leute ersticken im Schlamm. Vom Wald her duf­tet es einmal nach Fichten, einmal nach Qualm. Einmal fahren die Laster mit den Fetzen vorbei, einmal die Mu­selmanen aus Buna. Einmal zur Effektenkammer, einmal mit SS-Männern zur Wachablösung.

Geändert hat sich nichts. Weil gestern Sonntag war, gin­gen wir ins Lager zur Läusekontrolle. Die Baracken sehen im Winter schrecklich aus! Alles ist dreckig, obwohl man sauber gefegt hat, es riecht schrecklich nach menschlichen Ausdünstungen. Die Baracken sind vollgestopft mit Men­schen, aber es gibt keine einzige Laus weit und breit. Die Entlausung dauert ja nicht umsonst ganze Nächte lang. Wir waren schon wieder draußen, und die Kontrolle war beendet, als ein Sonderkommando aus dem Kremo zu­rückkam. Sie waren verqualmt, das Fett glänzte, sie beug­ten sich unter den schweren Säcken, die sie heranschlepp­ten. Sie dürfen alles bringen außer Gold, aber davon schmuggeln sie das meiste.

Jeden Augenblick lösten sich kleine Gruppen von der Menge und stürzten zu dem marschierenden Kommando, um sich eines Päckchens zu bemächtigen.

Die Luft bebte von Geschrei und Flüchen. Endlich ver­schwand das Sonderkommando im Tor der Mauer, die ih­ren Block von den anderen trennt. Aber unmittelbar darauf machten sich auch die Juden auf den Weg – zu Besuchen, zu geschäftlichen Besprechungen und zum Organisieren.

Einen von ihnen hielt ich an, einen alten Freund von un­serem früheren Kommando. Ich wurde damals krank und

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ging ins Revier. Er hatte mehr »Glück«, er kam zum Son­derkommando. Immer noch besser, als mit dem Spaten umzugehen und dafür eine Schüssel Suppe zu bekommen. Er streckte mit herzlich die Hand entgegen.

»Na, du? Brauchst du etwas? Hast du ein paar Äpfel?« »Nein, Äpfel habe ich keine«, sagte ich freundlich. »Bist

du immer noch nicht tot, Abram? Wie geht’s denn?« »Ach so, nichts Besonderes. Die Tschechen haben wir

vergast.« »Das weiß ich auch ohne dich. Und wie geht es dir per­

sönlich?« »Ach, persönlich. Was kann es bei mir schon geben?

Blocks und Schornstein und wieder Blocks. Hab ich denn jemanden hier? Ach doch, wenn du etwas Persönliches wissen willst: Eine neue Art der Menschenverbrennung haben wir uns ausgedacht. Interessiert dich das?«

Ich war wirklich neugierig. »Ja, das machen wir so, daß wir vier Kinder mit langen

Haaren nehmen, die binden wir zusammen und zünden die Haare zuerst an. Dann brennt alles von allein und ist ge­macht.«

»Ich gratuliere«, sagte ich trocken und ohne Begeiste­rung.

»Du, Pfleger, bei uns in Auschwitz müssen wir schauen, daß wir ein bißchen Spaß kriegen. Wie sollten wir es sonst aushalten?«

Er steckte die Hände in die Taschen und ging davon, oh­ne sich von mir zu verabschieden.

Aber das Ganze stimmt nicht; es ist so grotesk wie das ganze Lager und wie die ganze Welt.

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UND SIE GINGEN …

Zuerst haben wir auf dem leeren Feld hinter den Kranken­baracken den Fußballplatz gebaut. Das Feld lag »günstig« – links davon das Zigeunerlager mit den ewig herumstreu­nenden Kindern, mit den Frauen, die fast ständig auf den Latrinen saßen und den hübschen Pflegerinnen, die bis auf den letzten Faden gestärkt umherliefen; dahinter – der Sta­cheldraht, dann die Rampe mit dem breiten Schienen­strang, auf dem immer wieder Züge standen, und hinter der Rampe das Frauenlager. Frauenlager sagte niemand, FKL war die übliche Bezeichnung, das reichte. Rechts vom Feld waren die Krematorien, eins jenseits der Rampe, ne­ben dem FKL, das zweite etwas näher, beinahe schon am Draht. Solide Bauten, tief in den Boden eingelassen. Hin­ter den Krematorien begann der kleine Wald, durch den man gehen mußte, wenn man ins weiße Haus wollte.

Wir bauten den Fußballplatz im Frühling, und noch ehe er fertig wurde, pflanzten wir unter den Fenstern Blumen, streuten die schmalen Wege zwischen den Baracken mit rotem Pulver aus zerriebenen Ziegelsteinen. Spinat wurde ausgesät, Salatpflanzen gesetzt, Sonnenblumen und Kno­blauch. Die Rasenstücke, die wir aus dem Feld stachen, trugen wir zu unseren Baracken herüber und legten groß­artige Grasflächen an. Jeden Tag wurden die Beete ge­spritzt, das Wasser schleppten wir in Kübeln aus dem Waschraum des Lagers heran. Gerade als die Blumen et­was gewachsen waren, wurde auch der Fußballplatz fertig.

Das Grünzeug wuchs jetzt von selbst, die Kranken konn­ten in ihren Betten auch allein gelassen werden: also spiel­

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ten wir Fußball. Abends, wenn das Essen ausgeteilt war, durfte jeder mitspielen. Andere gingen lieber zum Sta­cheldraht und unterhielten sich über die ganze Breite der Rampe hinweg mit den Frauen im FKL.

Einmal war ich im Tor. Es war Sonntag, eine Menge der leichteren Patienten und viele Pfleger standen um den Spielplatz herum und sahen uns zu. Jemand jagte über den Fußballplatz, ein anderer lief ihm nach, und wahrschein­lich hatten sie auch einen Ball. Ich stand, wie gesagt, im Tor – den Rücken der Rampe zugekehrt. Der Ball flog ins Aus, rollte bis an den Draht heran. Ich lief ihm nach. Als ich ihn aufhob, blickte ich zufällig zur Rampe.

Eben war ein Zug herangefahren. Aus den Güterwag­gons kamen Menschen und gingen zum Wald hin. Von weitem sah ich nur die bunten Kleckse der Frauenkleider. Offenbar trugen die Frauen Sommerkleider, zum ersten­mal in diesem Jahr. Die Männer hatten ihre Jacken ausge­zogen, die weißen Ärmel der Hemden leuchteten. Die Pro­zession schob sich langsam vorwärts, immer mehr Men­schen schlossen sich dem Strom an. Ich lief mit meinem Ball zurück und warf ihn ins Spiel. Der Ball wechselte von Bein zu Bein, kam im großen Bogen wieder zu mir ans Tor. Ich schlug ihn aus, wieder in die Ecke. Er rollte ins Gras. Ich ging ihn holen. Als ich ihn aufhob, sah ich noch einmal zur Rampe hinüber. Ich erstarrte. Die Rampe war leer. Kein einziger Mensch war von der bunten, sommerli­chen Menge übriggeblieben. Die Waggons wurden eben­falls weggezogen. Die Baracken des FKL waren klar zu se­hen. Am Stacheldraht standen wieder die Pfleger und rie­fen den Mädchen zu, die von jenseits der Rampe antworte­ten.

Ich kehrte mit dem Ball zurück und warf ihn ins Spiel. Eine Ecke. Zwischen zwei Eckbällen hatte man hinter meinem Rücken dreitausend Menschen vergast.

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Die Menschen gingen auf zwei Wegen in den Wald hin­ein. Der erste Strom floß direkt von der Rampe hin, der andere kam von der anderen Seite, an unserem Kranken­haus vorbei. Beide Wege führten ins Krematorium, aber einige hatten doch Glück und gingen weiter, bis in die Sauna, die nicht nur Baden und Entlausen und Friseur und neue, ölfarbene Fetzen bedeutete, sondern auch Leben. Si­cher, Leben im Lager, aber immerhin Leben.

In der Frühe, wenn ich aufstand, um den Boden zu schrubben, gingen sie – den einen und den anderen Weg. Frauen, Männer und Kinder. Und trugen ihre schweren Bündel.

Als ich mich zum Mittagessen setzte – es schmeckte besser als zu Hause, gingen sie – den einen und den ande­ren Weg. Unser Block war sehr sonnig, wir öffneten die Fenster und die Tür und bespritzten den Fußboden, damit der Staub sich legte. Nachmittags ging ich ins Hauptlager, um die Päckchen zu holen, die mit der Morgenpost ins Magazin gekommen waren. Der Schreiber trug Briefe aus. Die Ärzte machten ihre Visiten, ihre Verbände, Spritzenund Punktionen. Übrigens gab es nur eine einzige Injekti­onsspritze im ganzen Block. An warmen Abenden saß ich in der offenen Tür und las Pierre Loti, und sie gingen – den einen und den anderen Weg.

Nachts trat ich manchmal hinaus, vor den Block – die Lampen leuchteten über den Drähten. Der Weg lag im Dunkeln, aber ich hörte deutlich das entfernte Murmeln von Tausenden von Stimmen – sie gingen und gingen.Über dem Wald glomm ein roter Feuerschein und erleuch­tete den Himmel, und mit dem flackernden Feuer erhob sich Menschengeschrei.

Ich starrte in die dunkle Nacht, stumm, reglos. Alles in mir bebte und zitterte und zuckte – und ich konnte nichts tun. Mein Körper gehorchte mir nicht mehr, obwohl ich

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jede Zuckung spürte. Ich war vollkommen ruhig, aber mein Körper rebellierte.

Kurz danach ging ich aus dem Spital ins Lager. Es war ein ereignisreicher Tag. Die Alliierten landeten an der französischen Küste. Die Ostfront sollte sich verschieben und die Russen bis Warschau vordringen.

Aber bei uns warteten Tag und Nacht Güterwaggons, ganze Reihen, mit Menschen voll beladen. Die Türen wurden geöffnet, und sie gingen – den einen und den an­deren Weg.

Neben unserem Arbeitslager war der unbewohnte und halbfertige Abschnitt C. Nur die Baracken standen schon, und die Drähte waren elektrisch geladen. Aber noch keine Pappe lag auf den Dächern, einige der Baracken hatten noch keine Pritschen. Die Pferdebaracken in Birkenau faß­ten bis fünfhundert Menschen, wenn man dreistöckige Pritschen aufstellte. Im Abschnitt C wurden tausend und mehr junge Mädchen in einer Baracke untergebracht, alles Frauen, die aus jenen Menschen ausgewählt wurden, die gingen. Achtundzwanzig Baracken – mehr als dreißig­tausend Frauen. Man hatte ihnen die Köpfe kahlgeschoren und Sommerkleider gegeben, alle ohne Ärmel. Wäsche bekamen sie keine. Auch keine Löffel, keine Schüssel, keinen weiteren Fetzen auf den Leib. Birkenau lag auf sumpfigen Wiesen am Fuß der Berge. Wenn die Luft klar und durchsichtig war, sah man tagsüber die Berge. Mor­gens ertranken sie im Nebel, der sie wie ein dichter Schleier verhüllte. Die Morgen waren hier ungewöhnlich kalt und feucht. Uns erfrischten sie an heißen Tagen, aber die Frauen, die fünfzig Meter weiter Appell standen, wa­ren blau vor Kälte und drängten sich zusammen wie eine Schar Rebhühner.

Wir gaben dem Lager den Namen Persischer Markt. An schönen Tagen kamen die Frauen aus den Baracken heraus

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und standen zwischen den Blocks herum. Von weitem sa­hen die bunten Sommerkleider und die farbigen Tücher, die ihre kahlgeschorenen Köpfe verhüllten, wirklich wie ein fröhlicher, lebendiger Markt aus. Und weil er so exo­tisch wirkte, nannten wir ihn den Persischen Markt.

Von weitem waren weder die Gesichter noch das Alter der Frauen zu erkennen. Man sah nur weiße Flecken und die Gestalten, die wie Pastellzeichnungen anmuteten.

Der Persische Markt war ein erst halbfertiges Lager. Das Wagner-Kommando baute hier eine Steinstraße, und eine schwere Walze rollte dumpf über die Baustelle. An­dere stocherten in den Kanalisationen und Wasserleitun­gen herum, die neuerdings überall in Birkenau frisch ge­legt wurden. Noch andere legten den Grundstock zum kommenden Wohlstand dieses Abschnittes; sie fuhren Steppdecken und Wolldecken heran, brachten Schüsseln und Eimer und andere Blechgeräte und stapelten alles im Magazin auf, in dem der Chef, ein SS-Mann, regierte. Selbstverständlich ging ein Teil dieser Sachen sofort und direkt an das Lager über. Die dort arbeitenden Menschen stahlen alles, was sie konnten. Das war übrigens der ein­zige Nutzen, den diese Dinge brachten: man konnte sie klauen.

Meine Gesellen und ich haben alle Dächer der Blockäl­testen des Persischen Marktes gedeckt. Wir taten es weder auf Befehl noch aus Mitleid. Die Pappe war organisierte Ware, und der Teer war auch geklaut. Wir deckten die Dä­cher auch keineswegs aus Solidarität mit den alten Num­mern, den Pflegerinnen aus dem FKL, die hier alle Funk­tionen übernahmen. Jede Papprolle, jeden Eimer Teer mußten die Blockleiterinnen blutig bezahlen. Dem Kapo, dem Kommandoführer, den Kommandoprominenten. Sie zahlten, wie sie konnten: mit Geld, mit Lebensmitteln, mit ihren Frauen, manche gab sich selbst. Je nachdem.

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Wir deckten die Dächer, die Elektriker legten zu densel­ben Bedingungen die Leitungen, die Zimmerleute bastelten die Buden und so manches, was man hineinstellen konnte. Alles aus organisiertem Holz. Die Maurer schleppten ge­stohlene Eisenöfen herbei und besorgten, was sonst noch nötig war. Auch sie wurden ebenso bezahlt wie wir.

Damals erkannte ich das Gesicht dieses sonderbaren La­gers. Wir kamen frühmorgens ans Tor, jeder schob einen Karren mit Pappe und Teer vor sich her. Im Tor standen die Wachmänninnen, breithüftige Blondinen in hohen Schaftstiefeln. Sie filzten uns und ließen uns passieren. Später kamen sie ins Lager, um die Baracken zu kontrol­lieren. Viele von ihnen hatten ihren Liebhaber unter den Maurern und den Zimmerleuten. In den halbfertigen Waschräumen oder in den Buden der Barackenältesten hielten sie Schäferstündchen.

Dann fuhren wir tiefer ins Lager hinein und zündeten ein großes Feuer irgendwo auf einem freien Platz zwischen den Baracken an, um unseren Teer zu kochen. Im Nu drängten sich die Frauen um uns herum. Sie bettelten um ein Messer, um ein Taschentuch, um einen Löffel oder ei­nen Bleistift, ein Stück Papier oder einen Schnürsenkel. Oder um Brot. »Ihr seid doch Männer«, sagten sie. »Ihr könnt alles. Ihr lebt schon so lange im Lager und seid nicht gestorben. Bestimmt habt ihr alles. Warum wollt ihr nicht mit uns teilen?«

Wir gaben ihnen jede Kleinigkeit, drehten unsere Ta­schen um, um ihnen zu zeigen, daß wir wirklich nichts mehr hatten. Unsere Hemden zogen wir aus und gaben sie ihnen. Schließlich ging es so weit, daß wir nur noch mit leeren Taschen kamen und nichts mehr hergaben.

Die Frauen waren nicht alle so gleich, wie es aus der Perspektive des zweiten Abschnittes, keine zwanzig Meter weiter links, ausgesehen hatte.

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Kleine Mädchen waren darunter, mit langen, nicht abge­schnittenen Haaren und den erstaunten Gesichtern kleiner Cherubim von Darstellungen des Jüngsten Gerichts. Junge Mädchen waren da, die verwundert den Frauen zusahen, die sich um uns drängten, und für uns brutale, kaltschnäu­zige Männer nur Verachtung hatten. Verheiratete Frauen kamen und fragten uns nach ihren Männern, Mütter such­ten nach Spuren ihrer Kinder.

»Uns geht es so schlecht, wir frieren und hungern«, weinten und klagten sie. »Geht es den Kleinen wenigstens besser?«

»Ganz bestimmt geht es ihnen besser, wenn es einen Gott gibt und Gerechtigkeit«, sagten wir ernst, ohne das übliche Feixen und Mogeln.

»Sie sind doch nicht tot?« fragten sie und sahen uns mit großen, unruhigen Augen an.

Wir gingen schweigend davon, plötzlich hatten wir es ei­lig, an unsere Arbeit zu kommen.

Die Blockältesten auf dem Persischen Markt waren durchwegs Slowakinnen, weil sie die Sprache der Frauen verstanden. Alle diese Mädchen hatten schon einige Jahre des Lagers hinter sich. Sie kannten noch die Anfänge des FKL, jene Zeiten, in denen die Frauenleichen überall um die Baracken herumlagen und in den Krankenbetten ver­westen, weil sie niemand hinaustrug. Sie kannten die ab­scheulich stinkenden Haufen menschlichen Kots, die sich in den Baracken sammelten.

Nach außen waren sie grob, aber innerlich hatten sie sich ihre frauliche Weichheit und – Güte bewahrt. Natürlich hatten auch sie ihre Liebhaber, und auch die klauten Mar­garine und Konserven, um damit die Kleider zu bezahlen, die man ihnen aus den Beständen der beschlagnahmten Güter brachte, aber …

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… aber ich denke an Mirka, das kleine, untersetzte Mäd­chen in Rosa.

Sie hatte sich ihre Bude ganz in Rosa eingerichtet, die win­zigen Vorhänge in dem kleinen Fenster waren rosa, sogar die Luft in ihrer Bude hatte einen rosigen Schimmer und hüllte das hübsche Gesicht und die ganze Gestalt wie ein duftiger Schleier ein. Ein Jude aus unserem Kommando, dem sie die Zähne eingeschlagen hatten, war in Mirka verliebt.

Im ganzen Lager kaufte er frische Eier auf und warf sie, weich eingepackt, über den Stacheldraht. Er saß stunden­lang bei ihr und kümmerte sich weder um die kontrollie­renden SS-Männinnen noch um den Chef, der herumging, den großen Revolver nachlässig an die weiße Sommeruni­form geschnallt. Wir nannten ihn Philipp, weil er immer ausgerechnet dort aus dem Boden wuchs, wo man ihn am allerwenigsten gebrauchen konnte.

Eines Tages kam Mirka unter das Dach gelaufen, das wir gerade deckten. Sie winkte dem Juden zu und rief mir zu: »Kommen Sie herunter. Vielleicht können auch Sie mir helfen.«

Wir glitten vom Dach herunter, an der Barackentür her­ab. Sie nahm uns an der Hand und zog uns mit. Zwischen den Pritschen hindurch führte sie uns zu einem Lager aus bunten Decken, auf denen ein Kind lag. »Schaut mal«, sagte sie aufgeregt, »es stirbt doch gleich. Was soll ich tun? Warum ist es so plötzlich krank geworden?« Das Kind schlief sehr unruhig. Es sah wie eine Rose aus, um­geben vom goldenen Schimmer der hellen Haare, die sich um das vom Fieber gerötete Gesicht ringelten.

»Wie schön das Kind ist!« flüsterte ich. »Schön!« schrie Mirka. »Wem sagen Sie das? Aber es

kann sterben. Ich muß es verstecken, sonst wird man es mir vergasen. Die SS-Männin kann es finden. Helft mir!«

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Der Jude legte ihr die Hand auf die Schulter. Sie schüt­telte seine Hand ungeduldig ab und begann zu schluchzen. Ich zuckte die Schultern und ging hinaus.

Von weitem sah ich neue Güterwaggons, die sich an der Rampe entlang vorwärtsschoben. Sie brachten neue Men­schen, die gehen würden. Zwischen den zwei Lagerab­schnitten marschierte das Kanada-Kommando von der Ar­beit zurück ins Lager. Die zweite Gruppe, die die erste ab­löste, kam ihm entgegen. Über dem Wald hing eine Rauchwolke. Ich ertappte mich bei dem Gedanken, daß ich auch so ein schönes Kind haben möchte, mit rosigen Wangen, die der Schlaf gerötet hatte, und mit dem golde­nen Haar, das sich über das Kopfkissen ergoß.

Ich lächelte über den Gedanken, den ich kaum zu Ende zu denken wagte, und ging wieder hinauf aufs Dach, um weiterzukleben.

Ich erinnere mich an eine andere Blockälteste, ein hoch­gewachsenes Mädchen mit breiten Füßen und großen, ro­ten Händen. Sie hatte keine eigene Bude, nur ein Bett, das mit ein paar Decken zugedeckt war, und einige weitere Decken an Schnüren aufgehängt, die wie Zwischenwände ihr Bett von dem übrigen Raum trennten.

»Sie sollen nicht glauben«, sagte sie und wies auf die Frauenköpfe, die dicht nebeneinander auf den Pritschen lagen, »daß ich von ihnen weglaufen will. Ich kann ihnen nichts geben, ich nehme aber auch nichts.«

»Glaubst du«, fragte sie mich eines Tages bei einem Wort­geplänkel, »daß es auch nach dem Tode noch Leben gibt?«

»Manchmal«, sagte ich zögernd. »Im Gefängnis habe ich einmal daran geglaubt und dann noch einmal, im Lager, als ich beinahe gestorben wäre.«

»Und wenn man etwas Böses tut, wird man bestraft, nicht wahr?«

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»Wahrscheinlich, wenn es nicht eine höhere Norm von Gerechtigkeit gibt als die menschliche. Du verstehst doch, was ich meine, nicht? Die Enthüllung der Beweggründe, inneren Antriebe, die Unerheblichkeit der Schuld, gemes­sen an einem anderen, höheren Sinn der Welt. Kann man ein Verbrechen, das in zwei Dimensionen verübt wurde, in drei Dimensionen bestrafen?«

»Denk doch normal, wie ein Mensch!« schrie sie mich an.

»Dann muß Schuld allerdings bestraft werden, das ist klar.«

»Und du würdest nur Gutes tun, wenn du könntest?« »Ich bin auf keine Belohnung aus. Ich bin Dachdecker

und versuche, das Lager zu überleben.« »Und du glaubst«, wies sie mit dem Kopf in eine unbe­

stimmte Richtung, »daß man sie nicht strafen soll?« »Ich glaube, daß Menschen, denen Unrecht geschieht,

die unschuldig leiden, Gerechtigkeit allein nicht genügt. Sie wollen, daß auch die Schuldigen leiden. Das erst emp­finden sie als Gerechtigkeit.«

»Du bist ein kluger Bursche. Aber ich glaube trotzdem nicht, daß du es fertigbrächtest, gerecht die Suppe zu ver­teilen. Deiner Freundin würdest du sicher mehr geben«, sagte sie und verschwand im Inneren der Baracke.

Die Frauen lagen auf den Pritschen, Kopf neben Kopf. In den steinernen Gesichtern glühten große Augen. Im Lager machte sich schon der Hunger bemerkbar. Die rothaarige Blockleiterin schlich von einer Pritsche zur anderen und verwickelte die Frauen in ein Gespräch, um sie vom Den­ken abzuhalten. Jedes Mädchen, das singen konnte, wurde von der Pritsche heruntergeholt und mußte singen. Dieje­nigen, die tanzen konnten, mußten tanzen. Konnte eine gut deklamieren, mußte sie Gedichte vortragen.

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»Immer wieder fragen sie mich, wo ihre Mütter und Vä­ter sind. Und bitten mich, daß sie ihnen schreiben dürfen.«

»Mich bitten sie auch«, sagte ich. »Da kann man nichts machen.«

»Dich! Du kommst und gehst, aber ich? Ich bitte und flehe sie an, sie sollen sich nicht zum Arzt melden, wenn sie krank sind, sie sollen still sitzen und nicht aus der Ba­racke hinausgehen, wenn sie schwanger sind. Und meinst du, sie glauben mir? Ich will doch nur ihr Bestes. Aber wie kann ich ihnen helfen, wenn sie sich selbst ins Gas drängen?«

Ein Mädchen stand auf dem Ofen wie auf einem Podium und sang einen Schlager. Als es aufhörte, klatschten die anderen Frauen Beifall. Das Mädchen verbeugte sich und dankte lächelnd. Die Rothaarige griff sich mit beiden Händen an den Kopf.

»Ich kann nicht mehr«, zischte sie und stürzte sich auf das Mädchen.

»Herunter mit dir!« befahl sie. In der Baracke wurde es still. Die Rothaarige hob die Hand.

»Ruhe«, sagte sie, obwohl kein einziger Laut zu hören war. »Ihr habt mich gefragt, wo eure Eltern und eure Kin­der sind. Ich hab’s euch nicht gesagt, weil es mir leid tat um euch. Jetzt werde ich es euch aber sagen, damit ihr Be­scheid wißt, weil man mit euch dasselbe macht, wenn ihr krank werdet. Eure Kinder, eure Männer und eure Eltern sind in keinem anderen Lager. Man hat sie in den Keller gestopft und mit Gas vergiftet. Vergast, versteht ihr? Wie Millionen andere, wie meine Eltern auch. Und jetzt wird man sie verbrennen. Im Krematorium und in der Grube. Der Rauch, der über dem Wald hängt und über den Dä­chern, kommt nicht aus der Ziegelei, wie man euch erzählt hat. Der Rauch, das sind eure Kinder. So. Und jetzt kannst

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du weitersingen«, wandte sie sich zu dem erschrockenen Mädchen, drehte sich um und ging hinaus.

Es ist bekannt, daß sich die Verhältnisse in Auschwitz und Birkenau gebessert hatten. Zuerst wurden die Häftlin­ge auf den Kommandos allgemein geschlagen und getötet. Dann nur noch sporadisch. Zuerst lagen die Leute auf dem blanken Boden und mußten sich auf Befehl von einer Seite auf die andere drehen. Dann schliefen sie auf Pritschen und durften sich drehen, wann und wie sie wollten. Man­che schliefen sogar allein in einem Einzelbett. Zuerst stand man zwei Tage lang Appell, dann nur noch bis zum zwei­ten Gongschlag um neun Uhr. In den ersten Jahren war es verboten, überhaupt Päckchen zu schicken, später wurden Päckchen bis zu fünfhundert Gramm zugelassen, schließ­lich konnte man schicken, wieviel man wollte. Zuerst durften die Häftlinge überhaupt keine Taschen haben, zu­letzt erlaubte man in Birkenau sogar Zivilanzüge. Im La­ger wurde es »immer besser«. Nach drei oder vier Jahren. Kein Mensch wollte mehr an den Anfang denken, man vermochte sich die einstigen Zeiten kaum noch vorzustel­len. Jeder war stolz darauf, daß er es hinter sich und über­lebt hatte.

Je schlechter es den Deutschen an der Front ging, desto besser wurde es im Lager. Und an der Front wurde es im­mer schlimmer …

Auf dem Persischen Markt schien sich die Zeit zurückzu­drehen. Wir sahen wieder Auschwitz aus dem Jahre vierzig. Die Frauen verschlangen gierig die Suppe, die kein Mensch mehr aß. Sie stanken nach Schweiß und Monatsbluten. Von fünf Uhr früh standen sie Appell. Bis sie alle gezählt wur­den, war es neun. Dann erst bekamen sie den kalten Kaffee. Um drei Uhr nachmittags begann der Abendappell, und sie kriegten das Abendessen: Brot. Weil sie nicht arbeiteten, hatten sie keinen Anspruch auf Arbeitszulage.

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Ab und zu wurden sie aus den Baracken hinausgejagt: Appell außerhalb des Programms. Sie stellten sich auf, zu fünft, dicht nebeneinander, und dann durften sie einzeln wieder in die Baracken zurück. Die SS-Männinnen, breithüftige Blondinen in hohen Schaftstiefeln, holten die mageren, die häßlichen, die dickbäuchigen Frauen aus den Reihen heraus und warfen sie »ins Auge«. Das Auge war ein Kreis, den die Stubenältesten, die sich an den Händen hielten, gebildet hatten. Ein geschlossener Kreis – der Kreis hatte sich geschlossen. Wie ein makabres Spiel sah es aus, wenn dieser Kreis, dicht mit Frauen gefüllt, sich zum Tor schob und dort mit dem großen Kreis ver­schmolz. Fünfhundert, sechshundert, tausend Frauen. Und sie alle gingen – den einen Weg.

Manchmal kam die SS-Männin in die Baracke. Sie blick­te von einer Pritsche zur anderen, eine Frau, die Frauen ansah. Sie fragte, welche denn zum Arzt möchte, welche schwanger sei. Im Krankenhaus gäbe es Milch und Weiß­brot.

Von den Pritschen erhoben sich Frauen und gingen, un­ter dem forschenden Blick einer Frau, zum Tor, durch das Tor hinaus und weiter – den einen Weg.

Unsere freie Zeit – wir arbeiteten, um die Zeit totzu­schlagen, denn es gab wenig Material – verbrachten wir auf dem Persischen Markt, bei den Blockältesten, vor den Baracken oder in der Latrine. Bei den Blockältesten tran­ken wir Tee oder machten ein Nickerchen auf dem gast­lich hergerichteten Bett. Vor den Baracken schwatzten wir mit den Maurern und mit den Zimmerleuten. Die Frauen kamen dazu, jetzt schon in Pullis und Strümpfen. Wenn man bloß einen Fetzen mitbrachte – egal, was es war –, konnte man mit den Weibern machen, was man wollte. Seit das Lager stand, war das Angebot an Frauen noch nie größer gewesen.

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Die Latrine ist für Männer und Frauen gemeinsam, nur durch eine Zwischenwand getrennt. Auf der Frauenseite gibt es Krach und Gedränge. Bei uns – Stille und ange­nehme Kühle, weil alles aus Beton ist. Man sitzt stunden­lang hier herum und führt verliebte Dialoge mit der klei­nen Katja, der hübschesten Klosettfrau, die hier putzt. Die Situation stört niemanden. Man hat schon soviel gesehen im Lager.

Der Juli ging vorbei. Tag und Nacht gingen die Men­schen – den einen und den anderen Weg. Von der ersten Morgendämmerung bis in die tiefe Nacht hinein stand der Persische Markt Appell. Die Tage waren schön und heiß, und der aufgeweichte Teer tropfte von den Dächern. Dann kam Regen und scharfer Wind. Die Morgen waren durch­dringend kalt. Aber auch die schlechten Tage gingen vor­über, das Wetter wurde wieder schön. Auf der Rampe fuh­ren immer neue Züge ein, immer mehr Menschen gingen – immer weiter. Oft standen wir morgens vor dem Tor und konnten nicht an unsere Arbeit gehen, weil sie uns den Weg versperrten.

Sie gingen langsam, in kleinen, losen Gruppen, und hiel­ten sich an den Händen. Frauen, Greise, Kinder. Sie gin­gen am Stacheldraht entlang und wandten uns ihre schwei­genden Gesichter zu. Mitleidig sahen sie uns an und war­fen uns Brotstücke zu. Die Frauen nahmen ihre Armband­uhren ab, warfen sie über den Stacheldraht vor unsere Fü­ße und bedeuteten uns, daß wir sie behalten dürften.

Das Orchester am Tor spielte schneidige Foxtrotts und langsame Tangos. Das Lager sah den Menschen zu. Ein Mensch hat nur eine beschränkte Auswahl von Reaktio­nen, mit denen er auf große Empfindungen und gewaltige Leidenschaften antwortet. Er zeigt sie nicht anders als die kleinen, gewohnten Reaktionen. Auch die Worte sind die gleichen, einfachen Worte.

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»Wieviel sind schon gegangen? Seit Mitte Mai sind es gerade zwei Monate. Wenn du zwanzigtausend pro Tag rechnest – beinahe eine Million!«

»Aber so viele haben sie nicht jeden Tag vergast. Zum Teufel auch, vier Schornsteine und die paar Gruben.«

»Na schön, dann nimm es also anders rum. Aus Kosyce und Munkacz waren es fast sechshunderttausend, alle ha­ben sie hergebracht, was willst du dir noch vormachen? Und aus Budapest kamen auch gute dreihunderttausend. Na?«

»Das kann dir doch egal sein.« »Ist es auch. Es wird aber doch wohl bald zu Ende sein.

Sie werden sie alle ausrotten.« »Es gibt noch mehr.« Man zuckt die Schultern und schaut weiter auf den Weg.

Hinter den Menschengruppen gehen ganz langsam die SS-Männer, ermuntern die Menge mit gutmütigem Lächeln zum Weitergehen. Sie zeigen, daß es nicht mehr weit sei, und klopfen irgendeinem greisen Alten auf die Schulter, als er plötzlich, etwas abseits von seiner Gruppe, ganz schnell zum Straßengraben läuft, hastig die Hose herunter­zieht und sich hinhockt. Der SS-Mann weist mit der Hand auf die sich entfernende Gruppe, der Alte nickt eifrig mit dem Kopf, zieht sich die Hose hoch und läuft hinterher.

Man lächelt amüsiert beim Anblick eines uralten Men­schen, der es so eilig hat, in die Gaskammer zu kommen.

In der Effektenbaracke war das Dach leck, und wir gin­gen hin, um es zu streichen. Ganze Berge von Kleidern und Gepäckstücken lagen da herum, noch keiner hatte sie durchgestöbert. Schätze, die man denen weggenommen hatte, die gingen, nun lagen sie hier herum, Sonne, Wind und Regen preisgegeben.

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Page 207: Tadeusz Borowski - Die steinerne Welt

Wir steckten das Feuer unter unserem Teerkessel an und gingen los: organisieren. Einer brachte einen großen Eimer Wasser, ein anderer einen Sack mit getrockneten Kirschen oder Pflaumen, noch einer holte ein Säckchen Zucker. Dann kochten wir Kompott und trugen es hinauf aufs Dach, damit auch die etwas bekämen, die dort oben taten, als ob sie arbeiteten. Die zweite Arbeitsgruppe briet ein großes Stück Bauchfleck mit Zwiebeln und aß Maisbrot dazu. Wir nahmen alles mit, was uns unter die Hände kam. Nur ins Lager gingen wir nicht.

Vom Dach aus konnten wir genau die arbeitenden Kre­matorien und die brennenden Gruben sehen. Die Menge ging hinein, und die SS-Männer schlossen schnell alle Fen­ster und zogen sorgfältig die Schrauben fester an. Nach ein paar Minuten, die noch nicht einmal ausreichten, ein Stück Pappe ordentlich einzuschmieren, wurden Fenster und Tü­ren geöffnet und gelüftet. Dann rückte das Sonderkom­mando heran und schleppte die Leichen heraus auf den Haufen. So ging es von früh bis abends, Tag für Tag, im­mer wieder von neuem.

Manchmal brachten schwere Lastwagen nach der Verga­sung eines Transports noch Kranke mit den Pflegerinnen. Es lohnte sich nicht, sie zu vergasen. Sie wurden nur nackt ausgezogen, und der Oberscharführer Moll schoß dann entweder mit seiner Flobert, oder er warf sie einfach le­bendig in die brennende Grube.

Einmal kam mit einem solchen Lastwagen eine junge Frau, die sich nicht von ihrer Mutter trennen wollte. Beide wurden in der Kammer ausgezogen, die alte Frau ging voran. Der Mann, der die Tochter begleiten sollte, griff sich verlegen an den Kopf, als er den herrlichen Körper des Mädchens sah. Die begreifliche, einfache Geste dieses Menschen schien das Mädchen aus seiner Stumpfheit zu wecken. Es wurde rot und packte den Mann am Arm.

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Page 208: Tadeusz Borowski - Die steinerne Welt

»Sag mir, was sie mit mir vorhaben.« »Sei mutig«, sagte der Mann, ohne den Versuch zu ma­

chen, sich von der Mädchenhand zu befreien. »Ich bin mutig. Das siehst du doch, ich schäme mich

nicht vor dir. Sag es mir.« »Denk daran, sei mutig. Ich gehe mit dir. Komm. Schau

nur nicht hin.« Er führte sie an der Hand, hielt ihr die Augen zu. Das

Knistern und der scharfe Geruch des brennenden Fettes, die Hitze, die von unten heraufschlug, überraschten sie. Sie versuchte, sich loszureißen, aber er drückte ihr sanft den Kopf nach unten und schob ihr Haar hoch. Der Schar­führer drückte ab, fast ohne zu zielen. Der Mann stieß sie hinunter in die brennende Grube, und als sie fiel, hörte er nur noch ihren schrecklichen, plötzlich verstummenden Schrei.

Als der Persische Markt voll war, als die Frauen, die man unter denen aussuchte, die gingen, auch das FKL und das Zigeunerlager füllten, wurde ein neues Lager aufge­macht, das Lager Mexiko. Auch Mexiko war unbewohnt und erst halb fertig. Auch dort mußten neue Buden aufge­stellt, elektrische Leitungen gelegt und Fensterscheiben eingesetzt werden.

Ein Tag nach dem andern verging, einer glich dem ande­ren. Und die Menschen stiegen aus und gingen – den einen und den anderen Weg.

Die im Lager hatten ihre Sorgen: sie warteten auf Päck­chen und Briefe von zu Hause, klauten und organisierten für Freunde und Freundinnen, sannen auf Intrigen. Lange Nächte lösten die Tage ab, auf Trockenheit folgte der Re­gen.

Als der Sommer vorbei war, kamen keine Züge mehr. Immer weniger Menschen gingen ins Krematorium. Die

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im Lager spürten zuerst eine gewisse Leere. Es fehlte et­was, aber nach einer Weile gewöhnte man sich daran. Au­ßerdem gab es neue Ereignisse: die russische Offensive, der Aufstand in Warschau, dann die brennende Stadt, die Transporte, die tagtäglich aus dem Lager nach dem We­sten gingen, ins Unbekannte, in neue Krankheiten und in den Tod, der Aufruhr im Krematorium und die Flucht des Sonderkommandos, die mit der Erschießung der Flüchti­gen endete.

Dann wurden die Menschen aus einem Lager ins andere geschubst: ohne Löffel, ohne Schüssel, ohne einen Fetzen am Leib.

Das menschliche Gedächtnis kann nur Bilder aufbewah­ren. Auch heute noch sehe ich, wenn ich an Auschwitz denke, einen unendlichen Menschenstrom, bunt und far­big, wie er sich langsam voranschiebt – den einen und den anderen Weg, Frauen, die mit vorgeneigtem Kopf über der brennenden Grube stehen, ein rothaariges Mädchen vor dem dunklen Hintergrund der Baracke, und es schreit mich an: »Ob man bestraft wird? Aber menschlich! Nor­mal!«

Und dann sehe ich noch den Juden aus unserem Kom­mando, dem sie die Zähne eingeschlagen hatten, wie er Abend für Abend unter meiner Pritsche stand, den Kopf hob und die ewig gleiche Frage stellte: »Hast du heute ein Päckchen bekommen? Vielleicht hast du ein paar Eier zu verkaufen. Ich zahle bar. Mirka mag Eier so gern …«

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DIE STEINERNE WELT

Dem Genossen Paweł Hertz gewidmet

Wie in einem Frauenleib die Frucht heranreift, so erfüllt mich seit einiger Zeit mit bebender Erwartung das Be­wußtsein, daß das unermeßliche Weltall sich wie eine lä­cherliche Seifenblase mit unvorstellbarer Geschwindigkeit aufbläht; das nagende Unbehagen eines Geizhalses be­schleicht mich, sooft ich daran denke, daß dieses Weltall in nichts zerrinnt, wie Wasser, das einem durch die Finger fließt, und daß einmal – vielleicht noch heute, vielleicht erst morgen oder in ein paar Lichtjahren – das Weltall im Nichts versinken wird, so als wäre es nicht aus solider Ma­terie geschaffen, sondern nur aus flüchtigen, verklingen­den Tönen. Ich muß allerdings schon jetzt bekennen, daß ich – obwohl ich mich seit dem Krieg nur noch selten dazu aufraffe, mir die Schuhe zu putzen –, daß ich, obwohl ich so gut wie nie den Dreck aus meinen Hosenumschlägen bürste, obwohl es mich schon allerhand Anstrengung ko­stet, wenigstens jeden zweiten Tag das Stoppelfeld von Wangen, Kinn und Kehle abzuschaben, obwohl ich – um Zeit zu sparen – meine Fingernägel einfach abbeiße und weder seltene Bücher noch außergewöhnliche Geliebte sammle – durch diese Resignation sozusagen die Verbun­denheit zwischen dem Sinn meines Schicksals und dem Sinn des Weltalls demonstriere –, ich muß also sagen, daß ich erst seit sehr kurzer Zeit meine Vorliebe für einsame, lange Spaziergänge entdeckt habe, die mich an heißen

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Nachmittagen in die Arbeiterviertel meiner Stadt führen. Ich liebe es, den abgestandenen, trockenen Staub der

Ruinen in tiefen Zügen einzuatmen, der wie alte Semmel­brösel schmeckt. Ich schaue mit schlecht verhohlener Iro­nie und mit aus alter Gewohnheit leicht zur rechten Schul­ter geneigtem Kopf den alten Dorfweibern zu, die dicht unter den Mauern der eingestürzten Häuser über ihrer Wa­re hocken, den schmutzigen Kindern, die zwischen den Pfützen, die der Nachtregen hinterließ, hinter einem drek­kigen Fetzen herjagen, auch den verstaubten, nach Schweiß riechenden Arbeitern schaue ich zu, die auf den menschenleeren Straßen von früh bis abends die Straßen­bahngleise zusammenschweißen. Ich sehe deutlich, so deutlich wie in einem Spiegel, wie diese Ruinen – das Gras wächst langsam über sie hinweg –, wie diese Dorf­weiber und ihre mit Mehl verdickte Sahne, ihre stinkigen Schuhe, die Straßenbahngleise, der dreckstarrende Fetzen und die Kinder, die ihm nachjagen, die Eisenstangen und die schweren Hämmer, die muskulösen Arme und die mü­den Augen und Körper der Arbeiter, die Straße und der kleine Platz dahinter, die Holzstände, über die sich ein wü­tendes Gemurmel der Menschenmenge legt und über de­nen die vom Wind getriebenen Wolken dahinjagen – wie das alles plötzlich durcheinanderwirbelt und irgendwohin in die Tiefe fällt, unter meine Füße, dorthin, wo unter ei­nem Steg das Spiegelbild der Bäume und des Himmels in einem munteren Bach dahinplätschert.

Manchmal kommt es mir fast vor, als ob sich auch meine Gefühle – fast möchte ich sagen, biologisch – in mir ver­dickten und versteinerten, um so gefühllos zu werden wie Harz. Ganz im Gegensatz zu den vergangenen Jahren, als ich mit weit aufgerissenen Augen in die Welt starrte, als ich erstaunt und aufmerksam durch die Straßen ging wie eine junge Katze über den Fenstersims, tauche ich heute

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gleichgültig in der geschäftigen Menge unter, streife völlig ungerührt die heißen Körper der Mädchen, die mit der Nacktheit ihrer Knie locken und mit dem kunstvoll unge­wollt zerzausten Haar. Ich kneife die Augen zu und sehe unter den gesenkten Lidern, angenehm erregt, wie ein jä­her Stoß des kosmischen Windes die ganze Menschen­menge bis in die Baumwipfel hinaufträgt, die Leiber in ei­nem riesigen Wirbel kreisen läßt, die staunend offenen Münder verdreht, die rosigen Kinderwangen an behaarte Männerbrüste drückt, geballte Fäuste mit den bunten Fet­zen aus Frauenkleidern umwickelt, die weißen Schenkel wie Schaumkronen nach oben hebt und wie Hüte und Kopfstücke mit wallendem Haar darunter hervorlugen, wie diese ungeheuere Mischung, eine gigantische Suppe, aus einer Menschenmenge gekocht, die Straßen entlang­fließt, immer weiter durch den Rinnstein, bis sie schließ­lich blubbernd im Nichts verschwindet, als hätte sie ein riesiger Abflußkanal verschlungen.

Es kann daher nichts Überraschendes dabei sein, wenn ich voller Geringschätzung, in die sich leichte Verachtung mischt, mit menschlicher Würde das massive, kühle Gra­nitgebäude betrete. Ich bin nicht gewohnt, mich beim An­blick einer breiten Marmortreppe zu begeistern, die man von allen Spuren des Brandes gesäubert und mit einem ro­ten Läufer belegt hat – jeden Tag wird dieser Läufer ge­klopft, und die Putzfrauen stöhnen dabei vor Erschöpfung –, ich betrachte auch nicht eingehend die neuen Fenster­rahmen und die frisch gestrichenen Wände des ausge­brannten Hauses. Ich trete gleichmütig in die engen, aber doch gemütlichen Räume ein, in denen ernste Menschen sitzen, und manchmal bitte ich gar zu höflich um Kleinig­keiten, die mir zwar von Rechts wegen zustehen, die aber – was ich ja weiß – nicht gegeben werden können, weil die Welt sonst wie eine überreife Frucht aufspringen müßte

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und sich dann statt Kernen nur trockene, flüsternde Aschestäubchen in die glasige Leere ausschütten würden.

Wenn nach einem heißen, staubigen, von Benzingestank erfüllten Tag endlich die erfrischende Dämmerung kommt und die schwindsüchtigen Ruinen in eine harmlose Deko­ration verwandelt, die sich dunkel gegen den immer dich­ter werdenden Himmel abzeichnet, kehre ich unter den frisch errichteten Straßenlaternen heim in meine nach fri­schem Kalk riechende Wohnung, die ich von einem Ver­mittler bekam, erkauft mit einer hübschen runden Summe, die in keinem Buch bei keiner Behörde eingetragen ist, setze mich ans Fenster, stütze den Kopf in die Hände – nebenan in der Kochnische spült meine Frau das Geschirr, und das leise Klirren der Teller wiegt mich sanft in be­schauliche Ruhe ein – und blicke zum Haus gegenüber, in dem eins nach dem anderen die Lichter erlöschen und eins nach dem anderen die Radios verstummen.

Eine Weile lausche ich noch dem Stimmengewirr von der Straße: ein Trinklied aus der Zigarettenbude an der Ecke, schlurfende Schritte, das dumpfe Rattern der Züge, die in den Bahnhof einfahren, das zudringliche, hartnäcki­ge Klopfen der Hämmer, offenbar arbeitet die Nacht­schicht des Straßenbahntrupps schon an unserer Straßen­ecke – und ich spüre immer deutlicher, daß eine große Enttäuschung in mir wächst. Energisch stoße ich mich vom Fenster ab, so, als müßte ich eine Schnur zerreißen, die mich hemmt, setze mich an meinen Tisch – mit dem Gefühl, daß ich wieder kostbare, unwiederbringlich verlo­rene Zeit vergeudet habe –, hole aus der Tiefe der Schub­lade Papiere heraus, die ich vor einer Ewigkeit selbst hi­neingeworfen hatte, und weil die Welt sich heute doch noch nicht aufgelöst hat, schichte ich die weißen Blätter pedantisch auf, schließe halb die Augen und sehe zu, ob ich in mir nicht das rührselige Gefühl von Freundschaft

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finden kann, die ich für die Arbeiter an den Straßenbahn­gleisen empfinde, für die Dorfweiber mit ihrer gepansch­ten Sahne, für Güterzüge, für den Himmel, der sich über den Ruinen dunkler färbt, für die Vorbeigehenden aus der Allee, für neue Fensterrahmen, sogar vielleicht für meine Frau, die nebenan die Teller abtrocknet – und mit großer intellektueller Anstrengung suche ich, den wirklichen Sinn der erschauten Gegenstände, Ereignisse und Menschen festzuhalten. Denn ich habe die Absicht, ein großes, ewi­ges, episches Werk zu schreiben, das der unvergänglichen, schweren, wie in Steinen gehauenen Welt würdig wäre.

Eine Erzählung, die das Leben schrieb

Redakteur Stefan Żόłkiewski gewidmet

Ich dachte damals, ich würde sterben. Ich lag auf dem kah­len Strohsack, der nach Exkrementen und Eiter meiner Vorgänger stank. Ich war so schwach, daß ich aufgehört hatte, mich zu kratzen, um die Flöhe zu verjagen. Auf meinem Rücken und auf meinem Gesäß waren große offe­ne Stellen. Die Haut, die sich über meine Knochen spann­te, war rot und brannte wie frische Verbrühungen. Ich ekelte mich vor meinem eigenen Körper und lauschte er­leichtert dem Stöhnen der anderen. Ab und zu glaubte ich, ich würde an meinem Durst ersticken. Dann öffnete ich die aufgesprungenen Lippen und träumte von einem Be­cher Kaffee. Dabei sah ich gedankenverloren zu dem win­zigen Stück leeren Himmels hinauf, das hinter dem offe­nen Fenster zu sehen war. Ein Unwetter war im Anzug, man merkte es an dem dicken, grauen Qualm, der mit

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Asche aus Leichen vermischt war und tief über den Dä­chern hing, auf denen der flüssige Teer wie Quecksilber funkelte. Als das Fleisch auf meinem Rücken wie Feuer brannte, wälzte ich mich zur Seite, stemmte eine Faust un­ter das Ohr und blickte erwartungsvoll den aufgedunsenen Menschen an, der auf dem Nachbarbett lag, den Kapo, der Kwaśniak hieß. Neben seinem Bett stand ein Tischchen, darauf ein Becher Kaffee, ein angebissener Apfel und ein Stück Brot, das schon krümelte. Am Fußende des Bettes, in einer Papiertüte, die unter dem Bettuch versteckt war, reiften langsam die grünen Tomaten, die ihm seine besorg­te Frau geschickt hatte.

Kapo Kwaśniak vertrug das Nichtstun schlecht. Er hatte Heimweh nach seinem Kommando, das im Frauenlager arbeitete. Er langweilte sich. Im Revier hatten sie ihm auch die letzte Unterhaltung genommen, die ihm noch ge­blieben war: sich satt essen zu können. Er war nieren­krank. Sein Nachbar war ein Jude, ein Geigenspieler aus Holland, und der lag einsam mit Lungenentzündung im Sterben. Sobald Kwaśniak also das Knistern meines Stroh­sacks hörte, stützte er sich auf den Ellenbogen und kniff forschend die geschwollenen Augen zu.

»Haben Sie endlich ausgeschlafen?« fragte er verärgert, kaum noch fähig, die in ihm aufsteigende Ungeduld zu be­zähmen. »Erzählen Sie doch weiter. Man ist so gut wie ge­sund und muß hier herumliegen wie ein Muselmane. Schon lange keine Auslese mehr gewesen.«

Er mochte keine Zusammenfassungen primitiver Bücher, ebensowenig interessierte er sich für Geschichten aus abenteuerlichen Filmen, noch weniger für Dramen aus dem großen Repertoire. Auch für romantische Werke hatte er nicht viel übrig. Dafür war er ganz versessen auf jeden Kitsch, den er sich mit leidenschaftlicher Hingabe anhörte, sobald ich ihn nur überzeugen konnte, daß es tatsächlich

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mein eigenes Erlebnis war! Ich hatte schon alles an die Oberfläche gezerrt, was ich aus meinem Leben hervor­kramen konnte: meine Tante, deren einstiger Liebhaber ein junger Förster gewesen war und unter ihrem Fenster Gitarre spielte; den lebendigen Hahn, den wir in der Phy­sikstunde in den Schrank eingesperrt hatten und der trotz­dem nicht krähen wollte; das Mädchen mit den verbisse­nen Mundwinkeln, das mir im Zusammenhang mit den Kriegsereignissen irgendwie im Gedächtnis geblieben war, und vieles mehr. Von meinen Liebschaften hatte ich ihm auch schon erzählt – zu meinem lebhaften Bedauern hatte ich bisher allerdings nur zwei gehabt. Ich war ehrlich und erzählte nur die Wahrheit – in den einfachsten Worten –, nichts als die Wahrheit. Aber die Zeit verging so langsam, und mein Fieber stieg und mit ihm der Durst.

»Als ich im Gefängnis saß, brachten sie einen Jungen in unsere Zelle. Er sagte, ein Polizist hätte ihn hergeführt. Weil er angeblich die Mauern beschmiert hätte«, fing ich langsam an und erzählte ihm die Geschichte des Knaben mit der Bibel, die ich auch hier schon einmal erzählt habe.

»Der Junge gab die Heilige Schrift nicht aus der Hand. Den ganzen Tag las er darin, sprach mit niemandem und beantwortete alle Fragen nur einsilbig und abweisend. Am Nachmittag kehrte ein junger Jude vom Verhör in unsere Zelle zurück. Er sah den Knaben an und sagte, er hätte ihn bei der Gestapo gesehen. ›Gib doch zu‹, forderte er ihn auf, ›daß du ein Jude bist wie ich auch. Brauchst keine Angst zu haben, wir sind hier unter uns.‹ Der Knabe be­harrte darauf, daß ein Polizist ihn hierher gebracht habe und er kein Jude sei. Abends wurde er mit noch ein paar anderen hinausgeführt und im Hof erschossen.

Und dieser Knabe«, schloß ich diese weitere wahre Ge­schichte aus meinem Leben, »hieß Zbigniew Namokel und war, wie er sagte, Sohn eines Bankdirektors.«

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Kapo Kwaśniak setzte sich schweigend in seinem Bett auf und begann, am Fußende zu kramen. Er fischte eine Tomate aus der Tüte und hielt sie unschlüssig in der Hand.

»Das war keine Geschichte aus Ihrem Leben«, sagte er schließlich streng und sah mich von der Seite an. »Ich lie­ge hier länger als Sie und – wenn Sie es genau wissen wol­len: Ihr Zbigniew Namokel war hier, in diesem Spital. Hatte auch Typhus, genau wie Sie, und starb hier, in Ihrem Bett.« Er legte sich behaglich zurück und spielte immer noch mit der Tomate. »Trinken Sie meinen Kaffee, ich darf ihn sowieso nicht trinken«, sagte er nach einer Weile. »Aber erzählen Sie mir nie wieder etwas.«

Er warf die Tomate auf meine Bettdecke, schob mir den Becher herüber und sah mit geneigtem Kopf interessiert zu, wie ich den Becher gierig an meine Lippen hob.

Schillingers Tod

ss-Oberscharführer Schillinger oblagen im Jahre 1943 die Pflichten des Lagerführers, er war Kommandant der Män­ner-Arbeitsabteilung »D« im Lager Birkenau. Diese Abtei­lung gehörte zu dem riesigen Komplex größerer und klei­nerer Lager, die über ganz Oberschlesien verstreut waren und vom Zentrallager Auschwitz verwaltet wurden. Schil­linger war klein und untersetzt. Er hatte ein volles, rundli­ches Gesicht und helles, fast flachsblondes Haar, das er glatt an den Schädel gekämmt trug. Seine blauen Augen waren fast immer zugekniffen, die Zähne grundsätzlich zusammengebissen, seine Wangen zuckten in einem leich­ten, ungeduldigen Krampf. Auf sein Äußeres achtete er

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überhaupt nicht, ich habe auch nie gehört, daß es einem Prominenten gelungen wäre, ihn zu bestechen.

Schillinger herrschte in seinem »D«-Lager vollkommen uneingeschränkt. Er radelte unablässig auf den Lagerwe­gen herum, war immer genau dort, wo man ihn am aller­wenigsten gebrauchen konnte, und seine Hand war schwer wie ein Vorschlaghammer. Einen Kieferbruch schaffte er spielend; wo er traf, floß Blut.

Seine Wachsamkeit war untrüglich. Er besuchte oft auch andere Abteilungen des Lagers in Birkenau, und sein Er­scheinen rief überall eine panische Angst hervor, ob es nun bei den Frauen war, bei den Zigeunern oder bei den Prominenten in der Effektenkammer, dem wohlhabendsten Abschnitt des Lagers, wo die Reichtümer der vergasten Menschen aufbewahrt wurden. Schillinger beaufsichtigte auch die Kommandos, arbeitete mit einer großen Posten­kette, revidierte ab und zu überraschend die Kleider der Häftlinge, die Schuhe der Kapos und die Brotbeutel der SS-Männer. Manchmal beehrte er auch die Krematorien mit seinem Besuch, und am liebsten sah er zu, wie die Leute in die Gaskammer getrieben wurden. Sein Name wurde oft zusammen mit den Namen Palitsch, Kranken­mann und vielen anderen Auschwitzer Mördern genannt, die damit prahlten, wie viele tausend Menschen sie mit bloßen Händen, mit Knüppeln oder mit der Waffe höchst­persönlich ins Jenseits befördert hätten. Im August 1943 kam im Lager das Gerücht auf, Schillinger sei unter recht geheimnisvollen Umständen umgekommen. Die sozusa­gen authentischen Berichte, die umgingen, widersprachen sich. Ich persönlich würde dazu neigen, einem bekannten Vorarbeiter vom Sonderkommando zu glauben, der eines Nachmittags auf meiner Pritsche neben mir saß und auf eine Sendung wartete. Man hatte ihm aus dem Magazin des Zigeunerlagers Kondensmilch versprochen. Er erzähl­

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te mir folgendes vom Tod des Oberscharführers Schillin­ger: »Am Sonntag, nach dem mittäglichen Appell, kam Schillinger auf den Hof vorm Krematorium, unseren Chef zu besuchen. Aber der Chef hatte keine Zeit, weil gerade die ersten Laster von der Rampe rollten. Es war der Bend­ziner Transport. Du weißt ja selbst, so einen Transport ausladen, die Leute dazu bringen, daß sie sich ausziehen, sie dann in die Kammer treiben, das ist eine schwere Ar­beit, die großen Takt erfordert. Jeder weiß, daß es verbo­ten ist, die Klamotten der Leute anzuglotzen oder gar darin herumzustöbern, solange sie nicht in der Kammer einge­riegelt sind. Noch strenger verboten ist es, die nackten Weiber zu tätscheln. Schon die Tatsache, daß man den Frauen befiehlt, sich zusammen mit den Männern auszu­ziehen, ist für die Neuzugänge eine gewaltige Erschütte­rung. Da macht man halt einen ordentlichen Wirbel, stellt sich an, als wäre alles wahnsinnig eilig, schaltet auf das bewährte System einer künstlichen Hast, als ob in dem be­sagten Bad ein großes Gedränge wäre und man weiß Gott wieviel zu tun hätte. Übrigens muß man sich tatsächlich tummeln, wenn man es schaffen will, einen Transport zu vergasen und die Leichen aus der Kammer zu schaffen, bevor der nächste Transport anrollt.«

Der Vorarbeiter erhob sich, setzte sich bequemer zu­recht, ließ die Beine über den Pritschenrand baumeln, steckte sich eine neue Zigarette an und erzählte weiter:

»Wir hatten also einen großen Transport aus Bendzin-Sosnowiec. Die Juden wußten genau, was ihnen bevorstand. Die Jungen vom Sonderkommando waren nervös; ein paar von ihnen kamen auch aus dieser Ecke. Es war schon ge­schehen, daß Bekannte oder sogar Verwandte mit im Trans­port gewesen waren. Mir selbst ist es einmal passiert …«

»Ich wußte gar nicht, daß du von da bist. An der Sprache hätte ich es nicht erkannt.«

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»Ich habe in Warschau Pädagogik studiert. Vor etwa fünfzehn Jahren. Danach bekam ich eine Lehrstelle am Bendziner Gymnasium. Sie haben mir vorgeschlagen, das Land zu verlassen und im Ausland zu lehren, aber ich wollte nicht. Meine Familie, verstehst du? Na ja.«

»Na ja.« »Der Transport war unruhig, du weißt ja, das waren kei­

ne Kaufleute aus Holland oder aus Frankreich, die ein Ge­schäft aufmachen wollten. Unsere Juden wußten genau Bescheid. Deswegen war auch eine ganze Horde SS da, und Schillinger, als er sah, was da los war, zog seinen Re­volver. Alles wäre glatt gegangen wie sonst; aber Schillin­ger verguckte sich in einen Körper – wirklich, klassisch schön. Er ging also zu der Frau hin und faßte sie an der Hand. Im gleichen Augenblick bückte die sich, nahm eine Handvoll Sand und schleuderte sie Schillinger ins Gesicht. Schillinger schrie auf, als ihm der Sand in die Augen kam, und ließ den Revolver fallen, die Frau fing die Waffe auf und schoß Schillinger ein paarmal in den Bauch. Auf dem Platz war eine Panik ausgebrochen. Die Nackten stürzten sich schreiend auf uns. Die Frau schoß nochmals auf den Chef und traf ihn an der Wange. Darauf lief er mit den SS-Männern davon und ließ uns allein. Aber Gott sei Dank schafften wir es auch so. Mit Knüppeln jagten wir den Transport in die Kammer, verriegelten die Tür und holten dann die SS-Männer, damit sie Cyclon hineinwarfen. Wir hatten immerhin schon eine gewisse Erfahrung. Übung macht den Meister …«

»Natürlich.« »Schillinger lag auf dem Bauch und wühlte in der Erde.

Wir hoben ihn auf und trugen ihn, nicht gerade sanft, in den Wagen. Den ganzen Weg jammerte er durch die fest zusammengebissenen Zähne: ›O Gott, mein Gott, was hab ich getan, daß ich so leiden muß?‹«

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»Daß er das bis zum Schluß nicht begriff?« sagte ich kopfschüttelnd. »Sonderbare Ironie des Schicksals.«

»Sonderbare Ironie des Schicksals«, wiederholte der Vorarbeiter nachdenklich.

Wirklich, eine sonderbare Ironie des Schicksals: Kurz vor der Evakuierung des Lagers hatten die Juden vom Sonderkommando aus Angst vor der großen Säuberung einen Aufstand im Kremo entfesselt. Sie steckten die Krematorien in Brand, zerschnitten die Drähte und flüch­teten in die Felder. Ein paar SS-Männer nahmen sie unter Maschinengewehrfeuer, und auch der letzte Meuterer wurde erschossen.

Der Mann mit dem Päckchen

Gewidmet Adolf Rudnicki

Unser Schreiber war ein Jude aus Lublin, und nach Auschwitz war er bereits als ein erfahrener Lagerinsasse aus Maidanek gekommen, und weil er obendrein noch ei­nen guten Bekannten vom Sonderkommando fand und weil das Sonderkommando wegen seines ungeheueren Reichtums, der aus den Krematorien stammte, einen gro­ßen Einfluß im Lager hatte, stellte er sich von Anfang an krank, kam ohne weitere Schwierigkeiten in KB ZWO (so hieß der Abschnitt von Birkenau, der als Krankenrevier galt – Abkürzung für Krankenbau II) und erhielt auch gleich das überaus günstige Amt des Schreibers in unse­rem Block. Anstatt den ganzen Tag Erde zu schaufeln oder mit leerem Magen Zementsäcke zu schleppen, verrichtete der Schreiber Büroarbeit – die Ursache gehässigen Neides,

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Anlaß für allerhand Intrigen seitens der anderen Promi­nenten, die von ihren Bekannten gleichfalls in verschiede-ne Ämter geschleust wurden –, führte die Kranken hin und her, veranstaltete Blockappelle, füllte Krankenkarten aus und war mittelbar an der Auswahl der Juden beteiligt, die im Herbst neunzehnhundertdreiundvierzig fast regelmäßig alle zwei Wochen vorgenommen wurde; es gehörte zu sei­nen Pflichten, mit Hilfe der Pfleger die Kranken zum Waschraum zu begleiten, von dem sie gegen Abend auf großen Lastwagen zu einem der vier Krematorien gebracht wurden – damals arbeiteten die Krematorien noch in Schichten. Irgendwann im November bekam der Schreiber hohes Fieber – wenn ich mich recht erinnere, hatte er sich erkältet –, und weil er der einzige Jude im ganzen Block war, wurde er bei der ersten Auslese zur »besonderen Be­handlung« vorgemerkt, das heißt fürs Gas.

Gleich nach dem Sieben ging der Oberpfleger, den wir aus Höflichkeit Blockleiter nannten, zum vierzehnten Block, in dem nur Juden lagen. Er wollte mit ihnen verab­reden, daß unser Schreiber in ihren Block verlegt wurde, damit uns die unangenehme Arbeit erspart blieb, ihn per­sönlich zum Waschraum zu bringen.

»Wir verlegen ihn auf Block vierzehn, Doktor, verste­hen?« sagte er, als er zurückkam, zu unserem Chefarzt, der am Tisch saß, sein Stethoskop in den Ohren. Er horchte einen neuen Patienten sorgsam ab und schrieb ihm mit schöner, kalligraphischer Handschrift die Krankenkarte aus. Der Doktor winkte ab, ohne sich stören zu lassen.

Der Schreiber hockte auf dem oberen Bett und schnürte fleißig einen Karton zu, in dem er hohe tschechische Schnürstiefel aufbewahrte, einen Löffel, ein Messer, einen Bleistift, etwas Fett, ein paar Brötchen und Obst, alles Ge­schenke, die er für kleine Gefälligkeiten bekommen hatte, wie alle anderen jüdischen Ärzte und Pfleger auch. Im

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Gegensatz zu den Polen erhielten die Juden niemals Päck­chen von draußen; aber die Polen, die von zu Hause Pake­te in den Krankenbau geschickt bekamen, nahmen ebenso Geschenke von Kranken an wie die Juden, gleichgültig, ob es Brot oder Tabak war.

Dem Schreiber gegenüber saß ein alter polnischer Major, der seit Monaten im Krankenbau gehalten wurde, ohne daß jemand recht wußte, warum. Er spielte eine Partie Schach, die Fäuste gegen die Ohren gestemmt, unter ihm pinkelte die Nachtwache träge in ein Glas, um sich unmit­telbar darauf in die Decke einzuwühlen. In den anderen Stuben hüstelten und schnarchten die Kranken, im Ofen brutzelte der Speck, es war heiß und stickig wie immer am frühen Abend.

Der Schreiber kletterte von seinem Bett herunter und nahm den Karton in die Hand. Der Blockleiter reichte ihm eine Decke und befahl ihm, in die Holzschuhe zu schlüpfen. Sie gingen hinaus, und wir sahen durchs Fenster, wie sie vor dem vierzehnten Block stehenblieben, wie der Blocklei­ter dem Schreiber die Decke von den Schultern nahm und die Schlappen aufhob und wie der Schreiber, jetzt nur noch im Nachthemd, das der Wind aufblähte, in Begleitung eines anderen Pflegers im Block vierzehn verschwand.

Erst später am Abend, nachdem Essen, Tee und die Päckchen in den Krankenstuben verteilt waren, fingen die Pfleger an, die Muselmanen aus den einzelnen Blocks hin­auszuführen und sie vor der Tür zu fünf Mann aufzustel­len. Decken und Pantoffeln wurden ihnen weggenommen. Der diensthabende SS-Mann erschien im Lager und befahl den Pflegern, vor dem Waschraum eine Kette zu bilden, damit keiner weglaufen konnte; in den Blocks aß man jetzt zu Abend und stocherte in den neuen Päckchen herum.

Durchs Fenster war zu sehen, wie unser Schreiber aus dem Block vierzehn herauskam, seinen Karton immer

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noch in der Hand, und sich aufstellte. Getrieben von dem Geschrei der Pfleger, schob er sich mit den anderen lang­sam zum Waschraum hin.

»Schauen Sie mal her, Doktor«, rief ich dem Arzt zu. Er setzte sein Stethoskop ab, kam mit schweren Schritten zum Fenster und legte mir die Hand auf die Schulter. »Er könnte doch etwas mehr Vernunft zeigen, meinen Sie nicht?«

Draußen war es dunkel geworden, nur die weißen Hem­den bewegten sich, die Gesichter konnte man nicht mehr erkennen. Die Reihe ging weiter, verschwand aus unserem Gesichtskreis; ich bemerkte, daß die Lampen über den Drähten schon brannten.

»Er ist doch ein alter Häftling und weiß genau, daß er in ein oder zwei Stunden nackt in die Gaskammer geht, ohne Hemd und ohne Päckchen. Wie unvernünftig, so an dem letzten Rest von persönlichem Besitz festzuhalten. Hätte er es doch jemand anderem gegeben! Ich glaube nicht, daß ich …«

»Meinst du wirklich?« fragte der Doktor gleichgültig. Er nahm die Hand von meiner Schulter und schnalzte mit der Zunge, als hätte er einen hohlen Zahn gefunden.

»Verzeihen Sie, Doktor, aber ich glaube nicht, daß Sie …«, sagte ich nebenbei.

Der Doktor war aus Berlin, seine Frau und Tochter wa­ren in Argentinien, manchmal sagte er über sich selbst: »Wir Preußen«, mit einem Lächeln, in dem sich die schmerzliche Bitterkeit eines Juden mit dem Stolz eines ehemaligen preußischen Offiziers mischte.

»Ich weiß nicht. Ich habe keine Ahnung, was ich täte, wenn ich ins Gas ginge. Sicher würde ich mein Päckchen auch mitnehmen.«

Er wandte sich zu mir um und lächelte mir verschmitzt zu. Ich sah, wie müde und unausgeschlafen er war.

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»Ich glaube, ich würde noch im Schornstein hoffen, daß doch ein Wunder geschieht. Und mein Päckchen würde ich wie eine fremde Hand festhalten, weißt du?«

Er ging vom Fenster weg und setzte sich wieder an den Tisch, befahl, einen anderen Kranken vom Bett herunter­zuholen; er war gerade dabei, die »Freilassung« der Re­konvaleszenten für morgen vorzubereiten.

Die kranken Juden füllten den Waschraum mit Geschrei und Gejammer, wollten das Kremo anzünden, aber keiner von ihnen wagte den Sanitäts-SS zu berühren, der mit halb gesenkten Lidern in der Ecke saß und sich entweder schla­fend stellte oder tatsächlich eingenickt war. Als die Nacht einbrach, kamen schwere Lastwagen ins Lager, ein paar SS-Männer liefen herbei, den Juden im Waschraum wurde befohlen, alles zurückzulassen, dann begannen die Pfleger, die nackten Menschen auf die Laster zu jagen, bis jeder Wagen vollbeladen war mit weinenden und fluchenden Menschen. Angestrahlt von den Scheinwerfern fuhren sie endlich weg, ein Wagen nach dem anderen, und die Men­schen hielten sich verzweifelt an den Händen, damit sie nicht heruntergeschleudert wurden.

Ich weiß auch nicht, wieso, aber später erzählte man sich im Lager, die Juden hätten beim Wegfahren ein erschüt­terndes hebräisches Lied gesungen, das kein Mensch verstand.

Das Abendessen

Wir warteten geduldig, bis es dunkel wurde. Die Sonne stand schon ganz tief, die frischgepflügten Felder, hie und da mit schmutziggrauem Schnee besprenkelt, versanken

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langsam im Schatten der dichten, milchigen Nebelschwa­den, nur am unteren Rande des tiefhängenden Himmels zeichnete die Sonne noch schmale, rosige Streifen. Der stürmische Wind, der nach frischer, verregneter Erde roch, jagte die aufgebauschten Wolken und stach wie scharfe, eisige Nadeln ins Fleisch; auf dem Dach klapperte ein Stück Pappe, das sich bei einer besonders starken Bö ge­löst hatte, einsam vor sich hin. Von den feuchten Wiesen zog die frische, aber durchdringende Kälte zu uns herüber, unten im Tal ratterten die Räder der Waggons über die Schienen, ab und zu ertönte das langgezogene Pfeifen ei­ner Lokomotive. Die feuchte Dämmerung brach herein, der Hunger nagte immer schärfer, draußen auf der Straße verebbte langsam der Verkehr. Immer seltener brachte der Wind abgerissene Gesprächsfetzen mit, die Schreie der Fuhrmänner wurden leiser, immer weniger Wagen mit vorgespannten Kühen zogen schleppend über den gelben Schlamm der Feldwege; das Klappern der Holzpantinen auf dem Asphalt der Straße entfernte sich wie das kehlige Lachen der Mädchen, die zum Samstagtanz in das nahe Städtchen zogen.

Schließlich verdichtete sich die Dunkelheit, ein dünner Regen fiel. Die violetten Lampen, die auf hohen Masten zitterten, warfen trübes, rauchiges Licht auf die schwar­zen, verflochtenen Zweige der Bäume, von denen die Straße gesäumt war, auf die glitzernden Dächer der Wachtbuden, auf die verlassene Straße, die wie ein nasser Riemen glänzte; Soldaten marschierten unter den Lampen hindurch, und die Dunkelheit verschluckte sie; nur das Knirschen des Schotters unter ihren Füßen kam näher.

Der Fahrer des Kommandanten richtete einen schmalen, scharfen Lichtstrahl auf den Durchgang zwischen den Ba-racken. Zwanzig Russen kamen aus dem Waschraum, ge­führt von den Blockleitern. Alle waren in gestreiften An­

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zügen, die Hände waren ihnen auf dem Rücken mit Sta­cheldraht gefesselt. Die Blockleiter trieben die Männer den Wall herunter, dann wurden sie auf der steinigen La­gerstraße aufgestellt, seitwärts von der Menge, die mit entblößtem Kopf seit Stunden reglos wartete, schweigend den nagenden Hunger ertragend. Die scharf angestrahlten Körper der Russen verschwammen zu einem einzigen Stück Fleisch. Jede Falte, jeder Kniff und jede Unebenheit ihrer Kleider; jede geplatzte Stelle an ihren abgetragenen Schuhen; die angetrockneten, rötlichen Erdklümpchen am Saum ihrer Hosen; die dicken Nähte im Schritt; die wei­ßen Fäden, die in dem Dunkel des Drillichs leuchteten; die tief herabhängenden Hosenböden; die steifen Hände mit den vor Schmerz gekrümmten Fingern und das geronnene Blut an den Handgelenken; die bläulich verfärbte Haut, in die sich die Stacheln gruben; die nackten Ellbogen, ge­waltsam mit Draht zusammengehalten – das alles war in der Dunkelheit so deutlich zu sehen, als wäre es zu einem überbelichteten Bild erstarrt; die Rücken und die Köpfe der Russen verwischte die Dunkelheit, nur die ausrasierten Nacken schimmerten hell oberhalb der Jackenkragen. Die überlangen Schatten dieser Menschen griffen über den Weg, kletterten auf den Stacheldraht, an dem winzige, funkelnde Wassertropfen hingen, und verloren sich auf der Anhöhe, die mit dürrem, flüsterndem Gestrüpp bewachsen war.

Der Lagerführer, ein angegrauter, verwitterter Offizier, den man eigens aus der Stadt hergeholt hatte, trat mit mü­dem, aber energischem Schritt in den Lichtkegel und baute sich seitlich auf, um sich zu vergewissern, ob die zwei Reihen Russen auch in richtiger Entfernung voneinander standen. Jetzt ging es endlich schneller, aber immer noch nicht so schnell, wie es die fröstelnden Körper und die hungrigen Mägen gewünscht hätten, die seit siebzehn

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Stunden auf den halben Liter Suppe warteten, welche si­cher noch lauwarm in den Baracken die Kessel füllte.

»Bildet euch bloß nicht ein, es ist weiter nichts!« brüllte der blutjunge Lagerälteste, der hinter dem Kommandanten hervorgetreten war. Eine Hand hielt er unter dem Um­schlag seiner Prominentenjacke, die aus schwarzem Tuch auf Maß geschneidert war, in der zweiten Hand hatte er eine Weidenrute, mit der er gegen die Schäfte seiner ho­hen Stiefel schlug.

»Diese Leute sind Verbrecher. Ich brauche es euch nicht erst groß und breit zu erklären. Kommunisten, damit ihrs wißt. Der Herr Kommandant hat mich beauftragt, euch zu sagen, daß diese Leute exemplarisch bestraft werden. Und wenn der Herr Kommandant es verlangt … Also, Jungens, ich rate euch, paßt auf, nicht wahr?«

»Los, los!« mahnte der Kommandant halblaut hinter ihm, »wir haben es eilig.« Er sprach zu einem Mann im offenen Mantel, der neben einem kleinen Skoda-Wagen stand, mit der Hüfte nachlässig an den Wagen gelehnt. Der Kommandant zog sich langsam die Handschuhe aus.

»Lange dürfte es nicht mehr dauern«, meinte der Mann im offenen Mantel gedehnt. Es war ein Leutnant. Er schnalzte verächtlich mit den Fingern und lächelte aus dem Mundwinkel.

»Ja, und das ganze Lager bekommt heute keine Suppe!« schrie der blutjunge Lagerälteste. »Die Blockleiter tragen die Suppe in die Küche zurück, und wenn mir nur ein Liter fehlt, dann könnt ihr was erleben, das verspreche ich euch, verstanden, Jungs?«

Ein tiefer Seufzer flog durch die Menge. Langsam, un­merklich langsam schoben sich die hintersten Reihen vor, am Wegrand wurde es enger, wohlige Wärme flutete wie eine Welle über die Rücken, die von den zusammenge­

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drängten Menschen gewärmt wurden, welche sich zum Sprung anschickten.

Auf ein Zeichen des Kommandanten kamen hinter dem kleinen Wagen SS-Männer hervor. Sie gingen im Gänse­marsch, jeder trug einen Karabiner in der Hand, mit einer offenbar gut eingeübten Bewegung stellten sie sich hinter den Russen auf, jeder hinter seinem Mann. Es war ihnen nicht mehr anzusehen, daß sie mit uns zusammen vom Kommando zurückgekehrt waren, sie hatten schon geges­sen und sich umgezogen, sie trugen jetzt andere, frisch ge­bügelte Uniformen, sogar Zeit zur Maniküre hatten sie ge­habt; sie drückten die Kolben ihrer Gewehre, und das Blut schimmerte rosig unter den gerade geschnittenen Finger­nägeln; offensichtlich waren sie schon für den Tanz im Städtchen herausgeputzt. Sie repetierten krachend ihre Waffen, stemmten die Kolben an sich und legten den Lauf auf die ausrasierten Nacken der Russen an.

»Achtung, fertig, Feuer!« befahl der Kommandant, ohne die Stimme zu heben. Die Karabiner bellten auf, die Sol­daten sprangen hastig zurück, damit sie nicht von den zer­schmetterten Köpfen der Russen beschmutzt würden. Die­se wankten noch den Bruchteil eines Augenblicks auf den Beinen, dann klatschten sie wie schwere Säcke auf die Steine, die mit Blut befleckt und mit zerspritztem Hirn be­deckt waren. Die Soldaten schulterten ihre Karabiner und gingen mit schnellen Schritten zurück in die Wachtstube, die Leichen wurden provisorisch an den Stacheldrahtzaun geschoben, der Kommandant stieg in seinen Wagen, und der Skoda stieß hastig zum Tor zurück. Nur eine dicke Staubwolke wirbelte hinter ihm auf.

Kaum war der angegraute, wettergegerbte Kommandant verschwunden, als die schweigende Menge, die sich am Rand des Weges drängte, mit einem düsteren Geheul los­brach, sich wie eine Lawine über die blutbefleckten Steine

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wälzte und sich, getrieben von den Knüppelschlägen der Blockleiter und Stubenältesten, die eilig aus dem ganzen Lager herbeigeholt worden waren, in die Baracken verlief.

Ich stand etwas abseits von der Stelle der Exekution und kam nicht rechtzeitig hin, aber am nächsten Tag, als man uns wieder zur Arbeit trieb, versuchte ein jüdischer Mu­selmane aus Estland den ganzen Tag über, mich davon zu überzeugen, daß menschliches Hirn wirklich so delikat sei, daß man es auch ungekocht essen könne.

Das Schweigen

Sie erwischten ihn im Block der deutschen Kapos, gerade in dem Augenblick, als er das Bein über die Fensterbank schwingen wollte. Wortlos zogen sie ihn herunter und schleppten ihn, schnaufend vor Haß, hinaus, auf einen Sei­tenweg. Dort, während die schweigende Menge einen dichten Kreis um sie bildete, schlugen unzählige Hände auf ihn ein.

Im gleichen Augenblick kamen warnende Worte vom Lagertor, die von Mund zu Mund gingen. Bewaffnete Sol­daten liefen über die Hauptstraße, wichen den kleinen Menschengruppen aus, die überall im Lager herumstan­den. Die Menge verließ den Platz vor dem Häuschen der deutschen Kapos und verschwand in den Baracken, dieüberfüllt, stickig und heiß waren. In den Öfen wurde alles mögliche gekocht – alles, was man von den nächtlichen Streifzügen zu den Bauern in der Umgebung mitgebracht hatte. Auf den Pritschen und zwischen den Pritschen saßen Häftlinge und mahlten Getreide, putzten Fleisch und schälten Kartoffeln – die Abfälle wurden einfach auf den

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Boden geworfen. Einige der Männer spielten Karten um gestohlene Zigaretten, andere kneteten den zähen Teig aus dem grob gemahlenen Getreide, noch andere verschlangen heißen Brei oder jagten ihre müden Flöhe. Der stickige, würgende Gestank nach altem Schweiß vermischte sich mit den undefinierbaren Gerüchen, die aus den Kochtöp­fen aufstiegen, mit dem Dampf, der an die Decke stieg und in winzigen Tropfen von den Balken fiel wie ein unabläs­siger dünner Regen. An der Tür entstand ein plötzliches Gewimmel, ein sehr junger amerikanischer Offizier mit einem Helm aus Pappe kam herein und sah sich mit freundlichen Augen um. Er trug eine tadellos gebügelte Uniform, sein Revolver hing tief, bei jedem Schritt schlug er ihm gegen den Schenkel. Mit ihm kam ein Dolmetscher im Zivilanzug, eine gelbe Binde mit dem Wort »Interpre­ter« auf dem Arm, daneben noch der Vorsitzende des Häftlingskomitees, angetan mit einer weißen Sommerjak­ke, Frackhosen und weißen Tennisschuhen. Die Männer im Block verstummten, hoben die Augen von ihren Töp­fen, Schüsseln und Tellern und sahen den jungen Offizier abwartend an.

»Gentlemen«, sagte der Offizier und nahm den Helm ab. Der Dolmetscher übersetzte Wort für Wort. »Ich weiß, daß Sie nach allem, was Sie erlebt und gesehen haben, Ihre Henker zutiefst hassen. Wir, Soldaten aus Amerika, und Sie, Männer aus Europa, haben gemeinsam dafür ge­kämpft, daß Recht über Unrecht siegen möge. Wir werden das Recht schützen. Sie müssen wissen, daß alle Schuldigen bestraft werden, hier, in diesem Lager, und in allen anderen auch. Es wird Ihnen zum Beispiel bekannt sein, daß die ge­fangenen SS-Männer bereits die Leichen begraben.«

»Stimmt«, sagte einer der Männer auf der unteren Prit­sche leise. »Das könnte gehen. Hinter dem Spital, der kleine Platz. Alle haben sie noch nicht weggebracht.«

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»Oder die Sammelstelle«, fügte ein zweiter flüsternd hinzu. Er saß auf der Kante, die Finger fest in die Decke verkrallt.

»Halt die Klappe!« mahnte ein dritter, zwar leise, aber um so eindringlicher. »Habt ihr es denn so eilig? Hört doch zu, was der Offizier sagt.« Er lag schräg auf der Pritsche. Keiner von den dreien konnte den Offizier se­hen, denn die dichtgedrängte Menge verdeckte ihn voll­ständig.

»Kollegen! Der Commander gibt Ihnen sein Ehrenwort: Alle Schuldigen, die unter den SS-Männern und auch die unter den Häftlingen, werden gerecht bestraft«, sagte der Dolmetscher. Von allen Pritschen ertönten laute Rufe und Klatschen. Jeder versuchte, dem jungen Mann aus Übersee durch Lachen oder durch eine Geste seine Sympathie zu bekunden.

»Deswegen bittet Sie der Commander, Geduld zu haben und kein Unrecht zu begehen, das sich an Ihnen selbst rä­chen müßte. Sie sollen die Schuldigen nur der Lagerwache übergeben, sonst nichts. Einverstanden?«

Der Block antwortete mit einem einstimmigen Schrei. Der Commander dankte dem Dolmetscher, wünschte den Häftlingen eine angenehme Ruhe und baldiges Wiederse­hen mit ihren Lieben und verließ, begleitet vom freund­schaftlichen Gemurmel der Männer, den Block, um wei­terzugehen, zum nächsten Block.

Erst als der junge amerikanische Offizier auch die letzte Baracke hinter sich hatte, als er mit den beiden Zivilisten und in Begleitung seiner Soldaten in der Kommandantur verschwunden war, zerrten wir den Mann von der Pritsche herunter, wo er, das Gesicht tief in den Strohsack ge­drückt, geknebelt, mit Decken zugedeckt und mit unseren Körpern abgeschirmt, gelegen hatte. Wir schleppten ihn

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auf den Betonboden vor dem Ofen, und dort, unter wüten­dem, haßerfülltem Schnaufen der ganzen Baracke, wurde er zu Tode getreten.

Die Begegnung mit einem Kind

Sie fanden die Vertiefung im Wall, die sie am Vortag er­späht hatten, und krochen beide hindurch, die Augen vor dem Stacheldraht mit den Händen schützend. Unter ihren Rücken knirschte der Schotter. Dann glitten sie vom Wall herunter, wälzten sich auf den Bauch und robbten in das hohe Gras, in das die sinkende Sonne rote Streifen zeich­nete. Im Wachtturm an der Ecke, der über und über mit gelben »Off limits«-Plakaten beklebt war, hockte ein ame­rikanischer Soldat, den Helm und den Karabiner achtlos neben sich auf der Bank. Große, schwere Wassertropfen fielen vom Wachtturm herab und klatschten dumpf in die kalte Asche, die nach dem nächtlichen Feuer übriggeblie­ben war.

Als sie sich in sicherer Entfernung glaubten, setzten die beiden Männer sich hin und säuberten sorgfältig ihre ge­streiften Anzüge von den rötlichen Erdklümpchen, dann kratzten sie die rostbraunen Flecken von ihren Knien und Ellenbogen weg. Endlich standen sie wieder auf und schlurften durchs Gras, über die regennasse Wiese zur Straße hin, vorbei an den verlassenen Bunkern, an den zerschlagenen Artilleriestellungen, gingen im großen Bo­gen um das Lager herum und sahen nach dem blauen Rauch, der sich über den Baracken kräuselte, lauschten auf das Splittern zerhackter Bretter und das Gemurmel von Tausenden von Menschen, das der Wind herübertrug.

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»Der Wind weht zu uns herüber«, sagte der größere der beiden Männer, der ein Bündel in der Hand trug. »Es stinkt nach Leichen.« Sie kamen gerade an einem Feld vorbei, auf dem lange Reihen von Leichen lagen, umgeben von hohen Holzstößen. Der hochgewachsene Mann hatte ein aufgequollenes, struppiges Gesicht, außerdem war er ein Albino. Das kurze Haar war borstig wie das Fell eines Tieres, ein schmaler, kahlgeschorener Streifen Haut lief über seinen Schädel hinweg. Die viel zu kurzen Ärmel der KZ-Jacke ließen ein gutes Stück seiner sommersprossigen, behaarten Arme frei. Er zog die Luft durch die Nase ein: »Sie hatten keine Zeit mehr, alle zu verbrennen.«

»Ist ja klar«, sagte der kleinere Bursche. Seine Stimme klang heiser, ab und zu spuckte er durch die Lücken der ausgeschlagenen Zähne. Sein Haar war kurz und stoppe­lig, auch seinen Kopf zierte ein schmaler, kahlgeschorener Streifen. Das nasse, silbrig glänzende Gras der Wiese war von engen, winkeligen Pfaden kreuz und quer überzogen. Der Kleine fügte sachlich hinzu: »Schau mal, die sind schon vor uns gegangen. Sicher sind sie schon bei den Waggons.«

»Mach dir keine Sorgen«, sagte der Größere. »Für dich wird es auch noch reichen.« Sie gingen hinunter auf die Straße, verschwanden unter den langen Schatten der Ka­stanienbäume und schlugen schließlich die Richtung zum Villenviertel ein, das drüben, hinter den Schienen der Ei­senbahn lag. Auf den Schienen stand eine Reihe Waggons ohne Lokomotive.

Das ganze Tal lag in einen Kranz dichten Fichtenwaldes eingebettet, dahinter ging die kupferfarbene Sonne lang­sam unter. Am Waldessaum, inmitten der blühenden Gär­ten, im saftigen Grün, an dem silbrige Regentropfen hin­gen, leuchteten rosig getünchte Einfamilienvillen. Über dem Tal spannte sich der klare Himmel, durchsichtig wie

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hauchdünne Seide. Es wurde langsam kühler, und zarte blaue Nebelschleier zogen über den bewaldeten Abhängen der Berge auf.

»Da hast du deine Waggons, friß dich satt«, sagte der Kleine. Sie gingen an einem Acker mit Frühkartoffeln vorbei und kletterten auf die Rampe. Die Waggons waren offen, so daß man die Leichen sah, die, schon blau gewor­den, mit den Füßen zu den Türen ordentlich aufgeschich­tet, übereinander in den Waggons lagen. Obendrauf war eine Schicht Kinderleichen, aufgedunsen und weiß wie frisch gestärkte Kopfkissen.

»Sie hatten keine Zeit mehr, auch diese da zu verbren­nen«, meinte der Größere. Sie sprangen über die niedrig gezogenen Signaldrähte und krochen unter den Waggons hindurch.

»Klar«, sagte der Kleinere. Sie sahen sich an und lächel­ten einander mit zusammengezogenen Lippen zu. Auf der anderen Seite sprangen sie wieder über die Signaldrähte, rutschten die Böschung hinunter und gingen durch die blühenden Gärten ins Tal zu den Offiziersvillen.

Die Kolonie, von den Häftlingen für höhere Lageroffi­ziere und ihre Familien erbaut, war vollkommen leer. Hät­te es nicht die schön gepflegten Gärten gegeben, die wei­ßen Vorhänge an den Fenstern und die blauen Rauchstrei­fen, die friedlich zum Himmel aufstiegen, hätte man glau­ben können, das ganze Viertel sei ausgestorben.

Die beiden Burschen überquerten die Hauptallee und bogen auf einen Seitenweg dicht am Rande des Waldes ein. Durch einen Einschnitt in den Bergen schien noch die Sonne ins Tal und zeichnete leuchtende Flecke auf den Rasen. Neben einem solchen Sonnenfleck vor einer ein­sam stehenden Villa lag eine Frau im Liegestuhl. Sie trug einen geblümten Morgenmantel, ihr Haar war im Nacken

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zu einem klassischen Knoten geschlungen. Neben ihr spielte ein kleines gelocktes Mädchen in hellblauem Kleid mit einem Puppenwagen, in dem eine große Puppe lag.

Die beiden blieben auf dem Pfad stehen und sahen sich aus schmalen Augen an. Sie grinsten sich zu, ohne die Lippen zu bewegen. Dann wanderten ihre Blicke zu dem Kopf des Kindes, tasteten ihn ab, weich und behutsam wie streichelnde Hände. Darauf suchten die Augen der beiden Männer die scharfe Mauerkante der Villa, die ein schmaler Rasenstreifen von dem Pfad trennte. Schließlich kehrten die Augen der beiden Männer unheimlich langsam zu dem Kind zurück. Der Größere trat einen Schritt vor, sein Schatten fiel auf die Beine der Frau und schob sich lang­sam bis zu ihrer Brust hinauf. Die Frau hob die vorstehen­den Augen und öffnete den Mund. Ihre Oberlippe zuckte wie bei einem Kaninchen. Als die beiden Burschen ihren Blick auffingen, lächelten sie noch etwas breiter und gin­gen langsam, mit wiegenden Hüften, wie es im Lager Mode war, ohne jede Hast auf das Kind zu.

Das Kriegsende

Der hohe Schatten der Platanen bewachte die Autobahn. Dicht daneben erhob sich das wuchtige Kasernengebäude, ein massiver Koloß aus Beton und Stahl. Die brütende Hitze machte die glühende Luft so trocken wie Asche. Aus den offenen Fenstern des Dachgeschosses quoll dichter Rauch, es stank nach gekochtem Hammelfleisch. Auf dem Rasen unter den Fenstern klirrten Glasscherben; Bücher­fetzen lagen herum; Stahlhelme dröhnten, wenn ein un­achtsamer Fuß sie anstieß; weißes, beißendes Pulver wir­

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belte in der Luft, wenn eine prallgefüllte Tüte mit lautem Knall zerplatzte; ganze Bündel schwarzer Soldatenkrawat­ten flogen aus den Fenstern, dann folgten Tische, Spinde und Pritschen, die mit dumpfem Getöse auf dem Hof zer­schellten. Amerikanische Laster fuhren dröhnend durch das Kasernentor, vorbei an gleichgültigen Soldaten, die wie aus dem Ei gepellt aussahen, ganze Horden von Män­nern sprangen hastig von den Wagen, Frauen in bunten, karierten Tüchern und Kinder, immer wieder Kinder. Die Männer waren abgerissen, jeder hatte unzählige Ranzen und Taschen. Immer mehr Menschen, aus allen umliegen­den Lagern, Fabriken und Bauernhöfen zusammengeholt, wimmelten auf dem großen Kasernenhof herum, immer neue Feuer wurden entfacht. Die Menge kochte ihr Essen und wütete mit stumpfem Haß im Inneren der Kaserne. Zuerst wurden alle Fensterscheiben systematisch und gründlich eingeschlagen. Dann ging die Verwüstung me­thodisch weiter, Spiegel, Waschbecken und alle Leuchten wurden zersplittert, die Krankenhauseinrichtung zertrüm­mert, das Kino kleingeschlagen. Die Bücher aus der Bi­bliothek flogen auf den Hof, im Archiv entdeckte die Menge ganze Stöße von Parteibüchern, ein Zimmer nach dem anderen wurde demoliert, Stube nach Stube, Klosett nach Klosett, Korridor nach Korridor, Stock für Stock – auch die Aufenthaltsräume der Aufpasser wurden nicht vergessen.

Die Lastwagen ratterten unterdessen unermüdlich zurück zur Autobahn, fuhren heulend an dem provisorischen La­ger vorbei, in dem die gefangenen SS-Männer unter milder, aber aufmerksamer Bewachung den ganzen Tag beim Schutträumen in der Stadt halfen. Die lachenden Neger­fahrer winkten freundlich grinsend den vorbeigehenden deutschen Mädchen zu. Die Mädchen winkten lachend zu­rück und starrten den vorüberfahrenden Kolonnen nach.

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Gleich neben der Kaserne, vom SS-Lager nur durch die Autobahn getrennt, lag ein vorstädtisches Arbeiterviertel. Kleine, weißgestrichene Häuser leuchteten aus dem satten Grün der Gärten, die roten Dächer waren halb mit üppi­gem Efeu bewachsen, beschattet von den ausladenden Ka­stanienbäumen, darüber spannte sich der kobaltfarbene Himmel. Vor den Fenstern mit winzigen, schneeweißen Gardinen leuchteten Sonnenblumen, zerbrechliche Wicken rankten sich an ihren Stöcken hoch, anämische Kletterro­sen hingen von den Gartenpforten herunter, die samtenen Blütenblätter bebten in der Stille. Zwischen dem dichten Laub der Himbeersträucher blitzten die bunten Kleider der Frauen auf, überall auf den Veranden und in den Garten­lauben saßen Leute, die langstieligen Blumen bewegten sich, wenn man sie im Vorbeigehen berührte. Irgendwo kläffte ein Pinscher, in den Gärten arbeiteten hemdsärme­lige Männer mit Hosenträgern, nachdenkliche, stille Kin­der gingen über die Wege und zogen ihre Stöcke verson­nen an den grünen Hecken entlang.

Mitten in der Siedlung, auf einem winzigen, mit Stein­platten belegten Platz, den ebenfalls eine dichte Hecke säumte, stand eine kleine Kirche. Die Treppe aus grauem Stein sah fast braun aus in dem tiefen Schatten, der schräg darüber fiel; zitterndes Weinlaub hing vom Dach herab, und dazwischen war ein schlichtes Kreuz aus schwarzem Marmor zu sehen; über dem eisernen Tor die in Stein ge­hauenen Worte in gotischer Schrift. Ein zweimotoriger Bomber flog brummend über die Kirche weg – sein silbri­ger Bauch flammte in der Sonne auf – und verschwand wieder hinter den Baumkronen, nur die Stille bebte noch eine Weile hinter ihm nach.

Das steinerne Kirchenschiff war kühl und anheimelnd wie eine Gartenlaube. Die Bögen rundeten sich so sanft wie gefaltete Hände, goldene und purpurfarbene Orna­

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mente bedeckten das Gewölbe. Sonnenstrahlen brachen sich in den runden Fenstern und zeichneten verspielteFarbkleckse an die Wände. Über dem weißgedeckten Altar neigte sich ein Engel aus seinem Bilderrahmen herab, mit vollen Pausbacken blies er in ein Messinghorn. Mit der anderen Hand hielt er sich sein engelhaftes Kleid fest, an dem der Wind scherzhaft zupfte. In der Mitte der Kirche war eine runde, winzige Kanzel, die wie eine Bonbonniere aussah, gestützt von einer weißen, hohen Säule. Auch die Bänke waren aus Holz, die Schnitzereien der Lehnen wa­ren von den vielen Händen fast geglättet. Vor jedem Sitz gab es einen Haken, an dem ein winziges Kissen hing, of­fenbar zum Knien bestimmt.

Nur eine Wand der Kirche war kahl, farblos und kalt. Hier hatte man die Bänke weggezogen, den Sockel mit ei­nem Teppich bedeckt, und überall, wo man hinsah, waren Blumen. Rosen, Gladiolen, Nelken, Lilien, alle Farben und alle Düfte mischten sich hier. Die Kerzen brannten still und ruhig, kein Atemzug bewegte die Flammen. An der Mauer standen lange Reihen von Holzkreuzen, jedes trug eine Tafel und ein Bild auf einem Emailschildchen. Von den Photos blickten einfache, ehrliche Soldatenaugen her­ab, die Lippen der Männer waren ernst verschlossen, schwarze Eiserne Kreuze hingen auf ihrer Brust, an den Rockaufschlägen glitzerten silbern die SS-Abzeichen. Die Inschriften besagten, daß es Söhne, Brüder, Männer und Väter waren, die in den weiten Steppen Rußlands, in den Bergen Jugoslawiens, in den Wüsten Afrikas und sonstwo in der weiten Welt gefallen waren und daß ihre Mütter und Schwestern, Frauen und Töchter für sie beteten, daß Gott ihnen ein glückliches, ewiges Leben schenken möge.

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Independence Day

Dem Publizisten Kazimierz Koźniewski gewidmet

Ein schmutziger, verstaubter Mann kniete in dem Dach­zimmer einer ehemaligen deutschen Kaserne, das von ei­nem Granattreffer schwer beschädigt war. Dicke Schweiß­tropfen liefen ihm übers Gesicht und zogen tiefe Furchen auf dem mit Staub und Ruß bedeckten Kinn. Er blies in die mickrigen Flämmchen, um endlich ein Feuer anzufa­chen. Den kleinen Ofen hatte er von einem Bauern be­kommen, aber ein Rohr war nicht dabei, und nach jedem Luftzug quoll eine dicke Rauchwolke ins Zimmer zurück. Auf der Ofenplatte lag eine Reihe dicker Kartoffelschei­ben. In der ausgeschlagenen Tür erschien plötzlich ein hochgewachsener, distinguiert aussehender Mann mit ei­ner weißroten Armbinde. Er trat in das verqualmte Zim­merchen ein und begann sofort heftig zu husten.

»Raus mit Ihnen, Kollege!« rief er scherzend. »Sie stek­ken ja die ganze Kaserne an mit Ihrem Feuer. Wissen Sie denn nicht, daß es streng verboten ist, heimlich zu ko­chen?« Er schwieg einen Augenblick, dann setzte er hin­zu: »Kein guter Pole würde jemals so etwas tun. Go on!« schloß er auf Englisch. Seine Stimme hatte einen ungedul­digen Klang bekommen.

Der Mann hob den Kopf, wischte sich mit dem Ärmel über das dreckige Gesicht, sah den anderen schief an und sagte, während er seelenruhig die angebrannten Kartoffeln abkratzte: »Gib mehr zu fressen, Hundesohn, dann brau­che ich nicht heimlich zu kochen. Glaubst du vielleicht,

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daß es mir schmeckt? Hier, versuch mal!« Er hielt dem andern die stinkende, angefaulte Scheibe unter die Nase. »Siehst du? Hättest du nicht geklaut, müßte ich das jetzt nicht essen, kannst du mir glauben. Unsere Butter frißt du löffelweise, und mir gönnst du meine faulen Kartoffeln nicht, was?«

»Hören Sie, Kollege, beleidigen Sie mich nicht«, sagte der andere. »Mensch, soviel Qualm hier. Ist die frische Luft draußen nicht schöner?«

»Wer seine Ration bekommt und noch Fleisch zu den Jüdinnen hinschleppt, dem mag auch frische Luft schmek­ken. Ich bin hier zufrieden. Und wenn es dir hier zu ver­qualmt ist, die Tür steht offen – der Weg ist frei.«

Der hochgewachsene Mann packte den schmutzigen Burschen an den Aufschlägen und riß ihn hoch. Durch zu­sammengebissene Zähne zischte er ihn an:

»Mal sehen, ob du nicht anderswo noch zufriedener bist!«

Im gleichen Augenblick erschien noch ein Mann an der Schwelle. Auch er trug eine rotweiße Armbinde, war stark und untersetzt und hatte eine niedrige Stirn und ein fast viereckiges, kräftiges Kinn. Er trat ohne Zögern in den Raum.

»Ach, dieser Hurensohn«, sagte er mit singender Stimme wie zu sich selbst.

Nach einer Weile gingen alle drei Männer hinaus. Sie verschwanden hinter der Biegung des Korridors, ohne sich um das immer noch brennende Feuer oder die Kartoffel­scheiben zu kümmern. Zusammen gingen sie die Treppe hinunter, trennten sich aber im Parterre. Der Hochge­wachsene bog nach links ab, sagte aber vorher zu seinem Gesellen: »Kollege, seien Sie doch so gut und bringen Sie ihn zum Tor. Sagen Sie dem Mastersergeant, daß er ver­

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suchte, die Polizei zu verprügeln. Ich laufe inzwischen schnell und hole Wurst und Brot. Fürs Ausland soll es neue Formulare geben, hab ich gehört, es wird gut sein, wenn man für alle Fälle ein paar davon organisiert.«

Der Dicke zog die niedrige Stirn kraus, bis sie ganz unter seinem kurzgeschnittenen Haar verschwand.

»Ich werde es schon schaffen, Herr Kollege«, sagte er. »Machen Sie sich nur keine Sorgen. Und du, Mistkerl, versuch keine Scherze, sonst schlage ich dir die Knochen kurz und klein!«

Er riß den verschmutzten Mann am nach hinten gebo­genen Arm herum und wurde mit einem schrecklichen Fluch belohnt. Dann gingen sie nebeneinander über den betonierten Hof und kamen zum Tor. Gleich neben dem Tor war der Bunker, ein niedriges Häuschen. Auf dem Platz vor dem Bunker hißte ein strammstehender Soldat die amerikanische Flagge. Ein paar weitere Soldaten, die eben Baseball gespielt hatten, legten ihren Ball und ihre Handschuhe ab und stellten sich salutierend dazu. Bevor die beiden Männer in der Tür verschwanden, ging das Spiel schon wieder weiter.

Der Bunker war leer. Der Mastersergeant hatte alle Strafgefangenen entlassen und amnestiert, weil Indepen­dence Day war. Der Schmutzige war der erste Neue nach der Amnestie. Er wurde in die leere Zelle gebracht und für eine Woche allein gelassen. Er hockte sich auf den steini­gen Boden und sah hinauf zu dem schmalen Fensterstrei­fen, der auf den Hof hinausging. Der Abend brach schon ein. Die Bäume waren blau, und langsam verdichtete sich die Luft. Verliebte Pärchen gingen unter den Bäumen spa­zieren. Es waren hauptsächlich Köche, die sich für das in der Küche geklaute Essen immer ein Mädchen kaufen konnten. Der schmutzige Mann erhob sich, fischte einen Bleistiftstummel aus der Tasche, wischte ihn an der Hose

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ab und kritzelte mit großen, sauber gemalten Buchstaben an die Wand: »Zweimal im Bunker. 21.9.44 – 25.9.44 im deutschen KZ Dachau wegen Sabotage, die darin be­stand, daß ich Kartoffelscheiben briet. 4.7.45 – im amerikanischen Sammellager für ehemalige Häftlinge aus dem KZ Dachau wegen Verstoß gegen Vorschriften, der darin bestand, daß ich Kartoffelscheiben briet.«

Darunter schrieb er schwungvoll seinen Namen, stützte sich mit den Ellenbogen auf die Fensterbank und sah mit sehnsüchtigen Blicken hinaus auf den Hof, in dem Mäd­chen mit Köchen herumspazierten.

Oper! Oper!

Nach der kurzen Ouvertüre ging der Plüschvorhang hoch. Der goldene Schimmer der Scheinwerfer flutete über den steinernen Hof des Gefängnisses, der von düsteren Papp­mauern umgeben war. Der theatralisch scharfe Schatten verdeckte den Eingang in den Keller, aus dem das dumpfe Stampfen vieler Füße dröhnte, künstlerisch untermalt von den Bässen des Orchesters. Der Dirigent im schwarzen Frack stand der Bühne zugewandt, grell von unten ange­strahlt. Sein Gesicht sah gelb und leichenhaft aus, der of­fene Mund und die eingefallenen Augen glichen bläuli­chen Höhlen, sein Kopf mutete fast wie ein Totenschädel an. Seine Hände zuckten und bebten mit den rhythmischen Bewegungen der Musik, wie Zweige, an denen der Wind

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reißt. Die Sängerin, als Mann verkleidet, drückte sich an die Ecke der Gefängnismauer. Neben ihr stand ein Ge­fängniswärter, gehüllt in eine knielange Pelerine, eine fal­sche Glatze auf dem Kopf und ein echtes Schlüsselbund in der Hand.

Ich beugte mich in meinem Sitz etwas vor und stützte den Ellenbogen auf die gepolsterte Armlehne. Meine Na­senflügel bebten. Ich atmete den süßlichen Duft des Haa­res ein, das sich mit der erregenden, nach Puder und La­vendel riechenden Körperwärme vermischte. Ein heißer Atemzug der neben mir sitzenden Frau streifte über meine Wange.

»Wie schön«, flüsterte ich bewundernd, hingerissen von dem unbeabsichtigten Kontrast der subtilen Schatten und Lichter, die den Zuschauerraum, die Bühne und das Or­chester füllten.

»O ja, das ist wunderschön«, flüsterte die Frau hastig zu­rück. Sie wandte mir den Kopf zu und lächelte mich an. Ihre Zähne schimmerten wie Glasperlen. Sie hatte große Augen, aber eins davon schien getrübt, wie von einem durchsichtigen Nebel überzogen, und das gab ihr den Ausdruck einer ständigen Verschämtheit. Ich sah sie aus leicht zugekniffenen Augen an, die Brauen kaum merklich verzogen.

»Bist du vielleicht böse?« fragte sie flüsternd, plötzlich beunruhigt. Sie blinzelte, ihre Finger berührten sanft mei­ne Hand. Menschenköpfe, Männer, Frauen, Soldaten, reih­ten sich in der Dämmerung unter unseren Füßen. In den Logen leuchteten vor dem dunklen Hintergrund die grauen Gesichter der Offiziere, ihre Augenhöhlen hatten die Farbe der Erde.

»Aber wo! Warum soll ich denn?« Ich zog eine Tafel Schokolade aus der Tasche und reichte sie ihr. Sie brach

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ein Stückchen ab, den Rest schob ich in meine Tasche zu­rück. Das Stanniol knisterte trocken in meiner Hand, wie eine zerrissene Zeitung.

Der Dirigent ließ die Hände sinken, die Musik wurde leiser, sanfter, kaum noch hörbar. Die Schritte aus der Tie­fe wurden lauter, das Echo des Kellers trug den dumpfen Klang durch das ganze Theater. Man hörte die verzweifel­te Sehnsucht, die bange Angst dieser Schritte. Jäh erhob sich die Musik, um gleich darauf ebenso unmittelbar zu verstummen. Aus der Kellertür wälzte sich ein wildes Knäuel menschlicher Leiber in den Hof, wie klebriges, widerliches Plasma ergoß sich die Masse über den freien Platz, überflutet von dem gleißenden Licht der Sonne. Als wären sie an eine Kette geschmiedet, als wären sie mit ei­nem Lappen zugedeckt – so schien es –, erhoben die Ge­fangenen ein einziges, blindes Gesicht zur Sonne empor, unzählige nackte, gespenstisch weiße Hände griffen nach dem Himmel. Wie Grabesstimme klang das heiser geflü­sterte Wort: »Sonne«. Das Orchester fiel donnernd ein, und das Wort »Sonne« dröhnte wie ein ersticktes Schluch­zen durch den Raum. Die Zuschauer überlief es kalt, man konnte es direkt sehen, auch ich zitterte. Nach einer Weile wurde die Musik wieder leiser, die Statisten erstarrten in einer etwas theatralischen Pose mitten auf dem Hof. End­lich trat die Sängerin vor und sang ihre Arie, der Gefäng­niswärter konnte kaum das Ende abwarten, sein Schlüssel­bund begann ungeduldig zu rasseln. Das Menschenknäuel ringelte sich zusammen wie ein getretener Wurm, begleitet von dem satten Bariton des Gefängniswärters schob es sich durch die Kellertür und versank in der Tiefe.

Die Frau neben mir sah mit weit aufgerissenen Augen auf die Bühne. Sie saß vorgebeugt, ihre Finger klammer­ten sich an die Armlehne. Als sie meinen aufmerksamen Blick auffing, lächelte sie mir hilflos zu.

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»Bist du vielleicht böse?« flüsterte sie ängstlich. Ihre Brüste hoben sich in einem langen Seufzer. Das freigebige Dekolleté ließ ein tiefes, weißes Grübchen zwischen den Brüsten frei.

»Aber wo! Warum soll ich denn?« sagte ich, und mein Blick glitt über ihren Leib, den das knappsitzende Kleid umspannte.

Langsam schwebte der Vorhang herab, die Offiziere, Soldaten, Beamten der Verbündeten, die Herren der Ge­sellschaft, die Studenten und die Mädchen belohnten den Fidelio, die Gefangenen und den Gefängniswärter mit stürmischem Beifall.

Der Dirigent verbeugte sich, schob die Haare aus der Stirn, verbeugte sich noch tiefer. Der Vorhang hob sich wieder. Die Frau sah meine grüne SS-Jacke an, die ich beim Verlassen des Lagers bekommen hatte, als ich mei­nen gestreiften Anzug abgab. Die Ärmel waren viel zu kurz. Ihre Lippen bewegten sich, ich hörte aber keinen Laut.

»Bist du böse?« sagte sie schließlich. »Warum sollte ich denn?« fragte ich lächelnd zurück.

Ich legte meine Hand auf ihre Hüfte, schob sie vor, bis ich unter den Fingern ihren Schenkel und noch höher spürte, dann drückte ich so fest zu, daß die Frau zusammenzuckte und ihren Nacken gegen die Stuhllehne stützte. Zwischen ihren schmerzverzerrten Lippen schimmerten die Zähne wie Perlen.

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Die Reise im Pullman

Der Lehrer steckte den Kopf zum Fenster hinaus. Der Zug ratterte über die Weichen und glitt aufs andere Gleis. Wir fuhren zwischen Güterzügen hindurch, die mit Holz, Ma­schinen und Kohle beladen waren. Vor dem Semaphor bremste der Zug, die Sirene heulte.

»Wir sind gleich da«, verkündete der Lehrer. »Ja«, sagte ich. »Ich muß nach den Kindern schauen«, meinte der Leh­

rer. Er streckte die Beine herunter, rieb sich die Augen und dehnte sich. »Seit der Grenze liegen Sie schon. Ist das nicht langweilig?«

»O nein.« »Die Kinder lassen wir sicher hier. Sollen sie auf ihre El­

tern warten«, fand der Lehrer. »Dann wird der Zug leer. Das schlimmste Gedränge ist vorbei.«

»Die Repatriierung war ganz angenehm«, erklärte ich und kletterte von meinem Sitz herunter.

»Sehr«, sagte der Lehrer. Er ging aus dem Abteil und warf die Tür zu. Der Zug

fuhr langsamer. Erneut wechselte er auf ein anderes Gleis, und vor dem nächsten Semaphor blieb er wieder stehen.

Auf dem Gleis neben uns stand ein Güterzug, vollge­stopft mit Menschen, Tieren und Gerümpel und ge­schmückt mit welkem Grün. Die Kühe streckten ihre ma­geren Köpfe durch die offenen Waggontüren, weiter hin­ten standen die Pferde. Kleine Eisenöfen qualmten, Frauen in weiten Röcken gingen herum und schoben die Töpfe

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hin und her. Vor den Waggons standen Männer, die den Kopf in blecherne Gefäße tauchten, den Mund voll Wasser nahmen und sich Arme und Hände bespritzten. Apathische Hühner pickten lustlos unter den Waggons nach Futter. Ein barfüßiges Mädchen brachte den Kühen ein Bündel Heu. Die langen, festgeflochtenen Zöpfe schlugen dem Mädchen bei jedem Schritt gegen den Rücken. Der Wind wehte menschlichen und tierischen Gestank zu uns herüber.

Der Lehrer kam zurück. Er sah zum Fenster hinaus und legte mir die Hand auf die Schulter.

»Na und?« fragte ich. »Wir siedeln an«, sagte er. »Ja«, nickte ich. Der Lehrer pfiff durch die Zähne und kletterte zurück in

seine Koje. Er legte sich bequem hin und wickelte sich fest in seine Decke.

»Ich bin bei ihnen gewesen«, seufzte er. »O Gott.« »Ja«, sagte ich. »Zwei Monate sind sie schon unterwegs. Seit vier Tagen

stehen sie jetzt hier. Und niemand weiß …« Er drehte das Gesicht zur Wand. »Ja«, sagte ich. Der Zug ruckte an. Die Räder ratterten über die Wei­

chen. Wir fuhren vorbei an Zisternen, Plattformen, leeren Waggons, schließlich hielten wir. Der Bahnsteig lag hoch über der Straße des Städtchens und war voller Menschen. Auf der Treppe saßen die Reisenden neben ihren Ge­päckstücken. Ihre Kleider waren zerknautscht, sie sahen müde aus. Hinter der Barriere hatte sich das Eisenbahner-Orchester aufgestellt. Der Dirigent hob den Taktstock, die Musiker in schwarzen Uniformen spielten die National­hymne.

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»Ach Gott«, sagte der Lehrer, ohne sich umzudrehen. Kleine Schulmädchen kamen an den Zug heran und

reichten Nelkensträuße hinauf. Frauen in weißen Kleidern und weißen Häubchen gingen am Zug entlang und verteil­ten heißen Kakao und frische Butterbrötchen. Die tuberku­lösen Kinder, die der Pullman gebracht hatte, drängten sich an den Fenstern, lachten und klatschten in die Hände.

»Na ja«, sagte ich und trat vom Fenster zurück. Ich streckte mich auf mein Bett, verschränkte die Hände unter dem Kopf und starrte gedankenlos zur Decke.

Das Zimmer

Das Zimmer, in dem ich wohne, hat zwei ausgebrannte Fenster. Das eine ist vergittert, die Stäbe sind zwar verro­stet, aber immer noch solide. Auf dem Fensterbrett des anderen Fensters steht ein aufgeblähter Gänserich aus Glas, gefüllt mit Kirschwasser, daneben liegt zerknüllt ein Stück Handarbeit.

Von den Möbeln, die gleich nach der Befreiung auf dem morschen Boden aufgestellt wurden, ist der Schrank das kostbarste Stück. Im obersten Fach sind folgende Schätze verborgen: eine Dose amerikanischer Sardinen, zwei Blechbüchsen mit Biskuits und ein Offiziersmantel aus Gummi, den ich in einem DP-Lager für acht Packungen Camel erstand. Im mittleren Fach steht eine Continental-Schreibmaschine, für die ich runde dreißig Dollar bezah­len mußte. Das meiste davon hat wahrscheinlich der Kerl aus dem Hotel mit dem vertrauenerweckenden Gesicht ei­nes echten Warschauers eingesteckt. Im untersten Fachliegen vier Paar Socken und eine Tüte Tomaten. Über die

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Zimmerdecke spazieren Spinnen. Das Sofa mag ich nicht. Eine vergeßliche Familie hatte es hier stehen gelassen, aber es wimmelt förmlich von Flöhen und Wanzen, fast wie die Pritschen im Lager. Wenn der Wetterdienst eine klare Nacht ohne Regen verspricht, nehme ich mein Kopf­kissen und zwei flauschige Decken, die das Eigentum ei­nes gewissen Blockleiters aus Allach sind, und schlafe im öffentlichen Park. Dort gibt es ungezählte Liebespaare und ungezählte besoffene Milizsoldaten, die auf den Mond schießen.

Tagsüber sitze ich an dem runden Mahagonitisch, den ich aus der Wohnung eines toten Deutschen bekommen habe. Ich ersticke fast vor Hitze, aber ich schreibe, bis es dunkel wird. Dabei muß ich mich ununterbrochen kratzen, weil mein ganzer Körper wie die Hölle brennt.

Ein Mädchen im schwarzen Kleid macht sich singend an dem glühenden Ofen zu schaffen. Das kleine, schmale Ge­sicht verschwindet fast unter dem strenggekämmten Haar. Die Kleine schläft am anderen Ende des Zimmers. Jeden Tag kocht sie mir mein Mittagessen, und wenn sie mir Brot, Tomaten, Suppe und Kartoffeln auf den Tisch ge­stellt hat, nimmt sie einen Teller Suppe, bringt ihn vor­sichtig zur Tür hinaus und läuft damit schnell durchs Treppenhaus zu dem jungen Arbeitslosen hin, der keine leichte Arbeit findet, die ihm zusagen würde.

Denn sie lebt mit ihm, nicht mit mir.

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Sommer in dem Städtchen

Wojtek Zukrowski gewidmet

Hoch über den Dächern der Stadt, umgeben von alten Linden, steht eine riesige Kirche aus roten Ziegeln. Eine steile Steintreppe führt hinauf, beginnend am Fuß des Berges, auf dessen dicht mit Gras bewachsenen Abhängen die Ziegen weiden, bis zu dem alten, schmiedeeisernen Tor, das sperrangelweit offensteht und den Weg in die dunkle Tiefe der Kirche freigibt, in der es feucht nach den mittelalterlichen Mauern riecht.

Die Kirche hat zwei spitze Türme, beide mit grauen Dachziegeln gedeckt. Auf dem linken Turm funkelt ein goldenes Kreuz, auf dem rechten haben die Erbauer zur Erinnerung an das Versagen des Apostels Petrus einen schwarzen Hahn errichtet, der sich mit dem Wind dreht.

Eine schmale Gasse windet sich sanft hinauf, führt in ei­nem weiten Bogen um die Kirche herum und mündet in einen großen, städtischen Platz. Auf diesem Platz hatte ein großer Wanderzirkus sein Viermastzelt aufgeschlagen.

Ein Lautsprecher über dem Eingang schmetterte glühen-de Liebeslieder in die Luft, in der sich die Karussells dreh­ten und die Schaukeln flogen. Die bunte Menge drängte sich lärmend um die exotischen Tiere: ein Kamel, ein La­ma und einen Schakal. Die Mädchen bestürmten den Wahrsager und seinen Papagei, der die glücklichen und weniger glücklichen Prophezeiungen mit seinem Schnabel zog. Der laue Sommerwind strich über die erhitzten Ge­sichter und spielte mit dem farbigen Leinen der Sonnen­

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schirme, die über den Blumenständern und den Tischen mit Spielkarten aufgespannt waren.

Von drei Seiten war der Platz von ausgebrannten Häu­sern eingeschlossen. Auf der vierten Seite, eng an die dü­stere Kirchenmauer geschmiegt, stand die Pfarrei. Es war ein einstöckiges Haus, dessen Wände in der Farbe reifer Erdbeeren getüncht waren, das Dach war leicht bemoost und hatte einen violetten Schimmer. In der Höhe des er­sten Stocks zog sich eine Galerie ums ganze Haus, zierlich und sonderbar geschnitzt, fast wie maurische Architektur anmutend. Grüne Fensterläden schützten die Pfarrei gegen die heiße Sonne, die auf dem Dach und an den Wänden leuchtete, zwischen den Zweigen der Trauerweiden hin­durchglitzerte und in den kleinen, blühenden Garten hin­einflutete, der mit einer Hecke umgeben war.

Ein junger Priester ging gemächlich auf und ab, von den schweren Sträuchern reifer Himbeeren hinüber zu den blühenden Beeten. Seine Soutane hatte er bis zum Hals zugeknöpft, er war tief in ein dickes, ledergebundenes Buch versunken, seine Lippen bewegten sich leise, er schien weder das Lachen der Menge noch den Lärm drau­ßen auf dem Platz zu hören.

Nur ab und zu hob er die müden Augen von seinem Buch, faltete die glatten, fast goldfarbenen Hände auf dem Bauch und wandte das junge, rosige, etwas pausbäckige Gesicht nach der Galerie, die wie eine zierliche maurische Architektur aussah. Ein halbes Lächeln erschien auf sei­nem Gesicht. An den grünen Fensterläden entlang, unter dem schrägen Dach der Galerie, zog sich eine dicke weiße Schnur, und darauf hingen in bunter Reihenfolge durch­sichtige, duftige Gebilde aus pastellfarbenem Chiffon: Hemdchen, Büstenhalter, Höschen, Pyjamas – hellgrün, blau, rosa –, lauter Damenwäsche, die der Wind spiele­risch hin und her schaukelte.

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Das Mädchen aus dem verbrannten Haus

Ich beugte mich neugierig über das Brückengeländer, meine Finger schlossen sich fest um die Eisenstäbe, damit sie mir nicht gegen die Brust drückten. Dann schloß ich für einen Moment die Augen. Der Duft des sommerlichen Regens lag immer noch in der Luft, aber es wurde schon wieder heiß; von den warmen Pflastersteinen stieg leichter Dampf auf, der mir wie ein heißer Atemzug um die Beine strich. Vom Fluß her zog ein kühler, holziger Geruch her­über, wurde stärker und wieder schwächer, kam wieder, wie glitzernde Wellen, die heranschnellen und weitereilen. Ab und zu mischte sich in den Holzgeruch auch der etwas säuerliche Hauch von gärendem Laub. Jedesmal, wenn ein schwerer Lastwagen vorbeiratterte, zog ich die Nase zu­sammen, aus Angst vor dem Gestank nach verbranntem Treibstoff, der sich mit dem Geruch von nassem Staub vereinte, den feuchten, schlammigen Dunst der Rinnsteine aufnahm und den kühlen Wind vom Fluß ganz verdrängte.

Die roten, bräunlich verfärbten Ziegel des verbrannten Hauses waren stellenweise noch von brüchigem Putz be­deckt, dazwischen deuteten blaue Flecken auf Wasser und Regen; das leere Innere des Hauses, bis zum Dach vom Feuer verschlungen, die dünnen Orgelpfeifen der Schorn­steine, die unmotivierten Löcher in den Mauern, Fenster und Türen, die keiner mehr brauchte – alles war bewach­sen vom hungrigen Efeu, der sich an den Wänden empor­rankte und über die Fenstersimse kroch. Das Netz, das aus verrostetem Draht geflochten war und dieses Haus von der Straße trennte; eine blasse, asthmatische Pappel neben

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dem Haus, vom Regen silbern gefärbt und von einem Gra­natsplitter gespalten – von hier aus, von der Brücke, sah das alles winzig und zerbrechlich aus, wie unnützes Kin­derspielzeug.

Drüben, hinter den Mauern, war ein großes Feld, be­wachsen mit dichtem Gras, das wie ein alter Sofabezug aussah. Ich habe ein solches Sofa in dem verbrannten Haus gesehen, früher einmal. Im Gras leuchteten die Scherben der eingeschlagenen Fensterscheiben – hie und da schimmerten rote Trümmersteine durch den grünen Be­lag, das Gras hatte noch keine Zeit gehabt, auch die letzten Spuren der frischen Schutthalde zu verwischen. Rings um den Trümmerhaufen lief eine Straße, ein Halbkreis krummstieliger Laternen, gemieden von Fußgängern, mit einem tiefen Graben in der Mitte, aus dem phantastische Bäume emporwuchsen, dicht mit Laub bedeckt; das Gras wucherte an den Seiten hoch, das dunkle Grün tat den Au­gen weh. Unter den Bäumen, fast verdeckt vom dichten Gestrüpp, standen Tanks und Kanonen, gestrichen in der Farbe welker Blätter. Daneben schimmerten weiße Flug­zeuge, ein Stück weiter lagen Artilleriewaffen und Muni­tion verschiedenster Kaliber auf gelbem Sand aufgereiht, damit jeder sie sehen konnte. Kleine, dürftige Bauernwa­gen ratterten an der Brücke vorbei, beladen mit Kalk und Ziegeln, darüber spannte sich der Himmel, winzige rosige und lilienfarbige Wolken wirbelten im Wind, erblühten und verwelkten ebenso schnell wie Treibhausblumen.

Ich stand auf der Brücke und betrachtete mit ungläubi­gen Blicken dieses Bild, das an meinen geschlossenen Augen vorüberzog. Unwillkürlich wartete ich darauf, daß – sobald ich die Augen aufschlug – alles verschwinden müßte –, die Tanks, die Flugzeuge, die Waffen, die Bau­ernwagen, die Fuhrmänner, die müden, apathischen Pfer­de, die Ziegel und der Kalk – daß sich alles in Luft auflö­

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sen würde. Ich werde wieder das dichte Gras sehen und die Vögel hören, die darin singen, das flüsternde Laub, die grünen Bäume, das Haus wird sich wieder mit Menschen füllen, und aus der ewig klemmenden Tür kommt gleich das Mädchen heraus, gleich wird es das blasse, ernste Ge­sicht zum Himmel erheben. – Das Mädchen kommt den Pfad entlanggeeilt, huscht wie ein flinkes Tier durch das Gestrüpp; abends, wenn der Himmel klar und kalt ist wie Eis, taucht der Mond die Mädchengestalt in silbriges, wei­ßes Licht und legt den zittrigen Schatten der Pappeln auf ihre Schultern. Mit ihr kam der warme Duft der Sommer­nächte oder der bittere Geruch der Frühlingserde, unter ih­ren Füßen flüsterten die trockenen Blätter im Herbst und klirrten die Eisklümpchen im Winter.

Sie kam um die Ecke auf mich zu, zusammen hockten wir unter dem Brückenpfeiler und schlürften gierig die bren­nend heiße Flüssigkeit, zusammen aßen wir die Kartoffel­suppe oder den dünnen Brei, den ich als Abendessen be­kam; durch wie viele Gassen und auf wie vielen Wegen ha­be ich sie begleitet, wie oft habe ich ihre magere Gestalt neben mir gehabt, wie oft spürte ich ihre kalten Lippen, die Wärme ihres Körpers, wie oft sah ich in der Dämmerung in das dunkle, schmerzlich verzogene Gesicht; jungenhafte Liebe und weibliche Eifersucht; Milde und Trotz; Abschied und Wiedersehen; Kindheit und Reife; Straßen, Gehsteige, Haustüren, Menschen, Wolken, ein Park und wispernde Schatten, das Spiel ihrer weißen Hände; Tanz, Musik und Farbe und Regen, Sonne, Bäume und Luft – überall ist ihr Bild, und wenn ich die Augen schließe, ist sie wirklicher als die Tanks unter der grünen Tarnung der Bäume, die weißen Flugzeuge und die verschieden kalibrigen Waffen, die auf dem gelben Sand für Gaffer ausgestellt sind.

Ich öffnete die Augen, verscheuchte die Bilder und stieg mit schleppenden Schritten die Treppe hinab, vorbei an

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dem Gestank von Urin und Schlamm ging ich bis zur Straße hinunter. Ich sah zu den halbnackten Arbeitern hin­über, die in einer Nebenstraße noch erhaltene Ziegelsteine im Schutt suchten, zu den müden Pferden, die schwere Fuhren mit Ziegeln und Kalk zogen, mein Blick umfing die Grasfelder, die Bäume und die Pappel – ein Bild, das ich einmal so gut kannte –, dann wandte ich mich endlich in Richtung Stadtmitte. Als ich an dem niedergebrannten Haus vorbeikam, erhob sich der Wind, raschelte durch die Efeublätter, und ich spürte den muffigen Geruch, der aus dem verschütteten Keller heraufdrang und den süßlichen Duft nach verwesten Körpern mitbrachte.

Und doch hatte ich mich geirrt; durch Zufall erfuhr ich, daß dieses Mädchen in einem anderen Haus und in einer anderen Straße verschüttet wurde. Ein halbes Jahr später wurde es von Verwandten exhumiert und lege artis auf ei­nem billigen vorstädtischen Friedhof beigesetzt.

Der Vorschuß

Der Mann war klein und zu gut genährt. Er hatte eine dün­ne, singende, fast weibliche Stimme, und wenn er lachte, sprangen kleine Schweißperlen auf seine glatten, rosigen Kinderbacken. Er huschte wie ein Wiesel über den Korri­dor und wies mit einer bittenden Bewegung seiner Patsch­hand auf eine Tür, während die Mimik seiner Wangen, seiner vollen Lippen und zugleich auch eine geschmeidige Bewegung seines ganzen Körpers mich baten, ich möge doch hineingehen und auf ihn warten.

Ich hatte mich kaum in den Ledersessel fallen und mei­nen Fuß ein paarmal über den dicken Teppich streichen

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lassen, ich hatte kaum Zeit gehabt, mich umzusehen und den einzigen leeren Platz an der Wand zu betrachten, von dem der Kelim abgenommen worden war – ich wollte nur wissen, ob man bereits ein neues Bild aufgehängt hatte –, als sich dieser Mensch leise ins Zimmer schob, behutsam die Tür hinter sich ins Schloß drückte und mit einer flin­ken Bewegung, die er – wie ich voller Wut merkte – nur durch hartnäckige Übung gelernt haben konnte, in seinem Direktorensessel hinter dem schweren Mahagoni-Schreibtisch Platz nahm.

»Nein, nein, nein, nein!« rief er nach einer ganzen Weile mit vollkommener, wenn auch vielleicht etwas zu affek­tierter Diktion.

Ich nahm meine Tasche von den Knien, stand auf, erhob mich zu meiner ganzen Größe, verbeugte mich steif, ohne den Blick von der Decke zu nehmen, und ging auf Zehen­spitzen aus dem Raum.

»Es freut mich aufrichtig, feststellen zu dürfen, daß Sie trotz der Schwierigkeiten mit erhobener Stirn in die Zu­kunft gehen«, sagte der Mann lächelnd, huschte hinter mir her aus dem Zimmer, flitzte geschickt über den Gang und verschwand in einem gegenüberliegenden Saal. Der ganze Raum war voll von Schreibtischen und Stühlen aus hellem Fichtenholz, viele würdige Beamte saßen da und schwie­gen. ›Der Mann hätte mir unsympathisch sein müssen‹, dachte ich, und meine Hand glitt automatisch über das me­tallene Treppengeländer. ›Und doch sieht er recht nett aus.‹ Ich ging die Treppe hinunter und setzte nachdenklich hinzu: ›Offenbar, weil er entgegen der Gewohnheit kleiner Leute weder die Nase hoch trägt noch sich auf die Zehen stellt, um großen Menschen gegenüber wichtig auszuse­hen.‹

Erst als ich zwei Treppen tiefer anlangte, fiel mir ein, daß ich viel kleiner bin als er.

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Ein heißer Nachmittag

Josef Morton gewidmet

Die Sonne lag wie ein Knochen am nackten Himmel. Die brütende Luft stand wie eine Säule über der Erde. Auf der Fahrbahn löste sich langsam der Asphalt auf, es roch nach verbranntem Teer. Lautlos huschten die Ministerial-Limousinen darüber hinweg. Hinter ihnen kräuselte sich leichter Staub, der wie silbriges Rostpulver auf die Blätter fiel.

Zerlumpte Kinder liefen mit heiserem Geschrei über den festgestampften Platz. Sie spielten mit einem Ball aus Flicken und spuckten den Staub aus, der ihnen in der Keh­le saß. Die Anstrengung malte sich in ihren roten, erhitz­ten Gesichtern. Zwischen einem Haufen Kleider auf der einen und einer vom Blitz angeschlagenen Pappel auf der anderen Seite stand breitbeinig ein halbwüchsiger Junge im Tor, die Hände auf die Schenkel gestützt. Er hatte zer­kratzte Knie, aber das Blut war schon zu einer Kruste ge­trocknet.

Als ich über den versengten Rasen zu ihnen trat, war das aufregende Fußballspiel schon aus. Der Flickenball ging von Hand zu Hand, die Kinder stritten laut und ver­schwanden im Schatten. Der Torwart spuckte sich in die Hände und verrieb die Spucke auf den Knien, dann hob er die Kleider auf und ging den anderen nach.

»Unverschämtes Ding«, sagte er und blieb bei mir ste­hen. Seine Stimme hatte einen beleidigten Unterton, sein Kinn wies mit einer kurzen Geste zu der vertrockneten

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Grünhecke, die entlang der Ruine wuchs. Wilder Wein kletterte an den Mauerresten empor, wand sich um die Steinkrüge, kroch an den zerbrochenen Balkonen und Ga­lerien hinauf. Ganze Familien saßen im Schatten der Bäume im feuchten Gras. Halbnackte Männer lagen schwer schnaufend auf den ausgebreiteten Decken, sie wa­ren jung und sahen so weichlich aus wie gekochte Fische.

Neben ihnen, das Gesicht im Gras, lagen schlafend ihre Frauen zwischen zerknüllten Tüten, Zeitungen und Eier­schalen. Ein Stück weiter saßen in einem dichten Kreis ein paar Männer und spielten Karten. Sie hatten die Jacken ausgezogen, und ab und zu warfen sie einen Blick nach den spielenden Kindern, sonst aber ließen sie kein Auge von den bunten Karten, die sie in den Händen hielten. Die Kinder jagten einem roten Ball nach, lachend tobten sie zwischen den Gruppen der Erwachsenen.

Ganz abseits der Familien, direkt unter der brütenden Sonne, lag ein Mädchen allein im Gras. Außer dem groß­geblümten leichten Kleid hatte es nichts an. Der halboffe­ne Mund, das ganze Gesicht des Mädchens war durstig zur Sonne erhoben, die weißen Schenkel lagen breit und her­ausfordernd offen.

»Wirklich, ein unverschämtes Ding«, stimmte ich dem Bengel zu, nickte, legte ihm die Hand auf die Schulter und starrte – genau wie er – mit gierigen Augen das Mädchen an.

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»Zum tapferen Partisan«

Jarosław Iwaszkiewicz gewidmet

Die Tische und Bänke waren fest in den Boden gestemmt, dazwischen wuchsen schlanke, hohe Pappeln. Der Garten trug den stolzen Namen »Zum tapferen Partisan«. Die zar­ten Zweige der Pappeln zeichneten sich wie zitternde Fe­dern gegen den Himmel ab, der sich langsam verdunkelte. Kleine, rundliche Wolken zogen gemächlich zwischen den Baumwipfeln dahin, wie Eisschollen, die ein träger Strom treibt.

Eine Holzbude schmiegte sich dicht an die Mauer des Nachbarhauses. Sie stand in der Ecke des Gartens und be­herbergte das Büfett. Das Mädchen hinter der Theke hatte kunstvoll hochgekämmtes Haar, ein ängstliches Gesicht und ein tiefes, mit einem einfachen Medaillon schlicht garniertes Dekolleté. Die großen Hände waren rot und grob und hatten abgekaute Fingernägel. Der Kellner, des­sen große Glatze sich zugleich mit dem Himmel verdun­kelt hatte, trug einen Bleistift hinter dem Ohr und flitzte mit unnachahmlicher Grazie zwischen den Tischen, Bän­ken, Menschen und Pappeln hin und her. Hinter der Balu­strade aus grob behauenen Steinen drängten sich die Mäd­chen, denen das Geld fehlte, um den Eintritt zu bezahlen. Eine Kuh kam von der Weide zurück, ihre Hufe klapper­ten gemächlich auf den Pflastersteinen, das schwere Euter baumelte behaglich über der Straße.

»Ich sag dir doch, die Weiber sind bestimmt lesbisch«, sagte meine Frau nachdrücklich. Sie rauchte eine Zigarette

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nach der anderen und ließ keinen Blick von den tanzenden Paaren. Ich tanzte fast nie mit ihr, weil sie größer und schwerer war als ich.

»Lesbische Weiber in einer Provinzstadt? Wie rührend!« Ich lächelte ihr zu. »Noch ein Glas auf ihr Wohl!«

In einer grünen Muschel aus Pappe hockten die Musiker und plagten sich mit einem sentimentalen Tango ab. Sie waren in Hemdsärmeln, und ein verschwitzter, muffiger Geruch zog von ihnen herüber. Der Schatten in der Mu­schel ließ ihre Gestalten kaum noch erkennen, nur der letz­te Strahl der untergehenden Sonne, der sich auf der Wand des Nachbarhauses brach, schnitt scharf in das Gesicht des Harmonikaspielers, der seine Finger über die Tasten des Instruments gleiten ließ und den Kopf neigte, als lauschte er auf das Raunen der Menschenstimmen. Seine weit auf­gerissenen Augen waren – wie nicht zu erwarten – blind.

Die bunte Menge drehte und wand sich zu seinen Füßen wie kunterbuntes Spielzeug, das man aus einem Sack her­ausgeschüttelt hat. Ab und zu tauchte ein Paar auf, sonder­te sich von der wirbelnden Menge ab, tanzte zum Rand der Fläche und verschwand in den Sträuchern. Ein demobili­sierter Offizier hielt eine kleine Frau in den Armen, sie reichte ihm knapp an die Brust. Er trug eine schwarze Baskenmütze und steife Stiefel, deren Schäfte in halber Wadenhöhe endeten. Neben ihm tanzte ein junger Mann mit kurzgeschnittenem Haar. Er streckte den Arm weit aus, um sich seine Partnerin, eine etwas ältliche Dame, vom Leibe zu halten. Sie nahm es offenbar übel und ver­suchte immer wieder, wenn auch vergebens, sich eng an ihn zu schmiegen. Sie tanzten seitwärts zueinander, der Junge machte kleine, trippelnde Stepschritte.

Am schönsten von allen tanzten die zwei Lesbierinnen. Die als Frau gekleidete Frau trug ein rotes Kleid mit gro­ßen Herzen und grünen Kleeblättern, dazu rote Sandalen,

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ihr helles, glattes Haar fiel bis auf die Schultern herab, auf der Brust hatte sie eine herrliche, große Rose festgesteckt, ihre Augen waren leicht untermalt. Sie bog sich wie ein Blumenstiel in den Armen der anderen, als Mann verklei­deten Frau, folgte jedem auch noch so leichten Druck der Hand, die sie führte, jeder auch nur angedeuteten Umdre­hung, schmiegte sich selig in den sie umschlingenden Arm, ihre winzigen Füße folgten dicht den schwarzen Schuhen des Partners. In ihren Augen lag eine unaus­sprechliche Hingabe, zwischen ihren roten, feuchten Lip­pen schimmerten kleine, scharfe Zähne.

Die als Mann verkleidete Frau trug einen leichten, locker sitzenden Sakko, eine Fliege mit kleinen Punkten und eine Nelke im Knopfloch. Auch die breite Seemannshose konn­te die breiten, ausladenden Hüften nicht ganz verbergen. Die schmalen Schuhe waren zu klein, um Männerfüßen Platz zu geben. Das wellige, kurzgeschnittene Haar war hell, das Gesicht klar und fein geschnitten. Dieser Mann führte seine Partnerin sicher durch die Menge, nützte jede schmale Lücke, tanzte so gut und so beschwingt, als wären sie beide ganz allein auf der winzigen Tanzfläche, als gäbe es niemand anderen um sie herum. Er sah seiner Partnerin lächelnd in die Augen; als der Tanz vorbei war, drückte die kleine Frau seine Hand fest an ihre Brust. Eng anein­andergeschmiegt verließen sie das Parkett.

Im Garten war es inzwischen ganz dunkel geworden. Die Lichter schaukelten an langen Schnüren zwischen den Bäumen, leuchtende, goldene Kugeln. Lange, lautlose Schatten huschten über die Erde, die Pappeln zitterten lei­se im Wind, ihre Blätter hatten silbrige Rücken und dunk­le, schwarze Bäuche, der Himmel war tiefblau, fast schwarz. Der Schweißgeruch vermischte sich mit dem Duft der Linden, die drüben auf der anderen Straßenseite blühten. In der Pappmachémuschel entflammten Lichter.

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Auf der Tanzfläche wurde es noch enger, die Lampe warf einen schmalen Streifen Licht auf die tanzenden Paare, die aus der Dunkelheit auftauchten, durch den Lichtkegel wir­belten und auf der anderen Seite wieder ins Dunkel ver­sanken. Der Menge voran, wie auf dem Kamm einer Wel­le getragen, tanzten die zwei Lesbierinnen. Ganz plötzlich brach die als Mann verkleidete Frau den Tanz ab, ent­schuldigte sich mit einem verlegenen Lächeln bei der Partnerin, ging tiefer in den Garten hinein und blieb bei einer Pappel stehen, die ganz im Schatten versunken war.

Wir wollten unseren Augen nicht trauen. Erst als die Lesbierin zurück in den Lichtkreis trat, die Hand immer noch in jener charakteristisch männlichen Geste am Ho­senschlitz, mußten wir einsehen, daß es doch ein Mann war.

Tagebuch einer Reise … Faschist, du mein Todfeind

Adam Ważyk gewidmet

Wir verließen die Renaissance-Kathedrale und das Tizian-Triptychon, das wir hinter dem Altar entdeckten und das man wegen der Touristen etwas weiter von der Wand weggerückt hatte. Die berühmte Malerei war fast noch verstaubter als die dreckigen Fenster. Langsam schlender­ten wir hinüber zu dem städtischen Archiv, das im Rathaus untergebracht war, blätterten einige arabische, lateinische, türkische und slawische Dokumente durch, bewunderten die schweren Lacksiegel, die verschlungenen Initialen, hie

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und da sogar eine kunstvolle Zeichnung. Endlich waren wir wieder draußen und bummelten gemächlich über die Hauptstraße des alten Städtchens, vorbei an vielen Denk­mälern und ebenso vielen Kurgästen, die sich an dem Mit­telmeerherbst erfreuten. Es war wie bei uns im Sommer. Sonne und Regen hatten die großen Steinplatten, mit de­nen die Gehsteige gepflastert waren, gebleicht, die Straße führte von der geschützten Mole bis hinauf zum Stadttor, das die Ahnen auf einer Anhöhe über der Stadt erbaut hat­ten. Es war ein altes, von dicken, mittelalterlichen Mauern umgebenes Tor, darunter duckten sich die niedrigen, dicht aneinander gebauten Häuser der Altstadt. Die winkeligen, unglaublich engen Gassen waren so schmal, daß man nur die Arme auszustrecken brauchte, um beide Seiten zu­gleich berühren zu können. Es roch nach Suppe und nasser Wäsche, die auf langen Schnüren hing, welche quer über die Straße gespannt waren. Die Wäschestücke flatterten über den Köpfen der vielen Katzen und vieler schmutzi­ger, scheuer Kinder. Der neue Teil der Stadt säumte den gerade asphaltierten Boulevard und bestand hauptsächlich aus Pensionen, Hotels, ausladenden Palmen, Orangenhai­nen, Myrten, Zypressen und Pinien, wimmelte von dienst­eifrigen Kellnern, leichten Mädchen und Schuhputzern.

Beide Stadtteile lagen am Fuß des weißen Kalksand­steingebirges, dessen Hänge mit dünnen Agaven und ma­geren Zypressen bewachsen waren. Oben leuchteten dro­hend die weißen Festungen des kriegerischen Illyriens aus der napoleonischen Epoche, etwas tiefer hockten runde Bunkerkuppeln auf den dicken Stadtmauern – eine Erinne­rung an die hitlerische Epoche Kroatiens.

Zum Mittagessen war es noch zu früh, und so schlender­ten wir langsam weiter, vorbei an den Schaufenstern der Goldschmiede, bewunderten die Arbeiten aus getriebenem Silber und sahen hübschen Frauen nach, die wiegend über

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die Straße gingen, in unermeßlichem Stolz nur mit sich selbst beschäftigt. Sie kamen aus den umliegenden Dör­fern, diese schönsten Frauen des Südens in ihren schwarz­gewürfelten Röcken, das Ergebnis so manchen Liebesver­hältnisses der Bäuerinnen mit blaublütigen Touristen. So jedenfalls hatte uns der hiesige Cicerone belehrt, ein jun­ger Mann, der uns vom Gemeindeamt zugeteilt worden war. Es stimmte zwar, daß wir auf unserer Reise durch sechs Republiken bisher keine hübscheren Mädchen ge­troffen hatten; doch es muß auch gesagt werden, daß eini­ge dieser schönen Maiden leicht von der Syphilis entstellt waren.

Endlich erblickten wir eine einladende Bank, setzten uns auf den warmen Sandstein und sahen auf das offene Meer hinaus. Eine Flut von lichtem, smaragdenem Grün, ge­kräuselt von silbrigen Wellen, verlief sich vor unseren Fü­ßen, die heraneilenden Wogen brachen sich krachend an den Uferfelsen. Hinter uns ertönte das lustige Bimmeln ei­ner lächerlich kleinen Straßenbahn, die bergauf schnaufte, neben uns saß eine braungebrannte Frau in einem duftigen Sommerkleid mit großen Blumen, und bei ihr stand ein kleines Kind, das mit der roten Korallenkette spielte, die der Frau um den Hals hing. Vom Meer herüber wehte ein warmer Wind, der nach Algen roch, schreiende Möwen stießen vom Himmel direkt auf die Wellenkämme herun­ter und ließen sich treiben und schaukeln. Es war warm und still, die beste Jahreszeit für reifende Orangen.

»Steht etwas über uns in der Zeitung?« fragte ein Mit­glied der Delegation. »In Ljubljana hatten sie uns einen ganzen Artikel gewidmet.«

»Gehen wir essen, sonst kommen wir wieder zu spät«, mahnte ein anderes Mitglied brummig.

»Hören Sie doch auf mit Ihrem ewigen Essen«, sagte der erste. Er drehte sich um, als die Straßenbahn wieder klin­

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gelte. Diesmal ratterte sie den Berg hinunter. »Primitiv wie beim Zöllner Rousseau«, sagte er.

Ich blätterte die Zeitung durch, sah nach den kleineren Artikeln und den weniger wichtigen Meldungen. Auf den ersten Seiten fand ich natürlich nichts. Kein Wort über die Delegation. Erst auf Seite fünf – es war die »Borba« – entdeckte ich drei Bilder aus einer englischen Zeitung vom 11. November 1947. Auf dem ersten sah man ein kahles, steiniges Feld. Eine Reihe Soldaten in englischen Unifor­men stand seitlich zu der Kamera, die Waffe bei Fuß, so daß nur die weißen Manschetten und das Koppel des er­sten Soldaten erkenntlich waren und seine große Muni­tionstasche, die ihm über die Brust hing. Den Soldaten ge­genüber stand eine Gruppe Menschen, unter denen die Ge­sichter einer Frau und eines Mannes in gestreiftem Anzug etwas deutlicher waren.

Die zweite Aufnahme brachte ein »Detail« der ersten, den Mann und die Frau. Er war sehr jung und sehr hübsch, fast einen Kopf größer als die Frau. Er trug einen Pyjama, darüber hatte er eine Jacke angezogen, der Pyjamakragen war offen wie bei einem Sporthemd. Das kurze Haar war an den Seiten schon etwas gelichtet, eine beginnende Glatze. Er stand sehr aufrecht, die linke Hand hatte er zur Faust geballt, es war leicht zu erraten, daß er schmale, fest verschlossene Lippen und dicht zusammengezogene Brau­en hatte. Die Frau trug einen breiten Mantel und einen Schleier auf dem Kopf (farbig, wenn man sich auf das Bild verlassen konnte), der das modisch frisierte Haar fest zusammenhielt. Sie hielt den Kopf leicht geneigt, an ihrem Hals hing ein kleines Kreuz, es konnte aber auch ein Tüp­felchen Druckerschwärze sein. Sie stand auf dem linken Bein, das rechte war im Knie gelockert, wie bei einem Menschen, den das lange Stehen ermüdet hat. Ihr Mund war verzogen, sie sah aus, als ob sie fröre. Die rechte

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Hand des Mannes und die linke Hand der Frau waren un­natürlich vom Körper entfernt, weil sie zusammen­gefesselt waren. Die Frau war fünfundzwanzig und hieß Jeftimija Paza, der Mann Vaskekis. Er war Lehrer und hat­te keine Zeit mehr gehabt, sich richtig anzuziehen.

Auf dem dritten Bild stand einer der Soldaten in engli­scher Uniform mit weit gespreizten Beinen über Leichen gebeugt. Der Text unter den Bildern besagte, dies seien griechische Faschisten, die Verdächtige erschossen hätten, und der Soldat auf dem dritten Bild sei einer vom Exeku­tionskommando, der nach der Exekution die Leichen mit dem Absatz umdrehe und denen, die noch nicht ganz tot waren, den letzten Rest besorge.

»Nein, nichts über uns«, sagte ich schließlich. »Nur, daß ich heute fünfundzwanzig geworden bin. Geht aus dem Datum hervor. Die Zeitung ist von gestern.«

»Wie interessant«, sagte ein Mitglied der Delegation ironisch.

»Gehen wir endlich essen«, meldete sich das zweite Mitglied erneut. Sein rötliches Bärtchen war seit einem Monat nicht mehr gestutzt worden, es hing über die Ober­lippe fast bis in den Mund, und der Delegierte schnappte immer wieder danach.

Wir erhoben uns und marschierten mit festen, energi­schen Schritten zum Hotel.

Man reichte uns: Hors d’œuvres variés und caviar de Cladave nach Wahl,

crème de volaille, dindonneau rôti, charlotte russe und dingać, und turska kafe.

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Ein bürgerlicher Abend

Dem geehrten Herrn Stanisław Dygat gewidmet

Meine Leidenschaft sind Bücher, Düfte und Gedanken, al­so etwas infantile, erotisch angehauchte Träume vorm Einschlafen. Abends, wenn ich beide Fenster aufmache, um den betörenden Duft der Linden hereinzulassen, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite blühen, wenn ich mich aufs Bett lege – ohne das Licht zu löschen –, oder besser gesagt auf die Couch, auf das raschelnde, gestärkte Bettuch, verschränke ich die Hände unter dem Kopf, schließe die Augen zu zwei schmalen Schlitzen, durch die ich die flüsternde Dunkelheit beobachten kann, und fange an zu träumen.

Im Krieg habe ich einiges erlebt, und ich erzähle meinen Bekannten mit geziemendem Stolz, daß ich an einem ein­zigen Tag achtundzwanzig nackte Frauen, in einem Jahr mehr als eine Million Menschen gesehen habe – beiderlei Geschlechts und jeden Alters –, und alle gingen ins Gas. Ab und zu bilde ich mir ein, daß mich diese Menschen verfolgen, daß ich zum Beispiel noch heute das Geschrei dieser Menschen höre, das Jammern der Kinder und das feige, kriecherische Schweigen der Männer, manchmal rieche ich fast greifbar nahe das faulende Blut der Frauen, das sich mit ihrem Schweiß vermischt – oder den nassen, fetten Gestank der brennenden Leichen. Ich muß aller­dings zugeben, daß ich niemals – wenn ich nachdenke, vor allem beim Schlafengehen – geneigt bin, mich weiter mit dieser Materie abzugeben. Gewöhnlich ist es so, daß ich

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gelangweilt in die zitternden Schatten der Dunkelheit star­re, daß ich zusehe, wie das Dunkel auf der Zimmerdecke tanzt, und daß ich dann die Augen fest schließe. Sofort er­scheinen bunte geometrische Figuren, die sich wie in ei­nem Kaleidoskop unter meinen gesenkten Lidern abwech­seln, ich sehe Vierecke, Kreise, Lichtflecken, Punkte und Geraden, bewegliche Pfeile, die zu meinen Augenbrauen hinaufschießen, sich verkleinern oder vergrößern, sich tei­len oder begegnen, verbinden und schließlich in meinem Hinterkopf verschwinden. An ihrer Stelle tauchen sofort neue geometrische Figuren von unten auf, und das ganze Spiel fängt wieder von vorn an. Doch das alles interessiertmich nur am Rande, denn das ist nur der Übergang zu meinen eigentlichen Gedanken.

Ich denke hauptsächlich an Frauen. An wirklich existie­rende Frauen und an nicht existente Frauen, mit denen ich – verständlich – ungeahnte Emotionen, nie dagewe­sene Abenteuer und ungeheuere Lust erlebe. Während des Krieges, als ich noch viel jünger war, dachte ich an Mädchen, die gleichaltrig mit mir waren. Sie erschienen mir unsagbar schön und vollkommen. Damals wußte ich nicht, wie häßlich spitze Knie sind, wie scheußlich dünne Beine aussehen, schmale, eckige Hüften und kleine, spit­ze Brüste. Erst heute habe ich begriffen, daß ein be­stimmtes gleichaltriges Mädchen, mit dem zusammen ich zum erstenmal versuchte, die Geheimnisse der Liebe zu ergründen (und heute noch denke ich mit einer gewissen Sentimentalität an dieses Mädchen), zwar willig und hin­gebungsvoll, in Wirklichkeit aber hart wie Eichenrinde war.

Jetzt, nachdem ich die Scheu der ersten Jugend überwun­den habe, sitze ich abends und denke an reife, erfahrene und mutige Frauen. Ich mag nicht mehr von Mädchen träumen, denen ich die Geheimnisse der Liebe erst bei­

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bringen müßte. Wahrscheinlich kommt es hauptsächlich daher, daß ich selbst ängstlich und ungeschickt bin, daß ich immer wieder auf neue Schwierigkeiten stoße.

Jeder, der annehmen sollte, daß meine Träume und Ge­danken direkt dem Kulminationspunkt zusteuern, würde sich sehr täuschen. Ganz im Gegenteil: ich baue zunächst einmal eine ganze Geschichte, ersinne Intrigen, die teil­weise an Partien aus Büchern erinnern, welche ich gelesen habe und manchmal auf meinen Regalen ordne. Ich erfin­de abgeschlossene, runde Geschichten, die aber nur ganz flüchtig skizziert sind – nur ganz bestimmte, herausgegrif­fene Bilder und Szenen durchdenke ich in allen Einzelhei­ten. Die Übergänge zwischen den einzelnen Szenen deute ich oft nur mit einem Satz an. Schnell zeichne ich die Cha­raktere, stecke die Konflikte ab, nehme – je nachdem – heldenhafte, edelmütige oder niederträchtige Züge an, bis mein Körper zu der endgültigen Komposition paßt, dann bestimme ich mit ein paar filmischen Tricks den Rahmen der Handlung, die aus Zeitersparnis nur aus einigen Grundelementen besteht, welche ich tagsüber gesehen hat­te – Gegenstände, Ereignisse und Gestalten, an die ich mich erinnere –, aber wenn ich die ganze Handlung auch schnell abrollen lasse, wie man die Seiten eines spannen­den Reißers umblättert, den Wettlauf mit der Zeit schaffe ich doch nie.

Obwohl ich mir die Ohren zugestopft habe, höre ich, daß das Rauschen im Bad verebbt ist. Dann schlagen die Türen zu, zuerst die Badezimmertür, dann die andere, ich höre das leise Klatschen der Pantoffeln auf dem Fußboden, das verstohlene Rascheln des Seidenpyjamas. Wenn die Nachtlampe ausgeknipst ist, hebt sich die Decke, und die Federn der Couch stöhnen leise auf. In diesem Augenblick öffne ich die Augen und starre in die Dunkelheit, noch et­was unwillig darüber, daß meine Gedanken gerade vor

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dem Höhepunkt der Handlung unterbrochen wurden. Doch dann drehe ich mich energisch um und – nehme meine junge Frau in die Arme.

Der Besuch

Ich ging durch die Nacht, als fünfter in der Reihe. Die bräunliche Flamme der brennenden Menschen zitterte mit­ten am violetten Himmel.

Meine Augen waren weit aufgerissen, das Blut tropfte aus der Stichwunde in meinem Schenkel – dort hatte mich das Bajonett getroffen –, bei jedem Schritt spürte ich das warme Blut und den dumpfen, ziehenden Schmerz, der mich lähmte. Hinter mir hörte ich das schnelle Stampfen der Männerfüße und dazwischen das ängstliche, eilige Trippeln der Frauen (zwischen ihnen ging auch das Mäd­chen, das einmal mein Mädchen gewesen war) –, ich ver­mag von alledem nichts anderes zu sagen als das, was meine weit aufgerissenen Augen sahen.

Ich sah einen Mann in dieser Nacht, der aus dem über­füllten Viehwaggon, in dem es keine Luft mehr gab, auf den Schotter der Rampe hinaustorkelte, in einem tiefen Zug die kalte, eisige Dunkelheit einatmete, wie er dann zu einem anderen Mann hinüberwankte, den Arm um dessen Hals schlang und ihm zuflüsterte: »Bruder, Bru­der …«

Ein anderer, man hatte ihn im Kampf um die Luft ganz nahe an der Tür niedergewälzt, und er lag begraben unter einem ganzen Haufen dampfender Körper, stieß plötzlich mit voller Kraft mit dem Fuß nach dem Dieb, der sich über ihn beugte und ihm, dem Toten, die fast neuen Offiziers­

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stiefel abziehen wollte, die er doch – der Tote – nicht mehr brauchen konnte.

Danach sah ich, viele Tage lang, wie Männer über ihren Schaufeln, Spaten und Loren weinten. Wie sie Zement­säcke schleppten, Schienen und Betonpfeiler hoben, wie sie sorgfältig die Erde stampften, die Seitenwände der Gruben glätteten, wie sie Baracken bauten, Wachttürme und Krematorien errichteten. Wie sie die Krätze plagte, Phlegmonen und Typhus und Hunger. Ich sah auch ande­re, die Brillanten und Uhren und Gold sammelten und sie aus Geiz vergruben. Noch andere bemühten sich, aus Sno­bismus möglichst viele Menschen umzubringen und mög­lichst viele Frauen zu haben.

Ach ja, und Frauen habe ich gesehen, solche, die Balken trugen, Wagen schoben und bei der Trockenlegung der Sümpfe mithalfen. Und andere, die sich für ein Stück Brot hergaben. Frauen, die sich ihren Geliebten kauften – mit Seidenhemden, mit Gold und mit Schmuckstücken, die man zuvor den Toten geraubt hatte. Und ein Mädchen ha­be ich gesehen (früher einmal war es mein Mädchen ge­wesen), mit kahlem Kopf und mit Geschwüren bedeckt, aber das ist schon meine Sache.

Alle, die wegen Krätze, Phlegmonen oder Typhus ins Gas gingen – oder einfach deswegen, weil sie zu arm wa­ren –, baten die Pfleger (die sie auf die großen Krematori­enautos hinauf hoben), die Augen zu öffnen und nicht zu vergessen. Und allen denen die Wahrheit über den Men­schen zu sagen, die sie selbst nicht erkannt hatten.

Ich blicke durch ein vom wilden Wein umrahmtes Fen­ster, hinter dem ein bis zum Himmel ausgebranntes Haus steht – daneben die Trümmer eines altertümlichen Tors und eine unbeschädigte Amphora auf einer halb einge­stürzten Säule, dahinter gibt es nur noch die banalen, duf­tenden, blühenden Linden und noch weiter dahinter den

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blassen Himmel, der sich über dem Horizont der Ruinen neigt. Sie leuchten drüben, auf dem anderen Flußufer.

Ich sitze da, in einem fremden Zimmer, unter Büchern, die nicht meine Bücher sind, schreibe von Frauen und Männern und vom Himmel, von allem, was ich gesehen habe. Und denke daran, daß ich alle anderen sah, nur mich selbst, mich habe ich nie gesehen. Ein gewisser Dichter der symbolistisch-realistischen Schule behauptet, ich hätte den Lagerkomplex.

Nun denn. Nach einer Weile werde ich die Feder aus den Händen legen, und dann werde ich mir überlegen, wen ich heute besuchen sollte: den Mann mit den Offiziersstiefeln – er arbeitet als Ingenieur in den Städtischen Elektrizitäts­werken – oder den Inhaber eines gutgehenden Nachtclubs, der mir damals zugeflüstert hatte: »Bruder, Bruder …«?

Die anderen werden auch besucht – von denjenigen, die fleißig die Erde umgraben, jene Erde, die sich längst mit der Asche der verbrannten Menschen vermischt hat. Sie suchen darin nach verlorenem Gold …

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DIE UNVOLLSTÄNDIGE RECHNUNG DES TADEUSZ BOROWSKI Nachwort von Andrzej Wirth

Stimmt, ich könnte auch lügen, mich der uralten Mittel bedienen, die der Literatur gegeben sind, wenn sie sich den Anschein geben will, die Wahr­heit zu sagen; aber dazu fehlt mir die Phantasie.

(Borowski, Faschisten)

»… auf Tatsachen beschränkt, also nicht vollzählig, er­scheint die Rechnung des Tadeusz Borowski etwa so: Ein paar Erzählungen, die die Chance haben, so lange zu le­ben, wie die polnische Literatur existiert, dazu ein ganzer Friedhof zerschlagener Illusionen und Hoffnungen.« Die­sen Satz schrieb im Jahre 1958 Jerzy Andrzejewski. Aus der Perspektive der gut zehn Jahre, die uns vom Tode Bo­rowskis trennen, neigen wir heute dazu, sein Werk in der Kategorie der unvollständigen Aufzählung von Tatsachen zu sehen. Diese Betrachtungsweise erscheint sogar natür­lich.

Die Illusionen und Hoffnungen, die den Schriftsteller bewegten, wurden zum Element seiner tragischen Biogra­phie, überschatten jedoch nicht seine literarische Intention.

Und jene schreckliche Wirklichkeit, die er beschreibt, wurde langsam Geschichte.

Der historische Aspekt wird in dem Augenblick erkenn­bar, da wir beginnen, das Erbe Borowskis als »märtyrolo­

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gische Literatur« zu sehen. Dieser Begriff ist zwar unzu­reichend, läßt aber zumindest in groben Zügen ahnen, worum es geht. Immer häufiger wird jene Literatur so ge­nannt, welche Verbrechen gegen die Menschlichkeit zum Thema hat. Die Historiker behaupten, daß die Verbrechen unserer Gegenwart in ihrer Raffiniertheit und ihrer Treff­sicherheit alles bisher Dagewesene, was uns die Vergan­genheit zu berichten vermag, in den Schatten stellen.

Wenn dem so ist – und das ist fraglos der Fall –, dann muß man sich damit abfinden, daß neue Verbrechen neue Literatur fordern. Das Schema der Tragödie, auf der Be­ziehung Kreon–Antigone beruhend, erscheint angesichts des Phänomens der Massenvernichtung in Auschwitz ebenso ungeeignet wie die Tragik der Shakespeareschen »breiten Treppe«, über die, umgeben von dynastischen Morden, die Historia schreitet.

Der eigenständige, in jedem Werk Borowskis erkennbare Grundton beruht auf einer neuen Konzeption der Tragik, die Borowski entwickelt hat. Sie hat nichts mit der klassi­schen Konzeption gemein, die von der Notwendigkeit der Entscheidung zwischen zwei Wertsystemen ausgeht.

Der Held in Borowskis Erzählungen ist ein Held ohne Alternative. Er befindet sich in jener Situation, in der es keine Wahl mehr gibt; denn jede Wahl ist gleichbedeutend mit Untergang. Zwar bleibt in solcher Situation noch die Wahl zwischen Heiligtum und Verbrechen. Aber weil wir eigentlich von niemandem verlangen können, ein Heiliger zu werden oder ein Verbrecher, ist diese Alternative un­menschlich und kann nicht in Betracht gezogen werden.

Borowski will als Künstler die objektive Tragik definie­ren, die aus der Situation, nicht aber aus der Größe des Charakters resultiert. Solche Tragik läßt keine Chance für die Reinigung des Helden durch Leiden (Katharsis).

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In der Erzählung Der Knabe mit der Bibel führt der Zu­fall eine Handvoll Menschen in einer Zelle zusammen. Al­le warten sie auf den Tod. Aber es gibt nicht einmal die Solidarität des gemeinsamen Sterbens. Jeder von ihnen ist allein: allein im Angesicht des Todes und allein seinen zu­fälligen Gefährten gegenüber. Nicht einmal die Sache, für die er stirbt, kann beim Namen genannt werden. Weder vor dem Feind noch vor dessen Opfern. Der Setzer aus der Faßbändergasse stirbt nicht anders als der, welcher in »ei­ner Untergrunddruckerei eine Ottomane kaufte«.

Im Tod eines Aufständischen (der in der vorliegenden Auswahl nicht enthalten ist) bittet ein verhungernder Mensch seinen Mitgefangenen um eine Zuckerrübe. Er wird sterben, wenn er seine Rübe nicht bekommt, er wird aber auch sterben – sogar schneller noch –, wenn er sie bekommt, weil er sich daran den Magen verdirbt. Es ist also eine schlechte Tat, ihm die Hilfe zu versagen, aber nicht weniger schlecht, ihm zu helfen. Borowski zeigt die noch schlechtere Variante: die Zuckerrübe wird an einen Greis verkauft, gegen das letzte Stück Brot eingetauscht.

Der Versuch, die Vernichtung von Menschen nach dem traditionellen Schema der Tragik zu beschreiben, muß scheitern. Die Vermassung des tragischen Geschehens macht es unmöglich, exemplarisch zu demonstrieren. Der Tod in der Gaskammer ist tragisch, ganz gleich, ob ein Genius oder ein Durchschnittsmensch das Opfer ist. Die tragische Situation ist angesichts des Mechanismus der Verbrechen zwangsläufig immer dieselbe. Zu der Entindi­vidualisierung des Helden gesellt sich die Entindividuali­sierung der Situation. Unmöglich, sich dieses Verhältnis noch an dem klassischen Modell vorzustellen. Nicht nur, weil es keinen »einmaligen« Mörder und kein »einmali-ges« Opfer mehr gibt, sondern auch, weil die Beziehung zwischen dem Mörder und seinem Opfer der Anonymität

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anheimgefallen ist. Der Pauschalbegriff »faschistisches Verbrechersystem« zeigt deutlich, wie schwer es ist, diese Erscheinung mit Einzelkategorien zu definieren; er be­zeichnet die Anonymität der mordenden Instanz, am Ende steht die Maschine. Der Mord selbst resultiert aus einer Unzahl von Teilentscheidungen, getroffen von einer Un­zahl von Menschen, die weder eine Gefühls-, geschweige denn Gedankenbeziehung zum Gegenstand des Mordes haben. Wo fängt hier die Ursache an, wo beginnt die Wir­kung? Was ist hier freiwillige Handlung, was wird unter Zwang getan? Was geschieht bewußt, was unbewußt? Ein Abgrund von Fragen, die der »Nürnberger Prozeß« ange­schnitten und der Jerusalemer Prozeß uns noch einmal dramatisch vor Augen geführt hat.

Im Rahmen des »verbrecherischen Systems« relativieren sich sogar die Begriffe »Mörder« und »Opfer«. Vor allem dann, wenn das System seine Opfer zu Mördern macht. Die »Kapos« in den KZ’s verdeutlichen diese Relativität.

Der Massenmord – die spezifische Erfahrung unserer Epoche – ist für den Schriftsteller ein Thema, das ihn zu einer Revision seiner künstlerischen Mittel zwingt. Wirk­liche Tragik wird nicht automatisch zu künstlerischer Tra­gik. Mithin war die Frage, die sich auch Borowski stellen mußte: Wie soll man den Tod von Millionen in der Litera­tur tragisch darstellen? Die Antwort, die seine Auschwit­zer Erzählung gibt, bedarf der Analyse, denn sie ist für die zeitgenössische Literatur von entscheidender Bedeutung.

Borowski machte weder die Mörder noch die Opfer zu seinen Helden. Die erste Eventualität hätte notwendiger­weise erfordert, den Helden mit einer ganzen Reihe positi­ver Eigenschaften und Merkmale auszustatten, die – nach­dem sie von der Übermacht vernichtet wurden – das Ge­fühl der Tragik hervorrufen. Borowski begreift, daß diese Lösung der gegenwärtigen Situation – als zu sentimental –

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nicht gerecht wird. Die zweite Eventualität führt, auch notwendigerweise, zur Dämonisierung eines Mörders.

Das typische Merkmal der Morde im Lager-System ist aber nicht das grelle Schillern des Mörders, sondern, im Gegenteil, sein Sich-verstecken hinter der Situation, die das System geschaffen hat. Die bahnbrechende Leistung Borowskis besteht mit darin, daß er einen seiner Thematik optimal angemessenen Standpunkt findet und aus der Per­spektive eines Dritten schreibt, der eindeutig weder Mör­der noch Opfer ist. Dieser Dritte ist der »Kapo«, eine Fi­gur, deren Moral die des Vermittlers zwischen dem Hen­ker und seinem Opfer ist. Auf diese Weise überwindet Bo­rowski das traditionelle Schema der Tragödie, den Dua­lismus zwischen Mörder und Opfer, verschiebt er den Ak­zent seiner Anklage von dem nicht greifbaren Mörder auf das faschistische System, das seine Opfer in den Rinnstein zerrt, der sich zum Mord hin neigt. Dieses System kann jedoch kein Schicksal im klassischen Sinn sein, da es das nicht aus sich heraus ist. Es hängt seinerseits wiederum von einem anderen System ab, das Quelle und Definition des Mordes, als eine von einem einzelnen geplante und ausgeführte Aktion, in Frage stellt und beseitigt. Unab­wendbar hingegen ist die Situation, zu der es nach festen, sich stets gleichbleibenden Regeln kommt, die nicht »das Schicksal« schlechthin sind, sondern »das Schicksal des Systems«. Es ist eine Situation, deren Automatismus alle Werte nivelliert. Das ist die Überlegung, aus der Borowski seine Tragik ableitet.

In der Erzählung Der Knabe mit der Bibel wird der Kri­minalbeamte Matula zum Opfer der Gestapo, weil er hohe Stiefel und einen Ledermantel trägt und, als Gestapomann verkleidet, bei den Bauern Schweine requiriert. In seiner Zelle betet ein anderer Häftling, sein Vater möge sich be­reitfinden, Spitzel zu werden, weil er für sich darin die

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einzige Rettung vor dem Tode sieht. »Gebe Gott, er würde es. Das wäre gut.«

In Ein Tag in Harmence ist ein Vorarbeiter der Erzähler, ein Opfer, das zu Mittäterschaft und Mord verführt wird und dies geschickt ausnutzt. In Bitte, die Herrschaften zum Gas! kehrt immer wieder der Vergleich zwischen der Welt der Opfer des Faschismus und der Welt der Insekten wie­der: Zyklon eignet sich hervorragend zur Vernichtung von Läusen in Menschenkleidern und von Menschen in Gas­kammern »… Das Lager ist hermetisch abgeschlossen, … keine Laus und kein Mensch durften das Tor passieren.«

Die Kiefer der Griechen, die im Lager eingesperrt sind, »… mahlen gierig und unentwegt. Wie große, häßliche In­sekten …« Die Menschen sind unmenschlich, blaß, oder sie verkörpern überhaupt keine Werte – und wenn es doch geschieht, dann sind es nur negative Eigenschaften, die sie haben: Angst, Feigheit, die Bereitschaft, mit dem Mörder gemeinsame Sache zu machen. Der Mord selbst vollzieht sich automatisch, unpersönlich, nach Etappen, an denen die Opfer selbst einen ebenso unpersönlichen Anteil neh­men: »Noch bevor sie Zeit haben, sich an die frische Luft und das ungewohnte Grün zu gewöhnen, noch bevor sie zu sich kommen, reißt man ihnen alles aus den Händen, zieht man ihnen die Mäntel aus, nimmt den Frauen Taschen und Schirme ab. ›Ach bitte, lassen Sie mir doch meinen Son­nenschirm! Mein Herz! Ich kann nicht …‹ – ›Verboten!‹ zischt man scharf durch die Zähne. Hinter uns … steht ein SS-Mann. Ruhig und beherrscht schaut er zu.«

In Bei uns in Auschwitz, der einzigen Erzählung, in der sich unmittelbar eigenes Erleben spiegelt, wird gesagt: »Wir sind gefühllos wie Bäume und Steine. Und wir schweigen wie gefällte Bäume, wie zerschlagene Steine … Man hat uns nicht gelehrt, die Hoffnungen aufzugeben. Deswegen sterben wir im Gas.«

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Auf der einen Seite also stumpfte Gleichgültigkeit, selbst im Augenblick des Todes, der unentrinnbar ist, auf der an­deren jenes zwiespältige Zusammenleben des Mörders mit dem Opfer im Lager: »Arm in Arm« mit der Bestie wie in Bei uns in Auschwitz.

Während Borowski auf eigenartige Weise die Nivellie­rung der Werte demonstriert, nimmt er den Opfern des Lagers den Schein der Erhabenheit sogar im Augenblick des Todes. In der Erzählung Und sie gingen lesen wir: »Der SS-Mann deutet auf den sich entfernenden Haufen. Der Alte nickt, zieht sich die Hose hoch und läuft mit ko­mischen Sprüngen der Gruppe nach. Man lächelt amüsiert, wenn man sieht, wie eilig es ein Mensch haben kann, in die Gaskammer zu kommen.«

Die neue Konzeption der Tragik, wie wir sie dargelegt ha­ben, bedingt einen Unterton scheinbaren Zynismus’, morali­scher Indifferenz, unbesiegbarer »moral insanity«, durch de­ren Prisma der Erzähler die Wirklichkeit des Lagers sieht.

Dieser Erzähler weist in den Auschwitzer Erzählungen stets die gleichen Merkmale auf: Er ist das Opfer, das sich an den Morden beteiligt, dem es aber gelungen ist, in dem Vernichtungssystem eine relativ günstige Position zu fin­den: er ist der Vermittler zwischen Opfer und Henker und fühlt sich in dieser Rolle ausgesprochen wohl. In Ein Tag in Harmence und in Bitte, die Herrschaften zum Gas! ist der Erzähler ein Vorarbeiter, der in einem halb verhun­gernden Lager über sich selbst sagt: »Es arbeitet sich gut, wenn man zum Frühstück ein ganzes Viertel Speck ver­schlungen, mit Knoblauch gewürzt und mit einer ganzen Dose Kondensmilch nachgespült hat.« In der Erzählung Und sie gingen betont er immer wieder seine besondere Stellung im Vernichtungssystem: »Als ich mich zum Mit­tagessen hinsetzte – das besser war als jemals zu Hause –, gingen sie. Den einen und den anderen Weg.«

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Das ist die Perspektive, aus welcher der Erzähler die Gruppe Menschen beobachtet, die zum Krematorium zieht. In Tod eines Aufständischen verdankt der Erzähler seine Stellung im Lager seiner Geschicklichkeit und sei­nem Grips, beides Eigenschaften, die er im Kampf ums Leben entwickelt hatte. Sie geben ihm die Distanz zu den anderen Opfern des Lagers, auf die er ohne Mitgefühl, mit gleichgültiger Verachtung, herabsieht.

Dieser unerwartete »Effekt der Distanz«, in dessen Licht Borowski die Lager-Wirklichkeit zeigt, ist bedingt durch die Position des Erzählers zwischen Opfer und Mörder: Er hat die Relativierung der unvorstellbaren Verbrechen zur Folge, so daß sie schließlich wie ein beinahe selbstver­ständliches Naturereignis erscheinen. »Ein Tag nach dem andern verging, einer glich dem andern. Und die Men­schen stiegen aus und gingen – den einen und den anderen Weg … Lange Nächte lösten die Tage ab, auf Trockenheit folgte der Regen.« Auch dieser große Satz findet sich: »Ich kehrte mit dem Ball zurück und warf ihn ins Spiel. Eine Ecke. Zwischen zwei Eckbällen hatte man hinter meinem Rücken dreitausend Menschen vergast« (aus: Und sie gingen). Das Verbrechen wirkt so erschütternd auf den Leser, weil es der Erzähler, der im Lager Fußball spielt, gar nicht bemerkt, es ihm gleichgültig scheint, und weil etwas so Unnatürliches wie ein fast natürlicher Vorgang dargestellt wird.

In Abschied von Maria entsteht der Effekt der Distanz dadurch, daß geschildert wird, wie sehr die Okkupation Mensch und Ereignis verändert hat. Ein Warenlager in der Vorstadt erlebt ein Hochzeitsfest; eine Schule wird zum Gefängnis; ein Mensch zur Ware; der Chef einer Baufirma handelt mit Gold; ein Dichter ist Lagerverwalter.

»In dunklen Nächten hoben die Polizisten ihre Handels­ware aus den Fenstern der Schule über die Mauer, und die

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Ware verschwand im Handumdrehen in den dunkelsten Winkeln der Gasse oder kletterte mit unmenschlicher An­strengung über den Stacheldraht in unseren Hof. Da mußte sie bis zum andern Morgen warten, weil unser Büro nachts immer abgeschlossen war. Meistens waren es Mädchen.«

Zu der Verwandlung des Menschen zum Gegenstand ge­sellt sich die Nivellierung menschlicher Werte oder ihre Umgestaltung in deren direkten Gegensatz. In Abschied von Maria findet sich ein charakteristisches Beispiel die­ser Dialektik: »›Sie geht zurück ins Getto. Ihre Tochter und deren Mann können nicht mehr heraus.‹ – ›Na ja‹, sagte der Krämer mit Überzeugung. ›Stirbt wenigstens mit ihr wie ein Mensch …‹ Er seufzte und starrte in die Gas­se.«

In Ein Tag in Harmence heißt es: »Den Vorarbeitern stehen von Amts wegen zwei Schüsseln Kartoffelsuppe mit Fleisch zu, ganz tief aus dem Kessel geschöpft. Mit der Schüssel in der Hand blicke ich unschlüssig um mich. Ich spüre, wie mich jemand durchdringend ansieht. In der ersten Reihe sitzt Beker, seine vorstehenden Augen hän­gen an der Schüssel in meiner Hand. ›Hier, iß, hoffentlich wird dir schlecht davon.‹«

In einer unmenschlichen Situation ist kein Platz für menschliche Reaktionen: auf die einfachste Formel ge­bracht – Mitgefühl wäre Zustimmung zum Mord – eine mörderische Geste. Diese Beobachtung gleicht einer Ent­deckung.

Das Werk Borowskis ist Ausdruck eines Willens, Zeug­nis abzugeben von dem unglaublichen Leid, das im zwan­zigsten Jahrhundert Menschen von Menschen bereitet wurde.

Die Einmaligkeit von Borowskis Werk liegt darin, daß es auch tatsächlich Zeugnis abgibt. Dazu gehörte nicht nur

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Mut im Menschlichen, auch Mut im Künstlerischen. Und außerdem künstlerischer Erfindungsgeist. Borowski hatte beides. Er schuf einen neuen Kanon der Tragödie: Tragik ohne Alternative, ohne Wahl, ohne konkurrierende Werte.

Er zeigte das Modell einer Situation, die in sich selbst tragisch ist, einer Situation, wie sie von einem System ge­schaffen wurde, das dem Menschen die Möglichkeit nahm, Mensch zu sein.

Borowski brachte den Mut auf, das zu sagen und auch zu vertreten. Er fand eine Formel, wonach der Unterschied zwischen dem Henker und seinem Opfer relativ wird, wenn eine bestimmte Grenze der Unmenschlichkeit über­schritten ist. Mord bedingt neuen Mord.

»Ein paar Tage lang wird das Lager von diesem Trans­port leben, wird seine Schinken und seine Würste essen, seinen Schnaps und seine Liköre trinken, seine Wäsche tragen und mit seinem Geld und seinen Schmucksachen handeln. Eine ganze Menge Dinge befördern die Zivilisten aus dem Lager. Nach Schlesien, nach Krakau, vielleicht noch weiter. Dafür bringen sie Zigaretten, Eier, Schnaps und Briefe von zu Hause.« (Bitte, die Herrschaften zum Gas!) Die Wahrheit über den Massentod im zwanzigsten Jahrhundert verlangt genauso den Verzicht auf die Dämo­nisierung der Mörder wie auf die Apotheose der Opfer. Die Anklage gilt der unmenschlichen Situation, die das fa­schistische System bewirkte.

»Ich wollte aufschreiben, was ich erlebt habe, aber wer auf der Welt wird einem Schreiber glauben, der eine un­bekannte Sprache spricht? Das ist, als wollte ich Bäume und Steine überzeugen.« Borowskis Befürchtung war un­begründet. Seine Wahrheit ist eine Entdeckung – gewiß, eine überraschende –, aber eine Entdeckung, die im Na­men der Weltliteratur gemacht wurde und auch dorthin gehört.

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