Süskind Patrick Die Geschichte Von Herrn Sommer(BookSee.org)

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Patrick Süskind Die Geschichte von Herrn Sommer Mit Bildern von Sempé Diogenes

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NOVELLE

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  • Patrick Sskind

    Die Geschichte von Herrn Sommer Mit Bildern von

    Semp

    Diogenes

  • Patrick Sskind Die Geschichte

    von Herrn Sommer

    Mit Bildern von

    Semp

    Diogenes

    Digitalisiert von >faultier<

    (02.11.2002)

  • Die Erstausgabe erschien 1991 im Diogenes Verlag

    Rechte fur die Bilder von Jean-Jacques Semp bei ditions Gallimard Paris

    Rechte fr den Text von Patrick Sskind beim Diogenes Verlag Zrich

    Alle internationalen Rechte beim Diogenes Verlag Zrich

    Verffentlicht als Diogenes Taschenbuch, 1994 Alle Rechte vorbehalten

    Copyright 1991 Diogenes Verlag AG Zrich

    150/95/14/3 ISBN 3 257 22664 0

  • Z u der Zeit, als ich noch auf Bume kletterte lang, lang ists her, viele Jahre und Jahrzehnte, ich ma nur wenig ber einen Meter, hatte Schuh- gre achtundzwanzig und war so leicht, da ich fliegen konnte nein, das ist nicht gelogen, ich konnte wirklich fliegen damals oder wenigstens fast, oder sagen wir besser: es htte seinerzeit tat- schlich in meiner Macht gelegen zu fliegen, wenn ich es nur wirklich ganz fest gewollt und richtig versucht htte, denn... denn ich erinnere mich genau, da ich einmal um ein Haar geflogen wre, und zwar war das im Herbst, in meinem ersten Schuljahr, als ich von der Schule nach Hause ging und ein dermaen starker Wind blies, da ich mich, ohne die Arme auszubreiten, so schrg wie ein Skispringer gegen ihn anlehnen konnte, schr- ger noch, ohne umzufallen... und als ich dann gegen den Wind anlief, ber die Wiesen den Schulberg hinunter denn die Schule lag auf

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  • einem kleinen Berg auerhalb des Dorfes und mich nur ein bichen vom Boden abstie und die Arme ausbreitete, da hob mich der Wind empor, und ich konnte ohne Anstrengung Sprnge von zwei, drei Metern Hhe und zehn, zwlf Metern Weite machen oder vielleicht nicht ganz so weit und nicht ganz so hoch, was spielt das fr eine Rolle! , jedenfalls flog ich beinahe, und htte ich nur meinen Mantel auf- geknpft und beide Hlften in die Hnde ge- nommen und wie Flgel ausgebreitet, dann htte mich der Wind vollends emporgehoben und ich wre mit grter Leichtigkeit vom Schulberg ber die Talsenke zum Wald gesegelt und ber den Wald hinweg hinunter zum See, wo unser Haus lag, und htte dort zum gren- zenlosen Staunen meines Vaters, meiner Mutter, meiner Schwester und meines Bruders, die zum Fliegen alle schon viel zu alt und zu schwer waren, hoch ber dem Garten eine elegante Kurve gedreht, um dann hinaus ber den See zu schweben, fast bis ans andere Ufer hinber, und mich endlich gemchlich zurcktragen zu lassen

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  • und immer noch rechtzeitig zum Mittagessen zu Hause einzutreffen.

    Aber ich habe den Mantel nicht aufgeknpft und bin nicht wirklich hoch hinaufgeflogen. Nicht weil ich Angst vor dem Fliegen gehabt htte, sondern weil ich nicht wute, wie und wo und ob berhaupt ich je wieder wrde landen knnen. Die Terrasse vor unserem Haus war zu hart, der Garten zu klein, das Wasser im See zu kalt fr eine Landung. Aufsteigen, das war kein Problem. Wie aber kam man wieder herunter?

    Beim Bumeklettern war das hnlich: Hinauf- zukommen bereitete die geringsten Schwierig- keiten. Man sah die ste vor sich, man sprte sie in der Hand und konnte ihre Strke prfen, ehe man sich an ihnen hochzog und dann den Fu auf sie setzte. Aber beim Hinunterklettern sah man nichts und mute mehr oder weniger blindlings mit dem Fu im tieferliegenden Gest herum- stochern, ehe man einen festen Tritt fand, und oft genug war der Tritt eben nicht fest, sondern morsch oder glitschig, und man glitt ab oder brach durch, und wenn man sich dann nicht mit beiden

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  • Hnden fest an einen Ast geklammert hatte, fiel man wie ein Stein zu Boden, folgend den soge- nannten Fallgesetzen, die der italienische For- scher Galileo Galilei schon vor fast vierhundert Jahren entdeckt hat und die heute noch gelten.

    Mein schlimmster Sturz ereignete sich in dem- selben ersten Schuljahr. Er erfolgte aus vierein- halb Metern Hhe von einer Weitanne, verlief haargenau nach dem ersten Galileischen Fallge- setz, welches besagt, da die durchfallene Strecke gleich dem halben Produkt aus Erdbeschleuni- gung und Zeit im Quadrat ist (s = g t), und dauerte infolgedessen exakt 0,9578262 Sekunden. Das ist eine extrem kurze Zeit. Das ist krzer als die Zeit, die man braucht, um von einundzwanzig auf zweiundzwanzig zu zhlen, ja sogar krzer als die Zeit, die man braucht, um die Zahl einund- zwanzig ordentlich auszusprechen! So enorm schnell ging die Sache, da ich weder meine Arme ausbreiten noch meinen Mantel aufknpfen und als Fallschirm verwenden konnte, ja da mir nicht einmal mehr der rettende Gedanke kam, da ich ja eigentlich gar nicht zu fallen brauchte, da ich doch

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  • fliegen konnte gar nichts mehr konnte ich den- ken in diesen 0,9578262 Sekunden, und ehe ich berhaupt begriff, da ich fiel, krachte ich auch schon gem dem zweiten Galileischen Fall- gesetz (v = g t) mit einer Endgeschwindigkeit von ber 33 Stundenkilometern auf dem Waldbo- den auf, und zwar so heftig, da ich mit meinem Hinterkopf einen armdicken Ast durchschlug. Die Kraft, die dies bewirkte, heit Schwerkraft. Sie hlt die Welt nicht nur im Innersten zusam- men, sie hat auch die vertrackte Eigenschaft, alles, sei es gro oder noch so klein, mit brachialer Ge- walt an sich heranzuziehen, und nur solange wir im Mutterleibe ruhen oder als Taucher unter Wasser schweben, sind wir scheinbar von ihrem Gngelband befreit. Nebst dieser elementaren Einsicht trug ich von dem Sturz eine Beule davon. Die Beule verschwand schon nach wenigen Wochen, jedoch mit den Jahren sprte ich an der- selben Stelle, wo einst die Beule gewesen war, ein sonderbares Kribbeln und Pochen, wann immer sich das Wetter nderte, besonders wenn Schnee in der Luft lag. Und heute, fast vierzig Jahre sp-

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  • ter, dient mir mein Hinterkopf als zuverlssiges Barometer, und ich kann genauer als der Wetter- dienst vorhersagen, ob es morgen regnen oder schneien wird, ob die Sonne scheint oder ob ein Sturm heraufzieht. Auch glaube ich, da eine ge- wisse Konfusion und Unkonzentriertheit, an der ich neuerdings leide, eine Sptfolge jenes Sturzes von der Weitanne ist. So fllt es mir beispiels- weise immer schwerer, beim Thema zu bleiben, einen bestimmten Gedanken kurz und knapp zu formulieren, und wenn ich eine Geschichte wie diese erzhle, dann mu ich hllisch aufpassen, da ich den Faden nicht verliere, sonst komme ich vom Hundertsten ins Tausendste und wei zum Schlu nicht mehr, womit ich berhaupt angefan- gen habe.

    Zu der Zeit also, als ich noch auf Bume klet- terte und ich kletterte viel und gut, ich bin nicht immer nur heruntergefallen! Ich konnte sogar auf Bume klettern, die unten keine ste hatten und bei denen man sich infolgedessen am nack- ten Stamm emporziehen mute, und ich konnte auch von einem Baum zum anderen klettern, und

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  • ich habe mir Hochsitze gebaut, unzhlige, und einmal sogar ein richtiges Baumhaus mit Dach und Fenstern und Teppichboden, mitten im Wald, in zehn Metern Hhe ach, ich glaube, ich habe die meiste Zeit meiner Kindheit auf Bumen zugebracht, ich a und las und schrieb und schlief auf Bumen, ich lernte englische Vokabeln dort und lateinische unregelmige Verben und ma- thematische Formeln und physikalische Gesetze wie zum Beispiel die erwhnten Fallgesetze des Galileo Galilei, alles auf Bumen, ich machte meine Hausaufgaben auf Bumen, mndlich und schriftlich, und mit Vorliebe pinkelte ich von Bumen herab, in hohem Bogen raschelnd durch Blatt- und Nadelwerk.

    Es war ruhig auf den Bumen, und man wurde in Ruhe gelassen. Kein strender Ruf der Mutter, kein dienstverpflichtender Befehl des lteren Bruders drangen hier herauf, hier war nur der Wind und das Rauschen der Bltter und das zarte Knarren der Stmme... und der Blick, der wun- derbar weite Blick: Ich konnte nicht nur ber unser Haus und den Garten, ich konnte ber die

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  • anderen Huser und die anderen Grten, ber den See hinweg und ber das Land hinter dem See bis zu den Bergen sehen, und wenn abends die Sonne unterging, dann konnte ich oben auf meinem Baumwipfel die Sonne sogar noch hinter den Ber- gen sehen, wenn sie fr die Menschen drunten am Boden schon lngst untergegangen war. Fast wie Fliegen war das. Nicht ganz so abenteuerlich und nicht ganz so elegant vielleicht, aber doch ein gu- ter Ersatz frs Fliegen, zumal da ich ja allmhlich lter wurde, einen Meter achtzehn ma und drei- undzwanzig Kilo wog, was zum Fliegen nun ein- fach zu schwer war, selbst wenn ein richtiger Sturm geblasen und ich meinen Mantel aufge- knpft und ganz weit geffnet htte. Auf Bume klettern aber so dachte ich damals knnte ich mein Leben lang. Noch mit hundertzwanzig Jah- ren, noch als klappriger Tattergreis wrde ich dort oben sitzen, auf der Spitze einer Ulme, einer Buche, einer Tanne, wie ein alter Affe, und mich leis vom Winde wiegen lassen und ber das Land schauen und ber den See, bis hinter die Berge...

    Aber was erzhle ich hier vom Fliegen und vom

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    Bumeklettern! Plappere von Galileo Galileis Fallgesetzen und vom Barometerfleck auf mei- nem Hinterkopf, der mich konfus macht! Wo ich doch etwas ganz anderes erzhlen will, nmlich die Geschichte von Herrn Sommer soweit das berhaupt mglich ist, denn eigentlich gab es da gar keine ordentliche Geschichte, sondern es gab nur diesen seltsamen Menschen, dessen Lebens- weg oder sollte ich besser sagen: dessen Spazier- weg? sich ein paarmal mit dem meinen gekreuzt hat. Aber ich beginne am besten noch einmal ganz von vorn.

    Zu der Zeit, da ich noch auf Bume kletterte, lebte in unserem Dorf... oder vielmehr nicht in unserem Dorf, in Unternsee, sondern im Nach- bardorf, in Obernsee, aber das konnte man nicht so recht unterscheiden, denn Obernsee und Unternsee und all die anderen Drfer waren nicht streng voneinander getrennt, sondern reihten sich eins ans andere entlang dem Ufer des Sees, ohne sichtbaren Anfang und Ende, als eine schmale Kette von Grten und Husern und Hfen und Bootshtten... Es lebte also in dieser Gegend,

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    keine zwei Kilometer von unserem Haus ent- fernt, ein Mann mit Namen Herr Sommer. Kein Mensch wute, wie Herr Sommer mit Vor- namen hie, ob Peter oder Paul oder Heinrich oder Franz-Xaver, oder ob er vielleicht Doktor Sommer oder Professor Sommer hie, oder Pro- fessor Doktor Sommer man kannte ihn einzig und allein unter dem Namen Herr Sommer. Kein Mensch auch wute, ob Herr Sommer einem Beruf nachging, ob er berhaupt einen Be- ruf hatte oder jemals gehabt hatte. Man wute nur, da Frau Sommer einen Beruf ausbte, und zwar den Beruf der Puppenmacherin. Tagaus, tagein sa sie in der Sommerschen Wohnung, im Souterrain des Hauses des Malermeisters Stangl- meier, und fabrizierte dort aus Wolle, Stoff und Sgespnen kleine Kinderpuppen, die sie einmal pro Woche in einem groen Paket verpackt aufs Postamt brachte. Auf dem Rckweg vom Post- amt ging sie der Reihe nach zum Krmer, zum Bcker, zum Metzger und zum Gemsehndler, kam mit vier prall gefllten Einkaufstaschen zu Hause an, verlie die Wohnung fr den Rest der

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    Woche nicht mehr und fabrizierte neue Puppen. Woher die Sommers kamen, wute man nicht. Sie waren einfach irgendwann einmal angekommen sie mit dem Autobus, er zu Fu , und seither waren sie eben da. Sie hatten keine Kinder, keine Verwandten und niemals Besuch.

    Obwohl man nun ber die Sommers und insbe- sondere ber Herrn Sommer so gut wie nichts wute, kann man doch mit Fug und Recht be- haupten, da Herr Sommer damals der weitaus bekannteste Mann im ganzen Landkreis gewesen ist. Im Umkreis von mindestens sechzig Kilome- tern um den ganzen See herum gab es keinen Men- schen, Mann, Frau oder Kind ja nicht einmal einen Hund , der Herrn Sommer nicht gekannt htte, denn Herr Sommer war stndig unterwegs. Von morgens frh bis abends spt lief Herr Som- mer durch die Gegend. Kein Tag im Jahr verging, an dem Herr Sommer nicht auf den Beinen war. Es mochte schneien oder hageln, es mochte str- men oder wie aus Kbeln gieen, die Sonne mochte brennen, ein Orkan im Anzug sein Herr Sommer war auf Wanderschaft. Oft verlie er das

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    Haus vor Sonnenaufgang, wie die Fischer erzhl- ten, die um vier Uhr frh auf den See hinausfuh- ren, um ihre Netze einzuholen, und oft kam er erst spt nachts zurck, wenn der Mond schon hoch am Himmel stand. In dieser Zeit legte er un- glaublich lange Wege zurck. Den See im Verlauf eines Tages zu umrunden, was eine Strecke von ungefhr vierzig Kilometern bedeutete, war fr Herrn Sommer nichts Besonderes. Zwei- oder dreimal am Tag in die Kreisstadt und zurck zu gehen, zehn Kilometer hin, zehn Kilometer zu- rck fr Herrn Sommer kein Problem! Wenn wir Kinder morgens um halb acht schlaftrunken in die Schule trotteten, kam uns frisch und munter Herr Sommer entgegen, der schon seit Stunden unterwegs war; gingen wir mittags mde und hungrig nach Hause, berholte uns mit forschem Schritt Herr Sommer; und wenn ich am Abend desselben Tages vor dem Schlafengehen noch aus dem Fenster schaute, konnte es sein, da ich unten auf der Seestrae die groe, hagere Gestalt von Herrn Sommer schattenhaft vorbereilen sah.

    Er war leicht zu erkennen. Auch auf die Entfer-

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    nung war seine Erscheinung ganz unverwechsel- bar. Im Winter trug er einen langen, schwarzen, berweiten und sonderbar steifen Mantel, der ihm bei jedem Schritt wie eine viel zu groe Hlse um den Krper hpfte, dazu Gummistiefel und auf der Glatze eine rote Bommelmtze. Im Som- mer aber und der Sommer dauerte fr Herrn Sommer von Anfang Mrz bis Ende Oktober, also die weitaus lngste Zeit des Jahres , da trug Herr Sommer einen flachen Strohhut mit schwar- zem Stoffband, ein karamelfarbenes Leinenhemd und eine kurze, karamelfarbene Hose, aus der seine langen, zhen, fast nur aus Sehnen und Krampfadern bestehenden Beine lcherlich drr hervorstaken, ehe sie unten in einem Paar klobi- ger Bergstiefel versanken. Im Mrz waren diese Beine blendend wei, und die Krampfadern zeichneten sich darauf als ein vielverzweigtes tin- tenblaues Flusystem deutlich ab; aber schon ein paar Wochen spter hatten sie eine honiggleiche Frbung angenommen, im Juli leuchteten sie karamellenbraun wie Hemd und Hose, und im Herbst waren sie von Sonne, Wind und Wetter

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    dermaen dunkelbraun gegerbt, da man an ihnen weder Krampfadern noch Sehnen oder Muskelstrnge unterscheiden konnte, sondern da Herrn Sommers Beine nun aussahen wie die knotigen ste eines alten rindenlosen Fhren- baums, bis sie schlielich im November unter den langen Hosen und unter dem langen schwarzen Mantel verschwanden und, allen Blicken ent- zogen, bis zum nchsten Frhjahr ihrer ur- sprnglichen ksigen Weie entgegenbleichten.

    Zwei Dinge hatte Herr Sommer sowohl im Sommer als auch im Winter bei sich, und kein Mensch hat ihn je ohne sie gesehen: Das eine war sein Stock und das andere sein Rucksack. Der Stock war kein gewhnlicher Spazierstock, son- dern ein langer, leicht gewellter Nubaumstek- ken, der Herrn Sommer bis ber die Schulter reichte und ihm als eine Art drittes Bein diente, ohne dessen Hilfe er niemals die enormen Ge- schwindigkeiten erreicht und die unglaublichen Strecken bewltigt haben wrde, die die Leistun- gen eines normalen Spaziergngers um so vieles bertrafen. Alle drei Schritte schleuderte Herr

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    Sommer seinen Stock mit der Rechten nach vorn, stemmte ihn gegen den Boden und schob sich damit im Vorbergehen mit aller Macht voran, so da es aussah, als dienten ihm die eigenen Beine blo noch zum Dahingleiten, whrend der eigentliche Schub aus der Kraft des rechten Arms herstammte, die mittels des Stockes auf den Bo- den bertragen wurde hnlich wie bei manchen Fluschiffern, die ihre flachen Khne mit langen Stangen bers Wasser staken. Der Rucksack aber war immer leer, oder fast leer, denn er enthielt, so- weit man wute, nichts anderes als Herrn Som- mers Butterbrot und eine zusammengefaltete hftlange Gummipelerine mit Kapuze, die Herr Sommer anzog, wenn ihn unterwegs ein Regen berraschte.

    Wohin aber fhrten ihn seine Wanderungen? Was war das Ziel der endlosen Mrsche? Weshalb und wozu hastete Herr Sommer zwlf, vierzehn, sechzehn Stunden am Tag durch die Gegend? Man wute es nicht.

    Kurz nach dem Krieg, als sich die Sommers im Dorf niedergelassen hatten, waren solche Touren

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    noch niemandem besonders aufgefallen, denn da- mals liefen alle Menschen mit Ruckscken durch die Gegend. Es gab kein Benzin und keine Autos und nur einmal am Tag einen Bus, und nichts zu heizen und nichts zu essen, und um irgendwo ein paar Eier oder Mehl oder Kartoffeln oder ein Kilo Briketts oder auch nur Briefpapier oder Rasier- klingen zu bekommen, mute man oft stunden- lange Fumrsche unternehmen und das Ergat- terte im Handkarren oder im Rucksack nach Hause schleppen. Aber schon ein paar Jahre sp- ter konnte man wieder alles im Dorf kaufen, wur- den die Kohlen geliefert, verkehrte der Omnibus fnfmal am Tag. Und wieder ein paar Jahre spter besa der Metzger sein eigenes Auto, und dann der Brgermeister und dann der Zahnarzt, und der Malermeister Stanglmeier fuhr mit dem Motorrad und sein Sohn mit dem Moped, der Omnibus verkehrte immerhin noch dreimal am Tag, und niemandem wre es mehr eingefallen, vier Stunden zu Fu in die Kreisstadt zu laufen, wenn er dort Besorgungen zu machen hatte oder seinen Pa erneuern lassen wollte. Niemandem

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    auer Herrn Sommer. Herr Sommer ging nach wie vor zu Fu. Morgens frh schnallte er den Rucksack auf den Rcken, nahm seinen Stock in die Hand und eilte los, ber Felder und Wiesen, auf Haupt- und Nebenstraen, durch die Wlder und rings um den See, in die Stadt und zurck, von Dorf zu Dorf ... bis zum spten Abend.

    Das merkwrdige aber war, da er nie irgend- welche Besorgungen machte. Er trug nichts aus und kaufte nichts ein. Sein Rucksack war und blieb leer bis auf das Butterbrot und die Pelerine. Er ging nicht zur Post und nicht aufs Landrats- amt, das berlie er alles seiner Frau. Auch machte er keine Besuche und hielt sich nirgends auf. Wenn er in die Stadt ging, kehrte er nicht ein, um etwas zu essen oder wenigstens ein Glas zu trinken, ja er setzte sich nicht einmal auf eine Bank, um ein paar Minuten auszuruhen, sondern er machte auf dem Fue kehrt und eilte wieder nach Hause oder sonstwohin. Wenn man ihn fragte Wo kommen Sie her, Herr Sommer? oder Wo gehen Sie hin?, dann schttelte er unwillig seinen Kopf, als se ihm eine Fliege

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    auf der Nase, und murmelte etwas vor sich hin, das man entweder gar nicht oder nur bruchstckhaft verstand und das so klang wie: ...gradesehreilig- jetztschulbergaufgehn ... berdenseegeschwind- rundrum ... heutnochmugleichindiestadtunbe- dingt ... sehreiligsehrgradimmomentgarkeine- zeit... und ehe man noch Was? Wie bitte? Wohin? fragen konnte, war er schon unter hefti- gem Geharke seines Stockes davongesaust.

    Ein einziges Mal habe ich einen ganzen Satz von Herrn Sommer gehrt, einen klar und deutlich und unmiverstndlich ausgesprochenen Satz, den ich nicht mehr vergessen habe und der mir noch heute im Ohr klingt. Das war an einem Sonntagnachmittag Ende Juli, whrend eines ent- setzlichen Unwetters. Dabei hatte der Tag schn begonnen, strahlend schn, mit kaum einem Wlkchen am Himmel, und mittags war es noch so hei gewesen, da man am liebsten dauernd kalten Tee mit Zitrone getrunken htte. Mein Va- ter hatte mich mit zum Pferderennen genommen, wie oft am Sonntag, denn er ging jeden Sonntag zum Pferderennen. brigens nicht, um zu wetten

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    das mchte ich beilufig erwhnen , sondern aus schierer Liebhaberei. Er war, obwohl er selbst in seinem Leben nie auf einem Pferd ge- sessen hatte, ein passionierter Pferdefreund und Pferdekenner. Er konnte zum Beispiel smtliche deutschen Derbysieger seit 1869 auswendig her- sagen, in der richtigen und in der umgekehrten Reihenfolge, und von den Siegern des engli- schen Derbys und des franzsischen Prix de lArc de Triomphe immerhin noch die wichtig- sten seit dem Jahre 1910. Er wute, welches Pferd tiefen, welches trockenen Boden liebte, warum alte Pferde ber Hrden gingen und junge niemals mehr als 1600 Meter liefen, wie- viel Pfund der Jockey wog und warum die Frau des Besitzers um ihren Hut eine Schleife in den Farben Rot-Grn-Gold gewunden hatte. ber fnfhundert Bnde umfate seine Pferdebiblio- thek, und gegen Ende seines Lebens besa er so- gar ein eigenes Pferd vielmehr ein halbes , welches er sich zum Entsetzen meiner Mutter zum Preis von sechstausend Mark gekauft hatte, um es in seinen Farben beim Rennen laufen zu

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    lassen aber das ist eine andere Geschichte, die ich ein andermal erzhlen will.

    Wir waren also beim Pferderennen gewesen, und als wir am spten Nachmittag nach Hause fuhren, war es zwar immer noch hei, ja sogar hei- er und schwler als am Mittag, aber der Himmel hatte sich schon mit einer dnnen Dunstschicht bezogen. Im Westen standen bleigraue Wolken mit eitergelben Rndern. Nach einer Viertel- stunde mute mein Vater die Scheinwerfer ein- schalten, denn die Wolken waren auf einmal so nahe gerckt, da sie den ganzen Horizont wie ein Vorhang verhngten und dstere Schatten ber das Land warfen. Dann fegten einige Ben von den Hgeln herab und fielen in breiten Stri- chen ber die Kornfelder, es war, als wrden die Felder gekmmt, und die Bsche und Strucher erschraken. Fast gleichzeitig fing der Regen an, nein, der Regen noch nicht, sondern zuerst fielen nur einzelne fette Tropfen, wie Weintrauben so dick, die da und dort auf den Asphalt herunter- klatschten und auf dem Khler und der Wind- schutzscheibe zerplatzten. Und dann brach das

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    Unwetter los. Die Zeitungen schrieben spter, da es das schlimmste Unwetter in unserer Gegend seit zweiundzwanzig Jahren gewesen sei. Ob das stimmt, wei ich nicht, denn ich war da- mals erst sieben Jahre alt, aber ich wei bestimmt, da ich ein solches Unwetter in meinem Leben kein zweites Mal mitgemacht habe, und schon gar nicht in einem Auto auf freier Landstrae. Das Wasser fiel nicht mehr in Tropfen, es fiel in Schwaden vom Himmel. In krzester Zeit war die Strae berschwemmt. Der Wagen pflgte sich durchs Wasser, zu beiden Seiten spritzten die Fontnen hoch, sie standen wie Wnde aus Was- ser, und wie durch schieres Wasser sah man durch die Windschutzscheibe, obwohl der Scheiben- wischer hektisch hin und her schlug.

    Doch es kam noch schlimmer. Denn nach und nach verwandelte sich der Regen in Hagel, man hrte es, ehe man es sah, an einer Vernderung des Rauschens hin zu einem hrteren, helleren Pras- seln, und man sprte es an einer frstligen Klte, die jetzt in den Wagen drang. Dann konnte man die Krnchen sehen, klein erst wie Stecknadel-

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    kpfe, aber bald anwachsend zu Erbsengre, zu Schussergre, und schlielich prasselten ganze Schwrme glatter weier Blle herab und spran- gen von der Khlerhaube wieder hoch, in so wil- dem, wirbelndem Durcheinander, da einem schwindlig wurde. Es war unmglich geworden, auch nur einen Meter weiterzufahren, mein Vater hielt am Straenrand ach, was sage ich Straen- rand, von einer Strae war nichts mehr zu sehen, viel weniger von einem Straenrand oder von einem Feld oder von einem Baum oder von sonst etwas, man sah keine zwei Meter weit, und auf diese zwei Meter sah man nichts als Millionen eisi- ger Billardkugeln, die durch die Luft wirbelten und unter schauderhaftem Lrm auf das Auto nie- derprallten. Im Innern des Wagens herrschte ein solcher Krach, da wir nicht mehr miteinander reden konnten. Wir saen wie im Kessel einer groen Pauke, auf die ein Riese seine Trommel- wirbel schlgt, und wir sahen uns nur an und fr- stelten und schwiegen und hofften, da unser schtzendes Gehuse nicht zertrmmert wrde.

    Nach zwei Minuten war alles vorbei. Von

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    einem Moment zum andern hatte der Hagel auf- gehrt, der Wind sich gelegt. Nur ein feiner stiller Nieselregen ging jetzt noch herab. Das Kornfeld neben der Strae, durch das zuvor die Ben gefah- ren waren, lag wie zertrampelt da. Von einem Maisfeld dahinter standen nur noch die Strnke. Die Strae selbst sah aus wie berst mit Scherben so weit das Auge reichte Hagelsplitter, abge- schlagene Bltter, Zweige, hren. Und ganz am Ende der Strae konnte ich durch den zarten Schleier des Nieselregens hindurch die Gestalt eines Menschen sehen, der dort seines Weges ging. Ich sagte es meinem Vater, und wir schauten beide auf die kleine entfernte Gestalt, und es kam uns wie ein Wunder vor, da ein Mensch dort im Freien spazierenging, ja da nach diesem Hagel- schlag berhaupt noch etwas aufrecht stand, wo doch ringsum alles niedergemht und zerschmet- tert am Boden lag. Wir fuhren los, knirschend ber den Hagelschutt. Als wir der Gestalt nher- kamen, erkannte ich die kurze Hose, die langen knotigen, vor Nsse glnzenden Beine, die schwarze Gummipelerine, auf der sich schlaff die

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    Form des Rucksacks abdrckte, Herrn Sommers getriebenen Gang.

    Wir hatten ihn eingeholt, mein Vater hie mich das Fenster herunterkurbeln eiskalt war die Luft dort drauen , Herr Sommer! rief er hinaus, steigen Sie ein! Wir nehmen Sie mit!, und ich kletterte auf den Rcksitz, um ihm Platz zu ma- chen. Doch Herr Sommer antwortete nicht. Er blieb nicht einmal stehen. Kaum da er einen raschen Seitenblick auf uns geworfen htte. Mit hastigen Schritten, vom Nubaumstock gescho- ben, ging er auf der verhagelten Strae weiter. Mein Vater fuhr ihm nach. Herr Sommer! rief er durch das offene Fenster, so steigen Sie doch ein! Bei diesem Wetter! Ich bringe Sie nach Hause!

    Doch Herr Sommer reagierte nicht. Unver- drossen marschierte er weiter. Mir schien freilich, als htte er kurz die Lippen bewegt und eine seiner unverstndlichen Antworten von sich gegeben. Aber es war nichts zu hren gewesen, und viel- leicht zitterten seine Lippen auch nur vor Klte. Da lehnte sich mein Vater nach rechts und ffnete immer knapp neben Herrn Sommer herfahrend

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    die Beifahrertre und schrie hinaus: So steigen Sie doch ein, um Gottes willen! Sie sind ja vllig durchnt! Sie werden sich den Tod holen!

    Nun war der Ausdruck Sie werden sich den Tod holen eigentlich sehr untypisch fr meinen Vater. Noch nie hatte ich ihn zu irgend jemand im Ernst sagen hren: Sie werden sich den Tod holen!. Dieser Ausdruck ist ein Stereotyp, pflegte er zu erklren, wenn er irgendwo den Satz Sie werden sich den Tod holen hrte oder las, und ein Stereotyp merkt euch das ein fr alle- mal! ist eine Redewendung, die schon so oft durch die Mnder und die Federn von Krethi und Plethi gegangen ist, da sie berhaupt nichts mehr bedeutet. Das ist genauso fuhr er dann fort, weil er nun schon mal in Fahrt gekommen war , das ist genauso dumm und nichtssagend, wie wenn man den Satz zu hren bekommt: Trinken Sie eine Tasse Tee, meine Liebe, das wird Ihnen guttun! oder: Wie gehts unserem Kranken, Herr Doktor? Glauben Sie, er wird durchkom- men? Solche Stze stammen nicht aus dem Le- ben, sondern aus schlechten Romanen und aus

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    dummen amerikanischen Filmen, und deshalb merkt euch das ein fr allemal! will ich sie aus eurem Mund niemals hren!

    So pflegte sich mein Vater ber Stze des Typs Sie werden sich den Tod holen auszulassen. Nun aber, im Nieselregen auf der mit Hagelkr- nern bedeckten Landstrae neben Herrn Sommer herfahrend, rief mein Vater ein ebensolches Ste- reotyp zur offenstehenden Wagentre hinaus: Sie werden sich den Tod holen!. Und da blieb Herr Sommer stehen. Ich glaube, er blieb genau bei den Wrtern den Tod holen stocksteif ste- hen, und zwar so abrupt, da mein Vater rasch bremsen mute, um nicht an ihm vorbeizufahren. Und dann nahm Herr Sommer den Nubaum- stock von der rechten in die linke Hand, wendete sich uns zu und stie, indem er in einer Art trot- zig-verzweifelter Gebrde den Stock mehrmals gegen den Boden rammte, mit lauter und klarer Stimme den Satz aus: Ja so lat mich doch end- lich in Frieden! Mehr sagte er nicht. Nur diesen einen Satz. Hierauf warf er die ihm offengehaltene Tre zu, wechselte den Stock zurck in die rechte

  • Hand und marschierte los, ohne weiteren Blick zur Seite, ohne Blick zurck.

    Der Mann ist vllig verrckt, sagte mein Vater.

    Als wir ihn dann berholten, konnte ich ihm durch die Rckscheibe hindurch ins Gesicht se- hen. Er hatte den Blick zu Boden gesenkt und hob ihn nur alle paar Schritte, um mit weitaufgerisse- nen, gleichsam entsetzten Augen fr einen Mo- ment nach vorne zu starren und sich seines Weges zu versichern. Das Wasser lief ihm die Wangen herab, es tropfte von Nase und Kinn. Sein Mund war leicht geffnet. Und wieder schien es mir, als bewegten sich seine Lippen. Vielleicht sprach er zu sich selbst, whrend er ging.

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    D ieser Herr Sommer hat Klaustrophobie, sagte meine Mutter, als wir alle beim Abendessen saen und ber das Unwetter und den Vorfall mit Herrn Sommer sprachen. Eine schwere Klau- strophobie hat dieser Mann, und das ist eine Krankheit, bei der man nicht mehr ruhig in sei- nem Zimmer sitzen kann.

    Klaustrophobie bedeutet strenggenommen, sagte mein Vater da man nicht in seinem Zim- mer sitzen kann, sagte meine Mutter. Das hat mir der Doktor Luchterhand in aller Ausfhr- lichkeit erklrt.

    Das Wort Klaustrophobie ist lateinisch- griechischen Ursprungs, sagte mein Vater, was dem Herrn Doktor Luchterhand sicherlich be- kannt sein drfte. Es besteht aus den zwei Teilen claustrum und phobia, wobei claustrum soviel wie geschlossen oder abgeschlossen be- deutet wie es ja auch in dem Wort Klause vor-

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    kommt, oder bei der Stadt Klausen, italienisch Chiusa, oder im franzsischen Vaucluse wer von euch kann mir noch ein Wort nennen, in dem der Begriff claustrum verborgen steckt?

    Ich, sagte meine Schwester, ich habe von der Rita Stanglmeier gehrt, da der Herr Som- mer immer zuckt. An allen Gliedern zuckt er. Er hat das Muskelzucken wie der Zappelphilipp, sagt die Rita. Wenn er sich nur auf einen Stuhl setzt schon zuckt er. Nur wenn er luft, dann zuckt er nicht, und darum mu er immer laufen, damit keiner sieht, wie er zuckt.

    Darin hnelt er Jhrlingen, sagte mein Vater, oder zweijhrigen Pferden, die ebenfalls zucken und zittern und am ganzen Krper vor Nervositt beben, wenn sie zum ersten Mal bei einem Rennen an den Start gehen. Die Jockeys haben dann alle Hnde voll zu tun, sie aufzupullen. Spter gibt sich das freilich von alleine, oder man legt ihnen Scheuklappen an. Wer von euch kann mir sagen, was aufpullen bedeutet?

    Quatsch! sagte meine Mutter. Bei euch im Wagen, da htte der Sommer doch leicht zucken

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    knnen. Das htte doch niemanden gestrt, das bichen Zucken!

    Ich frchte, sagte mein Vater, Herr Sommer ist deshalb nicht zu uns in den Wagen gestiegen, weil ich ein Stereotyp verwendet habe. Ich habe gesagt: Sie werden sich den Tod holen! Ich ver- stehe gar nicht, wie mir das passieren konnte. Ich bin sicher, er wre eingestiegen, wenn ich eine weniger abgedroschene Formulierung gewhlt htte, beispielsweise...

    Unsinn, sagte meine Mutter, sondern er ist deshalb nicht eingestiegen, weil er Klaustropho- bie hat und weil er deshalb nicht nur nicht in einem Zimmer, sondern auch nicht in einem ge- schlossenen Wagen sitzen kann. Frag den Doktor Luchterhand! Sobald er sich in einem geschlosse- nen Raum aufhlt ob Wagen oder Zimmer , bekommt er Zustnde.

    Was sind Zustnde? fragte ich. Vielleicht, sagte mein Bruder, der fnf Jahre

    lter war als ich und schon alle Mrchen der Br- der Grimm gelesen hatte, vielleicht ist es bei Herrn Sommer genauso wie bei dem Schnellufer

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    im Mrchen Sechse kommen durch die ganze Welt, der an einem Tag um die ganze Erde rennen kann. Wenn er nach Hause kommt, dann mu er sich eines seiner Beine mit einem Lederriemen hochschnallen, weil er sonst nicht stehenbleiben knnte.

    Das ist natrlich auch eine Mglichkeit, sagte mein Vater. Vielleicht hat Herr Sommer einfach ein Bein zuviel und mu deshalb immer laufen. Wir sollten Herrn Doktor Luchterhand bitten, ihm eines seiner Beine hochzuschnallen. Unsinn, sagte meine Mutter, er hat Klau- strophobie, sonst nichts, und gegen Klaustropho- bie gibt es kein Mittel.

    Als ich im Bett lag, ging mir noch lange dieses sonderbare Wort im Kopf herum: Klaustropho- bie. Ich sprach es mir mehrmals vor, damit ich es nicht mehr verge. Klaustrophobie... Klau- strophobie... Der Herr Sommer hat Klaustro- phobie... Das bedeutet, da er nicht in seinem Zimmer bleiben kann ... und da er nicht in sei- nem Zimmer bleiben kann, bedeutet, da er im- mer im Freien herumlaufen mu... Weil er Klau-

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    strophobie hat, deshalb mu er immer im Freien herumlaufen... Wenn aber Klaustrophobie dasselbe ist wie Nicht-in-seinem-Zimmer-blei- ben-Knnen und wenn Nicht-in-seinem-Zim- mer-bleiben-Knnen dasselbe ist wie Im- Freien-herumlaufen-Mssen, dann ist doch auch Im-Freien-herumlaufen-Mssen dasselbe wie Klaustrophobie... und dann knnte man doch auch statt dem schwierigen Wort Klaustropho- bie einfach sagen Im-Freien-herumlaufen-Ms- sen... Das aber wrde bedeuten, da, wenn meine Mutter sagt: Der Herr Sommer mu im- mer im Freien herumlaufen, weil er Klaustropho- bie hat, sie ebensogut sagen knnte: Der Herr Sommer mu immer im Freien herumlaufen, weil er im Freien herumlaufen mu...

    Und da wurde mir in meinem Kopf ein bichen schwindlig, und ich versuchte, das verrckte neue Wort und alles, was damit zusammenhing, schnell wieder zu vergessen. Und ich stellte mir statt dessen vor, da der Herr Sommer berhaupt nicht etwas habe oder msse, sondern da er ein- fach deshalb immer im Freien herumlief, weil es

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    ihm Vergngen bereitete, im Freien herumzulau- fen, genauso wie es mir Vergngen bereitete, auf Bume zu klettern. Zu seinem eigenen Spa und Vergngen lief Herr Sommer im Freien herum, so war das und nicht anders, und all die verwirren- den Erklrungen und lateinischen Wrter, die sich die Groen beim Abendessen dazu ausge- dacht hatten, waren ein ebensolcher Unsinn wie die Sache mit dem hochgeschnallten Bein aus dem Mrchen Sechse kommen durch die ganze Welt!

    Aber nach einer Weile mute ich an Herrn Sommers Gesicht denken, das ich durchs Wagen- fenster gesehen hatte, an das regenberstrmte Gesicht mit dem halbgeffneten Mund und den riesigen entsetzensstarren Augen, und ich dachte: So schaut man nicht zum Spa drein; ein solches Gesicht hat kein Mensch, der irgend etwas zum Vergngen und aus Freude tut. So sieht einer aus, der Angst hat; oder so sieht einer aus, der Durst hat, mitten im Regen soviel Durst, da er einen ganzen See austrinken knnte. Und wieder wurde mir schwindlig, und ich versuchte mit aller

  • Macht, das Gesicht des Herrn Sommer zu verges- sen, aber je heftiger ich es zu vergessen versuchte, desto deutlicher stand es mir vor Augen: Jede Runzel, jede Falte konnte ich sehen, jede Schwei- und jede Regenperle, das geringste Zit- tern dieser Lippen, die etwas zu murmeln schie- nen. Und das Murmeln wurde deutlicher und lau- ter, und ich verstand Herrn Sommers Stimme, die flehentlich sagte: Ja so lat mich doch endlich in Frieden! Lat mich doch endlich, endlich in Frieden...!

    Und nun erst konnte ich meine Gedanken von ihm lsen, seine Stimme half mir dabei. Das Gesicht verschwand, und alsbald schlief ich ein.

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    I n meiner Schulklasse gab es ein Mdchen na- mens Carolina Kckelmann. Sie hatte dunkle Augen, dunkle Augenbrauen und dunkelbraune Haare mit einer Spange rechts ber der Stirn. Im Nacken und in der kleinen Kuhle zwischen Ohr- lppchen und Hals lag ein Hauch von Flaum auf ihrer Haut, der in der Sonne glnzte und im Wind manchmal ganz leise zitterte. Wenn sie lachte, mit einer herrlich heiseren Stimme, dann reckte sie den Hals in die Hhe und bog den Kopf zurck und strahlte bers ganze Gesicht vor Vergngen, ihre Augen schlossen sich fast dabei. Ich htte die- ses Gesicht immerzu anschauen knnen, und ich schaute es an, sooft ich nur konnte, im Unterricht oder whrend der Pause. Aber ich tat es verstoh- len und so, da niemand es sah, auch nicht Caro- lina selbst, denn ich war sehr schchtern.

    Weniger schchtern war ich in meinen Tru- men. Da nahm ich sie bei der Hand und fhrte sie

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    in den Wald und kletterte mit ihr auf Bume. Ne- ben ihr auf einem Aste sitzend, schaute ich ihr ins Gesicht, von ganz nah, und erzhlte ihr Geschich- ten. Und sie mute lachen, bog den Kopf zurck und schlo die Augen, und ich durfte ihr leise hin- ters Ohr und in den Nacken pusten, dorthin, wo der Flaum war. Solche und hnliche Trume hatte ich mehrmals in der Woche. Es waren schne Trume ich will mich nicht beklagen , aber es waren eben nur Trume, und wie alle Trume waren sie nicht wirklich sttigend fr das Gemt. Ich htte alles darum gegeben, Carolina einmal, nur ein einziges Mal in Wirklichkeit bei mir zu haben und ihr in den Nacken oder sonstwohin pusten zu knnen ... Leider bestand dafr so gut wie keine Aussicht, denn Carolina wohnte, wie die meisten anderen Kinder, in Obernsee, und ich wohnte als einziger in Unternsee. Unsere Schul- wege verzweigten sich bereits kurz hinter dem Schultor und liefen stetig auseinander den Schul- berg hinunter und ber die Wiesen zum Wald, und ehe sie im Wald verschwanden, waren sie schon so weit voneinander entfernt, da ich Caro-

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    lina nicht mehr aus der Gruppe der anderen Kin- der herauskennen konnte. Nur ihr Lachen konnte ich manchmal noch herberhren. Bei einer ganz bestimmten Wetterlage, bei Sdwind, klang die- ses heisere Lachen von ganz weit her ber die Fel- der zu mir und begleitete mich nach Hause. Aber wann gab es in unserer Gegend schon Sdwind!

    Eines Tages nun es war ein Samstag geschah ein Wunder. Mitten in der Pause kam Carolina auf mich zugelaufen, stellte sich vor mich hin, ganz nahe, und sagte: Du! Du gehst doch immer alleine nach Unternsee?

    Ja, sagte ich. Du! Am Montag, da geh ich mit dir... Und dann sagte sie noch eine Menge zur Erkl-

    rung, sprach von einer Freundin ihrer Mutter, die in Unternsee wohne, und da ihre Mutter sie bei dieser Freundin abholen wolle, und da sie dann mit der Mutter oder mit der Freundin oder mit der Mutter und der Freundin... ich wei es nicht mehr, ich habe es vergessen, und ich glaube, ich habe es schon damals sofort vergessen, noch wh- rend sie es sagte, denn ich war so berrascht, so

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    berwltigt von dem Satz: Am Montag, da geh ich mit dir!, da ich berhaupt nichts mehr ande- res hren konnte oder wollte als eben nur diesen einen, diesen wunderbaren Satz: Am Montag, da geh ich mit dir!

    Fr den Rest des Tages, ja das ganze Wo- chenende ber, klang mir der Satz im Ohr und klang mir so herrlich ach, was sage ich! , klang mir herrlicher als alles, was ich bisher bei den Br- dern Grimm gelesen hatte, herrlicher als das Ver- sprechen der Prinzessin im Froschknig: Du wirst von meinem Tellerchen essen, du darfst in meinem Bettchen schlafen, und ich zhlte die Tage ungeduldiger als Rumpelstilzchen: Heute back ich, morgen brat ich, bermorgen hol ich der Knigin ihr Kind! Ich kam mir vor wie Hans im Glck und Bruder Lustig und der Knig vom gol- denen Berge in einer Person... Am Montag, da geh ich mit dir!

    Ich traf Vorbereitungen. Samstag und Sonntag trieb ich mich im Wald herum, um eine geeignete Route auszuwhlen. Denn da ich mit Carolina nicht auf der normalen Strae gehen wrde, stand

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    von Anfang an fest. Sie sollte meine geheimsten Wege kennenlernen, die verborgensten Sehens- wrdigkeiten wollte ich ihr zeigen. Der Weg nach Obernsee sollte in ihrer Erinnerung ver- blassen angesichts der Herrlichkeiten, die sie auf meinem, auf unserem gemeinsamen Weg nach Unternsee zu sehen bekme.

    Nach langem Abwgen entschied ich mich fr eine Route, die kurz hinter dem Waldrand rechts von der Strae abbog, durch einen Hohl- weg auf eine Tannenschonung fhrte und von dort ber moosiges Gelnde zu einem Laub- wald, ehe sie steil zum See hinunter abfiel. Diese Route war gespickt mit nicht weniger als sechs Sehenswrdigkeiten, die ich Carolina zeigen und mit meinen fachkundigen Kommentaren erlutern wollte. Im einzelnen handelte es sich dabei um a) ein Transformatorenhuschen der Strom- werke, fast noch am Straenrand gelegen, aus dem ein stndiges Summen zu hren war und an dessen Eingangstre ein gelbes Schild hing mit einem roten Blitz darauf und der War-

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    nung: Vorsicht Hochspannung Lebens- gefahr! b) eine Ansammlung von sieben Himbeerstru- chern mit reifen Beeren daran, c) eine Futterkrippe fr Rehe zur Zeit zwar ohne Heu, dafr aber mit einem groen Leckstein aus Salz, d) einen Baum, von dem es hie, es habe sich nach dem Krieg ein alter Nazi an ihm erhngt, e) einen Ameisenhaufen von fast einem Meter Hhe und einem Meter fnfzig Durchmesser, und schlielich, als End- und Hhepunkt der Tour, f) eine wunderbare alte Buche, die ich mit Caro- lina zu besteigen gedachte, um von einer soliden Astgabel in zehn Meter Hhe eines unvergleich- lichen Blickes ber den See zu genieen, mich zu ihr zu beugen und ihr in den Nacken zu pusten.

    Aus dem Kchenschrank hatte ich Kekse ge- stohlen, aus dem Eisschrank ein Glas Joghurt, aus dem Keller zwei pfel und eine Flasche Johannis- beersaft. All das deponierte ich, in einer Schuh- schachtel verpackt, am Sonntagnachmittag auf

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    der Astgabel, damit wir Proviant htten. Abends im Bett dachte ich mir die Geschichten aus, mit denen ich Carolina unterhalten und zum Lachen bringen wollte, eine fr unterwegs, die andere fr unseren Aufenthalt auf der Buche. Ich machte noch einmal Licht, suchte aus der Nachttisch- schublade einen kleinen Schraubenzieher heraus und steckte ihn in meinen Schulranzen, um ihn ihr morgen als eines meiner wertvollsten Besitz- tmer zum Abschied zu schenken. Zurck im Bett rekapitulierte ich die beiden Geschichten, re- kapitulierte aufs genaueste den in Aussicht ge- nommenen Ablauf des morgigen Tages, rekapitu- lierte mehrmals die Stationen des Weges von a) bis f) und den Ort und den Moment der bergabe des Schraubenziehers, rekapitulierte den Inhalt des Schuhkartons, der jetzt schon drauen im Wald auf der Astgabel lag und unser harrte noch nie wurde ein Rendezvous sorgfltiger vorbereitet! , und berlie mich endlich dem Schlummer, von ihren sen Worten begleitet: Am Montag, da geh ich mit dir... am Montag, da geh ich mit dir...

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    Der Montag war ein makellos schner Tag. Die Sonne schien mild, der Himmel war klar und blau wie Wasser, im Wald flteten die Amseln, und die Spechte hmmerten ins Holz, da es ringsum wi- derhallte. Jetzt erst, auf dem Weg zur Schule fiel mir ein, da ich bei meinen Vorbereitungen gar nicht bedacht hatte, was ich denn bei schlechtem Wetter mit Carolina angefangen htte. Die Route a) bis f) wre bei Regen oder Sturm eine Kata- strophe gewesen mit zerzausten Himbeer- struchern, unansehnlichem Ameisenhaufen, quietschend nassem Moosweg, vor Gltte nicht zu besteigender Buche und herabgewehtem oder aufgeweichtem Proviantkarton. Mit Wonne ber- lie ich mich diesen Katastrophenphantasien, sie verschafften mir se, weil berflssige Sorgen und bescherten mir ein geradezu triumphales Glcksgefhl: Nicht nur hatte ich mich keinen Deut um das Wetter gekmmert nein, das Wet- ter persnlich kmmerte sich um mich! Nicht nur durfte ich heute Carolina Kckelmann be- gleiten nein, ich erhielt auch noch den schn- sten Tag des Jahres als Zugabe! Ich war ein Sonn-

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    tagskind. Auf mir ruhte das wohlgefllige Auge des lieben Gottes persnlich. Nur jetzt nicht so dachte ich im Zustand der Gnade ber die Strnge geschlagen! Nur jetzt keinen Fehler mehr gemacht, aus bermut oder Stolz, wie das die Helden im Mrchen immer taten und da- durch das schon sicher geglaubte Glck doch noch zerstrten!

    Ich ging rascher. Auf keinen Fall durfte ich zu spt zur Schule kommen. Whrend des Unter- richts betrug ich mich tadellos wie noch nie, damit der Lehrer auch nicht den geringsten Anla fnde, mich womglich nachsitzen zu lassen. Ich war lammfromm und aufmerksam zugleich, kreuz- brav und oberstreberhaft, ein ausgesuchter Musterschler. Kein einziges Mal schaute ich zu Carolina hin, ich zwang mich dazu, es nicht zu tun, noch nicht, ich verbot es mir, aberglubisch fast, als knnte ich sie durch einen zu frhen Blick am Ende doch noch verlieren...

    Als die Schule aus war, stellte sich heraus, da die Mdchen noch eine Stunde lnger bleiben muten, ich wei nicht mehr weshalb, wegen

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    eines Handarbeitsunterrichts oder aus irgend- einem anderen Grunde. Jedenfalls wurden nur wir Buben entlassen. Ich nahm diesen Zwischen- fall nicht tragisch im Gegenteil. Er erschien mir als zustzliche Prfung, die ich zu bestehen htte und auch bestehen wrde, und er gab dem er- sehnten Zusammensein mit Carolina auerdem noch die Weihe des Besonderen: Eine ganze Stunde lang wrden wir aufeinander gewartet haben!

    Ich wartete am Scheideweg zwischen Obernsee und Unternsee, keine zwanzig Meter hinter dem Schultor. An dieser Stelle ragte ein Stein aus dem Boden, ein Findling, die glatte Oberflche eines groen Felsbrockens. Der Stein besa in der Mitte eine ausgeprgte Vertiefung in Form eines Hufes. Man erzhlte sich, da diese Vertiefung von einem Futritt des Teufels herstamme, der dort aus Wut auf den Boden gestampft habe, weil die Bauern in der Nhe eine Kirche gebaut htten, vor urdenklichen Zeiten. Auf diesen Felsen setzte ich mich und vertrieb mir die Zeit, indem ich eine Pftze Regenwassers, die sich in der Teufelskuhle

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    angesammelt hatte, mit dem Finger heraus- schnippte. Die Sonne schien mir warm auf den Rcken, der Himmel war immer noch ungetrbt wasserblau, ich sa und wartete und schnippte und dachte an nichts und fhlte mich unbe- schreiblich wohl in meiner Haut.

    Dann, endlich, kamen die Mdchen. Erst ein ganzer Schwall, der an mir vorberrannte, und dann, als allerletzte, sie. Ich stand auf. Sie lief auf mich zu, die dunklen Haare wippten, die Spange an der Stirnstrhne tanzte auf und ab, sie hatte ein zitronengelbes Kleid an, ich streckte ihr die Hand entgegen, sie blieb vor mir stehen, so nah wie da- mals in der Pause, ich wollte nach ihrer Hand grei- fen, ich wollte sie an mich ziehen, am liebsten htte ich sie gleich umarmt und mitten ins Gesicht gekt, sie sagte: Du! Hast du auf mich ge- wartet?

    Ja, sagte ich. Du! Ich geh heut doch nicht mit dir. Die

    Freundin von meiner Mutter ist krank, und meine Mutter geht nicht zu ihr, und meine Mutter hat gesagt, da ...

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    Und es folgte ein lngerer Wust von Erklrun- gen, den ich gar nicht mehr richtig hrte, ge- schweige denn behalten htte, denn mir wurde auf einmal so merkwrdig taub im Kopf und wacke- lig auf den Beinen, und das einzige, woran ich mich noch erinnere, ist, da sie sich nach Beendi- gung ihrer Rede ganz pltzlich umdrehte und in Richtung Obernsee zitronengelb davonlief, ganz schnell, damit sie die anderen Mdchen noch ein- holte.

    Ich ging den Schulberg hinunter nach Hause. Ich mu wohl sehr langsam gegangen sein, denn als ich den Waldrand erreicht hatte und wie me- chanisch hinberschaute zum weit entfernten Weg nach Obernsee, da war dort niemand mehr zu sehen. Ich blieb stehen, drehte mich um und warf einen Blick zurck auf die gewellte Hgel- linie des Schulbergs, woher ich gekommen war. Die Sonne lag satt auf den Wiesen, nicht der Schat- ten eines Winds fiel auf die Grser. Die Land- schaft war wie erstarrt.

    Und dann sah ich ein Pnktchen, das sich be- wegte. Ein Pnktchen, ganz links am Waldrand,

  • das in stetiger Bewegung nach rechts wanderte, am Waldrand entlang, den Schulberg hinauf und oben, genau der Kammlinie folgend, quer hin- ber nach Sden. Vor der Hintergrundblue des Himmels zeichnete es sich nun, ameisenklein zwar, aber deutlich als ein Mensch ab, der dort oben ging, und ich erkannte die drei Beine des Herrn Sommer. Regelmig wie ein Uhrwerk, in winzigkleinen sekundenschnellen Schrittchen liefen die Beine vorwrts, und das ferne Pnkt- chen rckte langsam und schnell zugleich wie der groe Zeiger einer Uhr quer ber den Hori- zont.

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    E in Jahr spter lernte ich radfahren. Das war nicht eben frh, denn ich ma schon einen Meter fnfunddreiig, wog zweiunddreiig Kilo und hatte Schuhgre zweiunddreiigeinhalb. Aber das Radfahren hat mich nie besonders interes- siert. Diese schwankende Fortbewegungsweise auf nichts als zwei dnnen Rdern kam mir zu- tiefst unsolide, ja unheimlich vor, denn es konnte mir niemand erklren, weshalb ein Fahrrad im Ruhezustand sofort umfiel, wofern es nicht ge- sttzt, angelehnt oder von jemandem festgehalten wurde nicht aber umfallen sollte, wenn sich ein zweiunddreiig Kilogramm schwerer Mensch darauf setzte und ohne jede Sttze oder An- lehnung damit herumfuhr. Die diesem wunder-

  • 67

    samen Phnomen zugrunde liegenden Natur- gesetze, nmlich die Kreiselgesetze und insbe- sondere der sogenannte mechanische Drehim- pulserhaltungssatz, waren mir damals vllig un- bekannt, und selbst heute begreife ich sie noch nicht ganz, und allein das Wort mechanischer Drehimpulserhaltungssatz ist mir nicht geheuer und verwirrt mich derart, da die bewute Stelle an meinem Hinterkopf zu kribbeln und zu klop- fen anfngt.

    Wahrscheinlich htte ich das Radfahren ber- haupt nicht gelernt, wenn es nicht unbedingt ntig gewesen wre. Unbedingt ntig aber wurde es, weil ich Klavierstunden bekommen sollte. Und Klavierstunden konnte ich nur bei einer Kla- vierlehrerin bekommen, die am anderen Ende von Obernsee wohnte, wohin man zu Fu ber eine Stunde gebraucht htte, mit dem Fahrrad je- doch wie mir mein Bruder vorgerechnet hatte in dreizehneinhalb Minuten gelangen konnte.

    Diese Klavierlehrerin, bei der schon meine Mutter Klavierspielen gelernt hatte und meine Schwester und mein Bruder und berhaupt jeder

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    Mensch in der ganzen Gemeinde, der auch nur auf eine Taste drcken konnte von der Kirchenorgel bis zu Rita Stanglmeiers Akkordeon ... diese Klavierlehrerin hie Marie-Luise Funkel, und zwar Frulein Marie-Luise Funkel. Auf dieses Frulein legte sie allergrten Wert, obwohl ich mein Lebtag kein weibliches Wesen gesehen habe, das weniger fruleinhaft ausgesehen htte als Marie-Luise Funkel. Sie war uralt, weihaarig, bucklig, schrumpelig, hatte ein kleines schwarzes Brtchen auf der Oberlippe und berhaupt kei- nen Busen. Ich wei das, weil ich sie einmal im Unterhemd gesehen habe, als ich aus Versehen eine Stunde zu frh zum Unterricht kam und sie ihren Mittagsschlaf noch nicht beendet hatte. Da stand sie in der Haustr ihrer riesigen alten Villa, nur mit einem Rock und einem Unterhemd bekleidet, aber nicht etwa einem zarten, weiten, seidenen Unterhemd, wie es Damen wohl tragen mgen, sondern mit einem jener enganliegenden, achselfreien Baumwolltrikots, die wir Buben in der Turnstunde anhatten, und aus diesem Turner- trikothemd hingen ihre schrumpeligen Arme,

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    ragte ihr dnner lederner Hals und darunter war es flach und mager wie eine Hhnerbrust. Trotz- dem bestand sie wie gesagt auf dem Frulein vor dem Funkel, und zwar deshalb, weil wie sie des fteren erklrte, ohne da sie jemand da- nach gefragt htte , weil die Mnner sonst den- ken knnten, sie sei schon verheiratet, wohin- gegen sie doch ein lediges Mdchen und noch zu haben sei. Diese Erklrung war natrlich nichts als barer Unsinn, denn den Mann, der die alte, schnurrbrtige, busenlose Marie-Luise Funkel geheiratet htte, den gab es auf der ganzen Welt nicht.

    In Wahrheit nannte sich Frulein Funkel Frulein Funkel, weil sie sich gar nicht Frau Funkel htte nennen knnen, selbst wenn sie es gewollt htte, denn es gab schon eine Frau Fun- kel ... oder vielleicht sollte ich besser sagen: es gab noch eine Frau Funkel. Frulein Funkel hatte nmlich eine Mutter. Und wenn ich zuvor gesagt habe, da Frulein Funkel uralt gewesen sei, so wei ich gar nicht, wie ich Frau Funkel nennen soll: steinalt, beinalt, knochenalt, baumalt, urur-

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    alt... Ich glaube, sie war mindestens hundert Jahre alt. So alt war Frau Funkel, da man eigent- lich sagen mu, sie sei nur noch in einem sehr ein- geschrnkten Sinn berhaupt vorhanden gewe- sen, mehr wie ein Mbel, mehr wie ein verstaubter prparierter Schmetterling oder wie eine zer- brechliche, dnne alte Vase als wie ein Mensch von Fleisch und Blut. Sie bewegte sich nicht, sie sprach nicht, wieviel sie hrte oder sah, wei ich nicht, nie habe ich sie anders als sitzend gesehen. Und zwar sa sie im Sommer von einem weien Tllkleid umsponnen, im Winter ganz von schwarzem Samt umhllt, aus dem ihr Kpfchen schildkrtenhaft hervorstak in einem Ohren- sessel in der hintersten Ecke des Klavierzimmers unter einer Pendeluhr, stumm, unbewegt, unbe- achtet. Nur in ganz, ganz seltenen Fllen, wenn ein Schler seine Hausaufgaben besonders gut ge- lernt und seine Czerny-Etden fehlerlos vorge- tragen hatte, pflegte Frulein Funkel am Ende der Stunde in die Mitte des Zimmers zu gehen und von dort aus zum Ohrensessel hinberzubrllen: Ma! sie nannte ihre Mutter Ma Ma!

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    Komm, gib dem Buben einen Keks, er hat so schn gespielt! Und dann mute man quer durch das Zimmer in die Ecke gehen, sich dicht vor den Ohrensessel stellen und der alten Mumie die Hand entgegenstrecken. Und abermals brllte Frulein Funkel: Gib dem Buben einen Keks, Ma!, und dann kam, unbeschreiblich langsam, irgendwoher aus der Tllumhllung oder aus dem schwarzen Samtgewand eine bluliche, zit- ternde, glaszarte Greisenhand hervor, wanderte, ohne da die Augen oder der Schildkrtenkopf folgten, nach rechts ber die Armlehne zu einem Beistelltischchen, auf dem eine Schale mit Gebck stand, entnahm der Schale einen Keks, meist einen mit weier Creme gefllten, rechteckigen Waffel- keks, wanderte mit diesem Keks langsam zurck ber den Tisch, ber die Ohrensessellehne, ber den Scho hin zur aufgehaltenen Kinderhand und legte ihn dort mit knochigen Fingern hinein wie ein Stck Gold. Manchmal geschah es, da sich dabei Kinderhand und Greisenfingerspitzen fr einen kurzen Moment berhrten, und man er- schrak bis ins Mark, denn man war auf einen har-

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    ten, fischkalten Kontakt gefat, und es wurde eine warme, ja heie und dabei unglaublich zarte, leichtgewichtige, flchtige und dennoch schau- dernmachende Berhrung wie die eines Vogels, der einem aus der Hand entfliegt. Und man stam- melte sein Dankeschn, Frau Funkel und machte, da man wegkam, hinaus aus dem Zim- mer, hinaus aus dem finsteren Haus, ins Freie hin- aus, an die Luft, an die Sonne.

    Ich wei nicht mehr, wie lange ich brauchte, um die unheimliche Kunst des Radfahrens zu erler- nen. Ich wei nur noch, da ichs mir selber beige- bracht habe, mit einer Mischung aus Widerwillen Und verbissenem Eifer, auf dem Fahrrad meiner Mutter, in einem leicht abschssigen Hohlweg im Wald, wo mich keiner sehen konnte. Die B- schungen dieses Weges standen zu beiden Seiten so dicht und so steil, da ich mich jederzeit abstt- zen konnte und ziemlich weich fiel, ins Laub oder in lockere Erde. Und irgendwann einmal, nach vielen, vielen gescheiterten Versuchen, fast ber- raschend pltzlich, hatte ich den Dreh raus. Ich bewegte mich, all meinen theoretischen Beden-

  • 75

    ken und meiner tiefen Skepsis zum Trotz, frei auf zwei Rdern: ein verblffendes Gefhl und ein stolzes! Auf der Terrasse unseres Hauses und dem angrenzenden Rasen absolvierte ich vor versam- melter Familie eine Probefahrt, wofr ich den Beifall meiner Eltern und das schrille Gelchter meiner Geschwister erntete. Anschlieend wies mich mein Bruder in die wichtigsten Regeln der Straenverkehrsordnung ein, zuvrderst in die Regel, immer strikt rechts zu fahren, wobei rechts als diejenige Seite definiert war, wo sich die Hand- bremse an der Lenkstange befand1), und von da an fuhr ich mutterseelenallein einmal in der Woche zu Frulein Funkel in die Klavierstunde, Mitt- woch nachmittags von drei bis vier. Freilich, von den dreizehneinhalb Minuten, die mein Bruder zur Bewltigung der Strecke veranschlagt hatte,

    1) Noch heute halte ich mich an diese einprgsame Definition, wenn ich in einem Zustand momentaner Verwirrung nicht mehr wei, wo rechts oder links ist. Ich stelle mir dann einfach eine Fahrrad- lenkstange vor, bettige im Geist die Handbremse und bin wieder bestens orientiert. Fahrrder, die an beiden Seiten der Lenkstange eine Handbremse besitzen oder schlimmer noch! nur auf der linken Seite, wrde ich niemals besteigen

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    konnte bei mir gar keine Rede sein. Mein Bruder war fnf Jahre lter als ich und besa ein Fahrrad mit Rennlenker und Dreigangkettenschaltung. Ich hingegen radelte im Stehen auf dem viel zu groen Fahrrad meiner Mutter. Selbst wenn man den Sattel ganz herunterschraubte, konnte ich nicht gleichzeitig sitzen und in die Pedale treten, sondern nur entweder treten oder sitzen, was zu einer uerst ineffizienten, ermdenden und, wie mir bewut war, auch durchaus lcherlich anzu- sehenden Fahrweise zwang: Im Stehen stram- pelnd mute ich das Rad auf Touren bringen, mich bei voller Fahrt in den Sattel wuchten, dort auf schwankendem Sitz mit weit abgespreizten oder hochgezogenen Beinen verharren, bis das Rad fast ausgerollt war, um dann wieder in die noch rotierenden Pedale zu steigen und erneut Schwung zu holen. Mit dieser schubweisen Tech- nik schaffte ich den Weg von unserem Haus, den See entlang, durch Obernsee hindurch bis zur Villa von Frulein Funkel in knapp zwanzig Mi- nuten, wenn ja, wenn nichts dazwischenkam! Und Zwischenflle gab es viele. Es verhielt sich

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    nmlich so, da ich zwar fahren, lenken, bremsen, auf- und absteigen usw. konnte, nicht aber in der Lage war zu berholen, mich berholen zu lassen oder jemandem zu begegnen. Sobald nur das lei- seste Motorengerusch eines sich von vorn oder hinten nhernden Autos zu hren war, bremste ich sofort, stieg ab und wartete so lange, bis der Wagen passiert war. Sobald andere Radfahrer vor mir auftauchten, hielt ich an und wartete, bis sie vorbergefahren waren. Beim berholen eines Fugngers stieg ich kurz hinter ihm ab, rannte, das Fahrrad schiebend, an ihm vorbei und radelte erst weiter, nachdem ich ihn weit hinter mir gelas- sen hatte. Ich mute eine vollkommen freie Strecke vor und hinter mir haben, um zu radeln, und es durfte mich mglichst niemand dabei be- obachten. Schlielich war da noch, auf halbem Weg zwischen Unternsee und Obernsee, der Hund von Frau Dr. Hartlaub, ein widerlicher kleiner Terrier, der sich oft auf der Strae herum- trieb und auf alles, was Rder hatte, klffend los- strzte. Seinen Angriffen konnte man nur entge- hen, indem man das Fahrrad an den Straenrand

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    lenkte, es dort am Gartenzaun geschickt zum Halten brachte und sich an einer Zaunlatte fest- klammerte, um mit hochgezogenen Beinen auf dem Sattel kauernd so lange zu warten, bis Frau Dr. Hartlaub die Bestie zurckgepfiffen hatte. Es ist also kein Wunder, wenn mir unter diesen Um- stnden selbst zwanzig Minuten oft nicht aus- reichten, den Weg ans andere Ende von Obernsee hinter mich zu bringen, und so hatte ich es mir zur Gewohnheit gemacht, sicherheitshalber schon um halb drei von zu Hause loszufahren, um eini- germaen pnktlich bei Frulein Funkel einzu- treffen.

    Wenn ich vorhin erzhlt habe, da Frulein Funkel gelegentlich ihre Mutter anwies, Kekse an die Schler zu verteilen, so habe ich mit Bedacht hinzugefgt, da das nur in ganz, ganz seltenen Fllen geschah. blich war es keineswegs, denn Frulein Funkel war eine strenge Lehrerin und schwer zufriedenzustellen. Hatte man seine Hausaufgaben schlampig gelernt oder produ- zierte man beim Vom-Blatt-Lesen einen falschen Ton nach dem anderen, so begann sie bedrohlich

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    mit dem Kopf zu wackeln, wurde rot bers ganze Gesicht, rempelte einen mit dem Ellenbogen in die Seite, schnippte wtend mit den Fingern in der Luft herum und brllte pltzlich los, wobei sie wste Beschimpfungen ausstie. Die schlimmste derartige Szene erlebte ich etwa ein Jahr nach dem Beginn meines Unterrichts, und sie hat mich so sehr erschttert, da ich noch heute nicht ohne Erregung an sie zurckdenken kann.

    Ich war zu spt gekommen, um zehn Minuten. Der Terrier von Frau Dr. Hartlaub hatte mich am Gartenzaun festgenagelt, zwei Autos waren mir begegnet, vier Fugnger hatte ich berholen mssen. Als ich bei Frulein Funkel eintraf, lief sie bereits mit rotem, wackelndem Kopf im Zimmer auf und ab und schnippte mit den Fingern in der Luft herum.

    Weit du, wie spt es ist? knurrte sie. Ich sagte nichts. Ich hatte keine Uhr. Ich bekam meine erste Armbanduhr zum dreizehnten Ge- burtstag.

    Da! rief sie und schnippte in Richtung Zim- merecke, wo ber der reglos dasitzenden Ma Fun-

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    kel die Pendeluhr tickte. Es ist gleich Viertel nach drei! Wo hast du dich schon wieder herum- getrieben?

    Ich begann etwas daherzustammeln von dem Hund der Frau Dr. Hartlaub, aber sie lie mich gar nicht ausreden. Hund! fiel sie mir ins Wort, jaja, mit einem Hund gespielt! Eis wirst du ge- gessen haben! Ich kenne euch doch! Dauernd treibt ihr euch am Kiosk von Frau Hirt herum und habt nichts anderes im Sinn, als Eis zu schlecken!

    Das war nun eine frchterliche Gemeinheit! Mir vorzuwerfen, ich htte am Kiosk von Frau Hirt Eis gekauft! Wo ich noch nicht einmal Taschengeld bekam! Mein Bruder und seine Freunde, die machten solche Sachen. Die trugen ihr gesamtes Taschengeld zum Kiosk von Frau Hirt. Aber ich doch nicht! Ich mute jedes ein- zelne Eis meiner Mutter oder meiner Schwester mhsam abbetteln! Und nun wurde ich beschul- digt, ich htte mich, statt im Schweie meines An- gesichts und unter grten Schwierigkeiten in die Klavierstunde zu radeln, eisschleckenderweise am Kiosk von Frau Hirt herumgetrieben! Vor so

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    viel Niedertracht versagte mir die Sprache, und ich begann zu weinen.

    Hr zu heulen auf! baffte Frulein Funkel. Hol deine Sachen heraus und zeig, was du ge- lernt hast! Wahrscheinlich hast du auch wieder nicht gebt.

    Damit hatte sie nun leider nicht ganz unrecht. Tatschlich war ich in der vergangenen Woche so gut wie gar nicht zum ben gekommen, einerseits, weil ich wichtige andere Dinge zu tun hatte, andrerseits, weil die aufgegebenen Etden ekelhaft schwer waren, fugenhaftes Zeugs im Kanonschritt, rechte und linke Hand weit ausein- anderlaufend, die eine unvermittelt da, die andere unvermittelt dort verharrend, in widerborstigem Rhythmus und ungewohnten Intervallen, oben- drein noch scheulich klingend. Der Komponist hie Hler, wenn ich mich nicht irre der Teufel soll ihn holen!

    Trotzdem glaube ich, da ich mich mit einigem Anstand durch die beiden Stcke hindurch- gewurstelt htte, wenn nicht die verschiedenen Aufregungen whrend der Herfahrt hauptsch-

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    lich die Attacke des Terriers von Frau Dr. Hart- laub und das anschlieende Donnerwetter von Frulein Funkel meine Nerven vllig zerrttet htten. Nun aber sa ich zitternd und schwitzend und mit von Trnenschleiern getrbten Augen am Klavier, vor mir achtundachtzig Tasten und die Etden des Herrn Hler, hinter mir Frulein Funkel, die mir ihren wtenden Atem in den Nacken blies... und scheiterte vollkommen. Alles brachte ich durcheinander, Ba- und Vio- linschlssel, halbe und ganze Noten, Viertel- und Achtelpausen, links und rechts... Ich kam nicht einmal bis zum Ende der ersten Zeile, dann zer- sprangen Tasten und Noten in einem Kaleido- skop von Trnen, und ich lie die Hnde sinken und weinte nur noch still vor mich hin.

    Dassss habe ich mir gedacht! zischte es von hinten, und ein feinzerstubter Speichelnebel sprhte mir in den Nacken. Dassss habe ich mir gedacht. Zu spt kommen und Eis essen und Aus- reden erfinden, dassss knnen die Herrschaften! Aber ihre Hausaufgaben machen, dassss knnen sie nicht! Warte, Brschlein! Dir werd ichs bei-

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    bringen! Und damit scho sie hinter meinem Rcken hervor, pflanzte sich neben mich auf die Sitzbank, packte mit beiden Hnden meine Rechte, ergriff deren einzelne Finger und stampfte sie nacheinander in die Tasten, wie es Herr Hler komponiert hatte: Der da hin! Und der da hin! Und der da hin! Und der Daumen hier! Und der dritte hier! Und der hier! Und dieser hier...!

    Und als sie mit der Rechten zu Ende gekommen war, kam die Linke dran, nach der gleichen Me- thode: Der da hin! Und der da hin! Und der da hin...!

    So verbissen quetschte sie an meinen Fingern herum, als wollte sie mir die Etde Note fr Note in die Hnde kneten. Das tat ziemlich weh und dauerte etwa eine halbe Stunde lang. Dann lie sie endlich von mir ab, klappte das Heft zu und fauchte: Bis zum nchsten Mal wirst du sie kn- nen, Brschlein, und zwar nicht nur vom Blatt, sondern auswendig und allegro, sonst kannst du was erleben! Und dann schlug sie eine dicke vier- hndige Partitur auf und knallte sie auf den

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    Notenstnder. Und jetzt werden wir noch zehn Minuten Diabelli spielen, damit du endlich Noten lesen lernst. Wehe, du machst einen Fehler!

    Ich nickte ergeben und wischte mir mit dem rmel die Trnen aus dem Gesicht. Diabelli, das war ein freundlicher Komponist. Das war kein solcher Fugenschinder wie dieser grauenhafte Hler. Diabelli war einfach zu spielen, bis zur Einfltigkeit einfach, und klang dabei doch im- mer sehr famos. Ich liebte Diabelli, auch wenn meine Schwester manchmal sagte: Wer gar nicht Klavier spielen kann, der kann immer noch Dia- belli spielen.

    Wir spielten also Diabelli vierhndig, Frulein Funkel links im Ba orgelnd und ich mit beiden Hnden unisono rechts im Diskant. Eine Weile lang ging das recht flott dahin, ich fhlte mich in zunehmendem Mae sicher, dankte dem lieben Gott, da er den Komponisten Anton Diabelli ge- schaffen hatte, und verga schlielich in meiner Erleichterung, da die kleine Sonatine in G-Dur notiert und also am Anfang mit einem Fis vorge- zeichnet gewesen war; dies bedeutete, da man

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    sich auf Dauer nicht nur auf den weien Tasten bequem dahinbewegen konnte, sondern an be- stimmten Stellen, ohne weitere Vorwarnung im Notentext, eine schwarze Taste anzuschlagen hatte, eben jenes Fis, welches sich gleich unterhalb des G befand. Als nun zum ersten Mal das Fis in meinem Part erschien, erkannte ich es nicht als sol- ches, tappte prompt daneben und spielte stattdes- sen F, was, wie jeder Musikfreund sofort begreifen wird, einen unerfreulichen Miklang ergab.

    Typisch! fauchte Frulein Funkel und brach ab. Typisch! Bei der ersten kleinen Schwierig- keit haut der Herr gleich daneben! Hast du keine Augen im Kopf? Fis! Da steht es gro und deut- lich! Merks dir! Noch mal von vorn! Eins -zwei- drei-vier...

    Wie es dazu kam, da ich beim zweiten Mal den gleichen Fehler wieder machte, ist mir noch heute nicht ganz erklrlich. Vermutlich war ich so sehr darauf bedacht, ihn nicht zu machen, da ich hin- ter jeder Note ein Fis witterte, am liebsten von Anfang an nur lauter Fis gespielt htte, mich re- gelrecht zwingen mute, Fis nicht zu spielen,

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    noch nicht Fis, noch nicht... bis... ja, bis ich eben an der bewuten Stelle abermals F statt Fis spielte.

    Sie wurde mit einem Schlag knallrot im Gesicht und kreischte los: Ja ist das denn die Mg- lichkeit! Fis hab ich gesagt, zum Donnerwetter! Fis! Weit du nicht, was ein Fis ist, du Holzkopf? Da! peng-peng und sie klatschte mit ihrem Zeigefinger, dessen Spitze vom jahrezehntelan- gen Klavierunterricht schon so breitgeklopft war wie ein Zehnpfennigstck, auf die schwarze Taste unterhalb des G ...Das ist ein Fis!... peng- peng ...Das ist... Und an dieser Stelle mute sie niesen. Nieste, wischte sich rasch mit dem erwhnten Zeigefinger ber den Schnurrbart und hieb anschlieend noch zwei-, dreimal auf die Taste, laut kreischend: Das ist ein Fis, das ist ein Fis...! Dann zog sie ihr Taschentuch aus der Manschette und schneuzte sich.

    Ich aber starrte auf das Fis und erbleichte. Am vorderen Ende der Taste klebte eine ungefhr fingernagellange, beinahe bleistiftdicke, wurm- haft gekrmmte, grngelblich schillernde Por-

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    tion schleimig frischen Rotzpopels, offenbar stammend aus der Nase von Frulein Funkel, von wo sie durch das Niesen auf den Schnurr- bart, vom Schnurrbart durch die Wischbewe- gung auf den Zeigefinger und vom Zeigefinger auf das Fis gelangt war.

    Noch mal von vorne! knurrte es neben mir. Eins-zwei-drei-vier... und wir begannen zu spielen.

    Die folgenden dreiig Sekunden zhlten zu den entsetzlichsten meines Lebens. Ich sprte, wie mir das Blut aus den Wangen wich und der Angst- schwei in den Nacken stieg. Die Haare strubten sich mir auf dem Kopfe, meine Ohren wurden ab- wechselnd hei und kalt und schlielich taub, als seien sie verstopft, ich hrte kaum noch etwas von der lieblichen Melodie des Anton Diabelli, die ich selber wie mechanisch spielte, ohne Blick aufs Notenheft, die Finger tatens nach der zweiten Wiederholung von alleine ich starrte nur mit Riesenaugen auf die schlanke schwarze Taste unterhalb des G, auf der Marie-Luise Funkels Rotzeballen klebte... noch sieben Takte, noch

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    sechs... es war unmglich, die Taste zu drcken, ohne mitten in den Schleim hineinzutappen... noch fnf Takte, noch vier... wenn ich aber nicht hineintappte und zum dritten Mal das F statt des Fis spielte, dann... noch drei Takte o lieber Gott, mach ein Wunder! Sag etwas! Tu etwas! Rei die Erde auf! Zertrmmere das Klavier! La die Zeit rckwrts gehen, damit ich nicht dies Fis spielen mu!... noch zwei Takte, noch einer... und der liebe Gott schwieg und tat nichts, und der letzte frchterliche Takt war da, er bestand ich wei es noch genau aus sechs Achteln, die vom D herunter bis zum Fis liefen und in einer Viertel- note auf dem darberliegenden G mndeten... wie in den Orkus taumelten meine Finger diese Achteltreppe hinunter, D-C-H-A-G... Fis jetzt! schrie es neben mir... und ich, im klarsten Bewutsein dessen, was ich tat, mit vollkomme- ner Todesverachtung, spielte F.

    Ich konnte gerade noch die Finger von den Ta- sten ziehen, da knallte schon der Klaviaturdeckel herab, und gleichzeitig scho Frulein Funkel neben mir in die Hhe wie ein Schachtelteufel.

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    Das hast du mit Absicht gemacht! brllte sie mit sich berschlagender Stimme, so gellend laut, da es mir trotz meiner Taubheit in den Ohren schepperte. Mit voller Absicht hast du das gemacht, du lumpiger Lausebengel! Du Rotz- bub, du verstockter! Du unverschmter kleiner Dreckskerl, du...

    Und nun raste sie in wildem Stampfschritt um den Etisch herum, der in der Mitte des Zimmers stand, und schlug bei jedem zweiten Wort kra- chend mit der Faust auf die Tischplatte.

    Aber ich lasse mich von dir nicht an der Nase herumfhren, hrst du! Bilde dir nicht ein, da ich so mit mir umspringen lasse! Ich rufe deine Mutter an. Ich rufe deinen Vater an. Ich verlange, da du eine Tracht Prgel beziehst, da du eine Woche nicht mehr sitzen kannst! Ich verlange, da du drei Wochen Hausarrest bekommst und jeden Tag drei Stunden lang die Tonleiter G-Dur bst, und D-Dur dazu und A-Dur dazu, mit Fis und Cis und Gis, so lange, bis du sie im Schlaf kannst! Du sollst mich kennenlernen, Brsch- lein! Du sollst mich... am liebsten wrde ich

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    dich jetzt gleich... hchstpersnlich... eigen- hndig ...

    Und da versagte ihr vor Wut die Stimme, und sie ruderte mit beiden Armen in der Luft herum und wurde so dunkelrot im Gesicht, als mte sie im nchsten Augenblick zerplatzen, und packte schlielich einen Apfel, der vor ihr in der Obst- schale lag, holte aus und schleuderte ihn mit sol- cher Wucht gegen die Wand, da er dort zu einem braunen Fleck zerklatschte, links neben der Pen- deluhr, knapp oberhalb des Schildkrtenkopfes ihrer alten Mutter.

    Gespenstisch dann, wie sich, als htte man auf einen Knopf gedrckt, im Tllberg etwas regte und aus den Falten des Gewands die Greisenhand hervorkam, um automatenhaft nach rechts zu wandern, zu den Keksen...

    Aber das bemerkte Frulein Funkel gar nicht, das sah nur ich. Sie hingegen hatte die Tre aufge- rissen, deutete mit gestrecktem Arm hinaus und krchzte: Pack deine Sachen und verschwinde! und schleuderte, als ich hinausgetaumelt war, die Tre krachend hinter mir zu.

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    Ich zitterte am ganzen Krper. Meine Knie schlotterten so sehr, da ich kaum gehen, ge- schweige denn fahren konnte. Mit bebenden Hnden klemmte ich die Noten auf dem Gepck- trger fest und schob das Rad neben mir her. Und whrend ich schob, kochten die finstersten Ge- danken in meiner Seele. Was mich in Aufruhr ver- setzt, was mich in diese bis zum Schttelfrost gehende Erregung getrieben hatte, war nicht das Donnerwetter von Frulein Funkel gewesen; nicht die Androhung von Prgel und Hausarrest; nicht Angst vor irgend etwas. Es war vielmehr die emprende Erkenntnis, da die ganze Welt nichts anderes war als eine einzige, ungerechte, bsar- tige, niedertrchtige Gemeinheit. Und schuld an dieser Hundsgemeinheit waren die anderen. Und zwar alle. Insgesamt und ohne Ausnahme alle an- deren. Angefangen von meiner Mutter, die mir kein anstndiges Fahrrad kaufte; meinem Vater, der ihr immer beipflichtete; meinem Bruder und meiner Schwester, die hmisch darber lachten, da ich im Stehen radfahren mute; dem wider- lichen Kter von Frau Dr. Hartlaub, der mich im-

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    mer belstigte; den Spaziergngern, die die See- strae verstopften, so da ich notwendigerweise zu spt kommen mute; dem Komponisten H- ler, der mich mit seinen Fugen andete und qulte; dem Frulein Funkel mit ihren verlogenen Beschuldigungen und ihrem ekelhaften Nasen- popel auf dem Fis ... bis hin zum lieben Gott, ja, auch dem sogenannten lieben Gott, der, wenn man ihn einmal brauchte und flehentlich um Bei- stand bat, nichts Besseres zu tun hatte, als sich in ein feiges Schweigen zu hllen und dem unge- rechten Schicksal seinen Lauf zu lassen. Wozu brauchte ich diese ganze Bagage, die sich gegen mich verschworen hatte? Was ging mich diese Welt noch an? In einer solchen Welt der Nieder- tracht, da hatte ich nichts verloren. Sollten doch die anderen an ihrer eigenen Gemeinheit erstik- ken ! Sollten sie ihre Rotze doch hinschmieren, wo sie wollten! Ohne mich! Ich spielte da nicht lnger mit. Ich wrde dieser Welt ade sagen. Ich wrde mich umbringen. Und zwar sofort.

    Als ich diesen Gedanken ausgebrtet hatte, wurde mir ganz leicht ums Herz. Die Vorstel-

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    lung, da ich ja nur aus dem Leben zu scheiden brauchte wie man diesen Vorgang freund- licherweise nannte , um aller Widerwrtigkeiten und Ungerechtigkeiten mit einem Schlag ent- hoben zu sein, hatte etwas ungemein Trstliches und Befreiendes. Die Trnen waren versiegt. Das Zittern hatte aufgehrt. Es war wieder Hoffnung in der Welt. Nur gleich mute es sein. Sofort. Ehe ich es mir anders berlegte.

    Ich schwang mich in die Pedale und fuhr los. In der Ortsmitte von Obernsee nahm ich nicht den Weg zurck nach Hause, sondern bog rechts von der Seestrae ab, fuhr durch den Wald den Hgel hinauf und holperte ber einen Feldweg hinber zu meinem Schulweg in Richtung Transformato- renhuschen. Dort stand der grte Baum, den ich kannte, eine mchtige alte Rotfichte. Diesen Baum wollte ich besteigen und und mich von sei- nem Wipfel herabstrzen. Eine andere Todesart wre mir gar nicht in den Sinn gekommen. Ich wute zwar, da man sich auch ertrnken, erdol- chen, erhngen, ersticken oder mit elektrischem Strom zu Tode bringen konnte letzteres hatte

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    mir mein Bruder einmal in extenso erklrt, aber da brauchst du einen Nulleiter, hatte er gesagt, das ist das A und O, ohne Nulleiter passiert gar nichts, sonst wrden ja alle Vgel, die sich auf eine Strom- leitung setzen, sofort mausetot herunterfallen. Tun sie aber nicht. Und warum nicht? Weil sie kei- nen Nulleiter haben. Du kannst dich sogar theo- retisch an eine Hunderttausend-Volt-Hoch- spannungsleitung hngen, ohne da dir das geringste passiert wenn du keinen Nulleiter hast. Soweit mein Bruder. Mir war das alles viel zu kompliziert, elektrischer Strom und diese Dinge. Auerdem wute ich nicht, was ein Nulleiter ist. Nein fr mich kam nur der Sturz von einem Baum in Frage. Im Strzen hatte ich Erfahrung. Das Str- zen schreckte mich nicht. Es war die einzige mir geme Art, aus dem Leben zu scheiden.

    Ich stellte das Fahrrad neben dem Transforma- torenhuschen ab und schlug mich durch die Bsche zur Rotfichte. Sie war schon so alt, da sie unten keine ste mehr besa. Ich mute erst auf eine benachbarte kleinere Tanne klettern und mich von dort hinberhangeln. Dann war alles

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    sehr einfach. Auf dicken, griffigen Asten stieg ich himmelwrts, fast so bequem wie auf einer Leiter, und hielt erst ein, als ber mir pltzlich das Licht durch die Zweige brach und der Stamm so dnn ge- worden war, da ich sein leises Schwanken sprte. Ich befand mich noch ein Stck von der Krone ent- fernt, aber als ich nun zum ersten Mal nach unten schaute, sah ich den Boden nicht mehr, so teppich- dicht lag das grnbraune Geflecht von Nadel- buschen und Zweigen und Fichtenzapfen zu mei- nen Fen ausgebreitet. Unmglich, von hier zu springen. Es wre einem Sprung von oberhalb der Wolken gleichgekommen, wie in ein nahes, trge- risch solides Bett, mit anschlieendem Sturz ins Ungewisse. Ich aber wollte nicht ins Ungewisse strzen, ich wollte sehen, wo, wohin und wie ich fiel. Mein Fall sollte ein freier Fall nach den Ge- setzen Galileo Galileis sein.

    Ich kletterte also wieder zurck in die dmm- rige Region, den Stamm von Ast zu Ast umrun- dend und nach unten sphend, wo sich eine Lcke fr den freien Fall auftte. Ein paar ste tiefer fand ich sie: eine ideale Flugbahn, wie ein Schacht

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    so tief, senkrecht hinunter auf den Boden, wo die knorrigen Wurzelstrnge des Baumes fr einen harten und unweigerlich tdlichen Aufprall sor- gen wrden. Ich mute nur ein wenig vom Stamm abrcken, mich ein weniges auf dem Ast nach auen schieben, ehe ich sprnge, um vollkommen ungehindert in die Tiefe strzen zu knnen.

    Langsam lie ich mich in die Knie, setzte mich auf den Ast, lehnte mich an den Stamm und ver- schnaufte. Bis zu diesem Moment war ich gar nicht dazu gekommen, darber nachzudenken, was ich eigentlich zu tun im Begriffe war, so sehr hatte mich die Ausfhrung der Tat selbst in An- spruch genommen. Nun aber, vor dem entschei- denden Augenblick, kamen die Gedanken wie- der, sie drngten sich heran, und ich lenkte sie, nachdem ich nochmals die ganze bse Welt und all ihre Bewohner in Bausch und Bogen ver- dammt und verflucht hatte, auf die sehr viel an- heimelndere Vorstellung meiner eigenen Beerdi- gung. Oh, es wrde eine prchtige Beerdigung werden! Die Kirchenglocken wrden klingen, die Orgel wrde brausen, der Friedhof von Obernsee

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    knnte die Menge der Trauernden kaum fassen. Ich lge auf Blumen gebettet im glsernen Sarg, ein schwarzes Rlein wrde mich ziehen, und um mich wre nichts als ein groes Schluchzen zu hren. Es schluchzten meine Eltern und meine Geschwister, es schluchzten die Kinder aus mei- ner Klasse, es schluchzten Frau Dr. Hartlaub und Frulein Funkel, von weither waren Verwandte und Freunde zum Schluchzen gekommen, und alle schlugen sich, whrend sie schluchzten, vor die Brust und brachen in Wehklagen aus und rie- fen: Ach! Wir sind schuld, da dieser liebe, ein- zigartige Mensch nicht mehr bei uns ist! Ach! Htten wir ihn doch besser behandelt, wren wir doch nicht so bse und ungerecht zu ihm gewe- sen, dann wrde er jetzt noch leben, dieser gute, dieser liebe, dieser einzigartige und freundliche Mensch! Und am Rande meines Grabes stand Ca- rolina Kckelmann und warf mir einen Strau Blu- men und den allerletzten Blick nach und rief unter Trnen mit schmerzzerqulter heiserer Stimme: Ach, du Lieber! Du Einzigartiger! Wre ich doch damals am Montag mit dir gegangen!

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    Herrlich, diese Phantasien! Ich schwelgte in ihnen, ich spielte die Beerdigung in immer neuen Varianten durch, von der Aufbahrung bis zum Leichenschmaus, bei dem rhmende Nachreden auf mich gehalten wurden, und schlielich war ich selbst so gerhrt davon, da ich, wenn nicht schluchzte, so doch feuchte Augen bekam. Es war die schnste Beerdigung, die man je in unse- rer Gemeinde gesehen hatte, und noch Jahr- zehnte spter wrde man in wehmtiger Erinne- rung davon erzhlen... Jammerschade nur, da ich selbst nicht wirklich wrde daran teilnehmen knnen, denn ich wre ja dann tot. Daran war bedauerlicherweise nicht zu zweifeln. Ich mute tot sein bei meiner eigenen Beerdigung. Beides war nicht auf einmal zu haben: die Rache an der Welt und das Weiterleben in der Welt. Also die Rache!

    Ich lste mich vom Stamm der Fichte. Lang- sam, Zentimeter fr Zentimeter, rckte ich nach auen, mit der rechten Hand am Stamm mich halb sttzend, halb abdrckend, mit der linken den Ast umklammernd, auf dem ich sa. Es kam der

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    Moment, da ich den Stamm nur eben noch mit den Fingerspitzen berhrte... und dann auch mit den Fingerspitzen nicht mehr... und dann sa ich, ohne seitliche Sttze, nur noch mit beiden Hn- den festgekrallt auf dem Ast, frei wie ein Vogel, unter mir die Tiefe. Ganz, ganz vorsichtig schaute ich hinunter. Ich schtzte meine Hhe ber dem Boden auf die dreifache Hhe des Giebels unseres Hauses, und der Giebel unseres Hauses war zehn Meter hoch. Das machte also dreiig Meter. Nach den Gesetzen des Galileo Galilei bedeutete das eine mir bevorstehende Fallzeit von exakt 2,4730986 Sekunden1) und somit den Aufprall am Boden mit einer Endgeschwindigkeit von 87,34 Stundenkilometern2).

    1) Bei Vernachlssigung des Luftwiderstandes! 2) Selbstverstndlich habe ich diese Berechnung bis auf sieben Stel-

    len hinter dem Komma nicht damals auf dem Aste sitzend, son- dern erst sehr viel spter mit Hilfe eines Taschenrechners durch- gefhrt. Die Fallgesetze waren mir seinerzeit ja auch nur als Wort vom Hrensagen her bekannt, nicht in ihrer genauen Bedeutung oder in ihrer mathematischen Formel. Meine damaligen Berech- nungen beschrnkten sich auf das Abschtzen der Fallhhe und auf die durch diverse empirische Erfahrungen gesttzte Mut- maung, da die Fallzeit vergleichsweise lang und die Aufprall- geschwindigkeit vergleichsweise sehr hoch sein wrde.

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    Lange schaute ich hinunter. Die Tiefe lockte. Sie zog verfhrerisch an. Sie winkte gleichsam komm, komm!. Sie zerrte wie an unsichtbaren Fden, komm, komm!. Und es war einfach. Kinderleicht war es. Nur ein bichen nach vorne gelehnt, nur ein ganz klein wenig aus dem Gleich- gewicht gerckt der Rest ging von alleine... Komm, komm!

    Ja! Ich will ja! Ich kann mich nur noch nicht entscheiden, wann! Fr einen ganz bestimmten Augenblick, fr einen Punkt, fr einen Zeit- Punkt! Ich kann nicht sagen: Jetzt! Jetzt tu ichs!

    Ich entschlo mich, bis drei zu zhlen, wie wir es beim Wettlaufen taten oder wenn wir ins Was- ser sprangen, und bei drei mich fallen zu lassen. Ich holte Luft und zhlte:

    Eins... zwei... Und dann unterbrach ich noch einmal, weil ich nicht wute, ob ich mit offe- nen oder mit geschlossenen Augen springen sollte. Ich entschied mich nach kurzer berle- gung dafr, mit geschlossenen Augen zu zhlen, mich bei drei noch geschlossenen Auges ins

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    Nichts zu lehnen und erst im Moment des begin- nenden Falls die Augen wieder aufzumachen. Ich schlo die Augen und zhlte: Eins... zwei...

    Da hrte ich ein Klopfen. Es kam von der Strae her. Ein hartes, rhythmisches Klopfen, tak-tak-tak-tak, es schlug im doppelten Tempo meines Zhlens, auf eins kam ein tak, zwischen eins und zwei, auf zwei und zwischen zwei und dem bevorstehenden drei exakt wie das Metronom von Frulein Funkel: Tak-tak-tak- tak. Es schien beinahe, als wollte das Klopfen mein Zhlen nachffen. Ich schlug die Augen auf, und gleichzeitig brach das Klopfen ab, und statt dessen war nun ein Rascheln zu hren, ein Knak- ken von Zweigen, ein mchtiges, tierhaftes Keu- chen und pltzlich stand Herr Sommer unter mir, dreiig Meter tiefer, so genau in der Senk- rechten, da ich jetzt bei einem Sprung nicht nur mich selbst, sondern auch ihn zerschmettert htte. Ich krallte mich an meinem Ast fest und rhrte mich nicht.

    Herr Sommer blieb unbeweglich stehen und

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    keuchte. Als sich sein Atem ein wenig beruhigt hatte, hielt er ihn abrupt an und bewegte dabei den Kopf ruckweise nach allen Seiten, wohl um zu lauschen. Dann duckte er sich und sphte nach links unter die Bsche, nach rechts ins Gehlz, schlich einmal wie ein Indianer um den Baum herum, erschien wieder an derselben Stelle, sphte und lauschte abermals ringsum (nur nicht nach oben!), warf, nachdem er sich vergewissert hatte, da niemand ihm gefolgt und kein Mensch weit und breit zu sehen war, mit drei raschen Be- wegungen Strohhut, Stock und Rucksack von sich und legte sich der Lnge nach zwischen die Wurzeln auf den Waldboden wie in ein Bett. Doch er ruhte nicht in diesem Bett, er stie, kaum da er lag, einen langen, schauerlich klingenden Seufzer aus nein, es war kein Seufzer, in einem Seufzer klingt schon Erleichterung mit, es war eher ein chzendes Sthnen, ein tiefer, klagender Brustlaut, in dem sich Verzweiflung und die Sehnsucht nach Erleichterung mischten. Und ein zweites Mal dieser haarstrubende Laut, dieses flehentliche Sthnen wie von einem schmerz-

  • 105

    gequlten Kranken, und abermals keine Erleich- terung, keine Ruhe, keine einzige Sekunde des Ausruhens, sondern schon richtete er sich wieder auf, grapschte nach seinem Rucksack, zerrte mit hastigen Bewegungen sein Butterbrot heraus und eine flache, blecherne Feldflasche und begann zu essen, zu fressen, das Butterbrot in sich hinein- zustopfen und bei jedem Bissen nun wieder mitrauisch um sich zu sphen, als lauerten Fein- de im Wald, als wre ein frchterlicher Verfolger hinter ihm her, dem er einen nur knappen und im- mer knapper werdenden Vorsprung abgelaufen htte und der jeden Moment hier, an diesem Ort, in Erscheinung treten knnte. In krzester Zeit war das Butterbrot verschlungen, ein Schluck aus der Feldflasche hinuntergestrzt, und dann war alles nur noch hektische Eile, panischer Auf- bruch: Die Feldflasche in den Rucksack gewor- fen, den Rucksack im Aufstehen geschultert, mit einem Griff Stock und Hut gerafft, und im Lauf- schritt davon, keuchend, fort durch die Bsche, ein Rascheln, ein Knacken von Zweigen, und dann, von der Strae her, das metronomische

  • Klopfen des Stocks auf dem harten Asphalt: Tak-tak-tak-tak-tak..., sich rasch entfernend.

    Ich sa in der Astgabel, dicht an den Stamm der Fichte geschmiegt, ich wei nicht, wie ich dorthin zurckgekommen bin. Ich zitterte. Mir war kalt. Ich hatte pltzlich berhaupt keine Lust mehr, in die Tiefe zu springen. Es kam mir lcherlich vor. Ich verstand nicht mehr, wie ich je auf einen so idiotischen Gedanken hatte kom- men knnen: sich umzubringen wegen eines Nasenpopels! Und hatte ich doch soeben einen Mann gesehen, der sein Leben lang auf der Flucht war vor dem Tod.

  • 107

    E s vergingen wohl fnf oder sechs Jahre, ehe ich Herrn Sommer das nchste und zugleich das letzte Mal begegnet bin. Gesehen habe ich ihn in der Zwischenzeit gewi hufig, es wre ja fast un- mglich gewesen, ihn, der stndig unterwegs war, nicht zu sehen, irgendwo auf der Landstrae, auf einem der vielen kleinen Wege um den See, auf freiem Feld oder im Wald. Aber er fiel mir nicht mehr besonders auf, ich glaube, er ist niemandem mehr besonders aufgefallen, man hatte ihn so oft gesehen, da man ihn bersah wie ein allzu be- kanntes Inventar der Landschaft, bei dem man ja auch nicht jedesmal in Erstaunen ausbricht und ruft: Schau, da steht der Kirchturm! Schau, dort liegt der Schulberg! Schau, dort fhrt der Omni- bus!... Und hchstens, wenn ich mit meinem Vater sonntags zum Pferderennen fuhr und wir ihn berholten, sagten wir zum Spa: Schau, da geht Herr Sommer er wird sich den Tod holen!,

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    und meinten eigentlich gar nicht mehr ihn, son- dern meinten unsere eigene Erinnerung an den Tag jenes Hagelschauers vor vielen, vielen Jahren, als mein Vater das Stereotyp verwendet hatte.

    Von irgend jemandem hatte man gehrt, seine Frau, die Puppenmacherin, sei gestorben, aber man wute nicht genau, wann und wo, und nie- mand war auf der Beerdigung gewesen. Er wohnte nicht mehr im Souterrain des Malermei- sters Stanglmeier dort wohnten jetzt die Rita und ihr Mann , sondern ein paar Huser weiter beim Fischer Riedl unterm Dach. Er sei aber nur ganz selten dagewesen, sagte die Frau Riedl sp- ter, und wenn, dann nur ganz kurz, nur um etwas zu essen oder einen Tee zu trinken, dann sei er wieder fortgelaufen. Oft sei er tagelang nicht nach Hause gekommen, auch nicht zum Schlafen; wo er gewesen sei, wo er die Nacht verbracht, ob er berhaupt irgendwo schlafend die Nacht ver- bracht oder nicht vielmehr Tag und Nacht wan- dernd umhergezogen sei all das wute man nicht. Es interessierte auch keinen. Die Leute hat- ten jetzt andere Sorgen. Sie machten sich Gedan-

  • 110

    ken ber ihre Autos, ihre Waschmaschinen, ihre Rasensprenganlagen, aber nicht darber, wohin ein alter Sonderling sein Haupt zum Schlafen bet- tete. Sie sprachen ber das, was sie gestern i