Stoffgeschichten Ð eine neue Perspektive f r transdisziplin ......eine neue Perspektive f r...

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GAIA 13 (2004) no. 1 19 Traktat *Postadresse : Dr. J. Soentgen Wissenschaftszentrum Umwelt (WZU) Universität Augsburg Universitätsstraße 1 D-86159 Augsburg (Deutschland) E-Mail: [email protected] 1. Ein Konzept – zwei Perspektiven Der Umgang mit Stoffen wandelte sich durch die Etablierung der chemischen Industrie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erheblich. Es wurden nicht nur ganz neue, synthetische Stoffe in wachsender Zahl hergestellt, sondern die Produktion von Stoffen in bis dahin unvorstellbaren Mengen ermöglicht. Die Kehrseite dieser Entwicklung blieb nicht lange verborgen. Streitigkeiten auf Grund der konkurrierenden Naturnutzung durch andere Wirtschaftszweige zeigten, daß im "Stoffumsatzgewerbe" nicht nur Stoffe, sondern auch Schadstoffe entstanden. Deren Regulierung wurde schon bald notwendig. Im Zusammenhang mit der Umsetzung von Schutzmaßnahmen bil- dete sich eine wirkungsvolle Arbeits- teilung zwischen Wissenschaft, Staat und Industrie heraus und blieb in dieser Form lange Zeit unangefochten [1] . Der aufkommenden Umweltbewegung wurde diese eingespielte Praxis des Umgangs mit Stoffen zunehmend problematisch. Vor dem Hintergrund einer Reihe von spektakulären Unfällen und Katastrophen (Seveso, Bhophal und andere) begann schließlich in den 1970er und 1980er Jahren eine generelle Chemiediskussion, die zu einer Reflexion auf die Chemie, ihre Grundlagen und gesellschaftlichen Implikationen beitrug. Wie weitreichend diese Infragestellung war, zeigte sich nicht zuletzt in der Diskussion um grundlegende Perspektiven einer Chemie- politik [2] . Im Zuge dieser Auseinander- setzungen wurde der Umgang mit Chemi- kalien ganz neu strukturiert. So wichtig diese Debatten waren, so verengte sich in ihnen jedoch tendenziell der Blick auf Gefahrstoffe und das Management ihrer Ströme. Generelle Perspektiven für den gesellschaftlichen Umgang mit Stoffen fehlen bis heute, die Einbettung von Stoffen in gesellschaftliche Hand- lungszusammenhänge und Praxisdomä- nen ist bisher kaum untersucht worden. Die Frage, inwiefern experimentell spezifizierte Stoffeigenschaften in tech- nisch und praktisch nutzbare Stoff- Funktionen übersetzt werden können, geht über die Kompetenz der Chemie als Naturwissenschaft hinaus. Um hier weiterzukommen, scheint uns ein Per- spektivenwechsel von dem mathema- tisierten Stoff(strom)management zu Stoffgeschichten, die über den Umgang mit Stoffen erzählen, sinnvoll. Wie weitreichend ein solcher Perspek- tivenwechsel ist, zeigt ein Blick auf die Entwicklung und den Stand der Umwelt- forschung. Unter ökosystemarem Blick- winkel formulierte diese in den frühen 1970er Jahren ihre Programme und lief damit in ein Dilemma hinein. Denn mit der Beschreibung der Umweltwirkungen als Eingriffe in Ökosysteme wurde eine Beschreibungssprache gefunden, die den technischen Zugriff auf Natur, welcher der modernen Wissenschaft seit ihren Anfängen eigen ist [3] , verlängert. Dabei hatte doch gerade die technische Nutzung der Natur die beobachteten Probleme erzeugt. Kann eine Problemlösung, die den gleichen Denkmustern entspringt wie die Problemursache, überhaupt eine Lösung sein? Abhilfe wurde unter ande- rem in einer transdisziplinären Reformu- lierung der Programmatik gesucht, und dazu wurden auch Institutionen ein- gerichtet, zum Beispiel im Kontext der Klimawandelforschung. Auffällig bleibt aber auch hier die Diskrepanz zwischen programmatischen Entwürfen einerseits und der Praxis der Umweltforschung anderseits. Denn vielfach ist die Um- weltforschung von Detailanalysen be- herrscht und kaum anschlußfähig an politisch-öffentliche Entscheidungspro- zesse [4] . Oder sie verlängert weiterhin die technokratische Perspektive, wie es sich zum Beispiel sehr prägnant in der Obwohl der Umgang mit Stoffen dem Menschen selbstverständlich ist, tritt diese Beziehung selten in den Mittelpunkt öffentlicher Diskussion. Ein Grund hierfür könnte gerade in der Alltäglichkeit des Umgangs mit Stoffen liegen. Solange Stoffe die ihnen zugedachte Funktion erfüllen, wecken sie weder Kritik noch Neugierde. Allenfalls bestimmte "Schadstoffe des Monats" werden thematisiert. Ein anderer Grund liegt wohl darin, daß die Vielfalt der Stoffe und ihrer Wirkungen eine solche Unübersichtlichkeit geschaffen hat, daß eine bündelnde Perspektive der Beschreibung bisher nicht aussichtsreich erschien. Das Konzept der Stoffgeschichten könnte die Leerstelle einer präzisen Beobachtung und Beschreibung des Umgangs mit Stoffen füllen. Denn zum einen verbindet sich mit diesem Konzept eine wissenschaftliche Programmatik, zum anderen eine gesellschaftliche Aufgabe – nämlich das Erzählen einer Geschichte, die soziales Handeln strukturiert und damit eine Vermittlungschance im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft, Technik, Politik und Öffentlichkeit eröffnet. Stoffgeschichten – eine neue Perspektive für transdisziplinäre Umweltforschung Stefan Böschen, Armin Reller und Jens Soentgen*

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GAIA 13 (2004) no 119Traktat

Postadresse Dr J SoentgenWissenschaftszentrum Umwelt (WZU)Universitaumlt AugsburgUniversitaumltsstraszlige 1D-86159 Augsburg (Deutschland)

E-Mail soentgenwzuuni-augsburgde

1 Ein Konzept ndashzwei Perspektiven

Der Umgang mit Stoffen wandelte sichdurch die Etablierung der chemischenIndustrie in der zweiten Haumllfte des19 Jahrhunderts erheblich Es wurdennicht nur ganz neue synthetische Stoffein wachsender Zahl hergestellt sonderndie Produktion von Stoffen in bis dahinunvorstellbaren Mengen ermoumlglicht DieKehrseite dieser Entwicklung blieb nichtlange verborgen Streitigkeiten auf Grundder konkurrierenden Naturnutzung durchandere Wirtschaftszweige zeigten daszlig imStoffumsatzgewerbe nicht nur Stoffesondern auch Schadstoffe entstandenDeren Regulierung wurde schon baldnotwendig Im Zusammenhang mit derUmsetzung von Schutzmaszlignahmen bil-dete sich eine wirkungsvolle Arbeits-teilung zwischen Wissenschaft Staat undIndustrie heraus und blieb in dieserForm lange Zeit unangefochten [1] Deraufkommenden Umweltbewegung wurdediese eingespielte Praxis des Umgangsmit Stoffen zunehmend problematisch

Vor dem Hintergrund einer Reihe vonspektakulaumlren Unfaumlllen und Katastrophen(Seveso Bhophal und andere) begannschlieszliglich in den 1970er und 1980erJahren eine generelle Chemiediskussiondie zu einer Reflexion auf die Chemieihre Grundlagen und gesellschaftlichenImplikationen beitrug Wie weitreichenddiese Infragestellung war zeigte sichnicht zuletzt in der Diskussion umgrundlegende Perspektiven einer Chemie-politik [2] Im Zuge dieser Auseinander-setzungen wurde der Umgang mit Chemi-kalien ganz neu strukturiert So wichtigdiese Debatten waren so verengte sichin ihnen jedoch tendenziell der Blickauf Gefahrstoffe und das Managementihrer Stroumlme Generelle Perspektiven fuumlrden gesellschaftlichen Umgang mitStoffen fehlen bis heute die Einbettungvon Stoffen in gesellschaftliche Hand-lungszusammenhaumlnge und Praxisdomauml-nen ist bisher kaum untersucht wordenDie Frage inwiefern experimentellspezifizierte Stoffeigenschaften in tech-nisch und praktisch nutzbare Stoff-Funktionen uumlbersetzt werden koumlnnengeht uumlber die Kompetenz der Chemieals Naturwissenschaft hinaus Um hierweiterzukommen scheint uns ein Per-spektivenwechsel von dem mathema-tisierten Stoff(strom)management zuStoffgeschichten die uumlber den Umgangmit Stoffen erzaumlhlen sinnvoll

Wie weitreichend ein solcher Perspek-tivenwechsel ist zeigt ein Blick auf dieEntwicklung und den Stand der Umwelt-forschung Unter oumlkosystemarem Blick-winkel formulierte diese in den fruumlhen1970er Jahren ihre Programme und liefdamit in ein Dilemma hinein Denn mitder Beschreibung der Umweltwirkungenals Eingriffe in Oumlkosysteme wurde eineBeschreibungssprache gefunden die dentechnischen Zugriff auf Natur welcherder modernen Wissenschaft seit ihrenAnfaumlngen eigen ist [3] verlaumlngert Dabeihatte doch gerade die technische Nutzungder Natur die beobachteten Problemeerzeugt Kann eine Problemloumlsung dieden gleichen Denkmustern entspringtwie die Problemursache uumlberhaupt eineLoumlsung sein Abhilfe wurde unter ande-rem in einer transdisziplinaumlren Reformu-lierung der Programmatik gesucht unddazu wurden auch Institutionen ein-gerichtet zum Beispiel im Kontext derKlimawandelforschung Auffaumlllig bleibtaber auch hier die Diskrepanz zwischenprogrammatischen Entwuumlrfen einerseitsund der Praxis der Umweltforschunganderseits Denn vielfach ist die Um-weltforschung von Detailanalysen be-herrscht und kaum anschluszligfaumlhig anpolitisch-oumlffentliche Entscheidungspro-zesse [4] Oder sie verlaumlngert weiterhindie technokratische Perspektive wie essich zum Beispiel sehr praumlgnant in der

Obwohl der Umgang mit Stoffen dem Menschen selbstverstaumlndlich isttritt diese Beziehung selten in den Mittelpunkt oumlffentlicher Diskussion

Ein Grund hierfuumlr koumlnnte gerade in der Alltaumlglichkeit des Umgangs mit Stoffenliegen Solange Stoffe die ihnen zugedachte Funktion erfuumlllen wecken sie

weder Kritik noch Neugierde Allenfalls bestimmte Schadstoffe des Monatswerden thematisiert Ein anderer Grund liegt wohl darin daszlig die Vielfalt der Stoffe

und ihrer Wirkungen eine solche Unuumlbersichtlichkeit geschaffen hat daszlig einebuumlndelnde Perspektive der Beschreibung bisher nicht aussichtsreich erschien

Das Konzept der Stoffgeschichten koumlnnte die Leerstelle einer praumlzisenBeobachtung und Beschreibung des Umgangs mit Stoffen fuumlllen

Denn zum einen verbindet sich mit diesem Konzept eine wissenschaftlicheProgrammatik zum anderen eine gesellschaftliche Aufgabe ndash naumlmlich

das Erzaumlhlen einer Geschichte die soziales Handeln strukturiertund damit eine Vermittlungschance im Spannungsfeld zwischen

Wissenschaft Technik Politik und Oumlffentlichkeit eroumlffnet

Stoffgeschichten ndasheine neue Perspektive fuumlrtransdisziplinaumlre UmweltforschungStefan Boumlschen Armin Reller und Jens Soentgen

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umweltwissenschaftlichen ProgrammatikHans-Joachim Schellnhubers (PotsdamInstitut fuumlr Klimafolgenforschung) zeigtder nichts Geringeres als die zweiteKopernikanische Revolution ausruft1)

Somit besteht eine doppelte Heraus-forderung Zum einen bedarf es uumlber-greifender Konzepte die den Anspruchauf Transdisziplinaritaumlt der Umwelt-forschung einzuloumlsen vermoumlgen zumanderen bedarf es einer Forschung derenResultate nicht nur innerakademischkommuniziert werden koumlnnen Das Kon-zept der Stoffgeschichte das wir unterWeiterfuumlhrung der Arbeit von Huppen-bauer und Reller [6] hier vorstellen wollenscheint die dargelegten empirischenwie konzeptionellen Herausforderungenbehandeln zu koumlnnen Denn mit diesemKonzept wird ndash auf der empirischenEbene ndash der Blick auf den gesellschaft-lichen Umgang mit Stoffen von den Ver-engungen der Management-Perspektivebefreit und neu justiert Des weiterenwerden ndash auf der konzeptionellen Ebenendash die Herausforderungen an eine trans-disziplinaumlre Umweltforschung aufge-griffen und produktiv gewendet Stoff-geschichten sind nicht nur eine Heuristikzur differenzierten Beschreibung desgesellschaftlichen Umgangs mit Stoffensondern auch eine Stoffgeschichteeine Erzaumlhlung virtueller oder faktischerNatur Als solche kann sie als Vermittlerinzwischen den unterschiedlichen Teil-systemen der Gesellschaft wirken Vordiesem Hintergrund muszlig die doppeltePerspektive des Stoff-Blicks und derStoff-Erzaumlhlung als ein zentrales Merk-mal angesehen werden Diese beidenPerspektiven sollen im folgenden ver-deutlicht und entwickelt werden

2 KontextualisierungPerspektive des Stoff-Blicks

Bei der Analyse von gesellschaftlichthematisierten Problemen kann die Wis-senschaft nicht mehr selbstverstaumlndlichdavon ausgehen unbestrittener Sach-walter des Wissens zur Beschreibung undBearbeitung solcher Probleme zu seinAndere Wissensakteure aus verschiede-nen institutionellen Bereichen der Ge-sellschaft werden fuumlr die Definition desrelevanten Wissens zunehmend wichtigDie Kontexte beginnen zu sprechen undbeduumlrfen einer systematischen Beruumlck-sichtigung [7] Unserer Auffassung nachbietet sich als erster aussichtsreicherSchritt die Oumlffnung von Forschung fuumlreine Erzaumlhlperspektive an Eine solcheEntwicklung ist alles andere als selbst-verstaumlndlich kann doch die Entwicklung

neuzeitlicher Wissenschaft als Prozeszligder Reinigung von allen narrativenElementen beschrieben werden2) Nunist aber gerade im Zusammenhangmit dem Umweltdiskurs die konstitutiveBedeutung von Narrationen fuumlr dieEntwicklung gesellschaftlicher Problem-bereiche aufgezeigt worden (fuumlr dasBeispiel Klima [9]) Solche Narrationenstrukturieren die oumlffentliche Auseinander-setzung und setzen zugleich den Rahmenfuumlr spezifische wissenschaftliche Per-spektiven zur Beschreibung der Problem-lage

21 Stoffgeschichten als Heuristik

Um die Bedeutung von Stoffen zu un-tersuchen ist nicht allein ihre chemischeBeschreibung noumltig sondern ebenso dieAnalyse der unterschiedlichen Praxis-domaumlnen und Diskurse in denen Stoffeneine je kontext- beziehungsweise diskurs-spezifische Bedeutung zuerkannt wirdDaraus ergibt sich eine Abgrenzung DasKonzept der Stoffgeschichten schlieszligtnicht an dasjenige vom Stoffwechselan das ausgehend von der MarxschenAnalyse in der Hauptsache an derFormung von Natur durch menschlicheArbeit ansetzt ndash und damit spezifischeVerkuumlrzungen des komplizierten Wech-selspiels zwischen Stoffen und Gesell-schaft in Kauf nimmt Denn hinterder heute so gelaumlufigen Metapher vomStoffkreislauf steht eine Vorstellungwelche die Natur als eine Art vergroumlszligerteFabrik sieht in der die Stoffe von einemReservoir zum anderen wandern [10]Zudem wird dabei als dominante Artdes Umgangs mit Stoffen die Arbeitangesehen Doch die Vielfalt desWechselspiels zwischen Stoffen undGesellschaft geht uumlber den Inhalt desklassischen an der Produktion vonGuumltern und Waren orientierten Arbeits-begriffs hinaus Auch kommunikativeProzesse beeinflussen den gesellschaft-lichen Umgang mit der Natur Einpraxistheoretischer Ansatz ist hier weiter-fuumlhrend in welchem raquodie einzelne Hand-lung als Teil von sozialen Handlungs-gefuumlgen von gemeinsamen sozialenPraktikenlaquo [11] verstanden wird

Dabei war und ist die neuzeitlicheWissenschaftspraxis dadurch gekenn-zeichnet die Praxisdomaumlnen begrenztzu halten Diese scharfe Grenzziehungist einerseits funktional anderseits fuumlhrtsie zu einem Laborblick auf diePhaumlnomene Die Naturwissenschaft be-obachtet also nicht die Natur sonderneine zweite von ihr selbst erzeugteNatur die sich den Anforderungen desLaboratoriums fuumlgt [12] Bruno Latour [13]

praumlgte hierfuumlr den Begriff der kahlenObjekte welche sich durch die weit-reichende Kontrolle der Randbedingun-gen ihrer Erzeugung auszeichnen Diewissenschaftssoziologische Diskussionhat freilich deutlich gemacht daszlig in derWissenschaft selbst anderen Wissens-formen (vor allem implizitem Wissenoder Erfahrungswissen) eine erheblicheBedeutung zukommt3)

Ebenso laumlszligt sich auf der Ebene wissen-schaftlicher Konzeptionen zeigen daszligdiese nicht allein einem wissenschaft-lichen Diskurszusammenhang entsprin-gen sondern vielfach in Wechselwirkungmit uumlbergeordneten Diskursen inner-halb der Gesellschaft entstehen LudvikFleck [17] geht sogar so weit diesenProzeszlig als konstitutiv fuumlr Wissenschaftanzusehen Denn Einfachheit wie auchKlarheit des wissenschaftlichen Wissensentsteht durch oumlffentliche Vermittlungvon Forschungsergebnissen populaumlresWissen ist deshalb eine wesentlicheForm wissenschaftlichen Wissens Andersgesagt Wissenschaftler brauchen Ge-schichten um sich ihrer Erkenntnisse zuvergewissern Zugleich ist die Erzaumlhlformdie Struktur in welcher Wissen in oumlffent-lichen Diskursen auftaucht Somit kommtErzaumlhlungen eine zweifache Aufgabezu sie erzeugen zum einen Anschluszlig-faumlhigkeit zu den verschiedenen auszliger-akademischen Bereichen zum anderen

1) Dabei laumlszligt er nicht unbedingt demokratie-theoretische Sensibilitaumlt erkennen wenn er schreibtraquoGlobal telecommunication will ultimatelyestablish a cooperative system generating valuespreferences and decisions as crucial commonalitiesof humanity onlinelaquo [5] Damit wird zum eineneine Vereinheitlichung der Werte unterstellt wiesie gerade fuumlr plurale Demokratien untypisch istund zum anderen werden die typischen undnotwendigen Auseinandersetzungen und Konfliktezwischen den Kulturen unterschlagen

2) Entsprechend erlangte die methodisch angeleiteteund experimentell verfahrende Naturforschunggegenuumlber der Naturgeschichte einen immergroumlszligeren Stellenwert und loumlste diese zu Beginndes 19 Jahrhunderts ab [8]

3) Diese schon immer stattfindende verdeckteKontextualisierung zeigt sich unter andereman der Bedeutung von implizitem Wissen oderErfahrungswissen Mit dem Topos des tacitknowledge [14] wird die Bedeutung von Know-how technischen Tricks sowie eines Gefuumlhls fuumlrRegeln und deren Anwendung hervorgehobenKlassisch ist die Studie von Harry Collins [15]

uumlber Versuche zum Nachbau des TEA-LasersSie zeigte daszlig allein denen der Nachbau desGeraumltes gelang die in direktem Kontakt mitden Erfindern standen Verschriftlichtes Wissenwar nicht ausreichend Entsprechend definiertCollins tacit knowledge als raquoknowledge or abilitiesthat can be passed between scientists by personalcontact but cannot be or have not been set outor passed on in formulae diagrams or verbaldescriptions and instructions for actionlaquo [16]

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unterstuumltzen sie eine Selbstdisziplinie-rung zum Kontext Sie leiten Wissen-schaftler dazu an die moumlglichen An-wendungsbezuumlge des erzeugten Wissensmit zu reflektieren

22 Konkretisierung derkontextualistischenWissenschaftsperspektive

Bereits bei der Konstruktion vonTatsachen spielen Erzaumlhlungen eine be-traumlchtliche Rolle Diese wird um sobedeutender je staumlrker das Themenfeldmit gesellschaftlichen Problemdiskurseninterferiert Denn hier werden nicht nurdie relevanten Problemperspektiven ver-handelt sondern ebenso die moumlglichenLoumlsungsmuster ndash und die unterscheidensich je nach Perspektive erheblich Einegute Problemgeschichte muszlig deshalbeine Diagnose der Situation hergebendie Dringlichkeit des Problems unter-

streichen und schlieszliglich bestimmteTherapeutika anbieten koumlnnen mit denenGesellschaften sich des diagnostiziertenProblems erwehren koumlnnen Bisher wur-den die relevanten Problemgeschichtendurch die Naturwissenschaft definiertund entsprechende technische Loumlsungs-muster angeboten Jedoch hat sich in-zwischen diese Situation veraumlndertDurch die Umwelt- und Risikodiskurseoumlffnete sich das Feld wissenschaftlicherWissensproduktion zur (politischen) Oumlf-fentlichkeit [18] Von den verschiedenstenStandorten innerhalb der Gesellschaftwird gesprochen eine Begrenzung dersprechenden Subjekte [19] ist kaum mehrmoumlglich Aus den ehedem kahlenObjekten entstehen Risiko-Objekte [13]

oder extended facts [20] bei denenAkteure mit ganz unterschiedlichen Per-spektiven an der Konstruktion der Ob-jekte mitwirken

Das Konzept der Re-Kontextualisie-rung eroumlffnet hier neue Wege DieseIdee wurde am Beispiel der Gentechno-logie schon von Wolfgang Bonss RainerHohlfeld und Regine Kollek in dieDiskussion eingebracht [21] Re-Kontex-tualisierung stellt sich dabei als eineStrategie der reflektierten Transzen-dierung des Laborkontextes ndash also eineAnreicherung kahler Objekte ndash undletztlich als Vergesellschaftungsformwissenschaftlichen Wissens [21a] darWichtige Anregungen und Perspektivenerhaumllt eine Heuristik der Kontextuali-sierung mithin aus der Rekonstruktionvon pragmatischen und semantischenKontexten der komplexen Ausgangs-phaumlnomene In der letzten Konsequenzfuumlhrt ein so verstandener Kontextualis-mus zu einem wissenschaftspolitischenProgramm weil raquodie Schritte der Er-weiterung des Laborkontextes und dieBedingungen der Anwendung selbstzum Forschungsgegenstand gemachtwerdenlaquo [21a] Ausgangspunkt ist zwarwissenschaftliches Wissen jedoch wirdes in seinen Wechselwirkungen mit derGesellschaft aufgeschluumlsselt4)

Hier ist ein Blick in die Welt derChemie hilfreich Sie liefert eine Fuumlllevon Beispielen dafuumlr wie die Perspektivesystematisch auf kahle Objekte be-grenzt wurde Ebenso kann man erfahrenwelche besonderen Herausforderungensich bei der Konstruktion von Risiko-Objekten stellen Bisher beruhten dieSicherheitsvorstellungen in der Chemieauf Konzepten von Stabilitaumlt und Inert-heit oder aber kontrollierbarer Reak-tivitaumlt die sich aus gewissen chemischenParametern der jeweiligen Stoffe be-stimmen lieszligen Ziel der Chemie war jadie Herstellung von Stoffen die eine

moumlglichst ausgepraumlgte Stabilitaumlt oderWirkungsweise fuumlr spezifische Funktionenauszeichnet Diese Zuschreibung hatsich in einigen Faumlllen als Fehlschluszlig er-wiesen wobei das Fallbeispiel der Fluor-chlorkohlenwasserstoffe FCKW sicherlichzu den prominenteren gehoumlren duumlrfteDiese rein synthetische Stoffklasse wurdewegen klar spezifizierter chemischer(Stabilitaumlt) und physikalischer (durchdie Zusammensetzung einstellbarer Siede-punkt) Eigenschaften als das idealeKuumlhlmedium entwickelt und in groszligemMaszlige eingesetzt Unter den Bedingungender Troposphaumlre sind diese Stoffe auchstabil (man schloszlig daraus daszlig sie inertseien) koumlnnen jedoch von den UV-Strahlen in der Stratosphaumlre aufgebrochenwerden (sie sind also nicht stabil unterden Strahlungsbedingungen der Strato-sphaumlre) Mit der Stratosphaumlre kam einanderer pragmatischer Kontext in denBlick Dies war die Voraussetzung dieFiktion der Inertheit in diesem Fall zuenttarnen5) Solange die Stabilitaumlt alleinvon der Wissenschaft definiert wurdewar es eher wahrscheinlich diskursiveSchlaumlfer zu erzeugen also solche Stoffebei denen man von einer Sicherheitausging die sich im nachhinein alsunbegruumlndet herausstellte Denn imRahmen herkoumlmmlicher wissenschaft-licher Praxis wurde relativ umstandslosaus der Stabilitaumlt von Stoffen im Labor-kontext auf ihre Inertheit geschlossenohne jedoch die unterschiedlichen An-wendungskontexte und Wirkungsfelderzu kennen6) Das Leitbild klassischerNaturforschung [24] sah dies freilich erstgar nicht vor

Zur naumlheren Analyse und Differenzie-rung von Stoffgeschichten die sich alskomplementaumlre Ergaumlnzungen zur wissen-schaftlichen Beschreibung der Stoffeauffassen lassen wuumlrde es sich anbietenLeitstoffe zu identifizieren Sie solltenentweder eine Konkurrenz unterschied-licher Stoffpraxen abbilden oder ndash unddamit kontrastierend ndash das Monopoleiner wissenschaftlichen Praxis wider-spiegeln Unter die erste Gruppe fallenbeispielsweise die Farbstoffe bei denenes vor deren wissenschaftlicher Ent-schluumlsselung vielerlei Rezepte undProzeduren der Herstellung gab Zu derzweiten Gruppe zaumlhlen beispielsweise dieSilicone eine vollkommen synthetischeSubstanzklasse von der man annahmdaszlig sie unter gewoumlhnlichen Bedingungenunzugaumlnglich fuumlr Reaktionen sei [25] 7)

Die Inert-Fiktion war und ist ihrer-seits so stabil daszlig man diese Substanz-klasse in der Zwischenzeit in uumlber14 000 Alltagsprodukten auf den Marktgebracht hat Jedoch laumlszligt sich die Ver-

4) Ein solcher Prozeszlig der Kontextualisierung laumlszligtsich zum Teil schon an Einsichten der OumlkologischenChemie studieren Sie machte deutlich daszlig esunmoumlglich sei die Vielfalt moumlglicher Wirkungenvon Chemikalien vollstaumlndig aufzuschluumlsselnJuumlngst wurde deshalb vorgeschlagen die schadens-bezogene Sichtweise zu uumlberschreiten und aufGefaumlhrdungen umzustellen Chemikalien solltenals regulationsbeduumlrftig gelten wenn sie eingewisses Gefaumlhrdungspotential aufweisenDieses wiederum kann durch allgemeine Kriterienbeschrieben werden wie zum Beispiel Persistenzund Reichweite [22] Mit diesen Kriterien hat dasVorsorgeprinzip nun Eingang in die Neuordnungder europaumlischen Chemikalienpolitik gefunden

5) Sherwood Rowland einer der Erfinder derFCKW-Ozonzerstoumlrungshypothese bemerkteviele Jahre spaumlter raquoIn retrospect the main advancewas to get out of the lab and into the real worldby following a molecule from its release into theatmosphere to its eventual destruction many yearslaterlaquo [23]

6) Ein Fallbeispiel das in diesem Zusammenhanginstruktiv sein koumlnnte ist die Anwendung vonPlatin-Katalysatoren bei Fahrzeugen die mitbleifreiem Benzin fahren Hierzu wurden diverseRisikohypothesen formuliert Eine davon besagtedaszlig es zu einer verstaumlrkten Bildung von Salpeter-saumlure in der Umwelt kommen wuumlrde Grundlage fuumlrdieses Argument war die Verwendung von Platinals Katalysator bei Herstellungsverfahren dieserSaumlure Allerdings sind dabei die Randbedingungendeutlich andere (viel houmlherer Druck undTemperatur) so daszlig diese Hypothese zuruumlck-gewiesen werden konnte Jedoch gewinnt in derjuumlngsten Zeit eine andere Risikohypothese anBedeutung Es wurde entdeckt daszlig Nano-Ptwasserloumlslich ist Dies widerspricht allen bis-herigen Vorstellungen uumlber Stabilitaumlt undLoumlslichkeit von Edelmetallen Somit kann Platinin Form kleinster Partikel bioverfuumlgbar werdenund moumlglicherweise in Organismen als Bio-katalysator wirken Die Effekte sind noch un-erforscht koumlnnten aber ein hohes Risikopotentialbergen Auch in diesem Fall hat der Anwendungs-kontext ganz besondere Stabilitaumltsbedingungendie durch Analogien aus dem Laborkontext nichterfaszligt wurden

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Exkurs

mutung nicht ohne weiteres von derHand weisen daszlig auch in diesem Falldie unter Laborbedingungen realisierteStabilitaumlt der Substanzklasse nicht alsInertheit interpretiert werden duumlrfteDenn manche Mikroorganismen lernendiese Stoffe in ihren Stoffwechsel zuintegrieren Die Silicone koumlnnten daherunter Umstaumlnden zu einem weiterenBeispiel in der Nachfolge von DDT undFCKW werden bei denen zunaumlchst un-erwuumlnschte Wechselwirkungen im Zu-sammenhang mit anderen Kontextenvon vornherein ausgeschlossen wordenwaren

3 Stoffgeschichten alsStoff-Erzaumlhlung

Der einfluszligreiche russische Avantgar-dist Sergej Tretjakow regte schon in denzwanziger Jahren des letzten Jahrhun-derts Biographien von Dingen an [26]Er nahm daran Anstoszlig daszlig der buumlrger-liche Roman einzelne Helden allzusehrin den Mittelpunkt stelle In einer Um-kehrung empfahl der Marxist es docheinmal anders zu versuchen undnicht Menschen sondern objektive Dingewie etwa den Wald das Brot die Kohledas Eisen den Flachs die Baumwolle

oder das Papier zu beschreiben welchedurch die gesellschaftlichen Formationenwandern und allmaumlhlich zu nuumltzlichenDingen werden Anfang der dreiszligigerJahre erschienen einige Buumlcher die dasvon Tretjakow entworfene Programmverwirklichten und 1934 das erste dasseine Struktur allein einer Sache ver-dankte Sage und Siegeszug des Kaffees ndashDie Biographie eines weltwirtschaftlichenStoffes von Heinrich Eduard Jacob [27]Im Prolog schreibt der Autor raquoNicht dieVita Napoleons oder Caumlsars wird hiererzaumlhlt sondern die Biographie einesStoffes Eines tausendjaumlhrigen treuenund machtvollen Begleiters der ganzenMenschheit Eines Heldenlaquo Und gegenEnde seiner eindrucksvollen Geschichteerzaumlhlt Jacob auch noch wie er inRio de Janeiro unterwegs einen Kaffee-zweig betrachtete und einen Tagtraumhatte Er gehe an einem breiten gelbenFluszlig stromaufwaumlrts und gelange uumlberParis Venedig Wien nach ArabienErwachend nimmt er sich vor eineMythologie der Rohstoffe zu schreiben

Immerhin bezeichnet die DeutscheBiographische Enzyklopaumldie Jacob alsBegruumlnder des modernen SachbuchsSein Werk uumlber den Kaffee liest sich wieein Roman bietet dem Leser indes auchReportagephotos und ein ausfuumlhrlichesLiteraturverzeichnis was die Mischformunterstreicht Aktuellere Beispiele fuumlrStoffbiographien sind etwa JuumlrgenDahls Buch Aufschluumlsse KalksteinFeuerstein Schiefer ndash drei Versuche zurGeologie [28] oder das von Philip BallH2O Biographie des Wassers [29] Fuumlrdas Projekt Stoffgeschichten laumlszligt sichaus diesen Buumlchern vieles lernen Sienehmen die Aufgabe ernst zu erzaumlhlensie bringen stoffbezogene Themen ineine zirkulationsfaumlhige Form Ihnengelingt was auch das hier vorgestellteKonzept beabsichtigt Aufklaumlrung uumlberStoffe zu vermitteln Im Fokus dieserStoffgeschichten steht allerdings fastimmer der Stoff selbst wie er sich ausder Perspektive bestimmter Naturwissen-schaften darstellt Die gesellschaftlicheBedeutung und Anwendungszusammen-

7) Silicone sind sogenannte siliciumorganischeVerbindungen Als Besonderheit weisen sie eineSilicium-Kohlenstoff-Bindung auf die so in derNatur keine Analoga hat Durch dieses Struktur-merkmal ist der Aufbau dieser Stoffe gewisser-maszligen teils anorganischer teils organischer Naturwobei diese Kombination fuumlr die ganz besonderenEigenschaften maszliggeblich ist So sind Siliconeviel waumlrmebestaumlndiger im Vergleich zuherkoumlmmlichen Kohlenstoffpolymeren undkoumlnnen zugleich flexibler verarbeitet werdenweil sie sich einerseits als Fluumlssigkeitenanderseits als verformbare plastisch-elastischeMassen verhalten [25a]

Stoffe und ihre Wirkungsformen in Raum und ZeitDas Beispiel der Silicone

Die Nutzung von Stoffen geht in der Regel mit der Umgestaltung ihrer Zusammensetzungund ihrer Erscheinungsform einher Je nach den Erfordernissen werden mehr oderweniger komplizierte Abfolgen von chemischen und physikalischen Prozessen zurUmwandlung Umformung und Umverteilung von Stoffen verwendet Ziel ist die Her-stellung von Stoffen mit spezifischen Wirkungsformen die dann eine Funktion erfuumlllenkoumlnnen So werden aus ndash hier im Bild unten links gezeigtem ndash Quarz oder Bergkristall(Siliciumdioxid SiO2) mit hohem Energieaufwand das fuumlr die Chip-Industrie unersetz-bare Halbleitermaterial Silicium aber auch die im Alltag weitverbreiteten Silicone undSiloxane hergestellt Aus einem Rohstoff entstehen so Stoffe mit sehr unterschiedlichenWirkungsformen Solche Stoffe kann man auch als portionierbare Technologienbezeichnen da sie fuumlr die Erfuumlllung bestimmter Funktionen gestaltet wurden Wie jedesandere funktionelle Material auch haben sie bestimmte Nebenwirkungen Da Siliconeund Siloxane in sehr vielen Haushalts- und Pflegemitteln eingesetzt werden gelangensie vorerst unbemerkt in Muumlllverbrennungsanlagen und Klaumlrwerke Diese beidenzweckmaumlszligigen Einrichtungen verwerten die teils zu Biogas umgewandelten Abfall-oder Reststoffe in Gasmotoren Neben den wie geplant erwarteten Kohlenstoffverbin-dungen finden auch die genannten Siliciumverbindungen ihren unvorherge-sehenen Weg in den Verbrennungsraum des Motors Im Gegensatz zu den Kohlenstoff-verbindungen (Biogas) die zu gasfoumlrmigem Kohlendioxid und Wasser verbrennenwerden sie zu ndash im Bild unten rechts gezeigten ndash festen Ablagerungen von Siliciumdioxid(SiO2 Quarz) umgewandelt die sich bereits im Motorraum oder auf nachgeschaltetenFiltern und Katalysatoren absetzen und die Funktion des Gasmotors massiv beein-traumlchtigen oder blockieren Solche Uumlberraschungsmomente kommen in Stoffgeschichtenhaumlufiger vor Der Protagonist taucht in Zusammenhaumlngen auf in denen man ihn nichtvermutet hat

GAIA 13 (2004) no 123Traktat

haumlnge werden nicht systematisch mit-reflektiert Damit geht ein Teil derWirklichkeit eines Stoffes verloren SeineForm und seine davon abhaumlngigenWirkungsweisen in unterschiedlichenzeitlichen und raumlumlichen Kontextenwerden eher zufaumlllig beachtet nur dieihm zugedachte Funktion ist von Be-deutung Hingegen fordert der Kontex-tualismus ja gerade eine Ausweitungdes Blickes hin auf die semantischenund pragmatischen Kontexte des gesell-schaftlichen Umgangs mit Stoffen Esbedarf also der Verbindung der natur-wissenschaftlich erarbeiteten Fakten mitgeistes- und sozialwissenschaftlichenKenntnissen und Methoden Erst ausder fruchtbaren Verbindung der unter-schiedlichen Perspektiven erwaumlchst derStoff fuumlr eine Stoffgeschichte

31 Was erzaumlhlt eine Stoffgeschichte

Eine Stoffgeschichte verfolgt einenStoff nicht nur durch bestimmte chemi-sche Konstellationen und Prozesse hin-durch sondern durch verschiedene Zeitenund Situationen Sie zeigt um das Bei-spiel der Kaffeegeschichte des EduardJacob nochmals in Erinnerung zu rufendie Kontexte der Entstehung des Stoffesund verfolgt ihn durch kulturelle undpolitische Szenenwechsel hindurch bisin die Gegenwart Von einer life-cycle-Analyse die ebenfalls Stoffe (oderProdukte) durch verschiedene Kontextehindurch verfolgt unterscheidet sicheine Stoffgeschichte in drei AspektenZum einen dadurch daszlig sie nicht nuroumlkonomische Kontexte beruumlcksichtigtsondern auch kulturelle Aspekte desUmgangs mit einem Stoff [30] So be-richtet Jacob in seinem Kaffeebuchauch uumlber diverse Trinkkulturen undbefaszligt sich eingehend mit den BerlinerKaffeehaumlusern Weiter hat eine Stoff-geschichte nicht das Ziel konkreteIndikatoren zu errechnen die eineBewertung eines bestimmten Produktsoder Produktionsweges erlauben Viel-mehr geht es darum Verstaumlndnis fuumlrZusammenhaumlnge zu wecken Schlieszliglichrichtet eine Stoffgeschichte das Augen-merk nicht auf kurzlebige oumlkonomischeZyklen sondern oumlffnet den Blick vonvornherein fuumlr groumlszligere historische Zeit-raumlume ndash wie ja auch Jacob sein Buchmit einer Phantasie uumlber die ersteEntdeckung der Wirkung der Kaffee-bohne beginnt

Bei einem so weit gefaszligten Themen-feld stellt sich unweigerlich das Pro-blem der Auswahl Eine Stoffgeschichtekann natuumlrlich nicht den Anspruchhaben alles uumlber einen Stoff zu er-

zaumlhlen Andererseits darf sie auch nichtnur eine Plauderei sein die einzelneAnekdoten aneinanderreiht sonst landetman bei den kleinen Kulturgeschichtendie weniger aufklaumlren wollen sonderneher unterhalten [31] Es gibt hier keinePatentrezepte wohl aber Beispiele andenen man sich orientieren kann Dengenannten Buumlchern von Jacob oder vonDahl gelingt es eine zusammenhaumlngendeGeschichte zu erzaumlhlen die dem Leserein Bild von dem Stoff nicht nur eineSumme von Einzelheiten vermittelt undinsofern vollstaumlndig ist Mit anderenWorten Uumlber die Vollstaumlndigkeit einerStoffgeschichte entscheidet nicht eineauszligerhalb ihrer liegende objektiveSache sondern der Leser dessen Fragenbeantwortet werden oder nicht

Stoffgeschichten sind also keineswegszeitlos sondern auf ein bestimmtesPublikum bezogen Sie sind eine Erzaumlh-lung im Sinne der alten Rhetoren Dienarratio die sich immer auch an der

opinio der Voreinstellung des Publikumsorientiert soll unterhalten belehren undzur Handlung motivieren ndash unbedingt zuvermeiden ist das taedium die Lange-weile des Publikums (Brevitas Kuumlrzeist uumlbrigens nach Quintilian eine Grund-tugend der narratio sie muszlig keines-wegs vollstaumlndig sein [32]) Gemessenan den mit Zahlen Fluszligdiagrammen undSzenarios bewehrten Formen in denendie Resultate von Umweltforschunguumlblicherweise dargestellt werden moumlgenStoffgeschichten zunaumlchst einmal rechtunscheinbar daherkommen Vielleichterscheinen sie harmlos rein belletristischoder nicht ganz ernst zu nehmen Stoff-geschichten sind vom Standpunkt deretablierten Umweltforschung gesehendurchaus angreifbar Sie wollen dieseUmweltforschung auch nicht ersetzensondern ergaumlnzen Denn die uumlblichenwissenschaftlich anerkannteren Formenumweltrelevantes Wissen darzustellenverlieren sich oft in Details ndash und man

Gewebte Stoffe koumlnnen viel erzaumlhlen

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sieht bald den Wald vor lauter Baumlumennicht mehr Eine Stoffgeschichte hin-gegen vermittelt einen Blick auf dasGanze und zwar ohne jene plakativenMetaphern die in der populaumlren oumlko-logischen Diskussion so beliebt sind(oumlkologischer Fuszligabdruck Stoff-kreislauf oumlkologischer Rucksack)Zugleich gehen sie von ausschnitthaftenmehr oder weniger willkuumlrlich gewaumlhltenZeitfenstern weg und wagen eine weiterausgreifende Sicht So koumlnnen Entwick-lungen sichtbar werden die bei denpraumlziseren kuumlrzer greifenden Analysendie etwa im Zusammenhang des Stoff-strommanagements uumlblich sind nichterfaszligt werden Insgesamt kann someinen wir durch Stoffgeschichten dasVerstaumlndnis fuumlr stoffliche Prozesse ver-tieft werden

Auch wird die Phantasie angeregtDenn der Blick uumlber die kleinen Einheitender supply-chains und der sogenanntenlife-cycles (die das Leben eines Stoffeskeineswegs ausschoumlpfen) gibt ein Gespuumlrfuumlr die Potentiale die in einem Stoffstecken Geschichten regen die Phantasiean Die Gegenwart von Stoffen an er-wuumlnschten oder unerwuumlnschten Ortenlaumlszligt an neue Landkarten denken Stoff-landkarten auf denen sich ihre Her-kunft und Verbreitung Wirkungsformenund Effekte in Raum und Zeit verfolgenlassen [33]

Daruumlber hinaus haben Stoffgeschichteneine wichtige kommunikative FunktionSie koumlnnen stoffbezogenes Wissen ineine literarische Form bringen welchees vermag die Waumlnde des Potential-topfs innerhalb dessen uumlblicherweisedie Kommunikation uumlber Stoffe undMaterialien kreist zu durchtunneln Sokoumlnnen Geschichten uumlber Stoffe diein der Oumlffentlichkeit bisher nur ein exo-tisches Nischenthema sind was ihrertatsaumlchlichen Bedeutung fuumlr die Repro-duktion der Gesellschaft keineswegsentspricht sich in die oumlffentliche Dis-kussion einhaken Eventuell kann sichsogar ein regelrechter Diskurs formieren

Die Auswahl der Stoffe wird nichtdurch ein wissenschaftlich vorgepraumlgtesSuchmuster bestimmt sondern folgt einerpublizistischen Kategorie der Aktuali-taumlt [34] Diejenigen Stoffe sollen be-schrieben werden an deren Geschichtedie Gesellschaft ein begruumlndetes Inter-esse hat oder doch haben sollte Beispielesind das Wasser das Erdoumll PlastikBaumwolle Papier Kalkstein Kohlen-dioxid Sand Staub und so weiter DieAuswahl ist natuumlrlich nicht annaumlherndvollstaumlndig sie soll vor allem zeigendaszlig sich der Titel einer Stoffgeschichtenicht an naturwissenschaftlich gepraumlgtenKategorien orientiert sondern an demVerstaumlndnis des breiteren Publikums fuumlrdas solche Geschichten erzaumlhlt werden

32 Wie werden Stoffgeschichtenerzaumlhlt

Die Herausforderung fuumlr den Ge-schichtenerzaumlhler liegt einmal darin seinPublikum uumlberhaupt fuumlr ein so sproumldesThema wie es Stoffe in ihren erkanntenversteckten oder erdachten Wirkungs-formen nun einmal sind zu interessierenDas ist die klassische rhetorische Heraus-forderung des sogenannten genus humilejener Redegattung die es mit gemein-hin als langweilig oder gar abstoszligendwahrgenommenen Dingen zu tun hat(rhetorische Methoden auch fuumlr solcheThemen Aufmerksamkeit zu erzielennennt Wessel [35]) Die zweite Heraus-forderung liegt darin die vielfaumlltigenFakten welche zu einem Stoff in unter-schiedlichen disziplinaumlren Diskursengesichert wurden zu einer Geschichtezu verbinden Es kommt hier auf diealte Kunst der synopsis der Zusammen-schau an Wichtig ist das geistige Bandsozusagen den Mittelbegriff zu findender die Einzelheiten zu einem kommuni-zierbaren Ganzen verbindet Eine Tech-nik diese Einheit zu erreichen welchesich in Stoffgeschichten haumlufig findetist die Personalisierung Ein Stoff wirddabei wie eine Person dargestellt undcharakterisiert Explizit geschieht diesetwa bei Jacob der den Kaffee im Pro-log zu seinem Buch als einen Heldenbezeichnet Bisweilen wird die Persona-lisierung auch implizit vorgenommenSie ist uumlbrigens keineswegs nur ein lite-rarisches Procedere sondern hat einfundamentum in re Schon eine winzigeStoffportion erzaumlhlt von den Umstaumlndenihrer Entstehung An ihrer Form laumlszligtsich ihre Geschichte ablesen [6] Stoff-arten als Ganze sind daruumlber hinaus unddurch diese Mikrogeschichten hindurcheingebunden in die Prozesse der sym-bolischen und materiellen Reproduktionder Gesellschaft Ihnen waumlchst damiteine zweite Geschichtlichkeit zu Es gibtdaher tatsaumlchlich eine gewisse Analogiezwischen Stoffen und menschlichen In-dividuen

Auf der Personalisierung aufbauendgibt es weitere Techniken die in Stoff-geschichten vielfach auftauchen Analogwie die Biographienforschung in mensch-lichen Lebensgeschichten Daseins-themen ausmacht [36] an denen sicheine Person abarbeitet oder wie auchHistoriker die Geschichte eines Landesoder eines Volkes durch gewisse Leit-themen strukturieren lassen sich auchfuumlr Stoffe Leitmotive formulieren diein der Geschichte eines Stoffes immerwieder vielleicht in gewandelter Formauftauchen Beim Wasser kann man als

Jens Soentgen (links) Geboren 1967 in Bensberg Nordrhein-Westfalen studierte zunaumlchstChemie promovierte aber in Philosophie mit einer Arbeit uumlber den Stoffbegriff (Das Un-scheinbare Berlin 1997) Lehrauftraumlge fuumlhrten ihn anschlieszligend an mehrere Universitaumltenin Deutschland Mehrfach war er in Brasilien als Gastprofessor fuumlr Philosophie taumltigSeit 2002 ist er wissenschaftlicher Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt (WZU) derUniversitaumlt Augsburg Zuletzt erschien von ihm das Buch Selbstdenken 20 Praktiken derPhilosophie (Wuppertal 2003)

Stefan Boumlschen (Mitte) Geboren 1965 in Waldshut Baden-Wuumlrttemberg Studium desChemie-Ingenieurwesens mit Diplomabschluszlig 1995ndash 1998 Vertiefung in Philosophie sowieSoziologie Promotion mir einer Arbeit zur Risikogenese der Erarbeitung von Risiko-Wissenim Laufe der Geschichte analysiert an vier Fallstudien Seit 1999 an der UniversitaumltAugsburg im Sonderforschungsbereich Reflexive Modernisierung Er ist WZU-Mitgliedund Projektleiter

Armin Reller (rechts) Geboren 1952 in Winterthur Kanton Zuumlrich 1992ndash1998 ordentlicherProfessor am Institut fuumlr Anorganische und Angewandte Chemie der Universitaumlt Hamburgdaneben seit 1995 Leiter des Programms SolarchemieWasserstoffRegenerative Energie-traumlger (BEW Bern) 1999 Uumlbernahme des neueingerichteten Lehrstuhls fuumlr Festkoumlrper-chemie im Institut fuumlr Physik der Universitaumlt Augsburg Er ist Vorstandssprecher des WZU

Das Wissenschaftszentrum Umwelt wurde im Jahr 2000 im Rahmen der bayerischenHigh-Tech-Offensive gegruumlndet Unter dem Leitthema Zukunftsfaumlhiger Umgang mitStoffen Materialien und Energie buumlndelt das WZU die Umweltforschung an der UniversitaumltAugsburg Boumlschen Reller und Soentgen arbeiten in verschiedenen Projekten im WZUzusammen

GAIA 13 (2004) no 125Traktat

ein solches Leitmotiv etwa seine natuumlr-liche Tendenz feststellen Grenzen zuuumlberschreiten oder diffusiv zu unter-wandern [37] fuumlr die Geschichte derBaumwolle wird der Nord-Suumld-Gegen-satz in seinen verschiedenen Ausprauml-gungen ein solches Leitmotiv sein beimKalk sieht Dahl [28] als Leitmotiv denGegensatz zwischen einer Aufloumlsungs-tendenz und der Faumlhigkeit vorgegebeneFormen mimetisch genau abzubilden

Insgesamt laumlszligt sich jedoch keineAnleitung fuumlr das Abfassen von Stoff-geschichten geben Zum einen muumlszligtezu diesem Zweck ein groumlszligerer Fundusvon Stoffgeschichten hinsichtlich ihrerrhetorischen Strategien und ihrer Erzaumlhl-strukturen analysiert und mit anderenNatur- und Umweltgeschichten ver-glichen werden (der Wald ist bereitsGegenstand erzaumlhltheoretischer Unter-suchungen [38]) Zum anderen ist dasErzaumlhlen von Stoffgeschichten wie jedesniveauvolle Erzaumlhlen eine Kunst diesich nur teilweise in Handlungsanwei-sungen ausmuumlnzen laumlszligt

4 Die Moral der Stoffgeschichte

Stoffgeschichten haben ein ZielAufklaumlrung uumlber Stoffe und derenWirkungsformen Aus den historischenStudien lassen sich Tendenzen ablesendie Aussagen uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung einer Stoffgeschichte ermoumlg-lichen Sie gewinnen ihr Gewicht ausder Langzeitbetrachtung und koumlnnen soetwas wie ein Gespuumlr fuumlr einen be-stimmten Stoff vermitteln So kann eszu einem Wiedereintritt der Geschichtein sich selbst kommen Dann naumlmlichwenn die Stoffgeschichte zu einemkreativeren und umsichtigeren Umgangmit dem Stoff selbst anregt

Fuumlr Hinweise und Diskussionen danken wirden Teilnehmern an dem WZU-WorkshopStoffgeschichten im November 2002Markus Huppenbauer Renate DiessenbacherRiyaz Haider Simon Meissner undIsabelle Seacutecher

Literaturverzeichnis

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(Eingegangen am 26 November 2003 OS)

Page 2: Stoffgeschichten Ð eine neue Perspektive f r transdisziplin ......eine neue Perspektive f r transdisziplin re Umweltforschung Stefan B schen, Armin Reller und Jens Soentgen* GAIA

GAIA 13 (2004) no 120Traktat

umweltwissenschaftlichen ProgrammatikHans-Joachim Schellnhubers (PotsdamInstitut fuumlr Klimafolgenforschung) zeigtder nichts Geringeres als die zweiteKopernikanische Revolution ausruft1)

Somit besteht eine doppelte Heraus-forderung Zum einen bedarf es uumlber-greifender Konzepte die den Anspruchauf Transdisziplinaritaumlt der Umwelt-forschung einzuloumlsen vermoumlgen zumanderen bedarf es einer Forschung derenResultate nicht nur innerakademischkommuniziert werden koumlnnen Das Kon-zept der Stoffgeschichte das wir unterWeiterfuumlhrung der Arbeit von Huppen-bauer und Reller [6] hier vorstellen wollenscheint die dargelegten empirischenwie konzeptionellen Herausforderungenbehandeln zu koumlnnen Denn mit diesemKonzept wird ndash auf der empirischenEbene ndash der Blick auf den gesellschaft-lichen Umgang mit Stoffen von den Ver-engungen der Management-Perspektivebefreit und neu justiert Des weiterenwerden ndash auf der konzeptionellen Ebenendash die Herausforderungen an eine trans-disziplinaumlre Umweltforschung aufge-griffen und produktiv gewendet Stoff-geschichten sind nicht nur eine Heuristikzur differenzierten Beschreibung desgesellschaftlichen Umgangs mit Stoffensondern auch eine Stoffgeschichteeine Erzaumlhlung virtueller oder faktischerNatur Als solche kann sie als Vermittlerinzwischen den unterschiedlichen Teil-systemen der Gesellschaft wirken Vordiesem Hintergrund muszlig die doppeltePerspektive des Stoff-Blicks und derStoff-Erzaumlhlung als ein zentrales Merk-mal angesehen werden Diese beidenPerspektiven sollen im folgenden ver-deutlicht und entwickelt werden

2 KontextualisierungPerspektive des Stoff-Blicks

Bei der Analyse von gesellschaftlichthematisierten Problemen kann die Wis-senschaft nicht mehr selbstverstaumlndlichdavon ausgehen unbestrittener Sach-walter des Wissens zur Beschreibung undBearbeitung solcher Probleme zu seinAndere Wissensakteure aus verschiede-nen institutionellen Bereichen der Ge-sellschaft werden fuumlr die Definition desrelevanten Wissens zunehmend wichtigDie Kontexte beginnen zu sprechen undbeduumlrfen einer systematischen Beruumlck-sichtigung [7] Unserer Auffassung nachbietet sich als erster aussichtsreicherSchritt die Oumlffnung von Forschung fuumlreine Erzaumlhlperspektive an Eine solcheEntwicklung ist alles andere als selbst-verstaumlndlich kann doch die Entwicklung

neuzeitlicher Wissenschaft als Prozeszligder Reinigung von allen narrativenElementen beschrieben werden2) Nunist aber gerade im Zusammenhangmit dem Umweltdiskurs die konstitutiveBedeutung von Narrationen fuumlr dieEntwicklung gesellschaftlicher Problem-bereiche aufgezeigt worden (fuumlr dasBeispiel Klima [9]) Solche Narrationenstrukturieren die oumlffentliche Auseinander-setzung und setzen zugleich den Rahmenfuumlr spezifische wissenschaftliche Per-spektiven zur Beschreibung der Problem-lage

21 Stoffgeschichten als Heuristik

Um die Bedeutung von Stoffen zu un-tersuchen ist nicht allein ihre chemischeBeschreibung noumltig sondern ebenso dieAnalyse der unterschiedlichen Praxis-domaumlnen und Diskurse in denen Stoffeneine je kontext- beziehungsweise diskurs-spezifische Bedeutung zuerkannt wirdDaraus ergibt sich eine Abgrenzung DasKonzept der Stoffgeschichten schlieszligtnicht an dasjenige vom Stoffwechselan das ausgehend von der MarxschenAnalyse in der Hauptsache an derFormung von Natur durch menschlicheArbeit ansetzt ndash und damit spezifischeVerkuumlrzungen des komplizierten Wech-selspiels zwischen Stoffen und Gesell-schaft in Kauf nimmt Denn hinterder heute so gelaumlufigen Metapher vomStoffkreislauf steht eine Vorstellungwelche die Natur als eine Art vergroumlszligerteFabrik sieht in der die Stoffe von einemReservoir zum anderen wandern [10]Zudem wird dabei als dominante Artdes Umgangs mit Stoffen die Arbeitangesehen Doch die Vielfalt desWechselspiels zwischen Stoffen undGesellschaft geht uumlber den Inhalt desklassischen an der Produktion vonGuumltern und Waren orientierten Arbeits-begriffs hinaus Auch kommunikativeProzesse beeinflussen den gesellschaft-lichen Umgang mit der Natur Einpraxistheoretischer Ansatz ist hier weiter-fuumlhrend in welchem raquodie einzelne Hand-lung als Teil von sozialen Handlungs-gefuumlgen von gemeinsamen sozialenPraktikenlaquo [11] verstanden wird

Dabei war und ist die neuzeitlicheWissenschaftspraxis dadurch gekenn-zeichnet die Praxisdomaumlnen begrenztzu halten Diese scharfe Grenzziehungist einerseits funktional anderseits fuumlhrtsie zu einem Laborblick auf diePhaumlnomene Die Naturwissenschaft be-obachtet also nicht die Natur sonderneine zweite von ihr selbst erzeugteNatur die sich den Anforderungen desLaboratoriums fuumlgt [12] Bruno Latour [13]

praumlgte hierfuumlr den Begriff der kahlenObjekte welche sich durch die weit-reichende Kontrolle der Randbedingun-gen ihrer Erzeugung auszeichnen Diewissenschaftssoziologische Diskussionhat freilich deutlich gemacht daszlig in derWissenschaft selbst anderen Wissens-formen (vor allem implizitem Wissenoder Erfahrungswissen) eine erheblicheBedeutung zukommt3)

Ebenso laumlszligt sich auf der Ebene wissen-schaftlicher Konzeptionen zeigen daszligdiese nicht allein einem wissenschaft-lichen Diskurszusammenhang entsprin-gen sondern vielfach in Wechselwirkungmit uumlbergeordneten Diskursen inner-halb der Gesellschaft entstehen LudvikFleck [17] geht sogar so weit diesenProzeszlig als konstitutiv fuumlr Wissenschaftanzusehen Denn Einfachheit wie auchKlarheit des wissenschaftlichen Wissensentsteht durch oumlffentliche Vermittlungvon Forschungsergebnissen populaumlresWissen ist deshalb eine wesentlicheForm wissenschaftlichen Wissens Andersgesagt Wissenschaftler brauchen Ge-schichten um sich ihrer Erkenntnisse zuvergewissern Zugleich ist die Erzaumlhlformdie Struktur in welcher Wissen in oumlffent-lichen Diskursen auftaucht Somit kommtErzaumlhlungen eine zweifache Aufgabezu sie erzeugen zum einen Anschluszlig-faumlhigkeit zu den verschiedenen auszliger-akademischen Bereichen zum anderen

1) Dabei laumlszligt er nicht unbedingt demokratie-theoretische Sensibilitaumlt erkennen wenn er schreibtraquoGlobal telecommunication will ultimatelyestablish a cooperative system generating valuespreferences and decisions as crucial commonalitiesof humanity onlinelaquo [5] Damit wird zum eineneine Vereinheitlichung der Werte unterstellt wiesie gerade fuumlr plurale Demokratien untypisch istund zum anderen werden die typischen undnotwendigen Auseinandersetzungen und Konfliktezwischen den Kulturen unterschlagen

2) Entsprechend erlangte die methodisch angeleiteteund experimentell verfahrende Naturforschunggegenuumlber der Naturgeschichte einen immergroumlszligeren Stellenwert und loumlste diese zu Beginndes 19 Jahrhunderts ab [8]

3) Diese schon immer stattfindende verdeckteKontextualisierung zeigt sich unter andereman der Bedeutung von implizitem Wissen oderErfahrungswissen Mit dem Topos des tacitknowledge [14] wird die Bedeutung von Know-how technischen Tricks sowie eines Gefuumlhls fuumlrRegeln und deren Anwendung hervorgehobenKlassisch ist die Studie von Harry Collins [15]

uumlber Versuche zum Nachbau des TEA-LasersSie zeigte daszlig allein denen der Nachbau desGeraumltes gelang die in direktem Kontakt mitden Erfindern standen Verschriftlichtes Wissenwar nicht ausreichend Entsprechend definiertCollins tacit knowledge als raquoknowledge or abilitiesthat can be passed between scientists by personalcontact but cannot be or have not been set outor passed on in formulae diagrams or verbaldescriptions and instructions for actionlaquo [16]

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unterstuumltzen sie eine Selbstdisziplinie-rung zum Kontext Sie leiten Wissen-schaftler dazu an die moumlglichen An-wendungsbezuumlge des erzeugten Wissensmit zu reflektieren

22 Konkretisierung derkontextualistischenWissenschaftsperspektive

Bereits bei der Konstruktion vonTatsachen spielen Erzaumlhlungen eine be-traumlchtliche Rolle Diese wird um sobedeutender je staumlrker das Themenfeldmit gesellschaftlichen Problemdiskurseninterferiert Denn hier werden nicht nurdie relevanten Problemperspektiven ver-handelt sondern ebenso die moumlglichenLoumlsungsmuster ndash und die unterscheidensich je nach Perspektive erheblich Einegute Problemgeschichte muszlig deshalbeine Diagnose der Situation hergebendie Dringlichkeit des Problems unter-

streichen und schlieszliglich bestimmteTherapeutika anbieten koumlnnen mit denenGesellschaften sich des diagnostiziertenProblems erwehren koumlnnen Bisher wur-den die relevanten Problemgeschichtendurch die Naturwissenschaft definiertund entsprechende technische Loumlsungs-muster angeboten Jedoch hat sich in-zwischen diese Situation veraumlndertDurch die Umwelt- und Risikodiskurseoumlffnete sich das Feld wissenschaftlicherWissensproduktion zur (politischen) Oumlf-fentlichkeit [18] Von den verschiedenstenStandorten innerhalb der Gesellschaftwird gesprochen eine Begrenzung dersprechenden Subjekte [19] ist kaum mehrmoumlglich Aus den ehedem kahlenObjekten entstehen Risiko-Objekte [13]

oder extended facts [20] bei denenAkteure mit ganz unterschiedlichen Per-spektiven an der Konstruktion der Ob-jekte mitwirken

Das Konzept der Re-Kontextualisie-rung eroumlffnet hier neue Wege DieseIdee wurde am Beispiel der Gentechno-logie schon von Wolfgang Bonss RainerHohlfeld und Regine Kollek in dieDiskussion eingebracht [21] Re-Kontex-tualisierung stellt sich dabei als eineStrategie der reflektierten Transzen-dierung des Laborkontextes ndash also eineAnreicherung kahler Objekte ndash undletztlich als Vergesellschaftungsformwissenschaftlichen Wissens [21a] darWichtige Anregungen und Perspektivenerhaumllt eine Heuristik der Kontextuali-sierung mithin aus der Rekonstruktionvon pragmatischen und semantischenKontexten der komplexen Ausgangs-phaumlnomene In der letzten Konsequenzfuumlhrt ein so verstandener Kontextualis-mus zu einem wissenschaftspolitischenProgramm weil raquodie Schritte der Er-weiterung des Laborkontextes und dieBedingungen der Anwendung selbstzum Forschungsgegenstand gemachtwerdenlaquo [21a] Ausgangspunkt ist zwarwissenschaftliches Wissen jedoch wirdes in seinen Wechselwirkungen mit derGesellschaft aufgeschluumlsselt4)

Hier ist ein Blick in die Welt derChemie hilfreich Sie liefert eine Fuumlllevon Beispielen dafuumlr wie die Perspektivesystematisch auf kahle Objekte be-grenzt wurde Ebenso kann man erfahrenwelche besonderen Herausforderungensich bei der Konstruktion von Risiko-Objekten stellen Bisher beruhten dieSicherheitsvorstellungen in der Chemieauf Konzepten von Stabilitaumlt und Inert-heit oder aber kontrollierbarer Reak-tivitaumlt die sich aus gewissen chemischenParametern der jeweiligen Stoffe be-stimmen lieszligen Ziel der Chemie war jadie Herstellung von Stoffen die eine

moumlglichst ausgepraumlgte Stabilitaumlt oderWirkungsweise fuumlr spezifische Funktionenauszeichnet Diese Zuschreibung hatsich in einigen Faumlllen als Fehlschluszlig er-wiesen wobei das Fallbeispiel der Fluor-chlorkohlenwasserstoffe FCKW sicherlichzu den prominenteren gehoumlren duumlrfteDiese rein synthetische Stoffklasse wurdewegen klar spezifizierter chemischer(Stabilitaumlt) und physikalischer (durchdie Zusammensetzung einstellbarer Siede-punkt) Eigenschaften als das idealeKuumlhlmedium entwickelt und in groszligemMaszlige eingesetzt Unter den Bedingungender Troposphaumlre sind diese Stoffe auchstabil (man schloszlig daraus daszlig sie inertseien) koumlnnen jedoch von den UV-Strahlen in der Stratosphaumlre aufgebrochenwerden (sie sind also nicht stabil unterden Strahlungsbedingungen der Strato-sphaumlre) Mit der Stratosphaumlre kam einanderer pragmatischer Kontext in denBlick Dies war die Voraussetzung dieFiktion der Inertheit in diesem Fall zuenttarnen5) Solange die Stabilitaumlt alleinvon der Wissenschaft definiert wurdewar es eher wahrscheinlich diskursiveSchlaumlfer zu erzeugen also solche Stoffebei denen man von einer Sicherheitausging die sich im nachhinein alsunbegruumlndet herausstellte Denn imRahmen herkoumlmmlicher wissenschaft-licher Praxis wurde relativ umstandslosaus der Stabilitaumlt von Stoffen im Labor-kontext auf ihre Inertheit geschlossenohne jedoch die unterschiedlichen An-wendungskontexte und Wirkungsfelderzu kennen6) Das Leitbild klassischerNaturforschung [24] sah dies freilich erstgar nicht vor

Zur naumlheren Analyse und Differenzie-rung von Stoffgeschichten die sich alskomplementaumlre Ergaumlnzungen zur wissen-schaftlichen Beschreibung der Stoffeauffassen lassen wuumlrde es sich anbietenLeitstoffe zu identifizieren Sie solltenentweder eine Konkurrenz unterschied-licher Stoffpraxen abbilden oder ndash unddamit kontrastierend ndash das Monopoleiner wissenschaftlichen Praxis wider-spiegeln Unter die erste Gruppe fallenbeispielsweise die Farbstoffe bei denenes vor deren wissenschaftlicher Ent-schluumlsselung vielerlei Rezepte undProzeduren der Herstellung gab Zu derzweiten Gruppe zaumlhlen beispielsweise dieSilicone eine vollkommen synthetischeSubstanzklasse von der man annahmdaszlig sie unter gewoumlhnlichen Bedingungenunzugaumlnglich fuumlr Reaktionen sei [25] 7)

Die Inert-Fiktion war und ist ihrer-seits so stabil daszlig man diese Substanz-klasse in der Zwischenzeit in uumlber14 000 Alltagsprodukten auf den Marktgebracht hat Jedoch laumlszligt sich die Ver-

4) Ein solcher Prozeszlig der Kontextualisierung laumlszligtsich zum Teil schon an Einsichten der OumlkologischenChemie studieren Sie machte deutlich daszlig esunmoumlglich sei die Vielfalt moumlglicher Wirkungenvon Chemikalien vollstaumlndig aufzuschluumlsselnJuumlngst wurde deshalb vorgeschlagen die schadens-bezogene Sichtweise zu uumlberschreiten und aufGefaumlhrdungen umzustellen Chemikalien solltenals regulationsbeduumlrftig gelten wenn sie eingewisses Gefaumlhrdungspotential aufweisenDieses wiederum kann durch allgemeine Kriterienbeschrieben werden wie zum Beispiel Persistenzund Reichweite [22] Mit diesen Kriterien hat dasVorsorgeprinzip nun Eingang in die Neuordnungder europaumlischen Chemikalienpolitik gefunden

5) Sherwood Rowland einer der Erfinder derFCKW-Ozonzerstoumlrungshypothese bemerkteviele Jahre spaumlter raquoIn retrospect the main advancewas to get out of the lab and into the real worldby following a molecule from its release into theatmosphere to its eventual destruction many yearslaterlaquo [23]

6) Ein Fallbeispiel das in diesem Zusammenhanginstruktiv sein koumlnnte ist die Anwendung vonPlatin-Katalysatoren bei Fahrzeugen die mitbleifreiem Benzin fahren Hierzu wurden diverseRisikohypothesen formuliert Eine davon besagtedaszlig es zu einer verstaumlrkten Bildung von Salpeter-saumlure in der Umwelt kommen wuumlrde Grundlage fuumlrdieses Argument war die Verwendung von Platinals Katalysator bei Herstellungsverfahren dieserSaumlure Allerdings sind dabei die Randbedingungendeutlich andere (viel houmlherer Druck undTemperatur) so daszlig diese Hypothese zuruumlck-gewiesen werden konnte Jedoch gewinnt in derjuumlngsten Zeit eine andere Risikohypothese anBedeutung Es wurde entdeckt daszlig Nano-Ptwasserloumlslich ist Dies widerspricht allen bis-herigen Vorstellungen uumlber Stabilitaumlt undLoumlslichkeit von Edelmetallen Somit kann Platinin Form kleinster Partikel bioverfuumlgbar werdenund moumlglicherweise in Organismen als Bio-katalysator wirken Die Effekte sind noch un-erforscht koumlnnten aber ein hohes Risikopotentialbergen Auch in diesem Fall hat der Anwendungs-kontext ganz besondere Stabilitaumltsbedingungendie durch Analogien aus dem Laborkontext nichterfaszligt wurden

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Exkurs

mutung nicht ohne weiteres von derHand weisen daszlig auch in diesem Falldie unter Laborbedingungen realisierteStabilitaumlt der Substanzklasse nicht alsInertheit interpretiert werden duumlrfteDenn manche Mikroorganismen lernendiese Stoffe in ihren Stoffwechsel zuintegrieren Die Silicone koumlnnten daherunter Umstaumlnden zu einem weiterenBeispiel in der Nachfolge von DDT undFCKW werden bei denen zunaumlchst un-erwuumlnschte Wechselwirkungen im Zu-sammenhang mit anderen Kontextenvon vornherein ausgeschlossen wordenwaren

3 Stoffgeschichten alsStoff-Erzaumlhlung

Der einfluszligreiche russische Avantgar-dist Sergej Tretjakow regte schon in denzwanziger Jahren des letzten Jahrhun-derts Biographien von Dingen an [26]Er nahm daran Anstoszlig daszlig der buumlrger-liche Roman einzelne Helden allzusehrin den Mittelpunkt stelle In einer Um-kehrung empfahl der Marxist es docheinmal anders zu versuchen undnicht Menschen sondern objektive Dingewie etwa den Wald das Brot die Kohledas Eisen den Flachs die Baumwolle

oder das Papier zu beschreiben welchedurch die gesellschaftlichen Formationenwandern und allmaumlhlich zu nuumltzlichenDingen werden Anfang der dreiszligigerJahre erschienen einige Buumlcher die dasvon Tretjakow entworfene Programmverwirklichten und 1934 das erste dasseine Struktur allein einer Sache ver-dankte Sage und Siegeszug des Kaffees ndashDie Biographie eines weltwirtschaftlichenStoffes von Heinrich Eduard Jacob [27]Im Prolog schreibt der Autor raquoNicht dieVita Napoleons oder Caumlsars wird hiererzaumlhlt sondern die Biographie einesStoffes Eines tausendjaumlhrigen treuenund machtvollen Begleiters der ganzenMenschheit Eines Heldenlaquo Und gegenEnde seiner eindrucksvollen Geschichteerzaumlhlt Jacob auch noch wie er inRio de Janeiro unterwegs einen Kaffee-zweig betrachtete und einen Tagtraumhatte Er gehe an einem breiten gelbenFluszlig stromaufwaumlrts und gelange uumlberParis Venedig Wien nach ArabienErwachend nimmt er sich vor eineMythologie der Rohstoffe zu schreiben

Immerhin bezeichnet die DeutscheBiographische Enzyklopaumldie Jacob alsBegruumlnder des modernen SachbuchsSein Werk uumlber den Kaffee liest sich wieein Roman bietet dem Leser indes auchReportagephotos und ein ausfuumlhrlichesLiteraturverzeichnis was die Mischformunterstreicht Aktuellere Beispiele fuumlrStoffbiographien sind etwa JuumlrgenDahls Buch Aufschluumlsse KalksteinFeuerstein Schiefer ndash drei Versuche zurGeologie [28] oder das von Philip BallH2O Biographie des Wassers [29] Fuumlrdas Projekt Stoffgeschichten laumlszligt sichaus diesen Buumlchern vieles lernen Sienehmen die Aufgabe ernst zu erzaumlhlensie bringen stoffbezogene Themen ineine zirkulationsfaumlhige Form Ihnengelingt was auch das hier vorgestellteKonzept beabsichtigt Aufklaumlrung uumlberStoffe zu vermitteln Im Fokus dieserStoffgeschichten steht allerdings fastimmer der Stoff selbst wie er sich ausder Perspektive bestimmter Naturwissen-schaften darstellt Die gesellschaftlicheBedeutung und Anwendungszusammen-

7) Silicone sind sogenannte siliciumorganischeVerbindungen Als Besonderheit weisen sie eineSilicium-Kohlenstoff-Bindung auf die so in derNatur keine Analoga hat Durch dieses Struktur-merkmal ist der Aufbau dieser Stoffe gewisser-maszligen teils anorganischer teils organischer Naturwobei diese Kombination fuumlr die ganz besonderenEigenschaften maszliggeblich ist So sind Siliconeviel waumlrmebestaumlndiger im Vergleich zuherkoumlmmlichen Kohlenstoffpolymeren undkoumlnnen zugleich flexibler verarbeitet werdenweil sie sich einerseits als Fluumlssigkeitenanderseits als verformbare plastisch-elastischeMassen verhalten [25a]

Stoffe und ihre Wirkungsformen in Raum und ZeitDas Beispiel der Silicone

Die Nutzung von Stoffen geht in der Regel mit der Umgestaltung ihrer Zusammensetzungund ihrer Erscheinungsform einher Je nach den Erfordernissen werden mehr oderweniger komplizierte Abfolgen von chemischen und physikalischen Prozessen zurUmwandlung Umformung und Umverteilung von Stoffen verwendet Ziel ist die Her-stellung von Stoffen mit spezifischen Wirkungsformen die dann eine Funktion erfuumlllenkoumlnnen So werden aus ndash hier im Bild unten links gezeigtem ndash Quarz oder Bergkristall(Siliciumdioxid SiO2) mit hohem Energieaufwand das fuumlr die Chip-Industrie unersetz-bare Halbleitermaterial Silicium aber auch die im Alltag weitverbreiteten Silicone undSiloxane hergestellt Aus einem Rohstoff entstehen so Stoffe mit sehr unterschiedlichenWirkungsformen Solche Stoffe kann man auch als portionierbare Technologienbezeichnen da sie fuumlr die Erfuumlllung bestimmter Funktionen gestaltet wurden Wie jedesandere funktionelle Material auch haben sie bestimmte Nebenwirkungen Da Siliconeund Siloxane in sehr vielen Haushalts- und Pflegemitteln eingesetzt werden gelangensie vorerst unbemerkt in Muumlllverbrennungsanlagen und Klaumlrwerke Diese beidenzweckmaumlszligigen Einrichtungen verwerten die teils zu Biogas umgewandelten Abfall-oder Reststoffe in Gasmotoren Neben den wie geplant erwarteten Kohlenstoffverbin-dungen finden auch die genannten Siliciumverbindungen ihren unvorherge-sehenen Weg in den Verbrennungsraum des Motors Im Gegensatz zu den Kohlenstoff-verbindungen (Biogas) die zu gasfoumlrmigem Kohlendioxid und Wasser verbrennenwerden sie zu ndash im Bild unten rechts gezeigten ndash festen Ablagerungen von Siliciumdioxid(SiO2 Quarz) umgewandelt die sich bereits im Motorraum oder auf nachgeschaltetenFiltern und Katalysatoren absetzen und die Funktion des Gasmotors massiv beein-traumlchtigen oder blockieren Solche Uumlberraschungsmomente kommen in Stoffgeschichtenhaumlufiger vor Der Protagonist taucht in Zusammenhaumlngen auf in denen man ihn nichtvermutet hat

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haumlnge werden nicht systematisch mit-reflektiert Damit geht ein Teil derWirklichkeit eines Stoffes verloren SeineForm und seine davon abhaumlngigenWirkungsweisen in unterschiedlichenzeitlichen und raumlumlichen Kontextenwerden eher zufaumlllig beachtet nur dieihm zugedachte Funktion ist von Be-deutung Hingegen fordert der Kontex-tualismus ja gerade eine Ausweitungdes Blickes hin auf die semantischenund pragmatischen Kontexte des gesell-schaftlichen Umgangs mit Stoffen Esbedarf also der Verbindung der natur-wissenschaftlich erarbeiteten Fakten mitgeistes- und sozialwissenschaftlichenKenntnissen und Methoden Erst ausder fruchtbaren Verbindung der unter-schiedlichen Perspektiven erwaumlchst derStoff fuumlr eine Stoffgeschichte

31 Was erzaumlhlt eine Stoffgeschichte

Eine Stoffgeschichte verfolgt einenStoff nicht nur durch bestimmte chemi-sche Konstellationen und Prozesse hin-durch sondern durch verschiedene Zeitenund Situationen Sie zeigt um das Bei-spiel der Kaffeegeschichte des EduardJacob nochmals in Erinnerung zu rufendie Kontexte der Entstehung des Stoffesund verfolgt ihn durch kulturelle undpolitische Szenenwechsel hindurch bisin die Gegenwart Von einer life-cycle-Analyse die ebenfalls Stoffe (oderProdukte) durch verschiedene Kontextehindurch verfolgt unterscheidet sicheine Stoffgeschichte in drei AspektenZum einen dadurch daszlig sie nicht nuroumlkonomische Kontexte beruumlcksichtigtsondern auch kulturelle Aspekte desUmgangs mit einem Stoff [30] So be-richtet Jacob in seinem Kaffeebuchauch uumlber diverse Trinkkulturen undbefaszligt sich eingehend mit den BerlinerKaffeehaumlusern Weiter hat eine Stoff-geschichte nicht das Ziel konkreteIndikatoren zu errechnen die eineBewertung eines bestimmten Produktsoder Produktionsweges erlauben Viel-mehr geht es darum Verstaumlndnis fuumlrZusammenhaumlnge zu wecken Schlieszliglichrichtet eine Stoffgeschichte das Augen-merk nicht auf kurzlebige oumlkonomischeZyklen sondern oumlffnet den Blick vonvornherein fuumlr groumlszligere historische Zeit-raumlume ndash wie ja auch Jacob sein Buchmit einer Phantasie uumlber die ersteEntdeckung der Wirkung der Kaffee-bohne beginnt

Bei einem so weit gefaszligten Themen-feld stellt sich unweigerlich das Pro-blem der Auswahl Eine Stoffgeschichtekann natuumlrlich nicht den Anspruchhaben alles uumlber einen Stoff zu er-

zaumlhlen Andererseits darf sie auch nichtnur eine Plauderei sein die einzelneAnekdoten aneinanderreiht sonst landetman bei den kleinen Kulturgeschichtendie weniger aufklaumlren wollen sonderneher unterhalten [31] Es gibt hier keinePatentrezepte wohl aber Beispiele andenen man sich orientieren kann Dengenannten Buumlchern von Jacob oder vonDahl gelingt es eine zusammenhaumlngendeGeschichte zu erzaumlhlen die dem Leserein Bild von dem Stoff nicht nur eineSumme von Einzelheiten vermittelt undinsofern vollstaumlndig ist Mit anderenWorten Uumlber die Vollstaumlndigkeit einerStoffgeschichte entscheidet nicht eineauszligerhalb ihrer liegende objektiveSache sondern der Leser dessen Fragenbeantwortet werden oder nicht

Stoffgeschichten sind also keineswegszeitlos sondern auf ein bestimmtesPublikum bezogen Sie sind eine Erzaumlh-lung im Sinne der alten Rhetoren Dienarratio die sich immer auch an der

opinio der Voreinstellung des Publikumsorientiert soll unterhalten belehren undzur Handlung motivieren ndash unbedingt zuvermeiden ist das taedium die Lange-weile des Publikums (Brevitas Kuumlrzeist uumlbrigens nach Quintilian eine Grund-tugend der narratio sie muszlig keines-wegs vollstaumlndig sein [32]) Gemessenan den mit Zahlen Fluszligdiagrammen undSzenarios bewehrten Formen in denendie Resultate von Umweltforschunguumlblicherweise dargestellt werden moumlgenStoffgeschichten zunaumlchst einmal rechtunscheinbar daherkommen Vielleichterscheinen sie harmlos rein belletristischoder nicht ganz ernst zu nehmen Stoff-geschichten sind vom Standpunkt deretablierten Umweltforschung gesehendurchaus angreifbar Sie wollen dieseUmweltforschung auch nicht ersetzensondern ergaumlnzen Denn die uumlblichenwissenschaftlich anerkannteren Formenumweltrelevantes Wissen darzustellenverlieren sich oft in Details ndash und man

Gewebte Stoffe koumlnnen viel erzaumlhlen

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sieht bald den Wald vor lauter Baumlumennicht mehr Eine Stoffgeschichte hin-gegen vermittelt einen Blick auf dasGanze und zwar ohne jene plakativenMetaphern die in der populaumlren oumlko-logischen Diskussion so beliebt sind(oumlkologischer Fuszligabdruck Stoff-kreislauf oumlkologischer Rucksack)Zugleich gehen sie von ausschnitthaftenmehr oder weniger willkuumlrlich gewaumlhltenZeitfenstern weg und wagen eine weiterausgreifende Sicht So koumlnnen Entwick-lungen sichtbar werden die bei denpraumlziseren kuumlrzer greifenden Analysendie etwa im Zusammenhang des Stoff-strommanagements uumlblich sind nichterfaszligt werden Insgesamt kann someinen wir durch Stoffgeschichten dasVerstaumlndnis fuumlr stoffliche Prozesse ver-tieft werden

Auch wird die Phantasie angeregtDenn der Blick uumlber die kleinen Einheitender supply-chains und der sogenanntenlife-cycles (die das Leben eines Stoffeskeineswegs ausschoumlpfen) gibt ein Gespuumlrfuumlr die Potentiale die in einem Stoffstecken Geschichten regen die Phantasiean Die Gegenwart von Stoffen an er-wuumlnschten oder unerwuumlnschten Ortenlaumlszligt an neue Landkarten denken Stoff-landkarten auf denen sich ihre Her-kunft und Verbreitung Wirkungsformenund Effekte in Raum und Zeit verfolgenlassen [33]

Daruumlber hinaus haben Stoffgeschichteneine wichtige kommunikative FunktionSie koumlnnen stoffbezogenes Wissen ineine literarische Form bringen welchees vermag die Waumlnde des Potential-topfs innerhalb dessen uumlblicherweisedie Kommunikation uumlber Stoffe undMaterialien kreist zu durchtunneln Sokoumlnnen Geschichten uumlber Stoffe diein der Oumlffentlichkeit bisher nur ein exo-tisches Nischenthema sind was ihrertatsaumlchlichen Bedeutung fuumlr die Repro-duktion der Gesellschaft keineswegsentspricht sich in die oumlffentliche Dis-kussion einhaken Eventuell kann sichsogar ein regelrechter Diskurs formieren

Die Auswahl der Stoffe wird nichtdurch ein wissenschaftlich vorgepraumlgtesSuchmuster bestimmt sondern folgt einerpublizistischen Kategorie der Aktuali-taumlt [34] Diejenigen Stoffe sollen be-schrieben werden an deren Geschichtedie Gesellschaft ein begruumlndetes Inter-esse hat oder doch haben sollte Beispielesind das Wasser das Erdoumll PlastikBaumwolle Papier Kalkstein Kohlen-dioxid Sand Staub und so weiter DieAuswahl ist natuumlrlich nicht annaumlherndvollstaumlndig sie soll vor allem zeigendaszlig sich der Titel einer Stoffgeschichtenicht an naturwissenschaftlich gepraumlgtenKategorien orientiert sondern an demVerstaumlndnis des breiteren Publikums fuumlrdas solche Geschichten erzaumlhlt werden

32 Wie werden Stoffgeschichtenerzaumlhlt

Die Herausforderung fuumlr den Ge-schichtenerzaumlhler liegt einmal darin seinPublikum uumlberhaupt fuumlr ein so sproumldesThema wie es Stoffe in ihren erkanntenversteckten oder erdachten Wirkungs-formen nun einmal sind zu interessierenDas ist die klassische rhetorische Heraus-forderung des sogenannten genus humilejener Redegattung die es mit gemein-hin als langweilig oder gar abstoszligendwahrgenommenen Dingen zu tun hat(rhetorische Methoden auch fuumlr solcheThemen Aufmerksamkeit zu erzielennennt Wessel [35]) Die zweite Heraus-forderung liegt darin die vielfaumlltigenFakten welche zu einem Stoff in unter-schiedlichen disziplinaumlren Diskursengesichert wurden zu einer Geschichtezu verbinden Es kommt hier auf diealte Kunst der synopsis der Zusammen-schau an Wichtig ist das geistige Bandsozusagen den Mittelbegriff zu findender die Einzelheiten zu einem kommuni-zierbaren Ganzen verbindet Eine Tech-nik diese Einheit zu erreichen welchesich in Stoffgeschichten haumlufig findetist die Personalisierung Ein Stoff wirddabei wie eine Person dargestellt undcharakterisiert Explizit geschieht diesetwa bei Jacob der den Kaffee im Pro-log zu seinem Buch als einen Heldenbezeichnet Bisweilen wird die Persona-lisierung auch implizit vorgenommenSie ist uumlbrigens keineswegs nur ein lite-rarisches Procedere sondern hat einfundamentum in re Schon eine winzigeStoffportion erzaumlhlt von den Umstaumlndenihrer Entstehung An ihrer Form laumlszligtsich ihre Geschichte ablesen [6] Stoff-arten als Ganze sind daruumlber hinaus unddurch diese Mikrogeschichten hindurcheingebunden in die Prozesse der sym-bolischen und materiellen Reproduktionder Gesellschaft Ihnen waumlchst damiteine zweite Geschichtlichkeit zu Es gibtdaher tatsaumlchlich eine gewisse Analogiezwischen Stoffen und menschlichen In-dividuen

Auf der Personalisierung aufbauendgibt es weitere Techniken die in Stoff-geschichten vielfach auftauchen Analogwie die Biographienforschung in mensch-lichen Lebensgeschichten Daseins-themen ausmacht [36] an denen sicheine Person abarbeitet oder wie auchHistoriker die Geschichte eines Landesoder eines Volkes durch gewisse Leit-themen strukturieren lassen sich auchfuumlr Stoffe Leitmotive formulieren diein der Geschichte eines Stoffes immerwieder vielleicht in gewandelter Formauftauchen Beim Wasser kann man als

Jens Soentgen (links) Geboren 1967 in Bensberg Nordrhein-Westfalen studierte zunaumlchstChemie promovierte aber in Philosophie mit einer Arbeit uumlber den Stoffbegriff (Das Un-scheinbare Berlin 1997) Lehrauftraumlge fuumlhrten ihn anschlieszligend an mehrere Universitaumltenin Deutschland Mehrfach war er in Brasilien als Gastprofessor fuumlr Philosophie taumltigSeit 2002 ist er wissenschaftlicher Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt (WZU) derUniversitaumlt Augsburg Zuletzt erschien von ihm das Buch Selbstdenken 20 Praktiken derPhilosophie (Wuppertal 2003)

Stefan Boumlschen (Mitte) Geboren 1965 in Waldshut Baden-Wuumlrttemberg Studium desChemie-Ingenieurwesens mit Diplomabschluszlig 1995ndash 1998 Vertiefung in Philosophie sowieSoziologie Promotion mir einer Arbeit zur Risikogenese der Erarbeitung von Risiko-Wissenim Laufe der Geschichte analysiert an vier Fallstudien Seit 1999 an der UniversitaumltAugsburg im Sonderforschungsbereich Reflexive Modernisierung Er ist WZU-Mitgliedund Projektleiter

Armin Reller (rechts) Geboren 1952 in Winterthur Kanton Zuumlrich 1992ndash1998 ordentlicherProfessor am Institut fuumlr Anorganische und Angewandte Chemie der Universitaumlt Hamburgdaneben seit 1995 Leiter des Programms SolarchemieWasserstoffRegenerative Energie-traumlger (BEW Bern) 1999 Uumlbernahme des neueingerichteten Lehrstuhls fuumlr Festkoumlrper-chemie im Institut fuumlr Physik der Universitaumlt Augsburg Er ist Vorstandssprecher des WZU

Das Wissenschaftszentrum Umwelt wurde im Jahr 2000 im Rahmen der bayerischenHigh-Tech-Offensive gegruumlndet Unter dem Leitthema Zukunftsfaumlhiger Umgang mitStoffen Materialien und Energie buumlndelt das WZU die Umweltforschung an der UniversitaumltAugsburg Boumlschen Reller und Soentgen arbeiten in verschiedenen Projekten im WZUzusammen

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ein solches Leitmotiv etwa seine natuumlr-liche Tendenz feststellen Grenzen zuuumlberschreiten oder diffusiv zu unter-wandern [37] fuumlr die Geschichte derBaumwolle wird der Nord-Suumld-Gegen-satz in seinen verschiedenen Ausprauml-gungen ein solches Leitmotiv sein beimKalk sieht Dahl [28] als Leitmotiv denGegensatz zwischen einer Aufloumlsungs-tendenz und der Faumlhigkeit vorgegebeneFormen mimetisch genau abzubilden

Insgesamt laumlszligt sich jedoch keineAnleitung fuumlr das Abfassen von Stoff-geschichten geben Zum einen muumlszligtezu diesem Zweck ein groumlszligerer Fundusvon Stoffgeschichten hinsichtlich ihrerrhetorischen Strategien und ihrer Erzaumlhl-strukturen analysiert und mit anderenNatur- und Umweltgeschichten ver-glichen werden (der Wald ist bereitsGegenstand erzaumlhltheoretischer Unter-suchungen [38]) Zum anderen ist dasErzaumlhlen von Stoffgeschichten wie jedesniveauvolle Erzaumlhlen eine Kunst diesich nur teilweise in Handlungsanwei-sungen ausmuumlnzen laumlszligt

4 Die Moral der Stoffgeschichte

Stoffgeschichten haben ein ZielAufklaumlrung uumlber Stoffe und derenWirkungsformen Aus den historischenStudien lassen sich Tendenzen ablesendie Aussagen uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung einer Stoffgeschichte ermoumlg-lichen Sie gewinnen ihr Gewicht ausder Langzeitbetrachtung und koumlnnen soetwas wie ein Gespuumlr fuumlr einen be-stimmten Stoff vermitteln So kann eszu einem Wiedereintritt der Geschichtein sich selbst kommen Dann naumlmlichwenn die Stoffgeschichte zu einemkreativeren und umsichtigeren Umgangmit dem Stoff selbst anregt

Fuumlr Hinweise und Diskussionen danken wirden Teilnehmern an dem WZU-WorkshopStoffgeschichten im November 2002Markus Huppenbauer Renate DiessenbacherRiyaz Haider Simon Meissner undIsabelle Seacutecher

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(Eingegangen am 26 November 2003 OS)

Page 3: Stoffgeschichten Ð eine neue Perspektive f r transdisziplin ......eine neue Perspektive f r transdisziplin re Umweltforschung Stefan B schen, Armin Reller und Jens Soentgen* GAIA

GAIA 13 (2004) no 121Traktat

unterstuumltzen sie eine Selbstdisziplinie-rung zum Kontext Sie leiten Wissen-schaftler dazu an die moumlglichen An-wendungsbezuumlge des erzeugten Wissensmit zu reflektieren

22 Konkretisierung derkontextualistischenWissenschaftsperspektive

Bereits bei der Konstruktion vonTatsachen spielen Erzaumlhlungen eine be-traumlchtliche Rolle Diese wird um sobedeutender je staumlrker das Themenfeldmit gesellschaftlichen Problemdiskurseninterferiert Denn hier werden nicht nurdie relevanten Problemperspektiven ver-handelt sondern ebenso die moumlglichenLoumlsungsmuster ndash und die unterscheidensich je nach Perspektive erheblich Einegute Problemgeschichte muszlig deshalbeine Diagnose der Situation hergebendie Dringlichkeit des Problems unter-

streichen und schlieszliglich bestimmteTherapeutika anbieten koumlnnen mit denenGesellschaften sich des diagnostiziertenProblems erwehren koumlnnen Bisher wur-den die relevanten Problemgeschichtendurch die Naturwissenschaft definiertund entsprechende technische Loumlsungs-muster angeboten Jedoch hat sich in-zwischen diese Situation veraumlndertDurch die Umwelt- und Risikodiskurseoumlffnete sich das Feld wissenschaftlicherWissensproduktion zur (politischen) Oumlf-fentlichkeit [18] Von den verschiedenstenStandorten innerhalb der Gesellschaftwird gesprochen eine Begrenzung dersprechenden Subjekte [19] ist kaum mehrmoumlglich Aus den ehedem kahlenObjekten entstehen Risiko-Objekte [13]

oder extended facts [20] bei denenAkteure mit ganz unterschiedlichen Per-spektiven an der Konstruktion der Ob-jekte mitwirken

Das Konzept der Re-Kontextualisie-rung eroumlffnet hier neue Wege DieseIdee wurde am Beispiel der Gentechno-logie schon von Wolfgang Bonss RainerHohlfeld und Regine Kollek in dieDiskussion eingebracht [21] Re-Kontex-tualisierung stellt sich dabei als eineStrategie der reflektierten Transzen-dierung des Laborkontextes ndash also eineAnreicherung kahler Objekte ndash undletztlich als Vergesellschaftungsformwissenschaftlichen Wissens [21a] darWichtige Anregungen und Perspektivenerhaumllt eine Heuristik der Kontextuali-sierung mithin aus der Rekonstruktionvon pragmatischen und semantischenKontexten der komplexen Ausgangs-phaumlnomene In der letzten Konsequenzfuumlhrt ein so verstandener Kontextualis-mus zu einem wissenschaftspolitischenProgramm weil raquodie Schritte der Er-weiterung des Laborkontextes und dieBedingungen der Anwendung selbstzum Forschungsgegenstand gemachtwerdenlaquo [21a] Ausgangspunkt ist zwarwissenschaftliches Wissen jedoch wirdes in seinen Wechselwirkungen mit derGesellschaft aufgeschluumlsselt4)

Hier ist ein Blick in die Welt derChemie hilfreich Sie liefert eine Fuumlllevon Beispielen dafuumlr wie die Perspektivesystematisch auf kahle Objekte be-grenzt wurde Ebenso kann man erfahrenwelche besonderen Herausforderungensich bei der Konstruktion von Risiko-Objekten stellen Bisher beruhten dieSicherheitsvorstellungen in der Chemieauf Konzepten von Stabilitaumlt und Inert-heit oder aber kontrollierbarer Reak-tivitaumlt die sich aus gewissen chemischenParametern der jeweiligen Stoffe be-stimmen lieszligen Ziel der Chemie war jadie Herstellung von Stoffen die eine

moumlglichst ausgepraumlgte Stabilitaumlt oderWirkungsweise fuumlr spezifische Funktionenauszeichnet Diese Zuschreibung hatsich in einigen Faumlllen als Fehlschluszlig er-wiesen wobei das Fallbeispiel der Fluor-chlorkohlenwasserstoffe FCKW sicherlichzu den prominenteren gehoumlren duumlrfteDiese rein synthetische Stoffklasse wurdewegen klar spezifizierter chemischer(Stabilitaumlt) und physikalischer (durchdie Zusammensetzung einstellbarer Siede-punkt) Eigenschaften als das idealeKuumlhlmedium entwickelt und in groszligemMaszlige eingesetzt Unter den Bedingungender Troposphaumlre sind diese Stoffe auchstabil (man schloszlig daraus daszlig sie inertseien) koumlnnen jedoch von den UV-Strahlen in der Stratosphaumlre aufgebrochenwerden (sie sind also nicht stabil unterden Strahlungsbedingungen der Strato-sphaumlre) Mit der Stratosphaumlre kam einanderer pragmatischer Kontext in denBlick Dies war die Voraussetzung dieFiktion der Inertheit in diesem Fall zuenttarnen5) Solange die Stabilitaumlt alleinvon der Wissenschaft definiert wurdewar es eher wahrscheinlich diskursiveSchlaumlfer zu erzeugen also solche Stoffebei denen man von einer Sicherheitausging die sich im nachhinein alsunbegruumlndet herausstellte Denn imRahmen herkoumlmmlicher wissenschaft-licher Praxis wurde relativ umstandslosaus der Stabilitaumlt von Stoffen im Labor-kontext auf ihre Inertheit geschlossenohne jedoch die unterschiedlichen An-wendungskontexte und Wirkungsfelderzu kennen6) Das Leitbild klassischerNaturforschung [24] sah dies freilich erstgar nicht vor

Zur naumlheren Analyse und Differenzie-rung von Stoffgeschichten die sich alskomplementaumlre Ergaumlnzungen zur wissen-schaftlichen Beschreibung der Stoffeauffassen lassen wuumlrde es sich anbietenLeitstoffe zu identifizieren Sie solltenentweder eine Konkurrenz unterschied-licher Stoffpraxen abbilden oder ndash unddamit kontrastierend ndash das Monopoleiner wissenschaftlichen Praxis wider-spiegeln Unter die erste Gruppe fallenbeispielsweise die Farbstoffe bei denenes vor deren wissenschaftlicher Ent-schluumlsselung vielerlei Rezepte undProzeduren der Herstellung gab Zu derzweiten Gruppe zaumlhlen beispielsweise dieSilicone eine vollkommen synthetischeSubstanzklasse von der man annahmdaszlig sie unter gewoumlhnlichen Bedingungenunzugaumlnglich fuumlr Reaktionen sei [25] 7)

Die Inert-Fiktion war und ist ihrer-seits so stabil daszlig man diese Substanz-klasse in der Zwischenzeit in uumlber14 000 Alltagsprodukten auf den Marktgebracht hat Jedoch laumlszligt sich die Ver-

4) Ein solcher Prozeszlig der Kontextualisierung laumlszligtsich zum Teil schon an Einsichten der OumlkologischenChemie studieren Sie machte deutlich daszlig esunmoumlglich sei die Vielfalt moumlglicher Wirkungenvon Chemikalien vollstaumlndig aufzuschluumlsselnJuumlngst wurde deshalb vorgeschlagen die schadens-bezogene Sichtweise zu uumlberschreiten und aufGefaumlhrdungen umzustellen Chemikalien solltenals regulationsbeduumlrftig gelten wenn sie eingewisses Gefaumlhrdungspotential aufweisenDieses wiederum kann durch allgemeine Kriterienbeschrieben werden wie zum Beispiel Persistenzund Reichweite [22] Mit diesen Kriterien hat dasVorsorgeprinzip nun Eingang in die Neuordnungder europaumlischen Chemikalienpolitik gefunden

5) Sherwood Rowland einer der Erfinder derFCKW-Ozonzerstoumlrungshypothese bemerkteviele Jahre spaumlter raquoIn retrospect the main advancewas to get out of the lab and into the real worldby following a molecule from its release into theatmosphere to its eventual destruction many yearslaterlaquo [23]

6) Ein Fallbeispiel das in diesem Zusammenhanginstruktiv sein koumlnnte ist die Anwendung vonPlatin-Katalysatoren bei Fahrzeugen die mitbleifreiem Benzin fahren Hierzu wurden diverseRisikohypothesen formuliert Eine davon besagtedaszlig es zu einer verstaumlrkten Bildung von Salpeter-saumlure in der Umwelt kommen wuumlrde Grundlage fuumlrdieses Argument war die Verwendung von Platinals Katalysator bei Herstellungsverfahren dieserSaumlure Allerdings sind dabei die Randbedingungendeutlich andere (viel houmlherer Druck undTemperatur) so daszlig diese Hypothese zuruumlck-gewiesen werden konnte Jedoch gewinnt in derjuumlngsten Zeit eine andere Risikohypothese anBedeutung Es wurde entdeckt daszlig Nano-Ptwasserloumlslich ist Dies widerspricht allen bis-herigen Vorstellungen uumlber Stabilitaumlt undLoumlslichkeit von Edelmetallen Somit kann Platinin Form kleinster Partikel bioverfuumlgbar werdenund moumlglicherweise in Organismen als Bio-katalysator wirken Die Effekte sind noch un-erforscht koumlnnten aber ein hohes Risikopotentialbergen Auch in diesem Fall hat der Anwendungs-kontext ganz besondere Stabilitaumltsbedingungendie durch Analogien aus dem Laborkontext nichterfaszligt wurden

GAIA 13 (2004) no 122Traktat

Exkurs

mutung nicht ohne weiteres von derHand weisen daszlig auch in diesem Falldie unter Laborbedingungen realisierteStabilitaumlt der Substanzklasse nicht alsInertheit interpretiert werden duumlrfteDenn manche Mikroorganismen lernendiese Stoffe in ihren Stoffwechsel zuintegrieren Die Silicone koumlnnten daherunter Umstaumlnden zu einem weiterenBeispiel in der Nachfolge von DDT undFCKW werden bei denen zunaumlchst un-erwuumlnschte Wechselwirkungen im Zu-sammenhang mit anderen Kontextenvon vornherein ausgeschlossen wordenwaren

3 Stoffgeschichten alsStoff-Erzaumlhlung

Der einfluszligreiche russische Avantgar-dist Sergej Tretjakow regte schon in denzwanziger Jahren des letzten Jahrhun-derts Biographien von Dingen an [26]Er nahm daran Anstoszlig daszlig der buumlrger-liche Roman einzelne Helden allzusehrin den Mittelpunkt stelle In einer Um-kehrung empfahl der Marxist es docheinmal anders zu versuchen undnicht Menschen sondern objektive Dingewie etwa den Wald das Brot die Kohledas Eisen den Flachs die Baumwolle

oder das Papier zu beschreiben welchedurch die gesellschaftlichen Formationenwandern und allmaumlhlich zu nuumltzlichenDingen werden Anfang der dreiszligigerJahre erschienen einige Buumlcher die dasvon Tretjakow entworfene Programmverwirklichten und 1934 das erste dasseine Struktur allein einer Sache ver-dankte Sage und Siegeszug des Kaffees ndashDie Biographie eines weltwirtschaftlichenStoffes von Heinrich Eduard Jacob [27]Im Prolog schreibt der Autor raquoNicht dieVita Napoleons oder Caumlsars wird hiererzaumlhlt sondern die Biographie einesStoffes Eines tausendjaumlhrigen treuenund machtvollen Begleiters der ganzenMenschheit Eines Heldenlaquo Und gegenEnde seiner eindrucksvollen Geschichteerzaumlhlt Jacob auch noch wie er inRio de Janeiro unterwegs einen Kaffee-zweig betrachtete und einen Tagtraumhatte Er gehe an einem breiten gelbenFluszlig stromaufwaumlrts und gelange uumlberParis Venedig Wien nach ArabienErwachend nimmt er sich vor eineMythologie der Rohstoffe zu schreiben

Immerhin bezeichnet die DeutscheBiographische Enzyklopaumldie Jacob alsBegruumlnder des modernen SachbuchsSein Werk uumlber den Kaffee liest sich wieein Roman bietet dem Leser indes auchReportagephotos und ein ausfuumlhrlichesLiteraturverzeichnis was die Mischformunterstreicht Aktuellere Beispiele fuumlrStoffbiographien sind etwa JuumlrgenDahls Buch Aufschluumlsse KalksteinFeuerstein Schiefer ndash drei Versuche zurGeologie [28] oder das von Philip BallH2O Biographie des Wassers [29] Fuumlrdas Projekt Stoffgeschichten laumlszligt sichaus diesen Buumlchern vieles lernen Sienehmen die Aufgabe ernst zu erzaumlhlensie bringen stoffbezogene Themen ineine zirkulationsfaumlhige Form Ihnengelingt was auch das hier vorgestellteKonzept beabsichtigt Aufklaumlrung uumlberStoffe zu vermitteln Im Fokus dieserStoffgeschichten steht allerdings fastimmer der Stoff selbst wie er sich ausder Perspektive bestimmter Naturwissen-schaften darstellt Die gesellschaftlicheBedeutung und Anwendungszusammen-

7) Silicone sind sogenannte siliciumorganischeVerbindungen Als Besonderheit weisen sie eineSilicium-Kohlenstoff-Bindung auf die so in derNatur keine Analoga hat Durch dieses Struktur-merkmal ist der Aufbau dieser Stoffe gewisser-maszligen teils anorganischer teils organischer Naturwobei diese Kombination fuumlr die ganz besonderenEigenschaften maszliggeblich ist So sind Siliconeviel waumlrmebestaumlndiger im Vergleich zuherkoumlmmlichen Kohlenstoffpolymeren undkoumlnnen zugleich flexibler verarbeitet werdenweil sie sich einerseits als Fluumlssigkeitenanderseits als verformbare plastisch-elastischeMassen verhalten [25a]

Stoffe und ihre Wirkungsformen in Raum und ZeitDas Beispiel der Silicone

Die Nutzung von Stoffen geht in der Regel mit der Umgestaltung ihrer Zusammensetzungund ihrer Erscheinungsform einher Je nach den Erfordernissen werden mehr oderweniger komplizierte Abfolgen von chemischen und physikalischen Prozessen zurUmwandlung Umformung und Umverteilung von Stoffen verwendet Ziel ist die Her-stellung von Stoffen mit spezifischen Wirkungsformen die dann eine Funktion erfuumlllenkoumlnnen So werden aus ndash hier im Bild unten links gezeigtem ndash Quarz oder Bergkristall(Siliciumdioxid SiO2) mit hohem Energieaufwand das fuumlr die Chip-Industrie unersetz-bare Halbleitermaterial Silicium aber auch die im Alltag weitverbreiteten Silicone undSiloxane hergestellt Aus einem Rohstoff entstehen so Stoffe mit sehr unterschiedlichenWirkungsformen Solche Stoffe kann man auch als portionierbare Technologienbezeichnen da sie fuumlr die Erfuumlllung bestimmter Funktionen gestaltet wurden Wie jedesandere funktionelle Material auch haben sie bestimmte Nebenwirkungen Da Siliconeund Siloxane in sehr vielen Haushalts- und Pflegemitteln eingesetzt werden gelangensie vorerst unbemerkt in Muumlllverbrennungsanlagen und Klaumlrwerke Diese beidenzweckmaumlszligigen Einrichtungen verwerten die teils zu Biogas umgewandelten Abfall-oder Reststoffe in Gasmotoren Neben den wie geplant erwarteten Kohlenstoffverbin-dungen finden auch die genannten Siliciumverbindungen ihren unvorherge-sehenen Weg in den Verbrennungsraum des Motors Im Gegensatz zu den Kohlenstoff-verbindungen (Biogas) die zu gasfoumlrmigem Kohlendioxid und Wasser verbrennenwerden sie zu ndash im Bild unten rechts gezeigten ndash festen Ablagerungen von Siliciumdioxid(SiO2 Quarz) umgewandelt die sich bereits im Motorraum oder auf nachgeschaltetenFiltern und Katalysatoren absetzen und die Funktion des Gasmotors massiv beein-traumlchtigen oder blockieren Solche Uumlberraschungsmomente kommen in Stoffgeschichtenhaumlufiger vor Der Protagonist taucht in Zusammenhaumlngen auf in denen man ihn nichtvermutet hat

GAIA 13 (2004) no 123Traktat

haumlnge werden nicht systematisch mit-reflektiert Damit geht ein Teil derWirklichkeit eines Stoffes verloren SeineForm und seine davon abhaumlngigenWirkungsweisen in unterschiedlichenzeitlichen und raumlumlichen Kontextenwerden eher zufaumlllig beachtet nur dieihm zugedachte Funktion ist von Be-deutung Hingegen fordert der Kontex-tualismus ja gerade eine Ausweitungdes Blickes hin auf die semantischenund pragmatischen Kontexte des gesell-schaftlichen Umgangs mit Stoffen Esbedarf also der Verbindung der natur-wissenschaftlich erarbeiteten Fakten mitgeistes- und sozialwissenschaftlichenKenntnissen und Methoden Erst ausder fruchtbaren Verbindung der unter-schiedlichen Perspektiven erwaumlchst derStoff fuumlr eine Stoffgeschichte

31 Was erzaumlhlt eine Stoffgeschichte

Eine Stoffgeschichte verfolgt einenStoff nicht nur durch bestimmte chemi-sche Konstellationen und Prozesse hin-durch sondern durch verschiedene Zeitenund Situationen Sie zeigt um das Bei-spiel der Kaffeegeschichte des EduardJacob nochmals in Erinnerung zu rufendie Kontexte der Entstehung des Stoffesund verfolgt ihn durch kulturelle undpolitische Szenenwechsel hindurch bisin die Gegenwart Von einer life-cycle-Analyse die ebenfalls Stoffe (oderProdukte) durch verschiedene Kontextehindurch verfolgt unterscheidet sicheine Stoffgeschichte in drei AspektenZum einen dadurch daszlig sie nicht nuroumlkonomische Kontexte beruumlcksichtigtsondern auch kulturelle Aspekte desUmgangs mit einem Stoff [30] So be-richtet Jacob in seinem Kaffeebuchauch uumlber diverse Trinkkulturen undbefaszligt sich eingehend mit den BerlinerKaffeehaumlusern Weiter hat eine Stoff-geschichte nicht das Ziel konkreteIndikatoren zu errechnen die eineBewertung eines bestimmten Produktsoder Produktionsweges erlauben Viel-mehr geht es darum Verstaumlndnis fuumlrZusammenhaumlnge zu wecken Schlieszliglichrichtet eine Stoffgeschichte das Augen-merk nicht auf kurzlebige oumlkonomischeZyklen sondern oumlffnet den Blick vonvornherein fuumlr groumlszligere historische Zeit-raumlume ndash wie ja auch Jacob sein Buchmit einer Phantasie uumlber die ersteEntdeckung der Wirkung der Kaffee-bohne beginnt

Bei einem so weit gefaszligten Themen-feld stellt sich unweigerlich das Pro-blem der Auswahl Eine Stoffgeschichtekann natuumlrlich nicht den Anspruchhaben alles uumlber einen Stoff zu er-

zaumlhlen Andererseits darf sie auch nichtnur eine Plauderei sein die einzelneAnekdoten aneinanderreiht sonst landetman bei den kleinen Kulturgeschichtendie weniger aufklaumlren wollen sonderneher unterhalten [31] Es gibt hier keinePatentrezepte wohl aber Beispiele andenen man sich orientieren kann Dengenannten Buumlchern von Jacob oder vonDahl gelingt es eine zusammenhaumlngendeGeschichte zu erzaumlhlen die dem Leserein Bild von dem Stoff nicht nur eineSumme von Einzelheiten vermittelt undinsofern vollstaumlndig ist Mit anderenWorten Uumlber die Vollstaumlndigkeit einerStoffgeschichte entscheidet nicht eineauszligerhalb ihrer liegende objektiveSache sondern der Leser dessen Fragenbeantwortet werden oder nicht

Stoffgeschichten sind also keineswegszeitlos sondern auf ein bestimmtesPublikum bezogen Sie sind eine Erzaumlh-lung im Sinne der alten Rhetoren Dienarratio die sich immer auch an der

opinio der Voreinstellung des Publikumsorientiert soll unterhalten belehren undzur Handlung motivieren ndash unbedingt zuvermeiden ist das taedium die Lange-weile des Publikums (Brevitas Kuumlrzeist uumlbrigens nach Quintilian eine Grund-tugend der narratio sie muszlig keines-wegs vollstaumlndig sein [32]) Gemessenan den mit Zahlen Fluszligdiagrammen undSzenarios bewehrten Formen in denendie Resultate von Umweltforschunguumlblicherweise dargestellt werden moumlgenStoffgeschichten zunaumlchst einmal rechtunscheinbar daherkommen Vielleichterscheinen sie harmlos rein belletristischoder nicht ganz ernst zu nehmen Stoff-geschichten sind vom Standpunkt deretablierten Umweltforschung gesehendurchaus angreifbar Sie wollen dieseUmweltforschung auch nicht ersetzensondern ergaumlnzen Denn die uumlblichenwissenschaftlich anerkannteren Formenumweltrelevantes Wissen darzustellenverlieren sich oft in Details ndash und man

Gewebte Stoffe koumlnnen viel erzaumlhlen

GAIA 13 (2004) no 124Traktat

sieht bald den Wald vor lauter Baumlumennicht mehr Eine Stoffgeschichte hin-gegen vermittelt einen Blick auf dasGanze und zwar ohne jene plakativenMetaphern die in der populaumlren oumlko-logischen Diskussion so beliebt sind(oumlkologischer Fuszligabdruck Stoff-kreislauf oumlkologischer Rucksack)Zugleich gehen sie von ausschnitthaftenmehr oder weniger willkuumlrlich gewaumlhltenZeitfenstern weg und wagen eine weiterausgreifende Sicht So koumlnnen Entwick-lungen sichtbar werden die bei denpraumlziseren kuumlrzer greifenden Analysendie etwa im Zusammenhang des Stoff-strommanagements uumlblich sind nichterfaszligt werden Insgesamt kann someinen wir durch Stoffgeschichten dasVerstaumlndnis fuumlr stoffliche Prozesse ver-tieft werden

Auch wird die Phantasie angeregtDenn der Blick uumlber die kleinen Einheitender supply-chains und der sogenanntenlife-cycles (die das Leben eines Stoffeskeineswegs ausschoumlpfen) gibt ein Gespuumlrfuumlr die Potentiale die in einem Stoffstecken Geschichten regen die Phantasiean Die Gegenwart von Stoffen an er-wuumlnschten oder unerwuumlnschten Ortenlaumlszligt an neue Landkarten denken Stoff-landkarten auf denen sich ihre Her-kunft und Verbreitung Wirkungsformenund Effekte in Raum und Zeit verfolgenlassen [33]

Daruumlber hinaus haben Stoffgeschichteneine wichtige kommunikative FunktionSie koumlnnen stoffbezogenes Wissen ineine literarische Form bringen welchees vermag die Waumlnde des Potential-topfs innerhalb dessen uumlblicherweisedie Kommunikation uumlber Stoffe undMaterialien kreist zu durchtunneln Sokoumlnnen Geschichten uumlber Stoffe diein der Oumlffentlichkeit bisher nur ein exo-tisches Nischenthema sind was ihrertatsaumlchlichen Bedeutung fuumlr die Repro-duktion der Gesellschaft keineswegsentspricht sich in die oumlffentliche Dis-kussion einhaken Eventuell kann sichsogar ein regelrechter Diskurs formieren

Die Auswahl der Stoffe wird nichtdurch ein wissenschaftlich vorgepraumlgtesSuchmuster bestimmt sondern folgt einerpublizistischen Kategorie der Aktuali-taumlt [34] Diejenigen Stoffe sollen be-schrieben werden an deren Geschichtedie Gesellschaft ein begruumlndetes Inter-esse hat oder doch haben sollte Beispielesind das Wasser das Erdoumll PlastikBaumwolle Papier Kalkstein Kohlen-dioxid Sand Staub und so weiter DieAuswahl ist natuumlrlich nicht annaumlherndvollstaumlndig sie soll vor allem zeigendaszlig sich der Titel einer Stoffgeschichtenicht an naturwissenschaftlich gepraumlgtenKategorien orientiert sondern an demVerstaumlndnis des breiteren Publikums fuumlrdas solche Geschichten erzaumlhlt werden

32 Wie werden Stoffgeschichtenerzaumlhlt

Die Herausforderung fuumlr den Ge-schichtenerzaumlhler liegt einmal darin seinPublikum uumlberhaupt fuumlr ein so sproumldesThema wie es Stoffe in ihren erkanntenversteckten oder erdachten Wirkungs-formen nun einmal sind zu interessierenDas ist die klassische rhetorische Heraus-forderung des sogenannten genus humilejener Redegattung die es mit gemein-hin als langweilig oder gar abstoszligendwahrgenommenen Dingen zu tun hat(rhetorische Methoden auch fuumlr solcheThemen Aufmerksamkeit zu erzielennennt Wessel [35]) Die zweite Heraus-forderung liegt darin die vielfaumlltigenFakten welche zu einem Stoff in unter-schiedlichen disziplinaumlren Diskursengesichert wurden zu einer Geschichtezu verbinden Es kommt hier auf diealte Kunst der synopsis der Zusammen-schau an Wichtig ist das geistige Bandsozusagen den Mittelbegriff zu findender die Einzelheiten zu einem kommuni-zierbaren Ganzen verbindet Eine Tech-nik diese Einheit zu erreichen welchesich in Stoffgeschichten haumlufig findetist die Personalisierung Ein Stoff wirddabei wie eine Person dargestellt undcharakterisiert Explizit geschieht diesetwa bei Jacob der den Kaffee im Pro-log zu seinem Buch als einen Heldenbezeichnet Bisweilen wird die Persona-lisierung auch implizit vorgenommenSie ist uumlbrigens keineswegs nur ein lite-rarisches Procedere sondern hat einfundamentum in re Schon eine winzigeStoffportion erzaumlhlt von den Umstaumlndenihrer Entstehung An ihrer Form laumlszligtsich ihre Geschichte ablesen [6] Stoff-arten als Ganze sind daruumlber hinaus unddurch diese Mikrogeschichten hindurcheingebunden in die Prozesse der sym-bolischen und materiellen Reproduktionder Gesellschaft Ihnen waumlchst damiteine zweite Geschichtlichkeit zu Es gibtdaher tatsaumlchlich eine gewisse Analogiezwischen Stoffen und menschlichen In-dividuen

Auf der Personalisierung aufbauendgibt es weitere Techniken die in Stoff-geschichten vielfach auftauchen Analogwie die Biographienforschung in mensch-lichen Lebensgeschichten Daseins-themen ausmacht [36] an denen sicheine Person abarbeitet oder wie auchHistoriker die Geschichte eines Landesoder eines Volkes durch gewisse Leit-themen strukturieren lassen sich auchfuumlr Stoffe Leitmotive formulieren diein der Geschichte eines Stoffes immerwieder vielleicht in gewandelter Formauftauchen Beim Wasser kann man als

Jens Soentgen (links) Geboren 1967 in Bensberg Nordrhein-Westfalen studierte zunaumlchstChemie promovierte aber in Philosophie mit einer Arbeit uumlber den Stoffbegriff (Das Un-scheinbare Berlin 1997) Lehrauftraumlge fuumlhrten ihn anschlieszligend an mehrere Universitaumltenin Deutschland Mehrfach war er in Brasilien als Gastprofessor fuumlr Philosophie taumltigSeit 2002 ist er wissenschaftlicher Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt (WZU) derUniversitaumlt Augsburg Zuletzt erschien von ihm das Buch Selbstdenken 20 Praktiken derPhilosophie (Wuppertal 2003)

Stefan Boumlschen (Mitte) Geboren 1965 in Waldshut Baden-Wuumlrttemberg Studium desChemie-Ingenieurwesens mit Diplomabschluszlig 1995ndash 1998 Vertiefung in Philosophie sowieSoziologie Promotion mir einer Arbeit zur Risikogenese der Erarbeitung von Risiko-Wissenim Laufe der Geschichte analysiert an vier Fallstudien Seit 1999 an der UniversitaumltAugsburg im Sonderforschungsbereich Reflexive Modernisierung Er ist WZU-Mitgliedund Projektleiter

Armin Reller (rechts) Geboren 1952 in Winterthur Kanton Zuumlrich 1992ndash1998 ordentlicherProfessor am Institut fuumlr Anorganische und Angewandte Chemie der Universitaumlt Hamburgdaneben seit 1995 Leiter des Programms SolarchemieWasserstoffRegenerative Energie-traumlger (BEW Bern) 1999 Uumlbernahme des neueingerichteten Lehrstuhls fuumlr Festkoumlrper-chemie im Institut fuumlr Physik der Universitaumlt Augsburg Er ist Vorstandssprecher des WZU

Das Wissenschaftszentrum Umwelt wurde im Jahr 2000 im Rahmen der bayerischenHigh-Tech-Offensive gegruumlndet Unter dem Leitthema Zukunftsfaumlhiger Umgang mitStoffen Materialien und Energie buumlndelt das WZU die Umweltforschung an der UniversitaumltAugsburg Boumlschen Reller und Soentgen arbeiten in verschiedenen Projekten im WZUzusammen

GAIA 13 (2004) no 125Traktat

ein solches Leitmotiv etwa seine natuumlr-liche Tendenz feststellen Grenzen zuuumlberschreiten oder diffusiv zu unter-wandern [37] fuumlr die Geschichte derBaumwolle wird der Nord-Suumld-Gegen-satz in seinen verschiedenen Ausprauml-gungen ein solches Leitmotiv sein beimKalk sieht Dahl [28] als Leitmotiv denGegensatz zwischen einer Aufloumlsungs-tendenz und der Faumlhigkeit vorgegebeneFormen mimetisch genau abzubilden

Insgesamt laumlszligt sich jedoch keineAnleitung fuumlr das Abfassen von Stoff-geschichten geben Zum einen muumlszligtezu diesem Zweck ein groumlszligerer Fundusvon Stoffgeschichten hinsichtlich ihrerrhetorischen Strategien und ihrer Erzaumlhl-strukturen analysiert und mit anderenNatur- und Umweltgeschichten ver-glichen werden (der Wald ist bereitsGegenstand erzaumlhltheoretischer Unter-suchungen [38]) Zum anderen ist dasErzaumlhlen von Stoffgeschichten wie jedesniveauvolle Erzaumlhlen eine Kunst diesich nur teilweise in Handlungsanwei-sungen ausmuumlnzen laumlszligt

4 Die Moral der Stoffgeschichte

Stoffgeschichten haben ein ZielAufklaumlrung uumlber Stoffe und derenWirkungsformen Aus den historischenStudien lassen sich Tendenzen ablesendie Aussagen uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung einer Stoffgeschichte ermoumlg-lichen Sie gewinnen ihr Gewicht ausder Langzeitbetrachtung und koumlnnen soetwas wie ein Gespuumlr fuumlr einen be-stimmten Stoff vermitteln So kann eszu einem Wiedereintritt der Geschichtein sich selbst kommen Dann naumlmlichwenn die Stoffgeschichte zu einemkreativeren und umsichtigeren Umgangmit dem Stoff selbst anregt

Fuumlr Hinweise und Diskussionen danken wirden Teilnehmern an dem WZU-WorkshopStoffgeschichten im November 2002Markus Huppenbauer Renate DiessenbacherRiyaz Haider Simon Meissner undIsabelle Seacutecher

Literaturverzeichnis

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[11] KH Houmlrning Experten des Alltags ndashDie Wiederentdeckung des praktischenWissens Velbruumlck Wissenschaft Weilerswist(2001) p 162

[12] K Knorr-Cetina Laboratorien Instrumenteder Weltkonstruktion in P Hoyningen-HueneG Hirsch (Ed) Wozu Wissenschafts-philosophie de Gruyter Berlin (1988)p 315ndash344

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[16] H Collins Tacit Knowledge Trust and theQ of Sapphire Social Studies of Science 31(2001) 71ndash85 insbesondere p 72

[17] L Fleck Entstehung und Entwicklung einerwissenschaftlichen Tatsache ndash Einfuumlhrung indie Lehre vom Denkstil und DenkkollektivSuhrkamp Frankfurt am Main (19351983)

[18] S Boumlschen Wissenschaftsfolgenabschaumltzungndash Uumlber die Veraumlnderung von Wissenschaftim Zuge reflexiver Modernisierung inS Boumlschen I Schulz-Schaeffer (Ed)Wissenschaft in der WissensgesellschaftWestdeutscher Verlag Opladen (2003)

[19] M Foucault Die Ordnung des DiskursesFischer Taschenbuch Frankfurt am Main(1970)

[20] S Funtowicz J Ravetz The Emergence of

Post-Normal Science in R von Schomberg(Ed) Science Politics and Morality ndashScientific Uncertainty and Decision MakingKluwer Dordrecht (1993) p 85ndash123besonders p 114f

[21] W Bonss R Hohlfeld R Kollek (Ed)Wissenschaft als Kontext ndash Kontexte derWissenschaft Junius Hamburg (1993)insbesondere a) p 185

[22] Vergleiche M Scheringer Persistence andSpatial Range of Environmental ChemicalsWiley-VCH Weinheim (2002)

[23] S Rowland Ozone Hole in H Newbold(Ed) Lifestories ndash World-renowned ScientistsReflect on their Lives and the Future of Lifeon Earth University of California PressBerkeley CA (2000) p 134ndash140 besondersp 135fS Boumlschen Risikogenese ndash Prozesse gesell-schaftlicher GefahrenwahrnehmungFCKW Dioxin DDT und Oumlkologische ChemieLeske + Budrich Opladen (2000)

[24] S Boumlschen M Scheringer J Jaeger WozuUmweltforschung Uumlber das Spannungs-verhaumlltnis zwischen Forschungstraditionenund umweltpolitischen Leitbildern ndash Teil IIZum Leitbild Reflexive Umweltforschung GAIA 103 (2001) 203ndash212

[25] A Reller M Braungart J Soth O vonUexkuumlll Silicone ndash eine vollsynthetischeMaterialklasse macht Geschichte(n)GAIA 91 (2000) 13ndash24 insbesondere a) p16

[26] S Tretjakow Die Arbeit des Schriftstellersherausgegeben von H Boehncke RowohltReinbek bei Hamburg (1972) p 81ndash86

[27] HE Jacob Sage und Siegeszug des Kaffeesndash Die Biographie eines weltwirtschaftlichenStoffes Rowohlt Berlin (1934)

[28] J Dahl Aufschluumlsse Kalkstein FeuersteinSchiefer ndash drei Versuche zur GeologieLangewiesche-Brandt Ebenhausen beiMuumlnchen (1977)

[29] P Ball H2O ndash Biographie des WassersPiper Muumlnchen (2002)

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[31] M Eichhorn Kulturgeschichte der Kultur-geschichten Typologie einer Literatur-gattung Koumlnigshausen amp NeumannWuumlrzburg (2002)

[32] JG Pankau Narratio in G Ueding (Ed)Historisches Woumlrterbuch der Rhetorik Band 1Niemeyer Tuumlbingen (1992) Sp 1490ndash1495

[33] A Reller Skizze einer Geographie derRessourcen Politische Oumlkologie Nr 86(2003) 22ndash25

[34] E Dovifat Aktualitaumlt ndash Gegenwarts-wirkung in E Dovifat (Ed) Handbuchder Publizistik Band 1 Allgemeine Publizistikde Gruyter Berlin (21971) p 20ndash28

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[36] H Thomae Das Individuum und seine WeltHogrefe Goumlttingen (1996)

[37] J Soentgen Feuer Erde Wasser LuftDie Elemente in der globalen WeltSendebeitrag zum Funkkolleg Gluumlck undGlobalisierung des Hessischen Rundfunks(eine Textversion erscheint 2004 beiSuhrkamp Frankfurt am Main)

[38] A Lehmann (Ed) Der Wald ndash ein deutscherMythos Reimer Berlin (2000)

(Eingegangen am 26 November 2003 OS)

Page 4: Stoffgeschichten Ð eine neue Perspektive f r transdisziplin ......eine neue Perspektive f r transdisziplin re Umweltforschung Stefan B schen, Armin Reller und Jens Soentgen* GAIA

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Exkurs

mutung nicht ohne weiteres von derHand weisen daszlig auch in diesem Falldie unter Laborbedingungen realisierteStabilitaumlt der Substanzklasse nicht alsInertheit interpretiert werden duumlrfteDenn manche Mikroorganismen lernendiese Stoffe in ihren Stoffwechsel zuintegrieren Die Silicone koumlnnten daherunter Umstaumlnden zu einem weiterenBeispiel in der Nachfolge von DDT undFCKW werden bei denen zunaumlchst un-erwuumlnschte Wechselwirkungen im Zu-sammenhang mit anderen Kontextenvon vornherein ausgeschlossen wordenwaren

3 Stoffgeschichten alsStoff-Erzaumlhlung

Der einfluszligreiche russische Avantgar-dist Sergej Tretjakow regte schon in denzwanziger Jahren des letzten Jahrhun-derts Biographien von Dingen an [26]Er nahm daran Anstoszlig daszlig der buumlrger-liche Roman einzelne Helden allzusehrin den Mittelpunkt stelle In einer Um-kehrung empfahl der Marxist es docheinmal anders zu versuchen undnicht Menschen sondern objektive Dingewie etwa den Wald das Brot die Kohledas Eisen den Flachs die Baumwolle

oder das Papier zu beschreiben welchedurch die gesellschaftlichen Formationenwandern und allmaumlhlich zu nuumltzlichenDingen werden Anfang der dreiszligigerJahre erschienen einige Buumlcher die dasvon Tretjakow entworfene Programmverwirklichten und 1934 das erste dasseine Struktur allein einer Sache ver-dankte Sage und Siegeszug des Kaffees ndashDie Biographie eines weltwirtschaftlichenStoffes von Heinrich Eduard Jacob [27]Im Prolog schreibt der Autor raquoNicht dieVita Napoleons oder Caumlsars wird hiererzaumlhlt sondern die Biographie einesStoffes Eines tausendjaumlhrigen treuenund machtvollen Begleiters der ganzenMenschheit Eines Heldenlaquo Und gegenEnde seiner eindrucksvollen Geschichteerzaumlhlt Jacob auch noch wie er inRio de Janeiro unterwegs einen Kaffee-zweig betrachtete und einen Tagtraumhatte Er gehe an einem breiten gelbenFluszlig stromaufwaumlrts und gelange uumlberParis Venedig Wien nach ArabienErwachend nimmt er sich vor eineMythologie der Rohstoffe zu schreiben

Immerhin bezeichnet die DeutscheBiographische Enzyklopaumldie Jacob alsBegruumlnder des modernen SachbuchsSein Werk uumlber den Kaffee liest sich wieein Roman bietet dem Leser indes auchReportagephotos und ein ausfuumlhrlichesLiteraturverzeichnis was die Mischformunterstreicht Aktuellere Beispiele fuumlrStoffbiographien sind etwa JuumlrgenDahls Buch Aufschluumlsse KalksteinFeuerstein Schiefer ndash drei Versuche zurGeologie [28] oder das von Philip BallH2O Biographie des Wassers [29] Fuumlrdas Projekt Stoffgeschichten laumlszligt sichaus diesen Buumlchern vieles lernen Sienehmen die Aufgabe ernst zu erzaumlhlensie bringen stoffbezogene Themen ineine zirkulationsfaumlhige Form Ihnengelingt was auch das hier vorgestellteKonzept beabsichtigt Aufklaumlrung uumlberStoffe zu vermitteln Im Fokus dieserStoffgeschichten steht allerdings fastimmer der Stoff selbst wie er sich ausder Perspektive bestimmter Naturwissen-schaften darstellt Die gesellschaftlicheBedeutung und Anwendungszusammen-

7) Silicone sind sogenannte siliciumorganischeVerbindungen Als Besonderheit weisen sie eineSilicium-Kohlenstoff-Bindung auf die so in derNatur keine Analoga hat Durch dieses Struktur-merkmal ist der Aufbau dieser Stoffe gewisser-maszligen teils anorganischer teils organischer Naturwobei diese Kombination fuumlr die ganz besonderenEigenschaften maszliggeblich ist So sind Siliconeviel waumlrmebestaumlndiger im Vergleich zuherkoumlmmlichen Kohlenstoffpolymeren undkoumlnnen zugleich flexibler verarbeitet werdenweil sie sich einerseits als Fluumlssigkeitenanderseits als verformbare plastisch-elastischeMassen verhalten [25a]

Stoffe und ihre Wirkungsformen in Raum und ZeitDas Beispiel der Silicone

Die Nutzung von Stoffen geht in der Regel mit der Umgestaltung ihrer Zusammensetzungund ihrer Erscheinungsform einher Je nach den Erfordernissen werden mehr oderweniger komplizierte Abfolgen von chemischen und physikalischen Prozessen zurUmwandlung Umformung und Umverteilung von Stoffen verwendet Ziel ist die Her-stellung von Stoffen mit spezifischen Wirkungsformen die dann eine Funktion erfuumlllenkoumlnnen So werden aus ndash hier im Bild unten links gezeigtem ndash Quarz oder Bergkristall(Siliciumdioxid SiO2) mit hohem Energieaufwand das fuumlr die Chip-Industrie unersetz-bare Halbleitermaterial Silicium aber auch die im Alltag weitverbreiteten Silicone undSiloxane hergestellt Aus einem Rohstoff entstehen so Stoffe mit sehr unterschiedlichenWirkungsformen Solche Stoffe kann man auch als portionierbare Technologienbezeichnen da sie fuumlr die Erfuumlllung bestimmter Funktionen gestaltet wurden Wie jedesandere funktionelle Material auch haben sie bestimmte Nebenwirkungen Da Siliconeund Siloxane in sehr vielen Haushalts- und Pflegemitteln eingesetzt werden gelangensie vorerst unbemerkt in Muumlllverbrennungsanlagen und Klaumlrwerke Diese beidenzweckmaumlszligigen Einrichtungen verwerten die teils zu Biogas umgewandelten Abfall-oder Reststoffe in Gasmotoren Neben den wie geplant erwarteten Kohlenstoffverbin-dungen finden auch die genannten Siliciumverbindungen ihren unvorherge-sehenen Weg in den Verbrennungsraum des Motors Im Gegensatz zu den Kohlenstoff-verbindungen (Biogas) die zu gasfoumlrmigem Kohlendioxid und Wasser verbrennenwerden sie zu ndash im Bild unten rechts gezeigten ndash festen Ablagerungen von Siliciumdioxid(SiO2 Quarz) umgewandelt die sich bereits im Motorraum oder auf nachgeschaltetenFiltern und Katalysatoren absetzen und die Funktion des Gasmotors massiv beein-traumlchtigen oder blockieren Solche Uumlberraschungsmomente kommen in Stoffgeschichtenhaumlufiger vor Der Protagonist taucht in Zusammenhaumlngen auf in denen man ihn nichtvermutet hat

GAIA 13 (2004) no 123Traktat

haumlnge werden nicht systematisch mit-reflektiert Damit geht ein Teil derWirklichkeit eines Stoffes verloren SeineForm und seine davon abhaumlngigenWirkungsweisen in unterschiedlichenzeitlichen und raumlumlichen Kontextenwerden eher zufaumlllig beachtet nur dieihm zugedachte Funktion ist von Be-deutung Hingegen fordert der Kontex-tualismus ja gerade eine Ausweitungdes Blickes hin auf die semantischenund pragmatischen Kontexte des gesell-schaftlichen Umgangs mit Stoffen Esbedarf also der Verbindung der natur-wissenschaftlich erarbeiteten Fakten mitgeistes- und sozialwissenschaftlichenKenntnissen und Methoden Erst ausder fruchtbaren Verbindung der unter-schiedlichen Perspektiven erwaumlchst derStoff fuumlr eine Stoffgeschichte

31 Was erzaumlhlt eine Stoffgeschichte

Eine Stoffgeschichte verfolgt einenStoff nicht nur durch bestimmte chemi-sche Konstellationen und Prozesse hin-durch sondern durch verschiedene Zeitenund Situationen Sie zeigt um das Bei-spiel der Kaffeegeschichte des EduardJacob nochmals in Erinnerung zu rufendie Kontexte der Entstehung des Stoffesund verfolgt ihn durch kulturelle undpolitische Szenenwechsel hindurch bisin die Gegenwart Von einer life-cycle-Analyse die ebenfalls Stoffe (oderProdukte) durch verschiedene Kontextehindurch verfolgt unterscheidet sicheine Stoffgeschichte in drei AspektenZum einen dadurch daszlig sie nicht nuroumlkonomische Kontexte beruumlcksichtigtsondern auch kulturelle Aspekte desUmgangs mit einem Stoff [30] So be-richtet Jacob in seinem Kaffeebuchauch uumlber diverse Trinkkulturen undbefaszligt sich eingehend mit den BerlinerKaffeehaumlusern Weiter hat eine Stoff-geschichte nicht das Ziel konkreteIndikatoren zu errechnen die eineBewertung eines bestimmten Produktsoder Produktionsweges erlauben Viel-mehr geht es darum Verstaumlndnis fuumlrZusammenhaumlnge zu wecken Schlieszliglichrichtet eine Stoffgeschichte das Augen-merk nicht auf kurzlebige oumlkonomischeZyklen sondern oumlffnet den Blick vonvornherein fuumlr groumlszligere historische Zeit-raumlume ndash wie ja auch Jacob sein Buchmit einer Phantasie uumlber die ersteEntdeckung der Wirkung der Kaffee-bohne beginnt

Bei einem so weit gefaszligten Themen-feld stellt sich unweigerlich das Pro-blem der Auswahl Eine Stoffgeschichtekann natuumlrlich nicht den Anspruchhaben alles uumlber einen Stoff zu er-

zaumlhlen Andererseits darf sie auch nichtnur eine Plauderei sein die einzelneAnekdoten aneinanderreiht sonst landetman bei den kleinen Kulturgeschichtendie weniger aufklaumlren wollen sonderneher unterhalten [31] Es gibt hier keinePatentrezepte wohl aber Beispiele andenen man sich orientieren kann Dengenannten Buumlchern von Jacob oder vonDahl gelingt es eine zusammenhaumlngendeGeschichte zu erzaumlhlen die dem Leserein Bild von dem Stoff nicht nur eineSumme von Einzelheiten vermittelt undinsofern vollstaumlndig ist Mit anderenWorten Uumlber die Vollstaumlndigkeit einerStoffgeschichte entscheidet nicht eineauszligerhalb ihrer liegende objektiveSache sondern der Leser dessen Fragenbeantwortet werden oder nicht

Stoffgeschichten sind also keineswegszeitlos sondern auf ein bestimmtesPublikum bezogen Sie sind eine Erzaumlh-lung im Sinne der alten Rhetoren Dienarratio die sich immer auch an der

opinio der Voreinstellung des Publikumsorientiert soll unterhalten belehren undzur Handlung motivieren ndash unbedingt zuvermeiden ist das taedium die Lange-weile des Publikums (Brevitas Kuumlrzeist uumlbrigens nach Quintilian eine Grund-tugend der narratio sie muszlig keines-wegs vollstaumlndig sein [32]) Gemessenan den mit Zahlen Fluszligdiagrammen undSzenarios bewehrten Formen in denendie Resultate von Umweltforschunguumlblicherweise dargestellt werden moumlgenStoffgeschichten zunaumlchst einmal rechtunscheinbar daherkommen Vielleichterscheinen sie harmlos rein belletristischoder nicht ganz ernst zu nehmen Stoff-geschichten sind vom Standpunkt deretablierten Umweltforschung gesehendurchaus angreifbar Sie wollen dieseUmweltforschung auch nicht ersetzensondern ergaumlnzen Denn die uumlblichenwissenschaftlich anerkannteren Formenumweltrelevantes Wissen darzustellenverlieren sich oft in Details ndash und man

Gewebte Stoffe koumlnnen viel erzaumlhlen

GAIA 13 (2004) no 124Traktat

sieht bald den Wald vor lauter Baumlumennicht mehr Eine Stoffgeschichte hin-gegen vermittelt einen Blick auf dasGanze und zwar ohne jene plakativenMetaphern die in der populaumlren oumlko-logischen Diskussion so beliebt sind(oumlkologischer Fuszligabdruck Stoff-kreislauf oumlkologischer Rucksack)Zugleich gehen sie von ausschnitthaftenmehr oder weniger willkuumlrlich gewaumlhltenZeitfenstern weg und wagen eine weiterausgreifende Sicht So koumlnnen Entwick-lungen sichtbar werden die bei denpraumlziseren kuumlrzer greifenden Analysendie etwa im Zusammenhang des Stoff-strommanagements uumlblich sind nichterfaszligt werden Insgesamt kann someinen wir durch Stoffgeschichten dasVerstaumlndnis fuumlr stoffliche Prozesse ver-tieft werden

Auch wird die Phantasie angeregtDenn der Blick uumlber die kleinen Einheitender supply-chains und der sogenanntenlife-cycles (die das Leben eines Stoffeskeineswegs ausschoumlpfen) gibt ein Gespuumlrfuumlr die Potentiale die in einem Stoffstecken Geschichten regen die Phantasiean Die Gegenwart von Stoffen an er-wuumlnschten oder unerwuumlnschten Ortenlaumlszligt an neue Landkarten denken Stoff-landkarten auf denen sich ihre Her-kunft und Verbreitung Wirkungsformenund Effekte in Raum und Zeit verfolgenlassen [33]

Daruumlber hinaus haben Stoffgeschichteneine wichtige kommunikative FunktionSie koumlnnen stoffbezogenes Wissen ineine literarische Form bringen welchees vermag die Waumlnde des Potential-topfs innerhalb dessen uumlblicherweisedie Kommunikation uumlber Stoffe undMaterialien kreist zu durchtunneln Sokoumlnnen Geschichten uumlber Stoffe diein der Oumlffentlichkeit bisher nur ein exo-tisches Nischenthema sind was ihrertatsaumlchlichen Bedeutung fuumlr die Repro-duktion der Gesellschaft keineswegsentspricht sich in die oumlffentliche Dis-kussion einhaken Eventuell kann sichsogar ein regelrechter Diskurs formieren

Die Auswahl der Stoffe wird nichtdurch ein wissenschaftlich vorgepraumlgtesSuchmuster bestimmt sondern folgt einerpublizistischen Kategorie der Aktuali-taumlt [34] Diejenigen Stoffe sollen be-schrieben werden an deren Geschichtedie Gesellschaft ein begruumlndetes Inter-esse hat oder doch haben sollte Beispielesind das Wasser das Erdoumll PlastikBaumwolle Papier Kalkstein Kohlen-dioxid Sand Staub und so weiter DieAuswahl ist natuumlrlich nicht annaumlherndvollstaumlndig sie soll vor allem zeigendaszlig sich der Titel einer Stoffgeschichtenicht an naturwissenschaftlich gepraumlgtenKategorien orientiert sondern an demVerstaumlndnis des breiteren Publikums fuumlrdas solche Geschichten erzaumlhlt werden

32 Wie werden Stoffgeschichtenerzaumlhlt

Die Herausforderung fuumlr den Ge-schichtenerzaumlhler liegt einmal darin seinPublikum uumlberhaupt fuumlr ein so sproumldesThema wie es Stoffe in ihren erkanntenversteckten oder erdachten Wirkungs-formen nun einmal sind zu interessierenDas ist die klassische rhetorische Heraus-forderung des sogenannten genus humilejener Redegattung die es mit gemein-hin als langweilig oder gar abstoszligendwahrgenommenen Dingen zu tun hat(rhetorische Methoden auch fuumlr solcheThemen Aufmerksamkeit zu erzielennennt Wessel [35]) Die zweite Heraus-forderung liegt darin die vielfaumlltigenFakten welche zu einem Stoff in unter-schiedlichen disziplinaumlren Diskursengesichert wurden zu einer Geschichtezu verbinden Es kommt hier auf diealte Kunst der synopsis der Zusammen-schau an Wichtig ist das geistige Bandsozusagen den Mittelbegriff zu findender die Einzelheiten zu einem kommuni-zierbaren Ganzen verbindet Eine Tech-nik diese Einheit zu erreichen welchesich in Stoffgeschichten haumlufig findetist die Personalisierung Ein Stoff wirddabei wie eine Person dargestellt undcharakterisiert Explizit geschieht diesetwa bei Jacob der den Kaffee im Pro-log zu seinem Buch als einen Heldenbezeichnet Bisweilen wird die Persona-lisierung auch implizit vorgenommenSie ist uumlbrigens keineswegs nur ein lite-rarisches Procedere sondern hat einfundamentum in re Schon eine winzigeStoffportion erzaumlhlt von den Umstaumlndenihrer Entstehung An ihrer Form laumlszligtsich ihre Geschichte ablesen [6] Stoff-arten als Ganze sind daruumlber hinaus unddurch diese Mikrogeschichten hindurcheingebunden in die Prozesse der sym-bolischen und materiellen Reproduktionder Gesellschaft Ihnen waumlchst damiteine zweite Geschichtlichkeit zu Es gibtdaher tatsaumlchlich eine gewisse Analogiezwischen Stoffen und menschlichen In-dividuen

Auf der Personalisierung aufbauendgibt es weitere Techniken die in Stoff-geschichten vielfach auftauchen Analogwie die Biographienforschung in mensch-lichen Lebensgeschichten Daseins-themen ausmacht [36] an denen sicheine Person abarbeitet oder wie auchHistoriker die Geschichte eines Landesoder eines Volkes durch gewisse Leit-themen strukturieren lassen sich auchfuumlr Stoffe Leitmotive formulieren diein der Geschichte eines Stoffes immerwieder vielleicht in gewandelter Formauftauchen Beim Wasser kann man als

Jens Soentgen (links) Geboren 1967 in Bensberg Nordrhein-Westfalen studierte zunaumlchstChemie promovierte aber in Philosophie mit einer Arbeit uumlber den Stoffbegriff (Das Un-scheinbare Berlin 1997) Lehrauftraumlge fuumlhrten ihn anschlieszligend an mehrere Universitaumltenin Deutschland Mehrfach war er in Brasilien als Gastprofessor fuumlr Philosophie taumltigSeit 2002 ist er wissenschaftlicher Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt (WZU) derUniversitaumlt Augsburg Zuletzt erschien von ihm das Buch Selbstdenken 20 Praktiken derPhilosophie (Wuppertal 2003)

Stefan Boumlschen (Mitte) Geboren 1965 in Waldshut Baden-Wuumlrttemberg Studium desChemie-Ingenieurwesens mit Diplomabschluszlig 1995ndash 1998 Vertiefung in Philosophie sowieSoziologie Promotion mir einer Arbeit zur Risikogenese der Erarbeitung von Risiko-Wissenim Laufe der Geschichte analysiert an vier Fallstudien Seit 1999 an der UniversitaumltAugsburg im Sonderforschungsbereich Reflexive Modernisierung Er ist WZU-Mitgliedund Projektleiter

Armin Reller (rechts) Geboren 1952 in Winterthur Kanton Zuumlrich 1992ndash1998 ordentlicherProfessor am Institut fuumlr Anorganische und Angewandte Chemie der Universitaumlt Hamburgdaneben seit 1995 Leiter des Programms SolarchemieWasserstoffRegenerative Energie-traumlger (BEW Bern) 1999 Uumlbernahme des neueingerichteten Lehrstuhls fuumlr Festkoumlrper-chemie im Institut fuumlr Physik der Universitaumlt Augsburg Er ist Vorstandssprecher des WZU

Das Wissenschaftszentrum Umwelt wurde im Jahr 2000 im Rahmen der bayerischenHigh-Tech-Offensive gegruumlndet Unter dem Leitthema Zukunftsfaumlhiger Umgang mitStoffen Materialien und Energie buumlndelt das WZU die Umweltforschung an der UniversitaumltAugsburg Boumlschen Reller und Soentgen arbeiten in verschiedenen Projekten im WZUzusammen

GAIA 13 (2004) no 125Traktat

ein solches Leitmotiv etwa seine natuumlr-liche Tendenz feststellen Grenzen zuuumlberschreiten oder diffusiv zu unter-wandern [37] fuumlr die Geschichte derBaumwolle wird der Nord-Suumld-Gegen-satz in seinen verschiedenen Ausprauml-gungen ein solches Leitmotiv sein beimKalk sieht Dahl [28] als Leitmotiv denGegensatz zwischen einer Aufloumlsungs-tendenz und der Faumlhigkeit vorgegebeneFormen mimetisch genau abzubilden

Insgesamt laumlszligt sich jedoch keineAnleitung fuumlr das Abfassen von Stoff-geschichten geben Zum einen muumlszligtezu diesem Zweck ein groumlszligerer Fundusvon Stoffgeschichten hinsichtlich ihrerrhetorischen Strategien und ihrer Erzaumlhl-strukturen analysiert und mit anderenNatur- und Umweltgeschichten ver-glichen werden (der Wald ist bereitsGegenstand erzaumlhltheoretischer Unter-suchungen [38]) Zum anderen ist dasErzaumlhlen von Stoffgeschichten wie jedesniveauvolle Erzaumlhlen eine Kunst diesich nur teilweise in Handlungsanwei-sungen ausmuumlnzen laumlszligt

4 Die Moral der Stoffgeschichte

Stoffgeschichten haben ein ZielAufklaumlrung uumlber Stoffe und derenWirkungsformen Aus den historischenStudien lassen sich Tendenzen ablesendie Aussagen uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung einer Stoffgeschichte ermoumlg-lichen Sie gewinnen ihr Gewicht ausder Langzeitbetrachtung und koumlnnen soetwas wie ein Gespuumlr fuumlr einen be-stimmten Stoff vermitteln So kann eszu einem Wiedereintritt der Geschichtein sich selbst kommen Dann naumlmlichwenn die Stoffgeschichte zu einemkreativeren und umsichtigeren Umgangmit dem Stoff selbst anregt

Fuumlr Hinweise und Diskussionen danken wirden Teilnehmern an dem WZU-WorkshopStoffgeschichten im November 2002Markus Huppenbauer Renate DiessenbacherRiyaz Haider Simon Meissner undIsabelle Seacutecher

Literaturverzeichnis

[1] Vergleiche S Boumlschen Katastrophe undinstitutionelle Lernfaumlhigkeit ndash Seveso alsambivalenter Wendepunkt der Chemiepolitikin L Claussen E Geenen E Macamo (Ed)Entsetzliche soziale Prozesse ndash Theorie undEmpirie der Katastrophen Lit Muumlnster(2003) p 139ndash162 (zugleich KonflikteKrisen und Katastrophen ndash in sozialer undkultureller Sicht Band 1)

[2] M Held Chemiepolitik ndash Gespraumlch uumlber

eine Kontroverse VCH Weinheim (1988)[3] Vergleiche W van den Daele Der Traum

von der alternativen WissenschaftZeitschrift fuumlr Soziologie 16 (1987) 403ndash418

[4] Vergleiche M Burke Assessing the Envi-ronmental Health of Europe EnvironmentalScience amp Technology 34 (2000) 76Andash80A

[5] H-J Schellnhuber Earth system analysisand the second Copernican revolutionNature 402 (1999) Supplement C19ndashC23vergleiche aber auch H-J SchellnhuberDie Koevolution von Natur Gesellschaftund Wissenschaft ndash Eine Dreiecksbeziehungwird kritisch GAIA 104 (2001) 258ndash262

[6] M Huppenbauer A Reller Stoff Zeit undEnergie ndash Ein transdisziplinaumlrer Beitrag zuoumlkologischen Fragen GAIA 52 (1996)103ndash115

[7] Vergleiche H Nowotny P ScottM Gibbons Re-Thinking Science ndashKnowledge Production in an Age ofUncertainty Polity Press Cambridge (2001)

[8] Vergleiche W Lepenies Das Ende derNaturgeschichte ndash Wandel kultureller Selbst-verstaumlndlichkeiten in den Wissenschaften des18 und 19 Jahrhunderts SuhrkampFrankfurt am Main (1987)L Daston Wunder Beweise und Tatsachen ndashZur Geschichte der Rationalitaumlt S FischerFrankfurt am Main (2001)

[9] Vergleiche W Viehoumlver Diskurse alsNarrationen in R Keller A HirselandW Schneider W Viehoumlver (Ed) HandbuchSozialwissenschaftlicher DiskursanalyseBand 1 Theorien und MethodenLeske + Budrich Opladen (2001) p 177ndash206

[10] M Deneke Zur Tragfaumlhigkeit des Stoff-wechselbegriffs in G Boumlhme E Schramm(Ed) Soziale Naturwissenschaft ndash Wege zueiner Erweiterung der Oumlkologie FischerTaschenbuch Frankfurt am Main (1985)p 42ndash52

[11] KH Houmlrning Experten des Alltags ndashDie Wiederentdeckung des praktischenWissens Velbruumlck Wissenschaft Weilerswist(2001) p 162

[12] K Knorr-Cetina Laboratorien Instrumenteder Weltkonstruktion in P Hoyningen-HueneG Hirsch (Ed) Wozu Wissenschafts-philosophie de Gruyter Berlin (1988)p 315ndash344

[13] B Latour Das Parlament der Dinge ndashFuumlr eine politische Oumlkologie SuhrkampFrankfurt am Main (2001)

[14] M Polanyi Implizites Wissen SuhrkampFrankfurt am Main (19661985)

[15] H Collins Changing Order Replicationand Induction in Scientific PracticeUniversity of Chicago Press Chicago IL(1992)

[16] H Collins Tacit Knowledge Trust and theQ of Sapphire Social Studies of Science 31(2001) 71ndash85 insbesondere p 72

[17] L Fleck Entstehung und Entwicklung einerwissenschaftlichen Tatsache ndash Einfuumlhrung indie Lehre vom Denkstil und DenkkollektivSuhrkamp Frankfurt am Main (19351983)

[18] S Boumlschen Wissenschaftsfolgenabschaumltzungndash Uumlber die Veraumlnderung von Wissenschaftim Zuge reflexiver Modernisierung inS Boumlschen I Schulz-Schaeffer (Ed)Wissenschaft in der WissensgesellschaftWestdeutscher Verlag Opladen (2003)

[19] M Foucault Die Ordnung des DiskursesFischer Taschenbuch Frankfurt am Main(1970)

[20] S Funtowicz J Ravetz The Emergence of

Post-Normal Science in R von Schomberg(Ed) Science Politics and Morality ndashScientific Uncertainty and Decision MakingKluwer Dordrecht (1993) p 85ndash123besonders p 114f

[21] W Bonss R Hohlfeld R Kollek (Ed)Wissenschaft als Kontext ndash Kontexte derWissenschaft Junius Hamburg (1993)insbesondere a) p 185

[22] Vergleiche M Scheringer Persistence andSpatial Range of Environmental ChemicalsWiley-VCH Weinheim (2002)

[23] S Rowland Ozone Hole in H Newbold(Ed) Lifestories ndash World-renowned ScientistsReflect on their Lives and the Future of Lifeon Earth University of California PressBerkeley CA (2000) p 134ndash140 besondersp 135fS Boumlschen Risikogenese ndash Prozesse gesell-schaftlicher GefahrenwahrnehmungFCKW Dioxin DDT und Oumlkologische ChemieLeske + Budrich Opladen (2000)

[24] S Boumlschen M Scheringer J Jaeger WozuUmweltforschung Uumlber das Spannungs-verhaumlltnis zwischen Forschungstraditionenund umweltpolitischen Leitbildern ndash Teil IIZum Leitbild Reflexive Umweltforschung GAIA 103 (2001) 203ndash212

[25] A Reller M Braungart J Soth O vonUexkuumlll Silicone ndash eine vollsynthetischeMaterialklasse macht Geschichte(n)GAIA 91 (2000) 13ndash24 insbesondere a) p16

[26] S Tretjakow Die Arbeit des Schriftstellersherausgegeben von H Boehncke RowohltReinbek bei Hamburg (1972) p 81ndash86

[27] HE Jacob Sage und Siegeszug des Kaffeesndash Die Biographie eines weltwirtschaftlichenStoffes Rowohlt Berlin (1934)

[28] J Dahl Aufschluumlsse Kalkstein FeuersteinSchiefer ndash drei Versuche zur GeologieLangewiesche-Brandt Ebenhausen beiMuumlnchen (1977)

[29] P Ball H2O ndash Biographie des WassersPiper Muumlnchen (2002)

[30] A Reller S Schmid Kalk ndash Kulturgeschichteeines Stoffes unveroumlffentlichtes ManuskriptUniversitaumlt Augsburg (2002)

[31] M Eichhorn Kulturgeschichte der Kultur-geschichten Typologie einer Literatur-gattung Koumlnigshausen amp NeumannWuumlrzburg (2002)

[32] JG Pankau Narratio in G Ueding (Ed)Historisches Woumlrterbuch der Rhetorik Band 1Niemeyer Tuumlbingen (1992) Sp 1490ndash1495

[33] A Reller Skizze einer Geographie derRessourcen Politische Oumlkologie Nr 86(2003) 22ndash25

[34] E Dovifat Aktualitaumlt ndash Gegenwarts-wirkung in E Dovifat (Ed) Handbuchder Publizistik Band 1 Allgemeine Publizistikde Gruyter Berlin (21971) p 20ndash28

[35] B Wessel Attentum parare facere inG Ueding (Ed) Historisches Woumlrterbuchder Rhetorik Band 1 Niemeyer Tuumlbingen(1992) Sp 1162ndash1163

[36] H Thomae Das Individuum und seine WeltHogrefe Goumlttingen (1996)

[37] J Soentgen Feuer Erde Wasser LuftDie Elemente in der globalen WeltSendebeitrag zum Funkkolleg Gluumlck undGlobalisierung des Hessischen Rundfunks(eine Textversion erscheint 2004 beiSuhrkamp Frankfurt am Main)

[38] A Lehmann (Ed) Der Wald ndash ein deutscherMythos Reimer Berlin (2000)

(Eingegangen am 26 November 2003 OS)

Page 5: Stoffgeschichten Ð eine neue Perspektive f r transdisziplin ......eine neue Perspektive f r transdisziplin re Umweltforschung Stefan B schen, Armin Reller und Jens Soentgen* GAIA

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haumlnge werden nicht systematisch mit-reflektiert Damit geht ein Teil derWirklichkeit eines Stoffes verloren SeineForm und seine davon abhaumlngigenWirkungsweisen in unterschiedlichenzeitlichen und raumlumlichen Kontextenwerden eher zufaumlllig beachtet nur dieihm zugedachte Funktion ist von Be-deutung Hingegen fordert der Kontex-tualismus ja gerade eine Ausweitungdes Blickes hin auf die semantischenund pragmatischen Kontexte des gesell-schaftlichen Umgangs mit Stoffen Esbedarf also der Verbindung der natur-wissenschaftlich erarbeiteten Fakten mitgeistes- und sozialwissenschaftlichenKenntnissen und Methoden Erst ausder fruchtbaren Verbindung der unter-schiedlichen Perspektiven erwaumlchst derStoff fuumlr eine Stoffgeschichte

31 Was erzaumlhlt eine Stoffgeschichte

Eine Stoffgeschichte verfolgt einenStoff nicht nur durch bestimmte chemi-sche Konstellationen und Prozesse hin-durch sondern durch verschiedene Zeitenund Situationen Sie zeigt um das Bei-spiel der Kaffeegeschichte des EduardJacob nochmals in Erinnerung zu rufendie Kontexte der Entstehung des Stoffesund verfolgt ihn durch kulturelle undpolitische Szenenwechsel hindurch bisin die Gegenwart Von einer life-cycle-Analyse die ebenfalls Stoffe (oderProdukte) durch verschiedene Kontextehindurch verfolgt unterscheidet sicheine Stoffgeschichte in drei AspektenZum einen dadurch daszlig sie nicht nuroumlkonomische Kontexte beruumlcksichtigtsondern auch kulturelle Aspekte desUmgangs mit einem Stoff [30] So be-richtet Jacob in seinem Kaffeebuchauch uumlber diverse Trinkkulturen undbefaszligt sich eingehend mit den BerlinerKaffeehaumlusern Weiter hat eine Stoff-geschichte nicht das Ziel konkreteIndikatoren zu errechnen die eineBewertung eines bestimmten Produktsoder Produktionsweges erlauben Viel-mehr geht es darum Verstaumlndnis fuumlrZusammenhaumlnge zu wecken Schlieszliglichrichtet eine Stoffgeschichte das Augen-merk nicht auf kurzlebige oumlkonomischeZyklen sondern oumlffnet den Blick vonvornherein fuumlr groumlszligere historische Zeit-raumlume ndash wie ja auch Jacob sein Buchmit einer Phantasie uumlber die ersteEntdeckung der Wirkung der Kaffee-bohne beginnt

Bei einem so weit gefaszligten Themen-feld stellt sich unweigerlich das Pro-blem der Auswahl Eine Stoffgeschichtekann natuumlrlich nicht den Anspruchhaben alles uumlber einen Stoff zu er-

zaumlhlen Andererseits darf sie auch nichtnur eine Plauderei sein die einzelneAnekdoten aneinanderreiht sonst landetman bei den kleinen Kulturgeschichtendie weniger aufklaumlren wollen sonderneher unterhalten [31] Es gibt hier keinePatentrezepte wohl aber Beispiele andenen man sich orientieren kann Dengenannten Buumlchern von Jacob oder vonDahl gelingt es eine zusammenhaumlngendeGeschichte zu erzaumlhlen die dem Leserein Bild von dem Stoff nicht nur eineSumme von Einzelheiten vermittelt undinsofern vollstaumlndig ist Mit anderenWorten Uumlber die Vollstaumlndigkeit einerStoffgeschichte entscheidet nicht eineauszligerhalb ihrer liegende objektiveSache sondern der Leser dessen Fragenbeantwortet werden oder nicht

Stoffgeschichten sind also keineswegszeitlos sondern auf ein bestimmtesPublikum bezogen Sie sind eine Erzaumlh-lung im Sinne der alten Rhetoren Dienarratio die sich immer auch an der

opinio der Voreinstellung des Publikumsorientiert soll unterhalten belehren undzur Handlung motivieren ndash unbedingt zuvermeiden ist das taedium die Lange-weile des Publikums (Brevitas Kuumlrzeist uumlbrigens nach Quintilian eine Grund-tugend der narratio sie muszlig keines-wegs vollstaumlndig sein [32]) Gemessenan den mit Zahlen Fluszligdiagrammen undSzenarios bewehrten Formen in denendie Resultate von Umweltforschunguumlblicherweise dargestellt werden moumlgenStoffgeschichten zunaumlchst einmal rechtunscheinbar daherkommen Vielleichterscheinen sie harmlos rein belletristischoder nicht ganz ernst zu nehmen Stoff-geschichten sind vom Standpunkt deretablierten Umweltforschung gesehendurchaus angreifbar Sie wollen dieseUmweltforschung auch nicht ersetzensondern ergaumlnzen Denn die uumlblichenwissenschaftlich anerkannteren Formenumweltrelevantes Wissen darzustellenverlieren sich oft in Details ndash und man

Gewebte Stoffe koumlnnen viel erzaumlhlen

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sieht bald den Wald vor lauter Baumlumennicht mehr Eine Stoffgeschichte hin-gegen vermittelt einen Blick auf dasGanze und zwar ohne jene plakativenMetaphern die in der populaumlren oumlko-logischen Diskussion so beliebt sind(oumlkologischer Fuszligabdruck Stoff-kreislauf oumlkologischer Rucksack)Zugleich gehen sie von ausschnitthaftenmehr oder weniger willkuumlrlich gewaumlhltenZeitfenstern weg und wagen eine weiterausgreifende Sicht So koumlnnen Entwick-lungen sichtbar werden die bei denpraumlziseren kuumlrzer greifenden Analysendie etwa im Zusammenhang des Stoff-strommanagements uumlblich sind nichterfaszligt werden Insgesamt kann someinen wir durch Stoffgeschichten dasVerstaumlndnis fuumlr stoffliche Prozesse ver-tieft werden

Auch wird die Phantasie angeregtDenn der Blick uumlber die kleinen Einheitender supply-chains und der sogenanntenlife-cycles (die das Leben eines Stoffeskeineswegs ausschoumlpfen) gibt ein Gespuumlrfuumlr die Potentiale die in einem Stoffstecken Geschichten regen die Phantasiean Die Gegenwart von Stoffen an er-wuumlnschten oder unerwuumlnschten Ortenlaumlszligt an neue Landkarten denken Stoff-landkarten auf denen sich ihre Her-kunft und Verbreitung Wirkungsformenund Effekte in Raum und Zeit verfolgenlassen [33]

Daruumlber hinaus haben Stoffgeschichteneine wichtige kommunikative FunktionSie koumlnnen stoffbezogenes Wissen ineine literarische Form bringen welchees vermag die Waumlnde des Potential-topfs innerhalb dessen uumlblicherweisedie Kommunikation uumlber Stoffe undMaterialien kreist zu durchtunneln Sokoumlnnen Geschichten uumlber Stoffe diein der Oumlffentlichkeit bisher nur ein exo-tisches Nischenthema sind was ihrertatsaumlchlichen Bedeutung fuumlr die Repro-duktion der Gesellschaft keineswegsentspricht sich in die oumlffentliche Dis-kussion einhaken Eventuell kann sichsogar ein regelrechter Diskurs formieren

Die Auswahl der Stoffe wird nichtdurch ein wissenschaftlich vorgepraumlgtesSuchmuster bestimmt sondern folgt einerpublizistischen Kategorie der Aktuali-taumlt [34] Diejenigen Stoffe sollen be-schrieben werden an deren Geschichtedie Gesellschaft ein begruumlndetes Inter-esse hat oder doch haben sollte Beispielesind das Wasser das Erdoumll PlastikBaumwolle Papier Kalkstein Kohlen-dioxid Sand Staub und so weiter DieAuswahl ist natuumlrlich nicht annaumlherndvollstaumlndig sie soll vor allem zeigendaszlig sich der Titel einer Stoffgeschichtenicht an naturwissenschaftlich gepraumlgtenKategorien orientiert sondern an demVerstaumlndnis des breiteren Publikums fuumlrdas solche Geschichten erzaumlhlt werden

32 Wie werden Stoffgeschichtenerzaumlhlt

Die Herausforderung fuumlr den Ge-schichtenerzaumlhler liegt einmal darin seinPublikum uumlberhaupt fuumlr ein so sproumldesThema wie es Stoffe in ihren erkanntenversteckten oder erdachten Wirkungs-formen nun einmal sind zu interessierenDas ist die klassische rhetorische Heraus-forderung des sogenannten genus humilejener Redegattung die es mit gemein-hin als langweilig oder gar abstoszligendwahrgenommenen Dingen zu tun hat(rhetorische Methoden auch fuumlr solcheThemen Aufmerksamkeit zu erzielennennt Wessel [35]) Die zweite Heraus-forderung liegt darin die vielfaumlltigenFakten welche zu einem Stoff in unter-schiedlichen disziplinaumlren Diskursengesichert wurden zu einer Geschichtezu verbinden Es kommt hier auf diealte Kunst der synopsis der Zusammen-schau an Wichtig ist das geistige Bandsozusagen den Mittelbegriff zu findender die Einzelheiten zu einem kommuni-zierbaren Ganzen verbindet Eine Tech-nik diese Einheit zu erreichen welchesich in Stoffgeschichten haumlufig findetist die Personalisierung Ein Stoff wirddabei wie eine Person dargestellt undcharakterisiert Explizit geschieht diesetwa bei Jacob der den Kaffee im Pro-log zu seinem Buch als einen Heldenbezeichnet Bisweilen wird die Persona-lisierung auch implizit vorgenommenSie ist uumlbrigens keineswegs nur ein lite-rarisches Procedere sondern hat einfundamentum in re Schon eine winzigeStoffportion erzaumlhlt von den Umstaumlndenihrer Entstehung An ihrer Form laumlszligtsich ihre Geschichte ablesen [6] Stoff-arten als Ganze sind daruumlber hinaus unddurch diese Mikrogeschichten hindurcheingebunden in die Prozesse der sym-bolischen und materiellen Reproduktionder Gesellschaft Ihnen waumlchst damiteine zweite Geschichtlichkeit zu Es gibtdaher tatsaumlchlich eine gewisse Analogiezwischen Stoffen und menschlichen In-dividuen

Auf der Personalisierung aufbauendgibt es weitere Techniken die in Stoff-geschichten vielfach auftauchen Analogwie die Biographienforschung in mensch-lichen Lebensgeschichten Daseins-themen ausmacht [36] an denen sicheine Person abarbeitet oder wie auchHistoriker die Geschichte eines Landesoder eines Volkes durch gewisse Leit-themen strukturieren lassen sich auchfuumlr Stoffe Leitmotive formulieren diein der Geschichte eines Stoffes immerwieder vielleicht in gewandelter Formauftauchen Beim Wasser kann man als

Jens Soentgen (links) Geboren 1967 in Bensberg Nordrhein-Westfalen studierte zunaumlchstChemie promovierte aber in Philosophie mit einer Arbeit uumlber den Stoffbegriff (Das Un-scheinbare Berlin 1997) Lehrauftraumlge fuumlhrten ihn anschlieszligend an mehrere Universitaumltenin Deutschland Mehrfach war er in Brasilien als Gastprofessor fuumlr Philosophie taumltigSeit 2002 ist er wissenschaftlicher Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt (WZU) derUniversitaumlt Augsburg Zuletzt erschien von ihm das Buch Selbstdenken 20 Praktiken derPhilosophie (Wuppertal 2003)

Stefan Boumlschen (Mitte) Geboren 1965 in Waldshut Baden-Wuumlrttemberg Studium desChemie-Ingenieurwesens mit Diplomabschluszlig 1995ndash 1998 Vertiefung in Philosophie sowieSoziologie Promotion mir einer Arbeit zur Risikogenese der Erarbeitung von Risiko-Wissenim Laufe der Geschichte analysiert an vier Fallstudien Seit 1999 an der UniversitaumltAugsburg im Sonderforschungsbereich Reflexive Modernisierung Er ist WZU-Mitgliedund Projektleiter

Armin Reller (rechts) Geboren 1952 in Winterthur Kanton Zuumlrich 1992ndash1998 ordentlicherProfessor am Institut fuumlr Anorganische und Angewandte Chemie der Universitaumlt Hamburgdaneben seit 1995 Leiter des Programms SolarchemieWasserstoffRegenerative Energie-traumlger (BEW Bern) 1999 Uumlbernahme des neueingerichteten Lehrstuhls fuumlr Festkoumlrper-chemie im Institut fuumlr Physik der Universitaumlt Augsburg Er ist Vorstandssprecher des WZU

Das Wissenschaftszentrum Umwelt wurde im Jahr 2000 im Rahmen der bayerischenHigh-Tech-Offensive gegruumlndet Unter dem Leitthema Zukunftsfaumlhiger Umgang mitStoffen Materialien und Energie buumlndelt das WZU die Umweltforschung an der UniversitaumltAugsburg Boumlschen Reller und Soentgen arbeiten in verschiedenen Projekten im WZUzusammen

GAIA 13 (2004) no 125Traktat

ein solches Leitmotiv etwa seine natuumlr-liche Tendenz feststellen Grenzen zuuumlberschreiten oder diffusiv zu unter-wandern [37] fuumlr die Geschichte derBaumwolle wird der Nord-Suumld-Gegen-satz in seinen verschiedenen Ausprauml-gungen ein solches Leitmotiv sein beimKalk sieht Dahl [28] als Leitmotiv denGegensatz zwischen einer Aufloumlsungs-tendenz und der Faumlhigkeit vorgegebeneFormen mimetisch genau abzubilden

Insgesamt laumlszligt sich jedoch keineAnleitung fuumlr das Abfassen von Stoff-geschichten geben Zum einen muumlszligtezu diesem Zweck ein groumlszligerer Fundusvon Stoffgeschichten hinsichtlich ihrerrhetorischen Strategien und ihrer Erzaumlhl-strukturen analysiert und mit anderenNatur- und Umweltgeschichten ver-glichen werden (der Wald ist bereitsGegenstand erzaumlhltheoretischer Unter-suchungen [38]) Zum anderen ist dasErzaumlhlen von Stoffgeschichten wie jedesniveauvolle Erzaumlhlen eine Kunst diesich nur teilweise in Handlungsanwei-sungen ausmuumlnzen laumlszligt

4 Die Moral der Stoffgeschichte

Stoffgeschichten haben ein ZielAufklaumlrung uumlber Stoffe und derenWirkungsformen Aus den historischenStudien lassen sich Tendenzen ablesendie Aussagen uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung einer Stoffgeschichte ermoumlg-lichen Sie gewinnen ihr Gewicht ausder Langzeitbetrachtung und koumlnnen soetwas wie ein Gespuumlr fuumlr einen be-stimmten Stoff vermitteln So kann eszu einem Wiedereintritt der Geschichtein sich selbst kommen Dann naumlmlichwenn die Stoffgeschichte zu einemkreativeren und umsichtigeren Umgangmit dem Stoff selbst anregt

Fuumlr Hinweise und Diskussionen danken wirden Teilnehmern an dem WZU-WorkshopStoffgeschichten im November 2002Markus Huppenbauer Renate DiessenbacherRiyaz Haider Simon Meissner undIsabelle Seacutecher

Literaturverzeichnis

[1] Vergleiche S Boumlschen Katastrophe undinstitutionelle Lernfaumlhigkeit ndash Seveso alsambivalenter Wendepunkt der Chemiepolitikin L Claussen E Geenen E Macamo (Ed)Entsetzliche soziale Prozesse ndash Theorie undEmpirie der Katastrophen Lit Muumlnster(2003) p 139ndash162 (zugleich KonflikteKrisen und Katastrophen ndash in sozialer undkultureller Sicht Band 1)

[2] M Held Chemiepolitik ndash Gespraumlch uumlber

eine Kontroverse VCH Weinheim (1988)[3] Vergleiche W van den Daele Der Traum

von der alternativen WissenschaftZeitschrift fuumlr Soziologie 16 (1987) 403ndash418

[4] Vergleiche M Burke Assessing the Envi-ronmental Health of Europe EnvironmentalScience amp Technology 34 (2000) 76Andash80A

[5] H-J Schellnhuber Earth system analysisand the second Copernican revolutionNature 402 (1999) Supplement C19ndashC23vergleiche aber auch H-J SchellnhuberDie Koevolution von Natur Gesellschaftund Wissenschaft ndash Eine Dreiecksbeziehungwird kritisch GAIA 104 (2001) 258ndash262

[6] M Huppenbauer A Reller Stoff Zeit undEnergie ndash Ein transdisziplinaumlrer Beitrag zuoumlkologischen Fragen GAIA 52 (1996)103ndash115

[7] Vergleiche H Nowotny P ScottM Gibbons Re-Thinking Science ndashKnowledge Production in an Age ofUncertainty Polity Press Cambridge (2001)

[8] Vergleiche W Lepenies Das Ende derNaturgeschichte ndash Wandel kultureller Selbst-verstaumlndlichkeiten in den Wissenschaften des18 und 19 Jahrhunderts SuhrkampFrankfurt am Main (1987)L Daston Wunder Beweise und Tatsachen ndashZur Geschichte der Rationalitaumlt S FischerFrankfurt am Main (2001)

[9] Vergleiche W Viehoumlver Diskurse alsNarrationen in R Keller A HirselandW Schneider W Viehoumlver (Ed) HandbuchSozialwissenschaftlicher DiskursanalyseBand 1 Theorien und MethodenLeske + Budrich Opladen (2001) p 177ndash206

[10] M Deneke Zur Tragfaumlhigkeit des Stoff-wechselbegriffs in G Boumlhme E Schramm(Ed) Soziale Naturwissenschaft ndash Wege zueiner Erweiterung der Oumlkologie FischerTaschenbuch Frankfurt am Main (1985)p 42ndash52

[11] KH Houmlrning Experten des Alltags ndashDie Wiederentdeckung des praktischenWissens Velbruumlck Wissenschaft Weilerswist(2001) p 162

[12] K Knorr-Cetina Laboratorien Instrumenteder Weltkonstruktion in P Hoyningen-HueneG Hirsch (Ed) Wozu Wissenschafts-philosophie de Gruyter Berlin (1988)p 315ndash344

[13] B Latour Das Parlament der Dinge ndashFuumlr eine politische Oumlkologie SuhrkampFrankfurt am Main (2001)

[14] M Polanyi Implizites Wissen SuhrkampFrankfurt am Main (19661985)

[15] H Collins Changing Order Replicationand Induction in Scientific PracticeUniversity of Chicago Press Chicago IL(1992)

[16] H Collins Tacit Knowledge Trust and theQ of Sapphire Social Studies of Science 31(2001) 71ndash85 insbesondere p 72

[17] L Fleck Entstehung und Entwicklung einerwissenschaftlichen Tatsache ndash Einfuumlhrung indie Lehre vom Denkstil und DenkkollektivSuhrkamp Frankfurt am Main (19351983)

[18] S Boumlschen Wissenschaftsfolgenabschaumltzungndash Uumlber die Veraumlnderung von Wissenschaftim Zuge reflexiver Modernisierung inS Boumlschen I Schulz-Schaeffer (Ed)Wissenschaft in der WissensgesellschaftWestdeutscher Verlag Opladen (2003)

[19] M Foucault Die Ordnung des DiskursesFischer Taschenbuch Frankfurt am Main(1970)

[20] S Funtowicz J Ravetz The Emergence of

Post-Normal Science in R von Schomberg(Ed) Science Politics and Morality ndashScientific Uncertainty and Decision MakingKluwer Dordrecht (1993) p 85ndash123besonders p 114f

[21] W Bonss R Hohlfeld R Kollek (Ed)Wissenschaft als Kontext ndash Kontexte derWissenschaft Junius Hamburg (1993)insbesondere a) p 185

[22] Vergleiche M Scheringer Persistence andSpatial Range of Environmental ChemicalsWiley-VCH Weinheim (2002)

[23] S Rowland Ozone Hole in H Newbold(Ed) Lifestories ndash World-renowned ScientistsReflect on their Lives and the Future of Lifeon Earth University of California PressBerkeley CA (2000) p 134ndash140 besondersp 135fS Boumlschen Risikogenese ndash Prozesse gesell-schaftlicher GefahrenwahrnehmungFCKW Dioxin DDT und Oumlkologische ChemieLeske + Budrich Opladen (2000)

[24] S Boumlschen M Scheringer J Jaeger WozuUmweltforschung Uumlber das Spannungs-verhaumlltnis zwischen Forschungstraditionenund umweltpolitischen Leitbildern ndash Teil IIZum Leitbild Reflexive Umweltforschung GAIA 103 (2001) 203ndash212

[25] A Reller M Braungart J Soth O vonUexkuumlll Silicone ndash eine vollsynthetischeMaterialklasse macht Geschichte(n)GAIA 91 (2000) 13ndash24 insbesondere a) p16

[26] S Tretjakow Die Arbeit des Schriftstellersherausgegeben von H Boehncke RowohltReinbek bei Hamburg (1972) p 81ndash86

[27] HE Jacob Sage und Siegeszug des Kaffeesndash Die Biographie eines weltwirtschaftlichenStoffes Rowohlt Berlin (1934)

[28] J Dahl Aufschluumlsse Kalkstein FeuersteinSchiefer ndash drei Versuche zur GeologieLangewiesche-Brandt Ebenhausen beiMuumlnchen (1977)

[29] P Ball H2O ndash Biographie des WassersPiper Muumlnchen (2002)

[30] A Reller S Schmid Kalk ndash Kulturgeschichteeines Stoffes unveroumlffentlichtes ManuskriptUniversitaumlt Augsburg (2002)

[31] M Eichhorn Kulturgeschichte der Kultur-geschichten Typologie einer Literatur-gattung Koumlnigshausen amp NeumannWuumlrzburg (2002)

[32] JG Pankau Narratio in G Ueding (Ed)Historisches Woumlrterbuch der Rhetorik Band 1Niemeyer Tuumlbingen (1992) Sp 1490ndash1495

[33] A Reller Skizze einer Geographie derRessourcen Politische Oumlkologie Nr 86(2003) 22ndash25

[34] E Dovifat Aktualitaumlt ndash Gegenwarts-wirkung in E Dovifat (Ed) Handbuchder Publizistik Band 1 Allgemeine Publizistikde Gruyter Berlin (21971) p 20ndash28

[35] B Wessel Attentum parare facere inG Ueding (Ed) Historisches Woumlrterbuchder Rhetorik Band 1 Niemeyer Tuumlbingen(1992) Sp 1162ndash1163

[36] H Thomae Das Individuum und seine WeltHogrefe Goumlttingen (1996)

[37] J Soentgen Feuer Erde Wasser LuftDie Elemente in der globalen WeltSendebeitrag zum Funkkolleg Gluumlck undGlobalisierung des Hessischen Rundfunks(eine Textversion erscheint 2004 beiSuhrkamp Frankfurt am Main)

[38] A Lehmann (Ed) Der Wald ndash ein deutscherMythos Reimer Berlin (2000)

(Eingegangen am 26 November 2003 OS)

Page 6: Stoffgeschichten Ð eine neue Perspektive f r transdisziplin ......eine neue Perspektive f r transdisziplin re Umweltforschung Stefan B schen, Armin Reller und Jens Soentgen* GAIA

GAIA 13 (2004) no 124Traktat

sieht bald den Wald vor lauter Baumlumennicht mehr Eine Stoffgeschichte hin-gegen vermittelt einen Blick auf dasGanze und zwar ohne jene plakativenMetaphern die in der populaumlren oumlko-logischen Diskussion so beliebt sind(oumlkologischer Fuszligabdruck Stoff-kreislauf oumlkologischer Rucksack)Zugleich gehen sie von ausschnitthaftenmehr oder weniger willkuumlrlich gewaumlhltenZeitfenstern weg und wagen eine weiterausgreifende Sicht So koumlnnen Entwick-lungen sichtbar werden die bei denpraumlziseren kuumlrzer greifenden Analysendie etwa im Zusammenhang des Stoff-strommanagements uumlblich sind nichterfaszligt werden Insgesamt kann someinen wir durch Stoffgeschichten dasVerstaumlndnis fuumlr stoffliche Prozesse ver-tieft werden

Auch wird die Phantasie angeregtDenn der Blick uumlber die kleinen Einheitender supply-chains und der sogenanntenlife-cycles (die das Leben eines Stoffeskeineswegs ausschoumlpfen) gibt ein Gespuumlrfuumlr die Potentiale die in einem Stoffstecken Geschichten regen die Phantasiean Die Gegenwart von Stoffen an er-wuumlnschten oder unerwuumlnschten Ortenlaumlszligt an neue Landkarten denken Stoff-landkarten auf denen sich ihre Her-kunft und Verbreitung Wirkungsformenund Effekte in Raum und Zeit verfolgenlassen [33]

Daruumlber hinaus haben Stoffgeschichteneine wichtige kommunikative FunktionSie koumlnnen stoffbezogenes Wissen ineine literarische Form bringen welchees vermag die Waumlnde des Potential-topfs innerhalb dessen uumlblicherweisedie Kommunikation uumlber Stoffe undMaterialien kreist zu durchtunneln Sokoumlnnen Geschichten uumlber Stoffe diein der Oumlffentlichkeit bisher nur ein exo-tisches Nischenthema sind was ihrertatsaumlchlichen Bedeutung fuumlr die Repro-duktion der Gesellschaft keineswegsentspricht sich in die oumlffentliche Dis-kussion einhaken Eventuell kann sichsogar ein regelrechter Diskurs formieren

Die Auswahl der Stoffe wird nichtdurch ein wissenschaftlich vorgepraumlgtesSuchmuster bestimmt sondern folgt einerpublizistischen Kategorie der Aktuali-taumlt [34] Diejenigen Stoffe sollen be-schrieben werden an deren Geschichtedie Gesellschaft ein begruumlndetes Inter-esse hat oder doch haben sollte Beispielesind das Wasser das Erdoumll PlastikBaumwolle Papier Kalkstein Kohlen-dioxid Sand Staub und so weiter DieAuswahl ist natuumlrlich nicht annaumlherndvollstaumlndig sie soll vor allem zeigendaszlig sich der Titel einer Stoffgeschichtenicht an naturwissenschaftlich gepraumlgtenKategorien orientiert sondern an demVerstaumlndnis des breiteren Publikums fuumlrdas solche Geschichten erzaumlhlt werden

32 Wie werden Stoffgeschichtenerzaumlhlt

Die Herausforderung fuumlr den Ge-schichtenerzaumlhler liegt einmal darin seinPublikum uumlberhaupt fuumlr ein so sproumldesThema wie es Stoffe in ihren erkanntenversteckten oder erdachten Wirkungs-formen nun einmal sind zu interessierenDas ist die klassische rhetorische Heraus-forderung des sogenannten genus humilejener Redegattung die es mit gemein-hin als langweilig oder gar abstoszligendwahrgenommenen Dingen zu tun hat(rhetorische Methoden auch fuumlr solcheThemen Aufmerksamkeit zu erzielennennt Wessel [35]) Die zweite Heraus-forderung liegt darin die vielfaumlltigenFakten welche zu einem Stoff in unter-schiedlichen disziplinaumlren Diskursengesichert wurden zu einer Geschichtezu verbinden Es kommt hier auf diealte Kunst der synopsis der Zusammen-schau an Wichtig ist das geistige Bandsozusagen den Mittelbegriff zu findender die Einzelheiten zu einem kommuni-zierbaren Ganzen verbindet Eine Tech-nik diese Einheit zu erreichen welchesich in Stoffgeschichten haumlufig findetist die Personalisierung Ein Stoff wirddabei wie eine Person dargestellt undcharakterisiert Explizit geschieht diesetwa bei Jacob der den Kaffee im Pro-log zu seinem Buch als einen Heldenbezeichnet Bisweilen wird die Persona-lisierung auch implizit vorgenommenSie ist uumlbrigens keineswegs nur ein lite-rarisches Procedere sondern hat einfundamentum in re Schon eine winzigeStoffportion erzaumlhlt von den Umstaumlndenihrer Entstehung An ihrer Form laumlszligtsich ihre Geschichte ablesen [6] Stoff-arten als Ganze sind daruumlber hinaus unddurch diese Mikrogeschichten hindurcheingebunden in die Prozesse der sym-bolischen und materiellen Reproduktionder Gesellschaft Ihnen waumlchst damiteine zweite Geschichtlichkeit zu Es gibtdaher tatsaumlchlich eine gewisse Analogiezwischen Stoffen und menschlichen In-dividuen

Auf der Personalisierung aufbauendgibt es weitere Techniken die in Stoff-geschichten vielfach auftauchen Analogwie die Biographienforschung in mensch-lichen Lebensgeschichten Daseins-themen ausmacht [36] an denen sicheine Person abarbeitet oder wie auchHistoriker die Geschichte eines Landesoder eines Volkes durch gewisse Leit-themen strukturieren lassen sich auchfuumlr Stoffe Leitmotive formulieren diein der Geschichte eines Stoffes immerwieder vielleicht in gewandelter Formauftauchen Beim Wasser kann man als

Jens Soentgen (links) Geboren 1967 in Bensberg Nordrhein-Westfalen studierte zunaumlchstChemie promovierte aber in Philosophie mit einer Arbeit uumlber den Stoffbegriff (Das Un-scheinbare Berlin 1997) Lehrauftraumlge fuumlhrten ihn anschlieszligend an mehrere Universitaumltenin Deutschland Mehrfach war er in Brasilien als Gastprofessor fuumlr Philosophie taumltigSeit 2002 ist er wissenschaftlicher Leiter des Wissenschaftszentrums Umwelt (WZU) derUniversitaumlt Augsburg Zuletzt erschien von ihm das Buch Selbstdenken 20 Praktiken derPhilosophie (Wuppertal 2003)

Stefan Boumlschen (Mitte) Geboren 1965 in Waldshut Baden-Wuumlrttemberg Studium desChemie-Ingenieurwesens mit Diplomabschluszlig 1995ndash 1998 Vertiefung in Philosophie sowieSoziologie Promotion mir einer Arbeit zur Risikogenese der Erarbeitung von Risiko-Wissenim Laufe der Geschichte analysiert an vier Fallstudien Seit 1999 an der UniversitaumltAugsburg im Sonderforschungsbereich Reflexive Modernisierung Er ist WZU-Mitgliedund Projektleiter

Armin Reller (rechts) Geboren 1952 in Winterthur Kanton Zuumlrich 1992ndash1998 ordentlicherProfessor am Institut fuumlr Anorganische und Angewandte Chemie der Universitaumlt Hamburgdaneben seit 1995 Leiter des Programms SolarchemieWasserstoffRegenerative Energie-traumlger (BEW Bern) 1999 Uumlbernahme des neueingerichteten Lehrstuhls fuumlr Festkoumlrper-chemie im Institut fuumlr Physik der Universitaumlt Augsburg Er ist Vorstandssprecher des WZU

Das Wissenschaftszentrum Umwelt wurde im Jahr 2000 im Rahmen der bayerischenHigh-Tech-Offensive gegruumlndet Unter dem Leitthema Zukunftsfaumlhiger Umgang mitStoffen Materialien und Energie buumlndelt das WZU die Umweltforschung an der UniversitaumltAugsburg Boumlschen Reller und Soentgen arbeiten in verschiedenen Projekten im WZUzusammen

GAIA 13 (2004) no 125Traktat

ein solches Leitmotiv etwa seine natuumlr-liche Tendenz feststellen Grenzen zuuumlberschreiten oder diffusiv zu unter-wandern [37] fuumlr die Geschichte derBaumwolle wird der Nord-Suumld-Gegen-satz in seinen verschiedenen Ausprauml-gungen ein solches Leitmotiv sein beimKalk sieht Dahl [28] als Leitmotiv denGegensatz zwischen einer Aufloumlsungs-tendenz und der Faumlhigkeit vorgegebeneFormen mimetisch genau abzubilden

Insgesamt laumlszligt sich jedoch keineAnleitung fuumlr das Abfassen von Stoff-geschichten geben Zum einen muumlszligtezu diesem Zweck ein groumlszligerer Fundusvon Stoffgeschichten hinsichtlich ihrerrhetorischen Strategien und ihrer Erzaumlhl-strukturen analysiert und mit anderenNatur- und Umweltgeschichten ver-glichen werden (der Wald ist bereitsGegenstand erzaumlhltheoretischer Unter-suchungen [38]) Zum anderen ist dasErzaumlhlen von Stoffgeschichten wie jedesniveauvolle Erzaumlhlen eine Kunst diesich nur teilweise in Handlungsanwei-sungen ausmuumlnzen laumlszligt

4 Die Moral der Stoffgeschichte

Stoffgeschichten haben ein ZielAufklaumlrung uumlber Stoffe und derenWirkungsformen Aus den historischenStudien lassen sich Tendenzen ablesendie Aussagen uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung einer Stoffgeschichte ermoumlg-lichen Sie gewinnen ihr Gewicht ausder Langzeitbetrachtung und koumlnnen soetwas wie ein Gespuumlr fuumlr einen be-stimmten Stoff vermitteln So kann eszu einem Wiedereintritt der Geschichtein sich selbst kommen Dann naumlmlichwenn die Stoffgeschichte zu einemkreativeren und umsichtigeren Umgangmit dem Stoff selbst anregt

Fuumlr Hinweise und Diskussionen danken wirden Teilnehmern an dem WZU-WorkshopStoffgeschichten im November 2002Markus Huppenbauer Renate DiessenbacherRiyaz Haider Simon Meissner undIsabelle Seacutecher

Literaturverzeichnis

[1] Vergleiche S Boumlschen Katastrophe undinstitutionelle Lernfaumlhigkeit ndash Seveso alsambivalenter Wendepunkt der Chemiepolitikin L Claussen E Geenen E Macamo (Ed)Entsetzliche soziale Prozesse ndash Theorie undEmpirie der Katastrophen Lit Muumlnster(2003) p 139ndash162 (zugleich KonflikteKrisen und Katastrophen ndash in sozialer undkultureller Sicht Band 1)

[2] M Held Chemiepolitik ndash Gespraumlch uumlber

eine Kontroverse VCH Weinheim (1988)[3] Vergleiche W van den Daele Der Traum

von der alternativen WissenschaftZeitschrift fuumlr Soziologie 16 (1987) 403ndash418

[4] Vergleiche M Burke Assessing the Envi-ronmental Health of Europe EnvironmentalScience amp Technology 34 (2000) 76Andash80A

[5] H-J Schellnhuber Earth system analysisand the second Copernican revolutionNature 402 (1999) Supplement C19ndashC23vergleiche aber auch H-J SchellnhuberDie Koevolution von Natur Gesellschaftund Wissenschaft ndash Eine Dreiecksbeziehungwird kritisch GAIA 104 (2001) 258ndash262

[6] M Huppenbauer A Reller Stoff Zeit undEnergie ndash Ein transdisziplinaumlrer Beitrag zuoumlkologischen Fragen GAIA 52 (1996)103ndash115

[7] Vergleiche H Nowotny P ScottM Gibbons Re-Thinking Science ndashKnowledge Production in an Age ofUncertainty Polity Press Cambridge (2001)

[8] Vergleiche W Lepenies Das Ende derNaturgeschichte ndash Wandel kultureller Selbst-verstaumlndlichkeiten in den Wissenschaften des18 und 19 Jahrhunderts SuhrkampFrankfurt am Main (1987)L Daston Wunder Beweise und Tatsachen ndashZur Geschichte der Rationalitaumlt S FischerFrankfurt am Main (2001)

[9] Vergleiche W Viehoumlver Diskurse alsNarrationen in R Keller A HirselandW Schneider W Viehoumlver (Ed) HandbuchSozialwissenschaftlicher DiskursanalyseBand 1 Theorien und MethodenLeske + Budrich Opladen (2001) p 177ndash206

[10] M Deneke Zur Tragfaumlhigkeit des Stoff-wechselbegriffs in G Boumlhme E Schramm(Ed) Soziale Naturwissenschaft ndash Wege zueiner Erweiterung der Oumlkologie FischerTaschenbuch Frankfurt am Main (1985)p 42ndash52

[11] KH Houmlrning Experten des Alltags ndashDie Wiederentdeckung des praktischenWissens Velbruumlck Wissenschaft Weilerswist(2001) p 162

[12] K Knorr-Cetina Laboratorien Instrumenteder Weltkonstruktion in P Hoyningen-HueneG Hirsch (Ed) Wozu Wissenschafts-philosophie de Gruyter Berlin (1988)p 315ndash344

[13] B Latour Das Parlament der Dinge ndashFuumlr eine politische Oumlkologie SuhrkampFrankfurt am Main (2001)

[14] M Polanyi Implizites Wissen SuhrkampFrankfurt am Main (19661985)

[15] H Collins Changing Order Replicationand Induction in Scientific PracticeUniversity of Chicago Press Chicago IL(1992)

[16] H Collins Tacit Knowledge Trust and theQ of Sapphire Social Studies of Science 31(2001) 71ndash85 insbesondere p 72

[17] L Fleck Entstehung und Entwicklung einerwissenschaftlichen Tatsache ndash Einfuumlhrung indie Lehre vom Denkstil und DenkkollektivSuhrkamp Frankfurt am Main (19351983)

[18] S Boumlschen Wissenschaftsfolgenabschaumltzungndash Uumlber die Veraumlnderung von Wissenschaftim Zuge reflexiver Modernisierung inS Boumlschen I Schulz-Schaeffer (Ed)Wissenschaft in der WissensgesellschaftWestdeutscher Verlag Opladen (2003)

[19] M Foucault Die Ordnung des DiskursesFischer Taschenbuch Frankfurt am Main(1970)

[20] S Funtowicz J Ravetz The Emergence of

Post-Normal Science in R von Schomberg(Ed) Science Politics and Morality ndashScientific Uncertainty and Decision MakingKluwer Dordrecht (1993) p 85ndash123besonders p 114f

[21] W Bonss R Hohlfeld R Kollek (Ed)Wissenschaft als Kontext ndash Kontexte derWissenschaft Junius Hamburg (1993)insbesondere a) p 185

[22] Vergleiche M Scheringer Persistence andSpatial Range of Environmental ChemicalsWiley-VCH Weinheim (2002)

[23] S Rowland Ozone Hole in H Newbold(Ed) Lifestories ndash World-renowned ScientistsReflect on their Lives and the Future of Lifeon Earth University of California PressBerkeley CA (2000) p 134ndash140 besondersp 135fS Boumlschen Risikogenese ndash Prozesse gesell-schaftlicher GefahrenwahrnehmungFCKW Dioxin DDT und Oumlkologische ChemieLeske + Budrich Opladen (2000)

[24] S Boumlschen M Scheringer J Jaeger WozuUmweltforschung Uumlber das Spannungs-verhaumlltnis zwischen Forschungstraditionenund umweltpolitischen Leitbildern ndash Teil IIZum Leitbild Reflexive Umweltforschung GAIA 103 (2001) 203ndash212

[25] A Reller M Braungart J Soth O vonUexkuumlll Silicone ndash eine vollsynthetischeMaterialklasse macht Geschichte(n)GAIA 91 (2000) 13ndash24 insbesondere a) p16

[26] S Tretjakow Die Arbeit des Schriftstellersherausgegeben von H Boehncke RowohltReinbek bei Hamburg (1972) p 81ndash86

[27] HE Jacob Sage und Siegeszug des Kaffeesndash Die Biographie eines weltwirtschaftlichenStoffes Rowohlt Berlin (1934)

[28] J Dahl Aufschluumlsse Kalkstein FeuersteinSchiefer ndash drei Versuche zur GeologieLangewiesche-Brandt Ebenhausen beiMuumlnchen (1977)

[29] P Ball H2O ndash Biographie des WassersPiper Muumlnchen (2002)

[30] A Reller S Schmid Kalk ndash Kulturgeschichteeines Stoffes unveroumlffentlichtes ManuskriptUniversitaumlt Augsburg (2002)

[31] M Eichhorn Kulturgeschichte der Kultur-geschichten Typologie einer Literatur-gattung Koumlnigshausen amp NeumannWuumlrzburg (2002)

[32] JG Pankau Narratio in G Ueding (Ed)Historisches Woumlrterbuch der Rhetorik Band 1Niemeyer Tuumlbingen (1992) Sp 1490ndash1495

[33] A Reller Skizze einer Geographie derRessourcen Politische Oumlkologie Nr 86(2003) 22ndash25

[34] E Dovifat Aktualitaumlt ndash Gegenwarts-wirkung in E Dovifat (Ed) Handbuchder Publizistik Band 1 Allgemeine Publizistikde Gruyter Berlin (21971) p 20ndash28

[35] B Wessel Attentum parare facere inG Ueding (Ed) Historisches Woumlrterbuchder Rhetorik Band 1 Niemeyer Tuumlbingen(1992) Sp 1162ndash1163

[36] H Thomae Das Individuum und seine WeltHogrefe Goumlttingen (1996)

[37] J Soentgen Feuer Erde Wasser LuftDie Elemente in der globalen WeltSendebeitrag zum Funkkolleg Gluumlck undGlobalisierung des Hessischen Rundfunks(eine Textversion erscheint 2004 beiSuhrkamp Frankfurt am Main)

[38] A Lehmann (Ed) Der Wald ndash ein deutscherMythos Reimer Berlin (2000)

(Eingegangen am 26 November 2003 OS)

Page 7: Stoffgeschichten Ð eine neue Perspektive f r transdisziplin ......eine neue Perspektive f r transdisziplin re Umweltforschung Stefan B schen, Armin Reller und Jens Soentgen* GAIA

GAIA 13 (2004) no 125Traktat

ein solches Leitmotiv etwa seine natuumlr-liche Tendenz feststellen Grenzen zuuumlberschreiten oder diffusiv zu unter-wandern [37] fuumlr die Geschichte derBaumwolle wird der Nord-Suumld-Gegen-satz in seinen verschiedenen Ausprauml-gungen ein solches Leitmotiv sein beimKalk sieht Dahl [28] als Leitmotiv denGegensatz zwischen einer Aufloumlsungs-tendenz und der Faumlhigkeit vorgegebeneFormen mimetisch genau abzubilden

Insgesamt laumlszligt sich jedoch keineAnleitung fuumlr das Abfassen von Stoff-geschichten geben Zum einen muumlszligtezu diesem Zweck ein groumlszligerer Fundusvon Stoffgeschichten hinsichtlich ihrerrhetorischen Strategien und ihrer Erzaumlhl-strukturen analysiert und mit anderenNatur- und Umweltgeschichten ver-glichen werden (der Wald ist bereitsGegenstand erzaumlhltheoretischer Unter-suchungen [38]) Zum anderen ist dasErzaumlhlen von Stoffgeschichten wie jedesniveauvolle Erzaumlhlen eine Kunst diesich nur teilweise in Handlungsanwei-sungen ausmuumlnzen laumlszligt

4 Die Moral der Stoffgeschichte

Stoffgeschichten haben ein ZielAufklaumlrung uumlber Stoffe und derenWirkungsformen Aus den historischenStudien lassen sich Tendenzen ablesendie Aussagen uumlber die zukuumlnftige Ent-wicklung einer Stoffgeschichte ermoumlg-lichen Sie gewinnen ihr Gewicht ausder Langzeitbetrachtung und koumlnnen soetwas wie ein Gespuumlr fuumlr einen be-stimmten Stoff vermitteln So kann eszu einem Wiedereintritt der Geschichtein sich selbst kommen Dann naumlmlichwenn die Stoffgeschichte zu einemkreativeren und umsichtigeren Umgangmit dem Stoff selbst anregt

Fuumlr Hinweise und Diskussionen danken wirden Teilnehmern an dem WZU-WorkshopStoffgeschichten im November 2002Markus Huppenbauer Renate DiessenbacherRiyaz Haider Simon Meissner undIsabelle Seacutecher

Literaturverzeichnis

[1] Vergleiche S Boumlschen Katastrophe undinstitutionelle Lernfaumlhigkeit ndash Seveso alsambivalenter Wendepunkt der Chemiepolitikin L Claussen E Geenen E Macamo (Ed)Entsetzliche soziale Prozesse ndash Theorie undEmpirie der Katastrophen Lit Muumlnster(2003) p 139ndash162 (zugleich KonflikteKrisen und Katastrophen ndash in sozialer undkultureller Sicht Band 1)

[2] M Held Chemiepolitik ndash Gespraumlch uumlber

eine Kontroverse VCH Weinheim (1988)[3] Vergleiche W van den Daele Der Traum

von der alternativen WissenschaftZeitschrift fuumlr Soziologie 16 (1987) 403ndash418

[4] Vergleiche M Burke Assessing the Envi-ronmental Health of Europe EnvironmentalScience amp Technology 34 (2000) 76Andash80A

[5] H-J Schellnhuber Earth system analysisand the second Copernican revolutionNature 402 (1999) Supplement C19ndashC23vergleiche aber auch H-J SchellnhuberDie Koevolution von Natur Gesellschaftund Wissenschaft ndash Eine Dreiecksbeziehungwird kritisch GAIA 104 (2001) 258ndash262

[6] M Huppenbauer A Reller Stoff Zeit undEnergie ndash Ein transdisziplinaumlrer Beitrag zuoumlkologischen Fragen GAIA 52 (1996)103ndash115

[7] Vergleiche H Nowotny P ScottM Gibbons Re-Thinking Science ndashKnowledge Production in an Age ofUncertainty Polity Press Cambridge (2001)

[8] Vergleiche W Lepenies Das Ende derNaturgeschichte ndash Wandel kultureller Selbst-verstaumlndlichkeiten in den Wissenschaften des18 und 19 Jahrhunderts SuhrkampFrankfurt am Main (1987)L Daston Wunder Beweise und Tatsachen ndashZur Geschichte der Rationalitaumlt S FischerFrankfurt am Main (2001)

[9] Vergleiche W Viehoumlver Diskurse alsNarrationen in R Keller A HirselandW Schneider W Viehoumlver (Ed) HandbuchSozialwissenschaftlicher DiskursanalyseBand 1 Theorien und MethodenLeske + Budrich Opladen (2001) p 177ndash206

[10] M Deneke Zur Tragfaumlhigkeit des Stoff-wechselbegriffs in G Boumlhme E Schramm(Ed) Soziale Naturwissenschaft ndash Wege zueiner Erweiterung der Oumlkologie FischerTaschenbuch Frankfurt am Main (1985)p 42ndash52

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(Eingegangen am 26 November 2003 OS)