Stern 2913

128
NR. 29 11. 7. 2013 € 3,50 Österreich € 3,80 / Schweiz CHF 6,50 / Frankreich, Italien, Spanien, Slowenien: € 4,60 / Portugal (cont.): € 4,90 / Kanaren: € 4,90 / Griechenland: € 5,30 / Benelux: € 4,– / Finnland: € 5,70 / Norwegen: NOK 55,– / Tschechien: CZK 160,– / Ungarn: HUF 1520,– GRILLEN Gemeinschaft am Feuer – warum es nicht nur ums Essen geht FASHION WEEK Die junge Modewelt in Berlin – eine Foto- reportage Die Geschichte der SPIONAGE Von Mata Hari bis Edward Snowden – die Faszination des Geheimen

Transcript of Stern 2913

Page 1: Stern 2913

NR. 29 11. 7. 2013 € 3,50Ö

ster

reic

h €

3,80

/ S

chw

eiz

CHF

6,50

/ F

rank

reic

h, It

alie

n, S

pani

en, S

low

enie

n: €

4,6

0 / P

ortu

gal (

cont

.): €

4,9

0 /

Kan

aren

: € 4

,90

/ G

riec

henl

and:

€ 5

,30

/ Be

nelu

x: €

4,–

/ F

innl

and:

€ 5

,70

/ N

orw

egen

: NO

K 5

5,–

/ T

sche

chie

n: C

ZK 1

60,–

/ U

ngar

n: H

UF

1520

,–

GRILLEN Gemeinschaft am Feuer – warum es nicht nur ums Essen geht

FASHION WEEK Die junge Modewelt in Berlin – eine Foto- reportage

Die Geschichte derSPIONAGEVon Mata Hari bis Edward Snowden – die Faszination des Geheimen

Page 2: Stern 2913
Page 3: Stern 2913
Page 4: Stern 2913
Page 5: Stern 2913

die vergangenen vier Jahre waren nicht leicht für Guido Westerwelle: Erst hoben ihn seine Parteifreunde in den Himmel, weil er sie bei der Bundestagswahl zum besten Ergebnis in der FDP-Geschichte geführt hatte, nur zwei Jahre später stürzten sie ihn als Parteichef. Die offiziellen Gründe für den Dolchstoß waren das miserable Abschnei-den bei zwei Landtagswahlen und Westerwelles törichtes Gerede von den Zuständen „spätrömischer Dekadenz“. In Wirklichkeit aber ist Guido Westerwelle über die Zeitläufte gestolpert: Nach der Finanzkrise sehnte sich die Öffentlich-keit nach einem anderen Politikertypus. Vielen erschien der bekennende Spaßpolitiker plötzlich zu grell, zu keifend und unsouverän.

Als mein Kollege Hans-Ulrich Jörges und ich vor einigen Tagen Guido Westerwelle in der Rotunde des Alten Mu-seums in Berlin zum stern-Gespräch trafen, begegnete uns ein Mann, der mit jeder Geste und jedem Wort betonte: Seht her, ich bin im Amt gereift. In der Tat scheint Wester-welle aus seinen Fehlern gelernt zu haben. Neu aber ist eine solche Metamorphose in seiner politischen Biografie keineswegs. Als ich ihn 1999 interviewte, ließ er sich in einem weißen Anzug vor der Kulisse Venedigs ablichten – eine Anspielung auf den schwulen Protagonisten in Thomas Manns Novelle „Tod in Venedig“. Mit diesem indirekten Bekenntnis zu seiner Homosexualität wollte Westerwelle rechtzeitig vor der Wahl des Parteivorsitzenden die letzten Vorbehalte gegen seine Person aus dem Weg räumen. 2004 sprachen wir in einem Berliner Zirkus über die rot-grüne Regierung, und Westerwelle attackierte: „Die großen Probleme unserer Zeit werden wir nicht mit moralinsauren Wichtigtuern lösen.“ Für den Fotografen posierte er vor einem Clown.

Westerwelle ist ein Kind der Popkultur. Er liebt und beherrscht das Spiel mit Bildern und Assoziationen. Seine neue Rolle ist die des Staatsmanns. Er spielt sie gut. Aber es bleibt eine Rolle. Seite 52

InszenierungenBilder mit Guido Westerwelle

sind nie zufällig. 1999 fotogra-fiert ihn André Rival für das

„SZ-Magazin“ im weißen Anzug in Venedig – eine Anspielung

auf seine Homosexualität. 2004 ließ er sich in der Pose

des Zirkusdirektors ablichten

Das Spiel mit den Bildern

11.7.2013 5

editorial

Dominik Wichmann Chefredakteur

Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Herzlichst Ihr

Page 6: Stern 2913

TiT

el

: Mik

ha

il k

or

ol

ev

/Sy

ba

riT

e iM

ag

eS;

lu

dw

ig w

eg

Ma

nn

; ew

en

Ma

ca

Skil

l/T

he

gu

ar

dia

n/r

eu

Te

rS;

Mic

ha

el

a r

eh

le

/re

uT

er

S; u

nd

er

wo

od

un

d u

nd

er

wo

od

/co

rb

iS; c

olo

ur

bo

x;

ed

iTo

ria

l: a

nd

re

riv

al

/ag

en

Tu

r f

oc

uS

(2);

inh

alT

: ge

ne

glo

ve

r; T

ho

Ma

S r

ab

Sch

; ed

ou

/ed

ou

/ge

TT

y iM

ag

eS;

ST

efa

n e

rn

ST/P

icT

ur

e P

re

SS; S

uSa

nn

e w

al

STr

oM

/Pl

ain

Pic

Tu

re

; r.u

She

r/w

ild

lif

e

Diese WocheTitel

Spionage Warum das Bespitzeln schon immer zum Handwerk der Mächtigen gehörte 38

Politik

Autobahn Vor dem Urlaub kommt die Aggression 19Zwischenruf Hans-Ulrich Jörges: Der amerikanische Albtraum 22stern-Trends 1. Wahlumfrage 2. Piratenpartei kann von der US-Abhöraffäre nicht profitieren 24Ägypten Nach dem Putsch gegen Präsident Mursi – das Land droht nun zu zerfallen 58

Gesellschaft

Die Welt verstehen Kurze Antworten auf aktuelle Fragen 20Auf dem Weg zur Arbeit mit Come-dian Michael Mittermeier, der zurzeit das britische Publikum erobern will 24Vorher – nachher Ein Mann und sein Pullunder: 40 Fotos von 1973 bis 2012 26TV-Geräte Wie uns internetfähige Fernseher ausspähen 30Nachruf Schauspieler Chiem van Houweninge über seinen Kollegen Ulrich Matschoss 34Flugbegleiter „Ich kann viel ertra-gen“ – eine Chefstewardess über den turbulenten Alltag in der Luft 68Ein besonderer Mensch Ein Stutt-garter weist den Weg nach Mekka 74

2 Grillen Was fasziniert die Deutschen so an Glut und Kohlen? Erkundung einer großen Sommerpassion 76

Wirtschaft

Job-Ampel Welche Studiengänge sich am meisten lohnen 28

Wissen

Sehen und verstehen Weshalb uns in diesem Jahr so viele Mücken plagen 32Diagnose Ein Stich und Schmerzen in der linken Brust – wie sich ein unglaublicher Verdacht bewahrheitet 66

Das stern-Gespräch

Guido Westerwelle Der Außen- minister über alte Verletzungen und neue Souveränität 52

Fotografie

2 Fashion Week Spielwiese für Newcomer: So feiert Berlin die Mode 86

58In Ägypten wandelt sich eine friedliche Revolution zum blutigen Machtkampf

68Bitte einmal ehrlich: Eine Stewardess packt aus

52 Westerwelle ganz anders: der

Außenminister über Krisen, falsche Freunde und eigene Fehler. Das stern-Gespräch

6 11.7.2013

Inhalt

eMagazineDer stern erscheint auch für iPads und Android-Tablets, immer mit exklusivem Zusatzmaterial. Download mittwochs ab 18 Uhr. Abonnen-ten des stern können das eMagazine kostenlos laden, siehe www.stern.de/eabo. Einzelkäufer zahlen pro Ausgabe 2,69 Euro, siehe www.stern.de/emagazine

Für wen spitzelte die Nackttänzerin Mata Hari? Wer inspirierte den Thriller-Autor John le Carré? Die Geschichte der Spionage ist voller schillernder Charaktere – bis hin zu jenem Mann, der nun den US-Dienst NSA verriet 38

Auf dem Titel angekündigte Themen sind mit einem 2gekennzeichnet

Page 7: Stern 2913

JournalUnterhaltung

Lars Eidinger Der schauspielerische Extremist im Porträt 100Augenblick Stellt die Welt auf den Kopf: Illusionskünstler Leandro Erlich 110Was macht eigentlich?� Die italienische Journalistin Giuliana Sgrena, die 2005 im Irak entführt und nach ihrer Freilassung von US-Soldaten beschossen wurde 126

Lebensfreude

Vorwärts! Im Fahrtest: der neue Renault Captur 104Im Bett mit der Moderatorin und Schriftstellerin Amelie Fried 106Was uns gefällt Schönes und Gutes für die beste Zeit des Jahres 108Leben, wo andere Urlaub machen Kein Handy, keine Hektik – hoch oben in den Allgäuer Alpen ist die moderne Welt abgemeldet 120

Kultur-Tipps

Was ich lese Schauspieler Axel Prahl liebt das Meer – und die Erzählungen „Inselstolz“ 112Bestseller Buch 112Film Der rasante Zauber-Thriller „Die Unfassbaren – Now You See Me“ 114Bestseller Film Mit DVD-Tipp 115Musik Macht Sommerlaune: Robin Thickes Popalbum „Blurred Lines“ 116Bestseller Musik 116

Rubriken

Echo Die Seite der Leser 8Bilder der Woche 10Sehen und gesehen werden 30Luftblasen, Haderer, Til Mette 29, 36, 65Tetsche, Ein Quantum Trost 118, 119Impressum 97

86Hinter den Kulissen

der Berliner Fashion Week

76Kaum scheint die Sonne, wird Deutschland einig Grillerland – ob ganze Rehkeulen, fangfrische Fische oder das klassische Würstchen –, alles kommt aufs Feuer

120 Nach einer Wanderung durch die Allgäuer Alpen: Schlafen wie ein Murmeltier

11.7.2013 7

NR. 29 VoM 11. JULI 2013

Page 8: Stern 2913

Service für Leser und AbonnentenFragen an die RedaktionTelefon: 040/37 03 35 42, Telefax: 040/37 03 57 68E-Mail: [email protected] im ArchivTelefon: (Mo.–Fr. 10–12 Uhr): 040/37 03 38 88 Fax: 040/37 03 57 81Bestellung älterer AusgabenAnfragen mit gewünschter Heft nummer an stern-Versand service, 20080 Hamburg oder per E-Mail an [email protected]

Wie finden Sie diesen stern? Ihre Meinung interessiert uns!stern-Leserbriefredaktion, Brieffach 18, 20444 Hamburg Telefax: 040 /37 03 56 27, E-Mail: [email protected] Redaktion behält sich Kürzungen vor. Bitte geben Sie Namen und Anschrift an.

facebook.com/stern

LESEr-SErVIcE

„Ich finde es sehr gut, dass Sie dieses Thema einmal aufgreifen, in einer Zeit, in der man glauben könnte, dass Familie nicht mehr stattfindet, dass die Menschen Gemeinschaft zu anstrengend finden.“Walter G. Wagner, Hasselroth-Niedermittlau

Mit Konventionen brechenstern Nr. 28, „Gemeinsam glücklich sein“ – ein kleiner Leitfaden

Der Titel zeigt eine traditionelle Familie: Mutter, Vater, ein Sohn, eine Tochter. Mittlerweile gibt es viele Konstellationen: zwei Mütter, einen Alleinerziehenden, Ein-Kind-Familie und so weiter. Es ist an der Zeit, mit Konven- tionen zu brechen und diese Fami-lienformen auf das Titelbild zum Thema Familie zu setzen.Julia Engels, Elsdorf

Selbstfürsorge betreibenEin wichtiger Faktor für unser glückliches Familienleben ist Ent-schleunigung: als Eltern präsent sein, soweit wie möglich Zeit für- und miteinander haben, dabei Selbstfürsorge betreiben. Denn wer etwas geben will, braucht auch eine Quelle, um selbst aufzutan-ken. Die Entscheidung für Kinder, ein Familienleben ist keine ein-malige. Sie muss täglich neu getroffen und praktiziert werden. Ingeborg Otterbach, Siegen

EigenartigDa brennt die Welt – Amerikas Freund-Spionage, Snowden, brennendes Ägypten, hilflose Bun-desregierung inklusive hilflose Geheimdienste, die von allem natürlich nichts wussten –, und Sie bringen als großen Titelbild-aufmacher ein Bild über glück- liche Familien? Eigenartig. Berthold F.J. Wagner, Achern-Sasbachried

Spitze des Eisbergsstern Nr. 28, „Macht gegen Mut“ – das Duell zweier ungleicher PatriotenIhr Artikel ist gut recherchiert und auch für Laien verständlich geschrieben, hat aber Lücken.

Goo gle, Facebook und Twitter sind nur die Spitze des Eisbergs, das heißt der sichtbare Teil. Bei-spiel: Virenscanner wie Norton und McAfee sind amerikanischen Ursprungs und haben – das liegt in der Natur der Sache – besondere Zugriffsrechte auf dem jeweiligen Computer, können jede Datei entdecken und gegebenenfalls versenden. Täglich laden sie aktu-alisierte Signaturen herunter. Wer garantiert mir, dass hier nur Signaturen heruntergeladen werden? Panikmache? Das Sicht-bare lässt das Schlimmste für das Unsichtbare befürchten. Wilke Walter, Rodgau

stern Nr. 26, Geschichte über zwei Leipziger, die an die Ostsee zogen

Sehr geehrte Damen und Herren,wer aus Leipzig oder von sonstwo auf den Darß kommt, sollte eins schon früh lernen: niemals durch den Strandhafer trampeln – auch nicht für den stern-Fotografen! Carsten Jensen, Neumünster

Sehr geehrter Herr Jensen,der Fotograf hatte die schwierige Hürde zu nehmen, Vorpommern, Ostsee, Strand und die zentralen Figuren unserer Geschichte auf ein Foto zu bannen. Sie haben ja recht: Man soll nie durch Strandhafer trampeln. Wenn ich die Aufnahme recht betrachte, sind unsere Prota-gonisten immerhin nicht „durch-getrampelt“. Um sie herum scheint mir der Bewuchs heil. Aber ich sag Ihnen was: Ich mache bald Ferien an der Ostsee. Dann sehe ich mir den Strandhafer genau an. Da der Ort des Fotos an einem Übergang liegt, muss ich zum Schauen keinen Fuß zwischen die Pflanzen setzen. Meine Eindrücke teile ich Ihnen dann in einer E-Mail mit, nach den Ferien. Versprochen.Herzlich, Ihr Bert Gamerschlag,stern-Autor Lebensart

Für die stern-Aktion „Mut gegen rechte Gewalt“ spen-deten Leser im Jahr 2000 großzügig. Das machte „Exit“ möglich

Im Jahr 2000 unterstützte der stern die Gründung der Organi-sation „Exit“, die inzwischen Hunderten von Neonazis half, aus der Szene auszusteigen. Seither begleitet unsere Redaktion die Initiative mit zahlreichen Berichten, viele unserer Leser unterstützten sie mit großzügigen Spenden. Jetzt bekommt „Exit“ den Erich-Maria-Remarque- Friedenspreis der Stadt Osna-brück verliehen. Die Jury würdigte das Engagement und die Bereitschaft zur kritischen Aus- einandersetzung mit den Vorstellungswelten und den Gedanken Rechtsextremer.

8 11.7.2013

echo

ES STAnd IM STErn

rEdE und AnTWorT

Page 9: Stern 2913
Page 10: Stern 2913

fot

o: h

gm

-pr

ess

ItalIen

GrenzfahrtWenn es um Asyl geht, handeln europäische Politiker noch immer nach dem Motto: Das Boot ist voll. In Wirklichkeit sind es die Boote der Verzweifelten, die voll sind – mit Menschen, die aus Afrika fliehen vor Krieg und Hunger. Europa behandelt sie wie Einbrecher, schützt seine Grenzen, aber selten die Flie-henden. Die Menschen hier auf dem überfüllten Boot hatten erst einmal Glück – einige blicken gerade nach oben, dort leiten italienische Soldaten von ihrem Kriegsschiff aus die Rettungs-aktion ein. Montag hat Papst Franziskus ein Zeichen gesetzt, legte vor Lampedusa einen Kranz ab und betete: für die vielen Flüchtlinge, denen das Mittelmeer zum Friedhof wurde.

Bilder der Woche

10 11.7.2013

Page 11: Stern 2913
Page 12: Stern 2913

fot

o: L

ac

i Pe

re

ny

i

grossbritannien

Leerstunde„Wenn nichts geht“, sagt man sich, „der Aufschlag geht immer.“ Dann wirft man den Ball in die Luft, zählt „Am“, „ster“. Und beim „dam“ ange-kommen, haut man ihn ins Netz. Einmal, zweimal, Doppelfehler. Tennis spielt sich im Kopf ab, sagt der Trainer. Wenn einmal der Wurm drin ist, geht alles ins Aus. Deshalb hat Sabine Lisicki, 23, im Finale von Wimbledon so geweint: aus Verzweiflung, weil ihr der Kopf nicht gehorchte. Sie war die Aufschlag-Queen, Darling des Centre-Court. Keine lächelte schöner als sie. Sogar mit der kleinen Schale des Ver-lierers sah sie wie verzaubert aus. Bitte vormerken: next year in Wimbledon. Da lacht sie wieder. Dann als Siegerin.

12 11.7.2013

Page 13: Stern 2913
Page 14: Stern 2913

fot

o: J

oh

an

ne

s st

oe

tt

er

/ h

gm

-pr

ess

ItalIen

KrötenkunstAusgetrickst! Sie denken, Sie sähen hier einen Frosch. Schauen Sie genauer hin. Erst auf den zweiten Blick eröffnet sich die Raffinesse des Bildes. Na ja, vielleicht auch erst auf den drit-ten. Bei diesem farbenfrohen Geschöpf handelt es sich nicht um einen Frosch. Es sind fünf Menschen. Dahinter steckt der Bodypainter Johannes Stötter aus Südtirol. Seine Inspiration, sagt er, stamme aus der Natur. Die Liebe zum Detail macht seine Bilder aus, die Menschen scheinen fast mit ihrer Umwelt zu verschmelzen. Bis zu fünf Monate lang plant er ein Motiv. Rund acht Stunden dauert es, einen Körper zu bemalen. 2012 kürte eine Jury Stötter zum besten Bodypainter der Welt.

14 11.7.2013

Page 15: Stern 2913
Page 16: Stern 2913

fot

o: C

hr

ist

inn

e M

usC

hi/

La

if/t

he

ne

w Y

or

k t

iMe

s

kanada

HausradHier zieht jemand mit dem Fahrrad einen ganzen Haushalt durch die Stadt, und diese Ge-schichte beginnt im Jahr 1750. Weil die Winter in Montreal hart sind, beschloss die Stadt-verwaltung damals, dass Mie-tern erst zum Sommer gekün-digt werden darf. Das gilt heute nicht mehr, aber viele halten sich noch an die Tradition und ziehen am 1. Juli um – dieses Jahr 115 000 Menschen gleich-zeitig. Als würde man eine ganze Stadt verlegen. Es sind chaotische Tage, in den Straßen stapeln sich Matratzen und Müll. Seit einigen Jahren gibt es eine Fahrradspedition, die sich auf die Umzüge spezialisiert hat. Das hat dann schon etwas von einer Kutsche. Wie damals, 1750.

16 11.7.2013

Page 17: Stern 2913
Page 18: Stern 2913
Page 19: Stern 2913

Stern-trend

alle Stern- trendS Sind ForSa-

UmFragen im aUFtrag deS Stern

80 %sagen, dass zu

dicht aufgefahren wird

39 %finden, dass zu viel von

der Lichthupe Gebrauch

gemacht wird

Info

gr

afI

k: 1

00

3 B

efr

ag

te

am

26.

un

d 2

7. J

un

I; fo

to

: Jo

ch

en

ta

ck

/Im

ag

o

Politik • Wirtschaft • Gesellschaft • Wissen • kultur

D ie gute Nachricht zuerst: 71 Prozent der Deut-schen haben auf der Autobahn keine Angst, sind einigermaßen entspannt unterwegs. Klingt gut, dieses aktuelle Umfrageergebnis für

den stern. Wo sich doch gerade Millionen auf den Weg in Richtung Süden machen, an die Meere, Haupt- sache, weg, dorthin, wo sie den Sommer vermuten.

Aber all die anderen Ergebnisse klingen anders. Von Frieden keine Spur. 43 Prozent urteilen, es gehe eher aggressiv zu auf den Autobahnen, und nur 30 Prozent widersprechen. Eine große Mehrheit fin-det, es werde zu dicht aufgefahren, viele klagen, dass

Raser zu oft aufblenden. Die Frage, ob es ein generel-les Tempolimit von 130 Kilometer pro Stunde geben sollte, spaltet die Nation in zwei etwa gleich große Teile. Ja, sagen die Älteren und die Frauen. Nein, weh-ren sich die Jüngeren und die Männer.

Zwietracht und Aggression also, aber keine Angst. Wie ist das zu erklären? Vielleicht kalkulieren wir unterbewusst schon ein, dass wir noch einmal kämp-fen müssen, bis wir den Sehnsuchtsort erreichen. Vielleicht gehört das Drängeln und Schimpfen sogar ein bisschen dazu – als Ritual, zum spätestens nach der Fahrt hochverdienten: friedlichen Urlaub! 2

Der letzte Kampf vor dem UrlaubDie Autobahn ist für viele Deutsche eine ruppige Erfahrung

auto-agression: auf der linken Spur wird zu oft gedrängelt

11.7.2013 19

WOCHEDIESE

Page 20: Stern 2913

63

5

12

4

1 Afghanistan Wie verhält sich die Bundeswehr bei der Mohnernte?Sie hält sich raus. Die Zerstörung der Felder ist Aufgabe der afghanischen Armee. Die Bundeswehr darf laut Mandat den Afghanen lediglich technische Unterstützung anbieten. Amerikaner und Briten hingegen dürfen Produktionslabore zerstören. Rund 90 Prozent des Opiums weltweit stammen aus Afghanistan. In diesem Jahr wird laut

2 Österreich Dürfen Präsidentenmaschi-nen durchsucht werden?Nein. Das Völkerrecht verbietet Staaten, Fahrzeuge, Gebäude oder Flugzeuge eines fremden Staats-oberhaupts eigenmächtig zu durchsuchen. Sie stehen unter einem besonderen diplomatischen Schutz. Ohne Erlaubnis von Bo liviens Präsident Morales hätte Österreichs Polizei dessen Maschi-ne nicht filzen dürfen. Er musste vorige Woche in Wien landen, weil angeblich NSA-Enthüller Snowden an Bord war. Österreich will den Flieger mit Erlaubnis inspiziert

haben, Bolivien bestreitet eine Durchsuchung.Laura Himmelreich, stern-Politikredakteurin

UN-Studie zum dritten Mal in Folge eine Steigerung der Ernte erwartet. Für Bauern ist der Anbau des Schlafmohns lukrativ. Bis zu 8000 Euro beträgt der Erlös für einen Hektar Rohopium. Für Weizen gibt es nur 100 Euro. 95 Prozent der Anbaufläche liegen im Süden und Westen Afghanistans. Der Norden, wo

die Deutschen stationiert sind, gilt weitgehend als „poppy-free“.Jan Christoph Wiechmann, stern-Autor, antwortet Leser Günther Maahs

Opiumernte in Helmand, Südafghanistan. 2013 wird eine Rekordernte erwartet

Evo Morales gibt sich empört, weil er seinen Heimflug unterbrechen musste

20 11.7.2013

diese woche

Kurze Antworten auf aktuelle Fragen Die Welt verstehen

Page 21: Stern 2913

Stern-trend

94 %nein

ja

Halten Sie die Eurokrise für überwunden?

4

vFo

to

s: A

P; H

EL

MU

t F

oH

RIN

GE

R/d

PA; I

Nt

ER

to

PIC

s; R

oN

AL

d s

Co

tt

; F1o

NL

INE

; Co

LoU

Rb

ox

; AC

tIo

N P

RE

ss

Was wollen Sie wissen?Richten Sie Ihre Fragen an: [email protected]

5 Spanien Ist tatsächlich jeder zweite Jugendliche arbeitslos?Die Zahl ist alarmierend: Die offizielle Quote der arbeitslos gemeldeten Spanier zwischen 15 und 24 Jahren liegt derzeit bei 56,5 Prozent. Der Vergleichswert für Deutschland: 7,6 Prozent. Doch Eurostat, das Statistikamt der EU, lässt bei all seinen Erhebungen Schüler und Studierende außen vor – sie stehen dem Arbeitsmarkt ja nicht zur Verfügung. Würde man sie mitzählen, wäre die Quote niedriger. Von der Gesamtzahl der 15- bis 24-Jährigen suchten voriges Jahr in Spanien 20,6 Prozent einen Job, fanden aber keinen. In Deutschland waren es 4,1 Prozent. Trotz der Rechenmethode zeigen die Daten im langfristigen Ver-gleich, wie dramatisch die Lage ist: 1995, sechs Jahre vor Einfüh-rung des Euro, betrug die Euro-stat-Arbeitslosenquote für junge Leute in Spanien 39,6 Prozent, in Deutschland 8,9 Prozent. Der Euro löste in Spanien einen Boom aus, vor allem in der Bauwirtschaft, die Quote sank zeitweise unter 20 Pro-zent. Mit der Finanz- und Immo-bilienkrise brachen alte Struktur-probleme wieder auf. Die Zahl der jugendlichen Erwerbslosen schnellte in die Höhe, ist heute gut

17 Prozent punkte höher als Mitte der 90er Jahre. Matthias Weber, stern-Politikredakteur

4 USA Warum häufen sich die Unfälle von Fußgängern?Vorsicht, Laternenpfahl! Immer mehr Passanten verletzen sich, weil sie beim Gehen auf ihren Handys herumtippen oder telefo-nieren. Laut einer neuen Studie wurden 2010 insgesamt 1506 Han-dynutzer mit Gehirnerschütte-rungen oder Brüchen in Notauf-nahmen behandelt, fast dreimal so viele wie noch 2004. Die Mehr-heit der Verletzten war unter 25 Jahren. Forscher raten nun, dass Eltern ihren Kindern beibringen, wie sie unterwegs sicher Nach-richten schreiben. Professor Jack L. Nasar von der Ohio State Univer-sity, einer der Autoren der Studie, fordert: „Genauso wie sie sagen: Seht nach links und rechts, bevor ihr über die Straße lauft!, sollten sie erklären: Bleibt stehen,

wenn ihr telefoniert oder simst!“Alexandra Kraft, stern-Redakteurin, New York

3 Großbritannien Warum dankt die Queen nicht ab?Belgiens König Albert gibt auf, die niederländische Königin Beatrix räumte jüngst den Thron. Elizabeth II aber bleibt, ganz nach feiner englischer Monarchen-Art. Edward VIII war 1936 der Erste und Letzte, der auf die Krone verzichtete, näm-lich um Wallis Simpson heiraten zu können. Mit Thronfolger Charles und seiner Camilla tut sich das Volk immer noch schwer, sehnt also keinen Wechsel herbei. Nicht einmal das

Alter der Regentin gibt Anlass zu Spekulationen. Windsor-Frauen leben lange. Queen Mum brachte es auf fast 102 Jahre. Und die Queen ist erst 87. dagmar Seeland, stern-Büro London

6 DeutschlandWarum kriegt Bayern stets die beste Ferienzeit?

H ochwasser Anfang Juni, eine Hitzewelle zwei Wochen später und zum Sieben-schläfer Temperaturen wie

im Herbst: Beim Wetter weiß man nie, wie es kommt. Die Fe-rienplanung der 16 Bundesländer kann deshalb nicht nach dem Wetterbericht ausgerichtet sein. Seit 1971 vereinbaren die Länder die Ferienplanung in der jetzigen Weise. Ziel ist, dass nicht alle ge-meinsam in den Urlaub starten. Autobahnen und Hotels wären überlastet, der Erholungswert für Schüler und Eltern wäre gering. Seit dieser Zeit wechseln die Län-der auch in der Reihenfolge ab – mit der Ausnahme von Baden-Württemberg und Bayern, das durch eine Parlamentsentschei-dung gebunden ist. Denn: Der Bayerische Landtag hat eigens festgelegt, dass es in Bayern Pfingstferien geben muss. Unter-richt und Schule nach den Pfingstferien machen aber nur dann Sinn, wenn für die Schüler ein längerer Zeitraum zur Verfü-gung steht, um sich Wissen und Kompetenzen anzueignen. Da-mit diese notwendige Lernphase sichergestellt ist, gehen die baye-rischen Schüler mit den baden-württembergischen relativ spät in die Sommerferien. Ob das aber auch die schönste Ferienzeit ist, wie manche meinen, ist fraglich. Blickt man in die Klimadiagram-me von München bis Hamburg, sieht man: Im Juli und im August liegen Temperatur und Regen-menge jeweils nah beieinander. So gesehen haben die Schüler in allen Ländern die gleichen Chan-cen auf schöne Sommerferien. Und es bleibt ein Lotteriespiel. Garantien gibt es nicht. 2

Bitte entscheiden: entweder gehen oder mit dem Handy hantieren

Queen elizabeth: Sie thront und thront und thront

dr. Ludwig Spaenle (CSU) ist Bayerischer Kultusminister

11.7.2013 21

5

Page 22: Stern 2913

illu

str

at

ion

: ja

n s

we

Wir haben Anlass, kriti­sche Fragen an uns selbst zu richten. Denn wir haben viel zu lan­ge geschwiegen, weg­geschaut oder sogar

verständnisvoll genickt, als wir hätten aufbegehren müssen gegen die Verirrungen der Amerikaner. Wir Deutschen, wir Europäer.

Wir haben unsere Empörung heruntergeschluckt, als wir hörten und dann auch sahen, in entsetz­lichen Bildern, dass Amerika foltert. Waterboarding, simuliertes Erträn­ken, ging zwar in unseren Sprach­schatz ein, wurde aber beruhigend umgedeutet: Das Ersticken war ja bloß simuliert, es floss kein Blut.

Wir wollten es nicht so genau wis­sen, als wir erfuhren, dass die USA Geheimgefängnisse unterhielten, auf fremdem Territorium, überall in der Welt. Auch nebenan, in Polen, Rumänien und anderswo.

Wir schoben die Hinweise zur Seite, dass Menschen verschleppt wurden in solche Verliese, zum ver­schärften Verhör, zur Folter. Wohl auch durch Flüge über Deutschland. Ohne richterlichen Haftbefehl, ohne Beistand, unter flagranter Verlet­zung ihrer Menschenwürde.

Wir haben zugeschaut, viele Jahre lang, und nur verhalten Kritik

geübt, als Menschen ohne Rechts­grundlage in Guantánamo gefangen gehalten wurden, in Käfigen wie Tiere und in Ketten wie Sklaven.

Wir haben mit den Achseln ge­zuckt, als wir erfuhren, dass Ameri­ka unerklärte Drohnenkriege in anderen Staaten führte, in Pakistan, in Somalia, im Jemen und in vier weiteren Staaten. Drohnen, unbe­mannt ausgeschickt zur Tötung Ein­zelner, unter Bruch des Völkerrechts. Wurde einmal versehentlich eine ganze Hochzeitsgesellschaft umge­bracht, gab es Stirnrunzeln, doch bewaffnete Drohnen soll auch die Bundeswehr bekommen. Ist doch technischer Fortschritt, liegt doch im Trend der Zeit, wird doch zum Muss.

Mit einem Wort: Wir haben den Vereinigten Staaten von Amerika, dem Reich des Guten, dem Bollwerk von Demokratie und Freiheit, der einzig verbliebenen Weltmacht, unserer Vormacht, jeden Kredit gegeben, sich von existenziellen Errungenschaften der Zivilisation zu verabschieden. Am 11. September 2001 mit monströser Boshaftigkeit angegriffen, antworteten die USA wie ein Reich des Bösen. Und wir hatten Verständnis, gelobten „un­eingeschränkte Solidarität“, folgten und kuschten. Es ging ja um Ter­roristen der schlimmsten Sorte, um Islamisten, um al­Qaida.

Nun geht es um uns. Der ameri­kanische Traum wird zum Alb­traum. Die „unverbrüchliche Ver­bundenheit“, von Angela Merkel eben noch Barack Obama am Bran­denburger Tor geschworen, wird zerbrechlich. Und Obama wird als Charaktermaske erkennbar. Wir haben nicht aufbegehrt gegen die Opfer anderer. Begehren wir nun endlich auf, da wir selbst Opfer sind?

Die Amerikaner und ihnen zu Diensten die Briten wollen nicht weniger, als die weltweite Kommu­nikation unter ihre Kontrolle zu bringen. Auch unsere. Telefon, Inter­net, soziale Netzwerke. Komplett. Die automatisierte Erfassung aller Briefe in den USA – 160 Milliarden (!) pro Jahr – offenbart den Totalitäts­anspruch. Neue Rechenzentren sind im Bau, um die globale Kommuni­kation unablässig absaugen und durchsieben zu können.

Nun sind wir wach geworden. Nun wird uns unheimlich. Nun könnten wir erkennen, dass amerikanische Geheimdienste auch im souveränen Deutschland noch schalten und walten dürfen. Völlig legal.

Denn die alliierten Sonderrechte wurden in Verträgen und Geheim­vereinbarungen verewigt. Josef Foschepoth, renommierter Histo­riker der Freiburger Universität, hat das aufgedeckt. „Richtig ist, dass die Vorbehaltsrechte abgelöst wurden. Falsch ist jedoch der Eindruck, als seien sie ersatzlos aufgehoben“, sagt er. „Das alliierte Recht zur Über­ wachung des Post­ und Fernmelde­verkehrs ist weder in der alten noch der neuen Bundesrepublik außer Kraft gesetzt worden.“ Das erklärt das Herumdrucksen unserer Politik. Denn daran waren Willy Brandt wie Helmut Kohl beteiligt.

Die USA werden nicht einlenken. Sie werden der Politik versichern, dass die EU und befreundete Regie­rungen nicht abgehört werden. Uns aber erfassen sie weiter. Begehren wir jetzt nicht auf, ist die Messe gelesen. Dann treten wir ein ins Zeit­alter der Totalüberwachung. Und dann könnten wir, von unseren Kin­dern, die Frage hören, die sich DDR­Bürger nach dem Zusammenbruch des Stasi­Staats von Westdeutschen anhören mussten: „Und das habt ihr euch gefallen lassen?“ 2

Wir haben den USA

jeden Kredit

gegeben, sich von

Errungen-schaften

der Zivilisa-tion zu ver-abschieden

Der amerikanische Albtraum

Folter, Geheimgefängnisse, unerklärte Drohnenkriege – und nun auch noch Totalüberwachung

der Kommunikation. Begehren wir jetzt endlich auf?

22 11.7.2013

diese woche

Hans-Ulrich Jörges, Mitglied der stern-Chefredaktion,

schreibt jede Woche an dieser Stelle

zwiscHenrUf aUs berlin

Page 23: Stern 2913
Page 24: Stern 2913

%

4122

915 +1

8 –15

+1

20 %56 %

Skandal ohne FolgenSeit Wochen bestimmt der NSA-Abhörskandal die Schlagzeilen der Politik. Doch auf die Wahlabsichten der Deutschen zeigt die Affäre keine Auswirkungen. Die Menschen wer-fen der Regierung keinerlei Fehler vor, die Opposition kann nicht punkten. Das liegt daran, dass die Bürger selbst zwiegespalten sind. Auf der einen Seite wollen sie, dass mit ihren Daten kein Missbrauch betrieben wird. Doch andererseits gehen viele im Internet äußerst sorglos mit ihren persönlichen Daten um. Und wenn es um Terrorbe-kämpfung geht, ist das Verständnis für mehr Kontrollen groß. Die Bürger sehen, wie schwierig für Politiker und Parteien die Gratwanderung zwischen Sicherheitsinteressen und Interessen des individuellen Daten-schutzes ist. Überraschend ist, dass die Piraten bei diesem für sie zentralen Thema nicht profitieren können. Sie liegen weiter nur bei dürftigen zwei Prozent. Die Bürger trauen ihnen auch in diesen Fragen keine Lösung zu. In

fog

ra

fIk

: an

ga

be

n In

Pr

oz

en

t. +

/– V

er

än

de

ru

ng

zu

r V

or

wo

ch

e. w

ed

er

Me

rk

el

no

ch

st

eIn

br

üc

k: 2

4 P

ro

ze

nt.

d

at

en

ba

sIs:

250

3 b

efr

ag

te

Vo

M 1

. bIs

5. J

ul

I 20

13. n

Ich

tw

äh

le

r/u

ne

nt

sch

loss

en

e: 3

0 P

ro

ze

nt.

fe

hl

er

to

le

ra

nz

± 2

,5 P

ro

ze

nt

Pu

nk

te

. Qu

el

le

: fo

rsa

; fo

to

: ul

rIk

e l

ey

en

s

17.10 Uhr Café Rouge,

London

18.30 Uhr Little New-port Street, Chinatown

19.45 UhrShowbeginn im

Soho Theatre

19.15 Uhr Dean Street,

Soho

Mittermeier auf Tour – alle Termine unter: www.mittermeier.de

0

Bis spät nachts und morgens ab sechs Uhr dann wieder hat er über seinen Gags ge-brütet. 60 Seiten, eng be-schrieben. Kopfhörer auf den Ohren, Mumford &

Sons in Konzertlautstärke. Arbeits-alltag bei Mittermeier, nur die Wit-ze sind dieses Mal auf Englisch. „Ich fange hier noch einmal von vorne an“, sagt der 48-Jährige. In Deutsch-land füllt der Comedian Stadien. Heute Abend ist er froh, wenn 140 Zuschauer kommen.

Jetzt aber los, bald ist Einlass. Das Soho Theatre, der Kellertempel der britischen Comedy-Szene, ist nicht weit. Die Little Newport Street runter, wo chinesische Restaurant-besitzer stinkende Essensreste in blauen Müllsäcken vor die Tür wer-fen. Dann, Achtung: rechts gucken, nichts links, um die mehrspurige Shaftesbury Avenue lebend zu über-queren. Rein nach Soho, ins Künst-lerviertel von London, wo sich joh-

lende Jungs und Mädchen bereits ins Samstagabend-Koma trinken.

Von der Stadt hat er außer Soho und etwas Chinatown bisher nichts gesehen. Sightseeing? Ist nicht drin. Sicher, er freut sich, wenn auch ein paar deutsche Touristen in seine Show kommen, aber als harte Wäh-rung zählt nur ein britisches La-chen. Es ist ein Wagnis: zehn Shows als bayerischer Gast-Comedian im Mutterland des Humors, in der Heimat von Monty Python und Mr Bean. „Die Briten sind hier extrem verwöhnt. Wenn denen was nicht gefällt, gehen die einfach raus.“ Er mag das. Den Wettbewerb um die beste Pointe, den schärfsten Witz.

Gedrängel vor dem Theater, Mit-termeier mittendrin. Die Kasse mel-det: ausverkauft. Eine halbe Stunde, dann muss er auf die Bühne. Mitter-meier ist der erste deutsche Stand-up-Comedian, über den sich die Bri-ten amüsieren. „Darauf bin ich stolz.“ Vor ein paar Tagen mischte sich ein Superstar ins Publikum, Bono von U2. „Er war total begeistert“, erzählt Mittermeier. Danach waren sie noch ein Bier trinken. 2 Hannes Ross

Michael Mittermeier

Bayerischer Humor-Gast-

arbeiter in der britischen

Hauptstadt: Michael

Mittermeier in Chinatown

London, kurz nach 17 Uhr im Café Rouge, Chinatown, Ecke Charing Cross Road. Vor dem Fenster Touris-tengewusel. Michael Mittermeier nippt an einem Cappuccino. In gut zwei Stunden muss er auf der Bühne im Soho Theatre stehen.

24 11.7.2013

diese woche

AuF deM weG zuR ARbeiT

Manfred Güllner ist Chef des Forsa-Instituts in Berlin

Wenn an diesem Sonntag Bundestagswahl wäre …

STeRN-RTl-wAhlTReNd

CDU/CSUFDP Grüne Sonstige

SPD Die Linke

Wer Kanzler werden sollte …

Peer Steinbrück

Angela Merkel

Page 25: Stern 2913
Page 26: Stern 2913

Fo

to

s: D

al

la

s M

or

nin

g n

ew

s/a

ct

ion

pr

es

s; g

.j. M

cc

ar

th

y/t

he

Da

ll

as

Mo

rn

ing

ne

ws

26 11.7.2013

Page 27: Stern 2913

Um es gleich vorwegzuneh-men: Dale Irby, 63, war Sportlehrer und als solcher jemand, für den ein Trai-ningsanzug mit drei Strei-fen zur Haute Couture ge-

hört. Kleidung muss ihm passen, nicht ihn schmücken. Und doch war selbst ihm die Pullunder-Panne am Anfang ungeheuer peinlich. Das war 1974, Irby gerade im zweiten Jahr junger Lehrer in Dallas. Da sah er, dass er im Schuljahrbuch dasselbe Polyesterhemd und denselben kaf-feebraunen Pullunder anhatte wie im Vorjahr. Er trat die Flucht nach vorn an und trug das Outfit auch im nächsten Jahr. So wurde aus der Peinlichkeit ein Projekt, das Irby 40 Jahre lang durchzog. Seine Jahr-buchbilder haben etwas Tröstliches: Da wechseln über all die Jahre die Brillengestelle, und die Haare wer-den grauer, trotzdem ist immer etwas von Bestand in seinem Leben. Und während der Pullunder längst von Motten löchrig gefressen ist, kann Irby stolz darauf sein, dass er das Hemd beim letzten Mal noch immer zuknöpfen konnte – auch wenn es spannte. 2

Vorher – Nachher

Das nächste Foto, derselbe Kragen: Sport-lehrer Dale Irby trug auf seinen Jahrbuchfotos 40 Jahre dieselbe Kleidung. Am Ende hatte der Pullunder Löcher Jahr

für Jahr

11.7.2013 27

diese woche

Page 28: Stern 2913

Fot

os:

Be

rt

Bo

ste

lm

an

n/B

ild

Fol

io; a

ct

ion

pr

ess

Es klingt nach Klischee – und doch ist es Realität im Jahr 2013: Wer sich auf dem Cam-pus einer Technischen Uni-versität umsieht, erblickt – vor allem junge Männer.

Und die jungen Frauen? Studieren Romanistik. Oder Germanistik.

Dagegen spricht an sich nichts. Außer den Berufsaussichten.

Die stern-Job-Ampel, eine Unter-suchung des Bildungswissenschaft-lers Michael Weegen, zeigt: Wer jetzt Elektrotechnik, Maschinenbau oder Informatik studiert, muss sich keine Sorgen machen. Die Berufschancen sind glänzend. Es locken hohe Ein-stiegsgehälter, Jobs im Ausland und rasche Karrieren. Schlechter sieht es in den Geisteswissenschaften aus.

Trotzdem bleiben die sogenann-ten MINT-Fächer – Mathematik, In-formatik, Naturwissenschaften und Technik – eine Bastion der Männer. An den Technischen Universitäten ist nicht einmal jeder zehnte Stu-dierende weiblich. Daran konnten weder der jährliche Girls’ Day noch staatlich geförderte Initiativen viel ändern. Obwohl in den vergangenen 20 Jahren die Mädchen die Jungen bei den Bildungsabschlüssen über-holt haben, stieg die Zahl der Absol-ventinnen in den Ingenieurwissen-schaften lediglich von 14 Prozent 1995 auf 22 Prozent 2011. Bei den Elektroingenieuren stagniert dieser Wert seit Jahren bei zehn Prozent.

Andere Länder in Europa sind da schon weiter: So ist in Schweden bereits jeder vierte Ingenieur eine Frau, in Deutschland sind es nur knapp 13 Prozent.

Für viele Fächer, für die sich be-sonders Frauen einschreiben, steht die stern-Job-Ampel dagegen auf Orange oder Rot: Geschichte, Erzie-hungswissenschaft, Germanistik. Abseits von beruflichen Nischen ge-lingt Geisteswissenschaftlern der Jobeinstieg oft nur schwer. Die An-zahl der Absolventen übersteigt die Zahl der Angebote deutlich. Mit der Folge, dass die Zahl der Arbeitslosen

in diesen Fächern bei den unter 35- Jährigen hoch ist.

Der Druck auf die heutige Studen-tengeneration steigt, viele Abitu-rienten wollen sich daher nicht mehr nur auf ihre Leidenschaft für ein Fach verlassen. In diesem Jahr drängen rund 490 000 Erstsemester an die Hochschulen. Durch doppel-te Abiturjahrgänge und die Aus-setzung der Wehrpflicht fürchten viele, dass sie keinen Studienplatz bekommen werden. Und selbst mit Studienabschluss ist der Berufsein-stieg nicht sicher. Denn bei einigen Branchen stößt der Bachelor nach wie vor auf Skepsis, so mancher Per-sonalchef wünscht sich den guten, alten Dipl.-Ing. zurück. Dabei suchen viele Firmen dringend Nachwuchs, in einigen Branchen droht der Fach-kräftemangel die deutsche Wirt-schaft auszubremsen. Daher lastet die Entscheidung schwer auf den Abiturienten, die nach meist nur zwölf Schuljahren vor der Frage stehen: Was will ich studieren? Oder besser: Was soll ich studieren?

In welchen Studienfächern sind die Berufschancen gut? Das zeigt ein für den stern entwickeltes Leitsystem. Vor allem junge Frauen sollten umdenken

Jobs, Jobs, Jobs

Noch üben die Studenten am unbelebten Objekt. Nach Studienab-schluss haben Mediziner beste Chancen auf einen erfolgrei-chen Start ins Berufsleben – deswegen steht die Job-Ampel für sie auf Grün

stern-Job-Ampel 2013 Berufsaussichten der beliebtesten Studiengänge

HumanmedizinZahnmedizinVerwaltungswesenInformatikBauingenieurwesenWirtschaftsingenieurwesenElektrotechnik

PharmazieMaschinenbauChemieMathematikPhysikRechtswissenschaftSozialwesenArchitekturAnglistik/AmerikanistikLehramtPsychologieErziehungswissenschaft

Wirtschaftswissenschaften (BWL und VWL)GermanistikBiologieSoziologiePolitologie Geschichte

28 11.7.2013

diese woche

Page 29: Stern 2913

Marion SchickPersonalvorstand und Arbeits­direktorin der Deutschen Telekom ist die zweite Frau im Vorstand des Unternehmens, das sich selbst eine Frauenquote auferlegt hat. Sie sagt: „In vielen Köpfen ist der unsin­ nige Gedanke, dass Technik Männersache sei, fest verankert. Wir brauchen einen gesell­schaftlichen Sinneswandel!“

Fot

os:

Wo

lFg

an

g K

um

m/d

pa

Von Anglistik bis Zahnmedizin: Die ausführliche Analyse der Studiengänge gibt’s unter www.stern.de/jobampel

0Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem EU-Gipfel zur JugendarbeitslosigkeitProminenten in den Mund geschoben von Rolf Dieckmann

Wir müssen enger zusammenrücken,

liebe Kollegen …

… der Europäischen Union, damit wir die

Probleme lösen …

… die wir ohne sie nicht hätten!

Die Berufsaussichten für Aka­demiker generell sind gut, ihre Arbeitslosenquote liegt bei gerade einmal 2,4 Prozent. Das bedeutet quasi Vollbeschäftigung. Doch dies ist lediglich ein Mittelwert – die Chance, eine feste Stelle zu finden, unterscheidet sich von Branche zu Branche.

Michael Weegen, der Leiter des Informationssystems Studienwahl und Arbeitsmarkt (ISA) an der Uni­versität Duisburg­Essen, hat daher die Teilarbeitsmärkte für Akade­miker untersucht. „Die Aussichten für Bauingenieure und Soziologen sind beispielsweise überhaupt nicht vergleichbar“, sagt er. Bei an­gehenden Lehrern komme es nicht nur auf die Fächerkombination, sondern auch auf die Schulform an. Für angehende Juristen, von denen jedes Jahr bis zu 13 000 neu auf den Arbeitsmarkt drängen, verbessern sich dagegen die Jobaussichten. Rechtswissenschaftler kommen nicht nur im Gerichtssaal oder in Kanzleien unter, auch die IT­ Branche stellt immer häufiger Hausjuristen ein.

Für die Job­Ampel analysierte Bildungswissenschaftler Weegen drei Bereiche. Erstens Absolven­ten: Wie viel Nachwuchs strömt auf den Arbeitsmarkt, gibt es viele Konkurrenten? Zweitens Erwerbs­tätige: Wie alt sind Arbeitnehmer in den verschiedenen Branchen? Gehen viele in Rente, werden Stellen frei? Und schließlich Ar­ beitslose: Wie viele haben keine Arbeitsstelle? Wie hoch ist der An­ teil der Jungen ohne Jobs? Gemein­ sam mit dem stern entstand daraus ein Leitsystem, das die Aussichten für die 25 beliebtesten Studienfä­cher zeigt. Daran können sich Abi­turienten orientieren – Männer wie Frauen. 2 Katharina Grimm

11.7.2013 29

LUFTBLASEN

Page 30: Stern 2913

Fot

os:

Mic

ha

el

Ka

pp

el

er

/da

pd

/dd

p iM

ag

es;

ac

tio

n p

re

ss; g

ar

y g

er

ov

ac

/Ma

ste

rFi

le

; du

oM

o/c

or

Bis

; Je

an

-Ma

rie

lio

t/h

eM

is/l

aiF

; dpa

Es begann mit einem Hoch-zeitsgeschenk. Als der Infor-matiker Marco Ghiglieri, 29, vergangenes Jahr heiratete, gab es für ihn und seine Frau einen Flachbildfernseher.

Eines jener Geräte, die sich ans Internet anschließen lassen. Neu-gierig, was dabei so alles ablaufen mag, nahm der Wissenschaftler das Geschenk mit ins Labor und unter-suchte es. Das Ergebnis verblüffte ihn: „Das Gerät funkte heimlich laufend Daten ins Netz.“

Seit 2009 sind internetfähige Fernseher, sogenannte Smart-TVs, auf dem Markt. Sie empfangen das Programm normal über Satellit, Ka-bel oder Antenne. Zusätzliche Infos der Sender gelangen per Internet-anschluss zum Zuschauer. Zwei von drei verkauften Geräten enthalten die neue Technik.

Marco Ghiglieri und sein Kollege Erik Tews, 30, beide Wissenschaftler der TU Darmstadt, schauten sich das neue Gerät genauer an. Ein halbes Jahr lang beobachteten sie, welche Daten der smarte Fernseher an die TV-Sender schickt, ohne dass es der Besitzer mitbekommt. Und ohne dass die Internetfunktion des Ge-räts überhaupt benutzt wurde.

Die Darmstädter erstellten eine Studie mit dem Titel „HbbTV – I Know What You Are watching“ (Ich

weiß, was du ansiehst). Der Inhalt, im Mai auf einem Fachkongress prä-sentiert, hat’s in sich – denn TV-Sen-der riefen jede Menge Daten ab.

Bei ARD-Programmen etwa erfol-gen Abfragen teils im Minutentakt. Dies geschehe, um stets das aktuelle Internetangebot vorzuhalten, heißt es bei der ARD. Die Forscher halten das für „technisch nicht notwendig“ – es sei denn, man wolle Einschalt-quoten genauer erfassen. Keine Erkenntnisse gab es über die RTL-Gruppe. Als brav erwies sich das ZDF, es forderte nicht dauernd Daten ab.

Umso mehr entdeckten die For-scher bei Pro Sieben Sat 1. Auch hier

wird periodisch abgefragt. Zudem werden die Daten an Dritte über-mittelt. Bei einem Pro-Sieben-Test-lauf über fünf Tage tauschten die Computer des Senders und das TV-Gerät insgesamt vier Megabyte aus, das entspricht 2000 Schreibmaschi-nenseiten. 249-mal wurden Google Analytics, Chartbeat und Webtrekk kontaktiert. Alle drei protokollieren die Web-Nutzung. Zusätzlich wurde 1830-mal eine Verbindung zu Ama-zon-Servern in Irland hergestellt, ob Pro Sieben involviert war, ist unklar. All dies passierte, ohne dass je der Internetknopf des Geräts gedrückt worden wäre. Pro Sieben Sat 1 be-gründet das so: „Das ermöglicht uns zu sehen, welche Hinweise auf unse-re redaktionellen Inhalte zu welcher Tageszeit am besten funktionieren.“ Chartbeat sei inzwischen abgeschal-tet, Google Analytics folge.

„Wir wissen nicht, was mit all die-sen Daten passiert“, sagen die Wis-senschaftler. Sie vermuten, dass sie zur Entwicklung personalisierter Reklame dienen. Dafür haben sie ein Beispiel gefunden: Der Nischen-sender Anixe TV blendete alle 15 Mi-nuten Werbung ein, im Datenstrom wurde der Standort des Fernsehers übermittelt. Das Unternehmen ließ eine stern-Anfrage unbeantwortet.

Die anderen Sender betonen, alle Daten würden durch Veränderung der IP-Adresse anonymisiert. Marit Hansen vom Datenschutzzentrum Schleswig-Holstein ist trotzdem alarmiert: „Bei Smart-TVs fehlen viele Selbstschutzmöglichkeiten der normalen Internetbrowser.“ 2

Georg Wedemeyer

Schöne neue Fernsehwelt: Smart-TVs kön-nen viel – und mehr, als ihre Besitzer ahnen

Internetfähige Fernseher übermitteln heimlich jede Menge Daten an die TV-Sender – eine Studie alarmiert Datenschützer

Sie wissen, was du guckst

Wie er sich selbst siehtWie ihn Edward Snowden sieht Wie ihn Angela Merkel sieht Wie ihn seine Töchter sehen

Sehen und geSehen werden Barack oBama, hellhöriger uS-präSident

30 11.7.2013

diese woche

Page 31: Stern 2913
Page 32: Stern 2913

Blutsauger im AnflugDeutschland, ein Mückenparadies: Wegen des feuchten Frühjahrs und der nachfolgenden Wärme sind die Plagegeister in vielen Regionen besonders zahlreich. Auch die im Juni überfluteten Gebiete bilden einen optimalen Lebensraum

SEHEN UND VERSTEHEN

drei Beinpaare

Thorax

Facettenauge

StechrüsselMit ihm kann die Mücke so vielBlut saugen, dass sich ihr Körper-gewicht mehr als verdoppelt.

Flügel

gegliederterHinterleib

Fühler

Die Entwicklung

Die „Gemeine Stechmücke“ ist eine der häufigsten unter den etwa hundert europäischen Mückenarten. Ihr schlanker Körper misst bis zu sieben Millimeter, ihre Beine werden mehr als doppelt so lang. Die sogenannten Überschwem-mungsmücken sind ganz ähnlich gebaut. Egal, welche Art: Die Weibchen besitzen einen langen Stechrüssel, mit ihm saugen sie Säfte aus Pflanzen. Eine „Blutmahlzeit“ brauchen sie nur zur Eiproduktion.

Das Tier

Überwintern: Die meisten Mücken tun dies im Eistadium, manche Weibchen überstehen den Winter mit befruchteten Eiern an geschützten Orten. Sie kommen auch mit sehr niedrigen Temperaturen gut zurecht.

Im Frühjahr: Die Weibchen verlassen ihre Verstecke, die Larven aus den Winter-Eiern schlüpfen und wachsen im Wasser zu Mücken heran. Anhaltend feuchte Wärme ist ein ideales Klima: Paarungszeit.

Blutmahlzeit: Doch um über-haupt Eier bilden zu können, benötigen die Weibchen Blut-proteine. Den Weg zu ihren Opfern weisen ihnen aus-geatmetes CO2 und Körperdüfte wie Fettsäuren auf der Haut.

Eiablage: In Schwärmen aus Tausenden Männchen lassen sich die Weibchen begatten. Danach legen sie ihre Eier direkt ins Wasser oder an einen wasser-nahen Ort („Überschwemmungs-mücke“).

Schweiß

CO2

32 11.7.2013

diese woche

Page 33: Stern 2913

NORDRHEIN-WESTFALEN

BAYERN

THÜRINGENHESSEN

SCHLESWIG-HOLSTEIN

SACHSEN-ANHALT

RHEINLAND-PFALZ

SACHSEN

BRANDENBURG

BREMEN NIEDERSACHSEN

SAARLAND

MECKLENBURG-VORPOMMERN

HAMBURG

BERLIN

Die Hotspots

Gebiete mit stets hohem Mückenbefall

Gebiete mit stets sehr hohem Mückenbefall

vom Hochwasser stark betro�ene Flüsse

Dammbrüche oder Entlastungsflutungen

Mücken mögen es warm und feucht. An Orten mit hohen Durchschnittstemperaturen und in der Nähe von stehenden Gewässern oder ruhigen Neben-armen von Flüssen können sich die Tiere generell am besten vermehren. Zusätzlichen Lebensraum finden sie zurzeit in den vom Juni-Hoch-wasser betro�enen Regionen.

DauerproblemDie Auenlandschaft am Oberrhein in Baden gilt als Mückenparadies. In der 1976 gegründeten „Kommunalen Arbeitsgemeinschaft zur Bekäm-pfung der Schnakenplage e.V.“ gehen heute fast hundert Kommunen und Landkreise gegen die Tiere vor. Aus Hubschraubern werfen die Mücken-gegner ein spezielles Bakterienprotein in die Gewässer um den Rhein. Das zerstört die Därme der Larven. Auch der Spreewald südlich von Berlin und die Umgebung von Düsseldorf sind ständige Mückenreviere.

Zusätzliche Plage Erst kam das Wasser, jetzt kommen die „Über-schwemmungsmücken“: Sie legen ihre Eier vor allem an Flussufern ab, wo sie bis zu fünf Jahre überleben können. Werden sie überschwemmt, entwickeln sich schlagartig neue Mücken, die Hälfte von ihnen bluthungrige und sehr aggressive Weibchen. Sie müssen so schnell wie möglich neue Eier produzieren – bevor das Wasser wieder verschwindet.

Verwandlung: Bei optimalen Bedingungen (A), also feuchtem, warmem Wetter, durchlaufen die Tiere Larven- und Puppen-stadium rasant. Schon nach wenigen Tagen können die Mücken zu Millionen schlüpfen.

Die gute Nachricht: Verändert sich das Wetter (B), und es bleibt dauerhaft kühl oder trocken, verschwindet die Mückenplage schnell. Im besten Fall sogar schon innerhalb einer Woche – aber die Eier überdauern ...

Tipps: So wenig Haut zeigen wie möglich. Und vor einem Spazier-gang oder Grillabend einmal schnell abduschen – am besten mit Kernseife. Anti-Mücken-Sprays und Hausmittel möglichst erst individuell testen.

Passau

München

Heidelberg

Düsseldorf

Dresden

Magdeburg

RheinEm

s

Elbe

Mulde

Havel

Spree

Saale

Weser

Oder

Neiße

Donau

InnLech

Iller

Neckar

Main

Isar

A B

BADEN- WÜRTTEMBERG

Inf

og

ra

fIk

: Be

tt

Ina

ll

er

; te

xt

un

d r

ec

he

rc

he

: fe

rd

Ina

nd

dy

ck

, MIt

ar

Be

It: S

uS

e B

or

da

Sc

h; Q

ue

ll

en

: Pr

of.

dr

. Sv

en

kl

IMP

el

, BIo

dIv

er

SIt

ät

un

d k

lIM

a f

or

Sc

hu

ng

Sz

en

tr

uM

(B

Ik-f

), d

r. r

er

. na

t. d

or

ee

n W

er

ne

r, l

eIB

nIz

-ze

nt

ru

M

r a

gr

ar

la

nd

Sc

ha

ft

Sf

or

Sc

hu

ng

(z

al

f)

11.7.2013 33

Page 34: Stern 2913

24 %

Dass sie die Moderatorin

Sylvie van der Vaart gern

im Fernsehen sehen, sagen

Mit dem TV-Sender RTL schloss die 35-Jährige gerade einen millio-nenschweren Deal, sie soll weiter „Let’s Dance“ moderieren und erneut beim „Supertalent“ in der Jury sitzen. Außerhalb der Show steigert die in Hamburg lebende Niederländerin Sylvie van der Vaart ihren Marktwert durch immer neue Berichte über ihr Liebes-leben. Doch gerade mal ein knap-pes Viertel der Deutschen ist von ihren Sendungen begeistert, am ehesten noch die Jüngeren (31 Prozent). 19 Prozent der Bürger sehen sie nicht gern. Die übrigen 57 Prozent kennen sie nicht oder schauen ihre Shows gar nicht.

Sylvie van der VaartFo

to

s: s

te

rn

Ar

ch

iv; P

Asc

Al

le

se

gr

et

Ain

/ge

tt

y im

Ag

es;

imA

go

; th

om

As

& t

ho

mA

s; A

ct

ion

Pr

ess

Ulrich ist tot, der Mann, mit dem ich jahrelang zusam-men im „Tatort“ gespielt habe, und ich frage mich, ob ich eigentlich jemals wirk-lich per Du mit ihm war. Als

Holländer duze ich ja grundsätzlich die halbe Welt, Ulrich Matschoss gehörte aber zu den Menschen, bei denen mir das selbst immer ein bisschen komisch vorkam.

Er war von seinem ganzen Wesen her eine Vaterfigur, verströmte Respekt. Als ich im September 1981 beim „Tatort“ anfing, der Fall hieß „Der unsichtbare Gegner“, da war ich gerade mal 40 Jahre alt – und er schon Mitte 60. Seine Rolle in der Schimanski-Familie war zwar nicht besonders groß, aber sie war sehr wichtig: Als Kriminaloberrat Karl Königsberg musste er den wilden Hund Schimanski, den pedantischen Beamten Thanner und mich, den lässigen Holländer, unter Kontrolle halten. Dabei half ihm seine souve-räne Präsenz, seine Ausstrahlung: Er war der Boss, da gab es keinen Zweifel, das musste er gar nicht groß spielen.

Alle im Team mochten ihn, akzep-tierten seine väterliche Rolle – auch abseits des Sets. Bei den Partys nach der letzten Klappe konnte er wun-

derbare Geschichten erzählen, und vertragen konnte er auch was. Ich habe ihn allerdings nie betrunken erlebt, dafür war er zu souverän. Übrigens hatte er physisch so gar nichts von einem „Klops“, seinem Spitznamen als Kriminaloberrat. Es hat lange gedauert, bis ich ver-standen habe, dass der mit dem Nachnamen seiner Figur und den Königsberger Klopsen zu tun hat.

Als Ulrich 1991 aus der Serie aus-stieg, fehlte plötzlich etwas. Er wur-de auch nicht ersetzt. Seinen Serien-tod mit Anfang 70 hat er im echten Leben um fast 25 Jahre überlebt. Was will man als Schauspieler mehr? Ich habe immer geglaubt, er sei damals aus Altersgründen bei Schimanski ausgeschieden, bis ich irgendwann erfuhr, dass er mit über 80 noch in Hollywood gelandet war: Im Thril-ler „Red Corner“ spielte er an der Seite von Richard Gere. Für einen, der in der Kriegsgefangenschaft zu seiner Liebe zum Schauspielberuf fand, ist das doch eine wunderbare Pointe. 2

Ulrich MatschossChiem van Houweninge über den Schauspieler, der für das

Team der Schimanski-„Tatorte“ die Vaterfigur war

Chiem van Houweninge, 72, spielt den nieder­ländischen Schimanski­Assistenten „Hänschen“. Viele der Drehbücher stammen von ihm

Von Duisburg bis Holly­

wood: Ulrich Matschoss

starb mit 96 Jahren

Gesamt­kunstwerk ohne Angabe des Geburtsdatums: der Modezar bei der Vorstel-lung der Herbst/Winter-Kollek-tion von Chanel in Paris

Karl als Kind: Zu seinem Ge­burtstag 2008 ließ Lagerfeld den stern (Nr. 37/2008) ins Fotoarchiv blicken

Jede Saison neue Kollektionen. Das ist seit Jahrzehnten sein Spiel. Da-rin ist Karl Lagerfeld Meister. Alles Maskerade – das ist die Kernbot-schaft der bezopften Kunstfigur: Das Gesicht verschwindet hinter Sonnenbrille und Puder, unverhüllt sind nur die Fingerspitzen. Das Schnellfeuer-Parlando gibt nichts preis vom wahren Karl, sondern verwischt alle Spuren. Bloß nichts Echtes. Bloß nicht festlegen lassen. Schon gar nicht beim Alter. Lager-feld probiert Geburtsjahre an wie unsereins Hemden. 2008 gab er eine Party zu seinem 70. Vier Jahre später feierte er seinen 79. Und dieses Frühjahr verkündete der gebürtige Hamburger, er sei 77. Nun haben zwei Hamburger eine Anzeige ge-funden, in der Lagerfelds Eltern die Geburt ihres Karl Otto bekannt geben. Jetzt steht fest: Am 10. Sep-tember wird Karl der Große 80. Die Wahrheit über Lagerfeld trägt seine Lieblingsfarben: Schwarz auf Weiß.

Lagerfelds Altersweisheiten

34 11.7.2013

diese woche

Leute

NAchruf

WAS hALteN Sie VoN?

SterN-treND

Page 35: Stern 2913
Page 36: Stern 2913

www.stern.de/haderer Umfangreiches Archiv mit den Haderer-Cartoons

Nahöstliches Tohuwabohu

36 11.7.2013

diese woche

Haderer

Page 37: Stern 2913
Page 38: Stern 2913

von Lügen und verrat

Page 39: Stern 2913

Geheimdienste setzen gern auf Masse: Am neuen BND-Sitz in Berlin (l.) arbeiten bald 4000 Leute. Und die Agenten nutzen schon immer neue Technik – unten das Moskauer KGB-Büro. Nur über aufgeflogene Spione wird geredet: Hierzulande war es zum Beispiel Günter Guillaume (links neben Willy Brandt), in den USA Edward Snowden und die Russin Anna Chapman

Sie täuschen, tarnen und hintergehen, im Namen Ihrer Majestät, von Diktatoren oder Demokratien: Spione. Die Enthüllungen des Ex-NSA-Mitarbeiters Edward Snowden sind eine neue Episode in der langen Geschichte der GeheimdiensteVon Holger Witzel und Florian Güßgen

Gesellschaft

11.7.2013 39

Page 40: Stern 2913

Die Kriegerin: Louise de Bettignies (1880–1918) Unter dem Decknamen „Alice Dubois“ baute sie im Ersten Weltkrieg ein Netzwerk von Geheim-agenten im besetzten Teil Frankreichs auf, genannt „Alice Service“. Sie be-

schafften für die Alliierten Informationen und organisierten Fluchtrouten für Kriegsgefange-ne. Doch de Bettignies flog auf und starb kurz vor Kriegsende in deutscher Gefangenschaft.

Der Journalist: Richard Sorge (1895–1944) Zur Tarnung arbeitete er als Korrespondent der „Frankfurter Zeitung“ in Japan. Doch der russisch-deutsche Kommunist war im Zweiten Weltkrieg auch für Josef Stalin

tätig: Dank enger Beziehungen zur deutschen Botschaft kannte er die Angriffspläne der Deutschen und der Japaner und gab sie weiter. Sorge wurde 1941 enttarnt, 1944 hingerichtet.

Fünf Menschen, fünf Abgründe. Ein Bl ick in die Welt berühmter SpitzelTopSpione und ihre GeSchichTe

4

40 11.7.2013

der Befehl kam von ganz oben und war recht konkret. Ein-zeln und unauffällig sollten zwölf Spione Land und Leute er-kunden und wichti-ge Fragen vor dem Überfall klären: Sind die Menschen eher groß oder klein, stark oder schwach?

Leben sie in Festungen oder nur in Zelten? Ist der Boden fruchtbar, gibt es Bäume? „Habt Mut“, schwor sie ihr Anführer ein. Und ein paar Kost-proben sollten sie auch noch mit-bringen. Trauben am besten.

Heute würde man die verdeckte Operation in Kanaan Kriegs- und Wirtschaftsspionage nennen. Vor über 3000 Jahren bereiteten die Israeliten damit ihre sogenannte Landnahme vor. Mose schickte zwölf seiner besten Männer.

Die kamen nach 40 Tagen tatsäch-lich mit Trauben und Granatäpfeln zurück und priesen einmal mehr das gelobte Land, in dem „Milch und Honig fließen“. Aber sie berichteten auch von befestigten Städten und kräftigen Männern, die man nie-mals unterwerfen könne. Gegen die sie sich „klein wie Heuschrecken“ vorgekommen seien. Mose, so über-liefert es das Alte Testament, geriet in eine Führungskrise. Wie sehr konnte er sich auf seine Leute verlassen?

Die Spionage – das Aushorchen, das Beobachten, der Verrat – gehört von der Antike bis zur Gegenwart zum Handwerk der Eroberer und der Mächtigen, von Mose bis Barack Obama. Die Spionage ist Teil des menschlichen Verhaltensreper-toires. Die Logik ist einfach: Wer mehr weiß als der Gegner, hat die Kontrolle. Und wer die Kontrolle hat, der siegt. Gegen die Menschen in Kanaan. Oder gegen die Russen. Oder gegen islamistische Terroris-ten. Weil es um so viel geht, den vielleicht entscheidenden Vorteil im Ringen um die eigene Existenz, dringen Spione in die innersten Zirkel der anderen vor; deshalb zah-len sie oft jeden Preis für Geheim-nisse, auch jeden menschlichen Preis.

Spione täuschen, belügen, betrü-gen, um das eine, entscheidende Stück Wahrheit herauszufinden, sich den vielleicht entscheidenden Vorsprung zu verschaffen. Sie wer-

den zu Verrätern, um Helden zu werden. Wo haben die anderen ihre Truppen? Und wie viele? Wie weit sind die mit der Atombombe? Und welche Baupläne haben sie? Wer sind die Schläfer unter uns?

Es ist dieser Grenzgang zwischen Mut und Meineid, Schneid und Skrupellosigkeit, Tat und Untat, die Melange aus menschlichen Ab-gründen, sanfter Verführung und brutalem Hintergehen, die das Ge-schäft der Spione ebenso faszinie-rend erscheinen lässt wie die Arbeit der Geheimdienste, das Schicksal der Nackttänzerin Mata Hari eben-so wie die Missionen der CIA oder des sagenumwobenen israelischen Geheimdienstes Mossad. Die Ge-schichte ist voll von Figuren mit dramatischen Schicksalen, voll von Sex und Crime, immer im Rand- bereich der großen Politik, ob im simplen Schwarz-Weiß des Kalten Krieges oder in der komplizierten Welt nach den Anschlägen des 11. September 2001. Kein Wunder, dass in Ian Flemings Fiktion das Über leben der menschlichen Zivi- lisation immer wieder von der Mannes kraft des Superspions James Bond abhing – im „Dienst Ihrer Majestät“ und der westlichen Welt.

Sie wollen alles wissen. AllesUnd doch zeigen die Enthüllungen Edward Snowdens über die Sam-melwut der amerikanischen NSA und des britischen Geheimdiens-tes, dass die Spionage der Gegen-wart eine neue Stufe erreicht hat: Per Knopfdruck eines Beamten ir-gendwo in den USA können die Agenten in das Privateste fast jeden Bürgers westlicher Staaten eindrin-gen. Die Dienste sind einem Ziel nahe, von dem ihre sinistren

Page 41: Stern 2913

Fot

os:

Da

viD

vo

n B

loh

n/n

ur

Ph

ot

o/a

ct

ion

Pr

ess

; ev

er

et

t c

ol

le

ct

ion

/ac

tio

n P

re

ss; t

he

Gr

an

Ge

r c

ol

le

ct

ion

/ul

lst

ein

; DPa

; sy

Gm

a/c

or

Bis

(2)

; Fr

an

co

is G

. Du

ra

nD

/Ge

tt

y

Held oder Verräter? Sie haben sich entschie-den. Die Demonstranten vor dem Berliner Kanz-leramt wollen, dass Deutschland Edward Snowden Asyl gewährt.Die Jagd auf ihn begann am 9. Juni, als die briti-sche Zeitung „Guardian“ ein Videointerview mit ihm veröffentlichte. Snowden, 30 Jahre alt, Amerikaner, hatte für die NSA gearbeitet – bis er auspackte. Erst enthüllte er, dass der US-Geheimdienst direkten Zugang zu den Nutzerdaten großer US-Internetkonzerne hat; dann, dass der britische Geheimdienst alle Daten abzapft, die über ein wichtiges Glas-faserkabel von Europa in die USA fließen – und dass die Amerikaner auch die EU ausspionie-ren. Snowden sucht nun ein Land, das ihm dauerhaft Asyl gewährt

Im Auftag Moskaus – das Ehepaar Ethel und Julius Rosenberg, beide Kommunisten. Der Vorwurf: Atom- spionage. Sie wurden 1951 in den USA zum Tod verurteilt – eine ungewöhnlich harte Strafe in Friedenszeiten. Selbst der Papst pro- testierte. Vergebens. 1953 starben beide auf dem elektrischen Stuhl

Der Verführer: Markus Wolf (1923–2006) Er leitete 34 Jahre lang den Auslandsnachrichten-dienst der Stasi und eta-blierte die „Methode Ro-meo“: Er setzte charmante Spitzel auf Sekretärinnen in BRD-Behörden an, sie

gaukelten Liebe vor. Ein Opfer: Leonore Süt-terlin im Außenministerium. Ein Spion hatte sie „gezielt nachrichtendienstlich geheiratet“. Sie beging Selbstmord, als sie es erfuhr.

Die Verratene: Valerie Plame, geboren 1963 Die CIA-Agentin war Spezialistin für den Nahen Osten. Sie wurde 2003 in einem Zeitungs-artikel geoutet, in dem es um ihren Mann ging, den Diplomaten

Joseph Wilson. In einem Nebensatz stand, dass sie Agentin sei. Es gilt als erwiesen, dass die US-Regierung Plame verriet, weil sie die Dienste des Paars nicht mehr wollte.

Der Verräter: Aldrich Ames, geboren 1941 Schon Ames’ Vater hatte bei der CIA gearbeitet, er selbst fing mit Anfang 20 dort an, wurde später Ab-teilungsleiter „Gegenspio-nage UdSSR“. Tatsächlich spionierte er für die Rus-

sen. Etwa drei Dutzend US-Spitzel hat er ver-raten, für einige endete das tödlich. Sein Motiv: Geld. Mehrere Millionen Dollar zahlte der KGB. 1994 flog Ames auf, er bekam lebenslänglich.

Fünf Menschen, fünf Abgründe. Ein Bl ick in die Welt berühmter Spitzel

11.7.2013 41

Page 42: Stern 2913

Eli Cohen wurde am 18. Mai 1965 in Damaskus gehängt. Der Agent des israelischen Mossad pflegte in Syrien ein Image als Juden- hasser, erfuhr so von neuen Waffen, wurde angeblich als syri-scher Verteidigungs-minister gehandelt. Er flog auf, als er nachlässig wurde, weil er nach Hause zu seiner Familie wollte. Alle Versuche Israels, den Meisterspion auszutauschen, scheiterten.

US-Verteidigungsministerium arbeiten, 150 Fälle bekannter Spitzel untersucht. Allesamt US-Bürger, die aufgeflogen waren. Für 69 Prozent war der versprochene Lohn der Hauptgrund. Aldrich Ames zum Beispiel, der Amerikaner, der für die Sowjets spionierte, leistete sich von den Geheimdienst-Millionen ein großes Haus und einen Jaguar. Und dann sind

aus ihrer Stadt verbannt. Aus Sehnsucht und Geldnot also wurde der große Frauenheld und Lebemann Giacomo Casanova im Jahr 1774 zum Spion für die Venezianer – um wieder in der Hafenstadt leben zu dürfen. Persönliche Krisen wie seine können ein Motiv sein, Spion zu werden. Aber da sind viele weitere.Aber immer wieder geht es vor allem um Geld. 2004 haben Forscher, die für das

Sie wollen alles über uns wissen. Aber wir würden auch gern alles über sie wissen. Wer sind diese Spione? Warum machen sie das? Leider kann man Agenten nicht einfach befragen. Es bleiben nur die Enttarnten. Ihre Geschichten liefern Anhaltspunkte über ihre Herkunft, ihre Motive und ihre Träume.Casanova war pleite, und er wollte nach Hause, unbedingt. Die Venezianer hatten ihn

Die Biografien der Aufgeflogenen geben Aufschluss über mögliche Gründe für ein Leben als Spitzelwer wird spion – und warum?

42 11.7.2013

Vorgänger, vom französischen Kar-dinal Richelieu bis hin zu den Schergen des Stasi-Regimes, nur geträumt haben: Sie können alles erfahren. Alles, alles.

Was einen Spion zu einem guten Spion macht und wie der kluge Herrscher seine Kundschafter hegt und pflegt, das hat bereits der chinesische General und Philosoph Sunzi beschrieben, etwa 500 Jahre vor Christus. Seine Schrift „Die Kunst des Krieges“ dient in Mili- tärakademien und Management- seminaren bis heute als eine Art Strategie-Bibel. Der erleuchtete Herrscher, heißt es darin, werde die Intelligentesten seiner Armee als Spione einsetzen und so hervorra-gende Erfolge erzielen.

Keine vertrauteren Beziehungen als zu Spionen dürfe er, der Herr-scher, pflegen und nicht mit Silber-unzen für sie geizen. Ihr Charakter müsse vorher auf Rechtschaffenheit geprüft werden. Nur undurchschau-bare Spione seien noch gefährlicher als jede Unternehmung ohne sie. Dabei wollte sich der Chinese weder auf die Technik noch auf die Wissen-schaft verlassen. Geister-Orakel und mathematische Schlüsse könn-ten Menschen nicht ersetzen, wenn es darum gehe, „Vorauswissen“ über den Gegner zu erlangen.

Die Deutschen – taub und plumpErfolgreiche Strategen wie Napo-leon und die vielen intriganten Fürsten des alten Europas kannten Sunzis Regeln und hatten sie verin-nerlicht. Zwischen ihren zahlrei-chen Kriegen lieferten sich alle Königshäuser Spionageschlachten – um Erbfolge und Allianzen, mit Päpsten und Barbaren rundum. Während die klassischen Groß-mächte England und Frankreich, aber auch Spanien und Österreich-Ungarn in den Phasen ihrer Macht und Ausbreitung bereits Hoch-Zei-

Page 43: Stern 2913

Fot

os:

ul

lst

ein

; dpa

; sv

en

sim

on

Rechts: Er war dem Kanzler so nahe. Der unauffällige Herr hinter Willy und Rut Brandt – ein Stasi-Spitzel. Günter Guillaume (1927–1995), gebürtiger Berliner, trat 1957 der SPD bei und stieg zum persönlichen Referenten des Bundes-kanzlers auf. 1974 wurde er wegen des Verdach-tes auf Spionage festge-nommen. Die Verhaf-tung war einer der Gründe für den Rück-tritt Brandts. 1981 konn-te Guillaume dank eines Agentenaustausches in die DDR ausreisen. Oben: Die Glienicker Brücke bei Potsdam ist als „Agentenbrücke“ in die Geschichtsbücher eingegangen. Hier fanden drei Austausch-aktionen zwischen den USA und der Sowjetunion statt

da die Überzeugungstäter, die für ihre politische Ideologie spio nieren, und jene, die Rache üben wollen für ein Unrecht, das ihnen ein Regime angetan hat. Einige spionieren auch, weil sie ein Familienmitglied darum bittet, also aus sozialem Druck. Andere werden unter Druck gesetzt, in der DDR zum Beispiel nutzte die Stasi Erpressung als Mittel der Rekrutierung. Die

Die Biografien der Aufgeflogenen geben Aufschluss über mögliche Gründe für ein Leben als Spitzel

US-Forscher räumten in der Studie mit einem beliebten Klischee auf: Für die meisten sei der Kick und die Aufregung, die ein Agenten-leben bringt, allenfalls zweitrangig.Spione sind übrigens zu 93 Prozent Männer. Und sie sind jung: 46 Prozent steigen vor dem 30. Lebensjahr in das Spionagegeschäft ein. Mehr als die Hälfte sind beim Einstieg schon verheiratet. 4

11.7.2013 43

ten der Geheimdiplomatie erlebt hatten – mit berühmten Strippen-ziehern wie eben Richelieu, Joseph Fouché oder dem Wiener Fürsten Metternich –, spielten die deut-schen Kleinstaaten in dem Ge- werbe lange keine große Rolle. Und waren den Methoden und Techniken der Großmächte nicht gewachsen.

Mit den Weltkriegen und den brutalen Diktaturen dieser Zeit samt Geheim-polizei, getrieben vom technischen Fortschritt,

schlug auch in Deutschland die gro-ße Stunde der Geheimdienste. Das 20. Jahrhundert gilt als Blütezeit der gesamten Branche. Der Kalte Krieg zwischen Ost und West prägte nachhaltig alle Klischees vom aben-teuerlichen Agentenleben, von Be-schattungen, toten Briefkästen und Schlapphüten, Mikrofilmen und Morden mit der Regenschirmspit-ze, aber auch vom Agentenaus-tausch. Das zum Teil groteske Spiel von Doppelagenten, Über- läufern und Abhörorgien wurde dabei gern in neutralen Ländern wie der Schweiz oder Österreich in-szeniert.

Die Geschichten aus jener Zeit sind ebenso faszinierend wie ver- wirrend. Bei Topspionen wie dem legendären Kim Philby etwa weiß bis heute angeblich niemand, auf wel-cher Seite der Mann wirklich stand. Erst galt der Cambrigde-Absolvent wie vier seiner Studienfreunde als glühender Kommunist. Er beliefer-te die Russen, ließ sich dann aber auch vom britischen Geheimdienst MI6 anwerben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war er Verbindungsmann zur CIA, aber teilte sein Haus immer noch mit einem Freund, der später als Sowjet-Agent enttarnt wurde. Philby stand immer wieder unter Verdacht, er-hielt aber auch Orden, wurde in den Ruhestand genötigt und tauchte als MI6-Agent im Nahen Osten wieder auf. 1963 beantragte er politisches Asyl in Moskau und ar- beitete weiter beim KGB. Befreun-det war er bei alldem mit dem ehemaligen MI6-Agenten und Au-tor Graham Greene. Irgendwann soll Philbys Geschichte den Schriftstel-ler John Le Carré zum Roman „Dame, König, As, Spion“ inspiriert haben. Der Rest ist Fiktion. Kom-men Sie noch mit?

Page 44: Stern 2913

Mata Hari (1876–1917), die wahrscheinlich bekannteste Spionin der Geschichte. Jedoch überragte ihre Selbst-darstellung als Femme fatale wohl ihre Leistung als Spitzel. Mata Hari war ihr Künstlername, die Niederländerin war Tänzerin und hieß bürgerlich Margaretha Geer truida Zelle. Sie wurde wegen Spiona-

ge in Frankreich zum Tode verurteilt, hatte angeblich als Doppel-agentin für Frankreich und Deutschland gearbeitet. Doch bis heute ist unklar, ob und an wen sie bri- sante Informationen weitergegeben hat. Das Bild oben zeigt ihre Hinrichtung am 15. Oktober 1917 nahe Paris. Sie verzichtete auf die Augenbinde

China ist mit mehreren Diensten aktiv. Das Ministe-rium für Staatssicherheit (MSS) hat Oppositionelle

(etwa Tibeter) und die Wirtschaft auf dem Schirm, der Militärdienst MID Militär und Wis-senschaft. Firmen bemerken regelmäßig digi-tale Spähangriffe mit Spuren zu chinesischen Hackern. Der parteieigene Dienst „Büro 610“ überwacht auch in Deutschland die system- kritische Meditationsbewegung Falun Gong.

Über Aktivitäten des israeli-schen Mossad auf deutschem Boden steht im Verfassungs-schutzbericht kein Wort.

Die Stuxnet-Cyberattacke auf das iranische Atomprogramm wird von dem NSA-Ent- hüller Snowden der NSA und dem Mossad zugeschrieben. Die Sabotage-Software legte Industrieanlagen von Siemens lahm. Und somit war auch dieser deutsche Konzern direkt oder indirekt ein Angriffsziel des Mossad.

Die CIA (Central Intelligence Agency) ist der wichtigste von 16 Geheimdiensten der USA. Im befreundeten Deutschland

fließen die Informationen vor allem über die Berliner Botschaft und Konsulate. Neben der NSA, die Kommunikationsleitungen und Funkverkehr anzapft, ist auch die dem Militär angegliederte DIA (Defense Intelligence Agency) mit Agenten tätig. Ihr Hauptquartier liegt in einer Stuttgarter Kaserne.

Ausländische Geheimdienste interessieren sich für Bürger im Exil genauso wie für Industriegeheimnissewer in deutschland spioniert

44 11.7.2013

Page 45: Stern 2913

Fot

os:

h. r

og

er

vio

le

t; N

AM

Ur

-lA

lA

NC

e/s

iPA

Das syrische Regime kämpft mit seinem allgemeinen und dem militärischen Geheim-dienst in Deutschland gegen

seine Gegner. Bei Demonstra tionen werden Exil-Syrer identifiziert, um sie durch Repres-sionen gegen Angehörige in der Heimat unter Druck zu setzen. Vier syrische Diplomaten wurden 2012 wegen Spionage ausgewiesen, ein Deutsch-Libanese wurde in Berlin als syrischer Spion verurteilt.

Der Iran steuert die Aktivitä-ten des Nachrichtendienstes MOIS von der Botschaft in Berlin aus. Neben Wirt-

schaftsspionage und verdeckter Beschaffung von Technologie zum Beispiel für das Atom-programm werden Oppositionsgruppen ausgeforscht. Rückblick: 1992 wurden in Berlin vier Anführer der kurdischen Minderheit im Iran im Restaurant „Mykonos“ ermordet. Einer der Täter war früher beim Geheimdienst Irans.

Der russische zivile Auslandsgeheimdienst SWR (früher KGB) nutzt Methoden aus dem Kalten

Krieg. Vor Kurzem wurde ein Agentenehe- paar in Stuttgart verurteilt, das über 20 Jahre lang Hunderte Dokumente von Nato und EU nach Moskau geliefert hatte. Aber auch elektronische Angriffe etwa über präparierte Trojaner-E-Mails an Behörden oder Firmen werden russischen Diensten zugeschrieben.

Ausländische Geheimdienste interessieren sich für Bürger im Exil genauso wie für Industriegeheimnisse

4

11.7.2013 45

Dabei ist es keineswegs so, dass sich Drehbuch- und Roman-Auto-ren nur an den Spionen orientiert hätten. Auch umgekehrt funktio-nierte der Ideenaustausch: Agenten klauten bei Schriftstellern und Regisseuren. So soll es beim KGB eine Spezialeinheit gegeben ha- ben, die sich mit dem Nachbau von Spionagetechnik aus Filmen be-schäftigte.

Der wohl berühmteste Fall inner-deutscher Spionage trägt den Na-men Günter Guillaume. Der hatte in der kurzen Phase der westdeutschen Entnazifizierung seine Zugehörig-keit zur NSDAP verschwiegen – eine Steilvorlage für die Stasi, das Minis-terium für Staatssicherheit der DDR, ihn diskret zur Mitarbeit zu bewegen. Guillaume galt als Orga-nisationstalent. In der westdeut-schen SPD arbeitete er sich über Jahre bis zum Assistenten des Bun-deskanzlers hoch. Guillaume saß schließlich im Machtzentrum der Bonner Republik.

Markus Wolf, Stasi-Auslandschef und lange als „Mann ohne Gesicht“ berüchtigt, verdankte seiner Top-Quelle regelmäßige „Stimmungs- berichte“ aus dem Kanzleramt. Da-runter fiel zum Beispiel auch die Einschätzung, dass Willy Brandts Ostpolitik keineswegs ein taktisches Manöver war, sondern ernst ge-meint. Umso bitterer war es für die Stasi und die DDR, dass mit Guil-laumes Verhaftung im April 1974 auch die Ära Brandt zu Ende ging. Der erste SPD-Kanzler der Bundes-republik musste zurücktreten. Ein paar Jahre später wurde der Spion gegen andere ausgetauscht und in der DDR als „Kundschafter des Frie-dens“ gefeiert.

Spionen ist oft nichts Menschli-ches fremd. Besonders perfide war jedoch die Taktik der sogenannten

Romeo-Spione, die von der Stasi in den 60er und 70er Jahren in ganzen Rudeln auf westdeutsche Sekretä-rinnen angesetzt wurden, die bei der Nato in Brüssel oder in Minis-terien arbeiteten. Die Stasi-Offizie-re im besonderen Einsatz waren nicht nur charmante Liebhaber, sondern hielten die Lüge oft jahre-lang durch oder überredeten ihre Frauen sogar noch selbst zur Mit-arbeit. Wie im Fall des Ehepaars L. im Bonner Verteidigungsministe-rium. Einmal wurde L. von einem Bundeswehroffizier beim Fotogra-fieren von Unterlagen erwischt und mit dem Scherz bedacht, Spionieren sei hier aber verboten. Erst Monate später flog das Ehepaar auf. Die Sekretärin Leonore Sütterlin – nach der Inhaftierung ihres Ehemannes erstmals mit der Liebeslüge kon-frontiert – nahm sich in der U-Haft das Leben.

Hauptmotive: Geld und GlaubeEtwa 2500 Jahre nach dem chinesi-schen Spionage-Theoretiker Sunzi – und mit mehr historischem Mate-rial – hat der Geheimdiensthistori-ker Wolfgang Krieger die Theorie verfeinert, wie Menschen zu Spio-nen werden. Ihm ging es dabei nicht so sehr um schillernde Figuren, die Stars der Spionage-Historie, wie etwa jene niederländische Nackt-tänzerin Margaretha Geertruida Zelle, Mata Hari genannt, die mal für die Deutschen, mal für die Franzo-sen spioniert haben soll – und am Schluss als „größte Spionin“ des Ers-ten Weltkriegs hingerichtet wurde. Krieger hält die „unscheinbaren Be-schaffer“ hinsichtlich ihrer Spiona-geerträge für viel erfolgreicher: die Hausangestellte oder den Pferde-knecht, einfache Soldaten, Wander-arbeiter oder Gaukler, die durch die Städte und Dörfer ziehen. Das

Page 46: Stern 2913

Die Waffen Der agenten Sie sind gut getarnt und im Notfall tödlich

Fotos im Vorübergehen In diesem Schuh (um 1950) hat der KGB eine Kamera versteckt. Die Linse zeigt seitlich hinaus. Die Sohle lässt sich öffnen

Giftiger Schuss aus der Uhr Aus dem Stellrädchen kommt die mit Gift ver- setzte Kugel. Erfunden um 1920 von den Deutschen

Eine Erdnuss zum StechenDie Amerikaner lieben Peanuts. Diese Erdnuss bau-ten sie in den Siebzigern. Das Messer darin kann bei Gefahr gezückt werden

Rauchen schadet der Gesundheit Vorn besteht die Pfeife (um 1980) aus edlem Holz. Doch im Inneren haben die Briten einen Sprengsatz montiert

Scharfer LippenstiftStammt auch aus den USA, eignet sich aber wohl nur für weibliche Agenten. Männer nutzen stattdessen besser die Pfeife rechts

Fot

os:

sp

ion

ag

em

use

um

ob

er

ha

use

n

Das hat jeder schon mal erlebt: einmal falsch geklickt, und der ganze, mühsam geschriebene Text ist weg. Oder die Fotos sind verschwunden. Aber sind die Daten wirklich gelöscht? Wenn die Enthüllungen des Whistleblowers Edward Snowden zutreffen, dann könnten die Geheim-dienste eventuell mit einer Sicherungskopie helfen. Sie spionieren fast alles aus und speichern das meiste auch ab. Allein der britische Geheim-dienst GCHQ soll im süd-englischen Bude alle Daten vom transatlan- tischen Telefonkabel abgreifen. Und wer seine Informationen etwa bei Google, Microsoft, Yahoo, Facebook oder AOL virtu-ell speichert – also nicht auf der eigenen Festplat-te –, dessen Daten fließen angeblich direkt zum US-Geheimdienst NSA. Der weiß auch, mit wem wir wann, wo und wie

lange telefoniert haben. Diese sogenannten Meta-daten füllen die riesigen Server der Geheimen. Und die eigene Fest- platte? Können die Diens-te auch darauf zugreifen? Theoretisch ja. Durch Trojaner, also Schadpro-gramme, könnten sie sich direkt in unsere Rechner einnisten und jeden Tipper auf der Tastatur verfolgen. Das passiert aber nur jemandem, der zur Zielperson geworden ist. Man müsste sich also verdächtig gemacht haben, sonst wird es wohl keine Kopie der eigenen Festplatte geben – zu-mindest weiß man bisher nichts darüber. Doch selbst wenn die Dienste alle diese Daten hätten, sie würden sie nicht frei-willig rausgeben. Deshalb ein Tipp: lieber regel- mäßig zwischenspeichern und ab und zu eine Siche-rungskopie, zum Beispiel mit einer externen Fest-platte, machen.

Die eigenen Daten weg, ein Missgeschick. Und nun? Können die Dienste helfen?

Mr. President, bitte melden!

Ein Facebook-Scherz, der immer realistischer erscheint

4

46 11.7.2013

digitale Privatsphäre. Hält er sich zurück? Oder greift er zu? Snowden hat das wütende, geheime Zugreifen offenbar nicht mehr ertragen.

Dabei ergibt sich auch die Sam-melwut der NSA und anderer Ge-heimdienste zwingend aus dem ge-netischen Imperativ jedes Spiona-gesystems: Sammle alles. Speichere. Werte aus. Mit allen verfügbaren menschlichen und technischen Mitteln. Nur haben sich die techni-schen Möglichkeiten so rasant und umfassend entwickelt, dass der Spionage scheinbar keine Grenzen mehr gesetzt werden können – und auch demokratische Staaten den Verlockungen kaum widerstehen können.

Jagten Spione zunächst mensch-liche Boten, dann Brieftauben, ent-schlüsselten sie irgendwann tele-grafische Signale, so sind sie heute vor allem hinter Bits und Bytes her, digitalen Informationen, die unse-re gesamte Existenz auf die Größe eines USB-Sticks zusammen-schnurren lassen. Telefongespräche, E-Mails, Facebook-Posts, all das lässt sich mit der richtigen Technik raf-fen, rastern und bewerten. Moder-ne „Aufklärungstechniken“ fangen längst fast alles ab, was wir an digi-talen Spuren hinterlassen. Dass Aufklärungsdrohnen aus großer Höhe, Satelliten sogar aus dem All, mit uns auf der Erde Zeitung lesen können, war bekannt. Dass sich gute Teile der gesamten digitalen Kom-munikation einfach dadurch spei-chern lassen, dass Spione ein faust-dickes Glasfaserkabel auf dem Mee-resgrund anzapfen, das dagegen ist neu. Der Vorgang erscheint sogar simpler als der Versuch, eine flat-ternde, durch und durch analoge Brieftaube zu fangen – und ist in seiner Dimension doch ungleich ge-waltiger.

seien „oft bindungslose Leute“ ge-wesen, sagt der Historiker. „Jemand muss Zugang zu Informationen ha-ben, und er muss un- auffällig sein. Wer würde schon glauben, dass das Küchenmädchen wichtige Briefe beschaffen kann?“ Es ist der Spion von nebenan, den er be-schreibt, der Verräter. Geld war da-bei zu allen Zeiten Motiv – und nicht nur für die niederen Stände. Selbst der Frauenheld Giacomo Casanova lauschte im 18. Jahrhun-dert für die Venezianer vor allem deshalb, weil er schlicht klamm war.

Ist es nicht das Geld, so war und ist es der Glaube, der Spione an-treibt. Der Glaube an einen Gott, an eine Ideologie, an ein System. Richard Sorge etwa, getarnt als Journalist und Korrespondent der „Frankfurter Zeitung“ in Japan, ver-pfiff die Deutschen vor allem des-halb an Josef Stalin, weil er an den Kommunismus glaubte, an eine neue Welt. Auch er wurde enttarnt – und 1944 in Tokio hingerichtet. Es ist wohl die Überzeugung, die die wa-gemutigsten Spione befeuert. Und die Überläufer.

Spionage am MeeresgrundMenschen wie auch Edward Snow-den, der nun zur Öffentlichkeit übergelaufen ist, um die NSA-Spio-ne zu entblößen und sie an den globalen Pranger zu stellen. Snow-den beruft sich auf seine Überzeu-gung, seinen Glauben an ein anderes Amerika, ein Vorbild an Demokratie, das es nicht nötig hat, Bürger flächendeckend auszuspä-hen. Für Snowden, aber auch die meisten Bürgerrechtler, ist die zen-trale politische Frage heute, wie der Staat mit den technisch jederzeit verfügbaren Daten seiner Bürger umgeht, wie tief er eindringt in die

Page 47: Stern 2913
Page 48: Stern 2913

48 11.7.2013

mus ist auch die Ängstlichkeit in Demokratien gewachsen“, sagt Krie-ger. Seitdem werden auch hierzu-lande unschuldige Bürger in einem Maße überwacht, wie man das bis-her nur aus Spielfilmen wie „Das Leben der Anderen“ kannte. Die politische Aufgabe liegt für Krieger auf der Hand: „Wir müssen ständig neu definieren, wo die Grenze zwi-schen dem legitimen Streben nach Sicherheit und den Freiheitsrechten der Bürger ist.“

Worin der Nutzen all der Sammel-wut besteht, ist ohnehin umstritten. Die Erfolgsgeschichten bleiben ne-bulös, mit denen Barack Obama sein Schleppnetz im Internet rechtfer-tigt. Konkret werden dagegen im-

mer nur die Fälle, in denen alle tech-nische und menschliche Spionage nichts nutzte und niemand ausrei-chend vorbereitet war: der japani-sche Angriff auf Pearl Harbor, die Anschläge des 11. September 2001, die Attacken in London und Boston.

Dass es, trotz aller Technik, letzt-lich wieder ein Mensch war, der den jüngsten Spionageskandal ausge-löst hat, hat durchaus etwas Beruhi-gendes. Es war kein NSA-Computer, der die Seiten wechselte und sich an die Weltöffentlichkeit wandte, son-dern mit Edward Snowden ein 30-jähriger Amerikaner mit vier Laptops in der Tasche und einem – nach allem, was man heute weiß –

Bond mit Turnschuhen und Kaffee-tasse in einem NSA-Rechenzentrum beobachten. Die Spione kommen nicht mehr aus der Kälte, sondern haben sich durch Abertausende Nächte vor Computerbildschirmen qualifiziert. Sie sind Hacker, Nerds, Beamte. Nicht nur das Böse ist fast schon komisch banal, auch der Verrat.

Das älteste Spionage-DesasterDass über die Ethik der Spionage gesprochen wird, ist historisch gese-hen ohnehin relativ neu. „Die Ge-heimdienste sind erst in den letzten Jahrzehnten Gegenstand der öffent-lichen Diskussion geworden“, sagt Wolfgang Krieger. Bis zum Zweiten

Weltkrieg seien die Dienste tatsäch-lich auch weitestgehend geheim ge-wesen. Von vielen wusste die Öffent-lichkeit nicht einmal, dass es sie gab. Aber selten, wohl nie, wurde Sinn und Zweck der Geheimdienstarbeit in so grellem Licht diskutiert wie in den vergangenen Wochen, seit klar ist, dass offenbar auch demokrati-sche Regierungen mehr Angst vor inneren und äußeren Feinden ha-ben, als ihnen die Grundrechte ihrer Bürger und Verbündeten wert sind.

Die Arbeit von Geheimdiensten ist auch immer Ausdruck von Angst, einer Furcht, die aus dem Gefühl entsteht, die Kontrolle zu verlieren. „Durch die Bedrohung des Terroris-

Ein komisch gemeinter Post auf einer Facebook-Seite illustrierte die Wirklichkeit dieser schönen neuen Welt am vergangenen Wochenende deutlicher als viele wortreiche Ana-lysen. „Lieber Barack Obama, liebe CIA und NSA“, schrieb dort jemand. „Mir ist heute meine Festplatte ka-putt gegangen. Frage: Könntet Ihr mir bitte eine Kopie meiner Daten schicken? Porto übernehme ich, dan-ke.“ Es ist das Absurde der neuen Welt, dass selbst diese absurde For-derung technisch nicht absurd ist.

Die digitale Technik schafft so auch eine neue Qualität der Spiona-ge. Sie erlaubt es den Spitzeln welt-weit, ihren Zielobjekten ganz nah zu kommen – und doch in der Ferne zu

bleiben. Wenn heute über die Ethik des Tötens diskutiert wird, weil Sol-daten von Kasernen in den USA aus Kampfdrohnen in Afghanistan steuern, dann findet diese Entwick-lung auch in der Spionage ihre Ent-sprechung. Er brauche nur Angaben zum Facebook-Konto oder der E-Mail eines Zielobjekts – und könne dann die gesamte digitale Kommunika-tion jeder x-beliebigen Person beob-achten, sagte Edward Snowden.

Sicher, die menschlichen Spione, jene, die sich in Gesellschaften ein-schleichen, die gibt es immer noch. Aber zumindest die westliche Welt lässt sich, davon müssen wir jetzt ausgehen, bequem von einem James

Page 49: Stern 2913

Seitdem er weiß, wie viele digitale Spuren gerade Smart-phones hinterlassen, ist Autor Holger Witzel wieder auf ein altes Handy umgestie-

gen. Bei der Recherche unterstützt haben ihn Florian Güßgen, Dirk Liedtke, Andrea Rungg und Lara Wiedeking

Lesen Sie zum gleichen Thema:Fragen an deutsche Politiker: Was haben Sie gewusst? Auf Seite 50/51

al

le

Fo

to

s se

ite

38/

39: e

UR

olU

FtB

ilD

.De

; Re

Ut

eR

s; a

ct

ion

pR

ess

; Mik

ha

il k

oR

ol

ev

11.7.2013 49

schlechten Gewissen für das, was er vorher getan hatte. Sein Verdienst ist es, ein Licht auf die Spionage der Gegenwart zu werfen.

Wie es mit Snowden nun weiter-geht, ist offen. Sicher ist, dass es auch ein Leben danach geben kann – und selbst Moskau dafür nicht einmal ein schlechter Platz sein muss. Nachdem etwa Anna Chapman in den USA als russische Agentin aufgeflogen war, moderiert sie hier immerhin eine Fernsehshow – und scheut auch sonst keineswegs die Öffentlichkeit. In verschiedenen russischen Maga-zinen konnte man sie leicht beklei-det sehen, Edward Snowden hat sie per Twitter einen Heiratsantrag ge-macht. Bei Chapmann ist mittler-weile nur noch wenig geheim.

Einerlei, was mit Snowden ge-schieht, ob er als Held oder Verräter in die Geschichte ein-geht, der blasse Mann ist längst zum Spielball der

Mächte geworden, von Chinesen, Amerikanern, Russen, aber auch la-teinamerikanischen Machthabern. Ex-KGB-Offizier Wladimir Putin, heute und vermutlich für immer Präsident in Russland, musste nicht mal lachen, als er Snowden die Asyl-bedingung stellte, „unseren ameri-kanischen Partnern“ keinen weite-ren Schaden zuzufügen.

Im 4. Buch Mose überlieferte das Alte Testament nicht nur eine der frühesten Schilderungen von Spio-nage, sondern auch eine der ersten Schilderungen eines Spionage-De-sasters. Denn Moses Spione kamen zurück und dramatisierten ihre Er-lebnisse: Kanaan fräße seine Be-wohner, sogar Riesen gäbe es dort. Mose verzichtete auf den Angriff, sein Volk wollte vor Verzweiflung am liebsten wieder zurück in die ägyptische Sklaverei. Zur Strafe für ihr verlorenes Vertrauen ließ Gott sie weitere 40 Jahre heimatlos durch die Wüste irren. 2

Page 50: Stern 2913

Jürgen TrittinFraktionschef der Grünen

Bereits vor zwanzig Jahren gab es Hin-weise auf Spionage

der NSA gegen Deutschland. Allein, das Ausmaß der gesammel-ten Daten sowie die Dreistigkeit der Abhöraktionen übertreffen selbst Verschwörungstheorien. Das war bisher unvorstellbar. Eine Überwachung dieses Ausmaßes enthüllt zu haben ist das Ver- dienst Edward Snowdens. Deshalb muss derjenige, der uns diesen Dienst erwiesen hat, geschützt werden. Diese Verpflichtung kön-nen Demokratien nicht Despoten überlassen. Die Überwachungs-praktiken verstoßen auf massive Weise gegen unsere elementaren Grundrechte. Die Totalüberwa-chung kann kaum den Kampf gegen den Terror zum Ziel haben, sonst wären keine Büros in Brüssel oder Botschaften ausspioniert worden. Im Übrigen bleibt richtig: Wenn die Sicherheit die Freiheit abschafft, haben die Terroristen ihr Ziel – die Zerstörung einer offenen Gesellschaft – erreicht. Die Kanzlerin muss gegenüber den USA und Großbritannien klar-machen, dass diese Praktiken gestoppt werden müssen. Be-stehende Vereinbarungen zum Datenaustausch (SWIFT, PNR) müssen aufgekündigt werden. Die Bürger müssen in die Lage versetzt werden, ihre digitale Kommuni- kation sicher zu verschlüsseln.

Angela MerkelBundeskanzlerinEine Regierungs-sprecherin teilt mit: Die Bundeskanz- lerin hat von den

genannten Programmen sowie der angeblich flächendeckenden Ausspähung Deutschlands erst durch die aktuelle Berichterstat-tung Kenntnis bekommen. Eine Bewertung kann erst erfolgen, wenn die Tatsachen hinreichend feststehen. Die Bundesregierung wird den Sachverhalt gemeinsam mit ihren amerikanischen und europäischen Partnern aufklären. Darüber hat die Bundeskanzlerin mit Präsident Obama bei seinem Berlin-Besuch ausführlich gespro-chen, in einem Telefonat am 3. Juli haben beide das Ziel der gemein-samen Sachaufklärung noch einmal bekräftigt. In diesen Tagen reist eine Delegation von Spitzen-beamten der Bundesregierung nach Washington, um über alle Fragen im Detail zu reden. An-schließend wird Bundesinnen- minister Friedrich Gespräche in den USA führen. Darüber hinaus werden Expertengruppen auf EU-Ebene Gespräche mit den amerikanischen Partnern über die Aufsicht über die Nachrichten-dienste sowie Fragen von Daten-gewinnung und Datenschutz aufnehmen. Die Bundeskanzlerin sieht sich dem Schutz der Bürger in Deutschland in doppelter Hin-sicht verpflichtet – dem Schutz vor terroristischen Bedrohungen ebenso wie dem der Privatsphäre. Jeder Eingriff in die Privatsphäre muss dem Grundsatz der Verhält-nismäßigkeit genügen.

Was haben sDie Bundesregierung tut so, als hätte sie keine Ahnung von Amerikas Lauschangriff. Kann

Drei Fragen zu nsa, snoWDen

unD PrisM

erstens Wann genau erfuhren Sie von den

Abhörprogrammen Prism und Tempora? Haben Sie vor den

jüngsten Enthüllungen Hinweise darauf gehabt, dass der amerika-

nische Geheimdienst NSA den Telefon- und Internetverkehr in

Deutschland flächendeckend überwacht?

zWeitens Wie bewerten Sie diesen Lausch-

angriff Amerikas? Verstößt er gegen deutsches Recht?

Drittens Was gedenken Sie zu tun, um die

Bundesbürger vor solchen Aus-spähprogrammen zu schützen?

Wie können die Persönlichkeits-rechte jedes Einzelnen im Netz

geschützt werden?

50 11.7.2013

Page 51: Stern 2913

80 %

15 %

nein

ja

Glauben Sie der Erklärung der

Bundesregierung, dass sie nichts

von den Aktionen des US-Geheim-

dienstes NSA gewusst habe?

Stern-trendInfo

gr

afI

k: 1

00

3 B

efr

ag

te

am

3. u

nd

4. J

ul

I, Q

ue

ll

e: f

or

sa; f

ot

os:

th

om

as

& t

ho

ma

s; d

aV

Ids;

Ima

go

(3)

; Je

ns

sch

Ick

e; r

ap

ha

el

ne

rfa

ut

h/p

ho

to

th

ek

Hans-Georg MaaßenPräsident des Verfassungs-schutzes

Sein Sprecher teilt mit: „Ich kann Ihnen keine Antwor-ten zukommen lassen. Der Sachver-halt ist ungeklärt.“ Vor der Bundes-pressekonferenz Anfang Juli sagte Maaßen, sein Dienst habe von den Spähaktionen der NSA erst aus der Zeitung erfahren.

Hans-Peter FriedrichInnenminister

Ich habe von den Programmen erst durch die Medien-

berichterstattung erfahren. Dass Deutschland flächendeckend überwacht wird, ist bisher nicht bewiesen. Gesetze müssen einge-halten werden. Wir arbeiten daran, Klarheit zu schaffen. Die Wahl der Mittel bei der Bekämpfung von Kriminalität und internationalem Terrorismus muss rechtsstaatlich und verhältnismäßig sein. Es kann keinesfalls um eine flächende-ckende, anlasslose Überwachung aller Kommunikationsinhalte gehen, wie sie nun im Raum steht.

Sabine Leutheusser-SchnarrenbergerJustizministerin

Ich habe über den „Guardian“ und die

„Washington Post“ am 6. Juni von den NSA-Programmen erfahren. Ich habe daraufhin sofort gesagt, würden die Vorwürfe zutreffen, sei das eine Katastrophe. Die Vorwürfe klingen nach einem Albtraum à la Hollywood. Im Vordergrund ste-hen jetzt Transparenz und Aufklä-rung. Eine Totalüberwachung der Bürger darf es nicht geben. Das Ausspähen befreundeter Botschaf-ten oder Vertretungen kann wohl kaum mit Terrorismusbekämp-fung erklärt werden. Ich habe in einem Krisengipfel mit Philipp Rösler die deutschen Vertreter von Google, Facebook, Apple und Microsoft mit dem Ziel von Auf-klärung eingeladen. Hinterher waren mehr Fragen offen als vor-her. Jetzt müssen auch Sofortmaß-nahmen eingeleitet werden, dazu habe ich mit Philipp Rösler und Rainer Brüderle ein 13-Punkte-Programm vorgelegt.

Peer SteinbrückKanzlerkandidat der SPD

Ich habe von den Abhöraktivitäten aus der Presse

erfahren. Sie verlangen eine grundsätzliche Debatte darüber, in welchem Verhältnis private Schutzrechte zu Sicherheitsinte-ressen stehen. Definitiv unvor-stellbar war für mich, dass die USA befreundete Regierungen und Einrichtungen der EU aushorchen. Dies ist strikt zu unterbinden. Es ist nach wie vor offen, in wieweit der BND und auch die Bundesre-gierung von Ausmaß und Tiefe der Abhöraktivitäten gewusst haben.Ich bin kein Experte, was die rechtliche Basis und Kontrolle der Nachrichtendienste betrifft. Aber mir scheint ganz klar, dass Programme wie Prism oder Tem-pora nach deutschem Recht nicht erlaubt sind. Wenn Bundesbürger oder deutsche Unternehmen in ihren Rechten verletzt wurden, dann muss sich damit auch die deutsche Justiz beschäftigen. Klar sein muss: Die EU-Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung darf keinen Bestand mehr haben. Sie muss grundlegend über- arbeitet und geändert werden. Der Datenschutz der Bürger- innen und Bürger muss dabei im Mittelpunkt stehen.

Gerhard SchindlerPräsident des BND

Sein Sprecher teilt mit: „Vielen Dank für Ihr Interesse an der Arbeit des

BND. Zu Fragen, die den Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel angehen, nimmt der Bundes- nachrichtendienst grundsätzlich nur gegenüber der Bundes- regierung und den geheim tagenden parlamentarischen Gremien Stellung.“

ie geWusst ?das sein? Der stern fragt nach – bei der Kanzlerin, jetzigen und ehemaligen Ministern

11.7.2013 51

Page 52: Stern 2913

52 11.7.2013

Page 53: Stern 2913

das stern-Gespräch

Allein mit den Göttern

Verraten von vermeintlichen Freunden und menschlich tief verletzt, erlebte Außenminister

Guido Westerwelle seinen Sturz als FDP-Chef. Nun gibt er erstmals Einblick in seine Seele, beichtet

Fehler und offenbart seine Pläne Von Hans-Ulrich Jörges und Dominik Wichmann; Fotos: Gene Glover

Guido Wester-welle in der von antiken Statuen

gesäumten Rotunde des

Alten Museums in Berlin

Page 54: Stern 2913

Herr Westerwelle, wie tief war das Tal, das Sie in den vergangenen vier Jahren durchwan-dern mussten?Ziemlich tief. Wenn ich nicht schon vorher Krisen überstanden

hätte, dann hätte ich es als noch tiefer empfunden.Wann war es am tiefsten?Vor zwei Jahren, nach Fukushima und den beiden verlorenen Wah-len in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg. Ich war noch FDP-Vorsitzender. Da habe ich etwas erlebt, von dem ich abstrakt wuss-te, das mich aber dann, als ich mit-tendrin war, doch erschüttert hat. Ich hörte abfällige Bemerkungen über mich von Leuten, bei denen ich es nie erwartet hätte. Sie waren zehn Jahre Parteichef, hatten das beste Wahlergebnis aller Zeiten für die FDP geholt – plötzlich waren Sie ein Ausge stoßener. Natürlich war es außerordentlich verletzend, dass ich von Menschen persönlich attackiert wurde, bei denen ich mir sicher war, dass sie nicht nur politisch, sondern auch menschlich eng und verlässlich mit mir verbunden waren. Der eine oder andere war ja auch durch mich etwas geworden. Wenn ge-rade die unter den Ersten sind, die sich besonders abschätzig äußern, dann lernt man daraus fürs Leben. Wer war das?Ich habe nicht einen oder eine speziell in Erinnerung, sondern eine schmerzhafte Phase mensch-licher Enttäuschung – keines - wegs übrigens politischer. Daraus ist bloß Politik gemacht worden. Wir müssen fein unterscheiden zwischen den politischen Konse-quenzen und der persönlichen Enttäuschung. Da ich mir ohnehin vorgenommen hatte, nicht ein viertes Mal die FDP als Spitzenkan-didat in eine Bundestagswahl zu führen, nämlich jetzt 2013, ist es mir politisch auch nicht so schwer-gefallen abzutreten. Ich bin mit der Entscheidung, den Parteivorsitz abzugeben, nicht nur einverstan-den, sondern völlig im Reinen. Das war richtig?Es war richtig für die Koalition, für die FDP …Auch für Sie?Für mich ohnehin. Ich trauere die-ser Entscheidung nicht nach.

Ich war erleichtert, als es entschie-den war. Haben Sie sich allein gelassen gefühlt? Wer hat noch zu Ihnen gestanden?Es gab auch viel Zuspruch. Aber Schlagzeilen produzieren natürlich jene, die einen Namen haben und besonders derb auf den Putz hauen. Wer hat in der FDP-Führung noch zu Ihnen gestanden? Genscher?Hans-Dietrich Genscher war mir immer ein wichtiger Ratgeber, auch damals. Ansonsten gilt: Wer wo wie stand, ist vergossene Milch. Schwamm drüber.Wie hat sich Angela Merkel verhalten?Außerordentlich korrekt und angenehm.War sie nur korrekt, oder hat sie auch menschliche Zuwendung gezeigt?Ja, sicher. Zwischen der Kanzlerin und mir gibt es nicht nur die po-litische Zusammenarbeit, die man sieht. Wir haben eine mehr als 20-jährige gemeinsame Wegstre-cke zurückgelegt. Ich bin mir ganz sicher: Wenn irgendwann mal alle Ämter hinter uns liegen, werden Angela Merkel und ich uns immer noch auf ein Glas Wein treffen.Gab es in der Krise einen Moment, als sie Ihnen unter vier Augen gesagt hat: Auf mich kannst du dich verlassen?Ja, den gab es. Solche Momente haben wir übrigens in den

ver gangenen 20 Jahren in beide Richtungen erlebt.Sie haben Merkel gestützt?Es gibt niemanden in der ersten Reihe der Politik, der nicht schon durch schwere Krisen gegangen ist. Merkel nach der Wahl 2005. Da haben Sie zu ihr gestanden und den Lockungen Gerhard Schröders für eine Ampelkoali-tion widerstanden. Es gibt eine unausgesprochene Schicksalssolidarität zwischen Menschen, die lange einen gemeinsamen Weg gehen und wissen, dass Politik auch aus

tiefen Tälern besteht. In der Demokratie hat jeder eine zweite, dritte oder auch vierte Chance. Ist Merkel eine persönliche Freundin, oder gibt es so etwas nicht in der Politik?Ich bin mit ihr freundschaftlich verbunden, aber Freund ist für mich ein so exklusives Wort, dass man froh sein darf, wenn man im Leben eine Handvoll solcher Menschen hat. Mit meinem besten Freund bin ich schon als Zehn jäh-riger in die fünfte Klasse gegangen. Gibt es Menschen in der Politik, die Sie Freunde nennen?Ja, die gibt es. Zum Beispiel?Wenn ich irgendwann mal ein Buch über mein Leben schreibe, sagte ich es Ihnen. Es gibt auch ein paar wirkliche, persönliche Freunde in meiner FDP. Gab es mal einen Moment, in dem Sie daran dachten, ganz aus der Politik auszusteigen?Nein. In puncto Pflichtgefühl bin ich ein preußischer Rheinländer.

„Bis heute kommen die schrecklichsten Droh- und Schmähbriefe“

Westerwelle auf dem Weg zum

stern-Gespräch im Alten

Museum. Es wurde 1823 bis

1830 von Karl Friedrich

Schinkel am Lust- garten errichtet

und gilt als eines der schönsten

Gebäude des Klassizismus. Heute beher-

bergt es die Antikensamm-lung der Staat- lichen Museen

zu Berlin

54 11.7.2013

Page 55: Stern 2913

ich hätte Sozialhilfeempfänger beschimpft. So hatte ich es aber gar nicht gemeint, ich wollte bloß klarmachen, dass sich Leistung lohnen muss. Auf diese Weise aber habe ich mir den Vorhang selbst zugezogen. War es ein Fehler, dass Sie Außenminister geworden sind? Hätten Sie Finanzminister werden sollen?Nein. Wenn der Finanzminister in der europäischen Schuldenkrise von der FDP gestellt worden wäre, bin ich nicht sicher, ob die Koali-tion gehalten hätte. Sie meinen, wenn nicht Wolfgang Schäuble, sondern ein Liberaler die Euro-Stützungsaktionen verantwortet hätte, wäre die CSU von der Fahne gegangen, die Koalition wäre geplatzt?Ich schließe nicht aus, dass es erheblich größeren Widerstand in der CDU/CSU-Fraktion gegeben hätte.Erst wäre die Koalition zerbro-chen, dann womöglich der Euro?Ob es so schlimm gekommen wäre, weiß ich nicht. Aber rück-blickend betrachtet, war die Ressortverteilung goldrichtig. Niemand kann sich einen schlanken Fuß machen und Schuld auf den Partner abwälzen. Was die Außenpolitik angeht, scheint sich die Kanzlerin die wichtigsten Felder angeeignet zu haben: Europa, USA, China …Das täuscht. Natürlich ist die Rolle der Regierungschefin in der euro-päischen Schuldenkrise groß, aber wenn es um die Weiterentwick-lung Europas geht, ist das Auswär-tige Amt unverzichtbar. Die Außenpolitik wird unverändert im Auswärtigen Amt gemacht, in enger Abstimmung mit der Kanzlerin. Dann müssen Sie das deutlicher machen.Wenn Sie den Eindruck haben, muss ich daran arbeiten. Aber in bewegten Zeiten sind Einverneh-men und Miteinander in einer Re-gierung gewiss auch kein Manko.War die Stimmenthaltung im Weltsicherheitsrat 2011 ein Fehler, als es um die Intervention in Libyen ging?Wir haben die Entscheidung sorg-fältig abgewogen. Ich wollte keine deutschen Soldaten nach Libyen schicken, und genau dazu wäre es gekommen.

Aber andere haben damit gespielt, Sie vielleicht ganz zu kippen. Mancher mag meinen Rückhalt in der Partei unterschätzt haben. Ich bin glücklicherweise nie zu einer Schachfigur geworden, mit der andere Züge planen können. War diese Krise vergleichbar mit der nach dem Selbstmord Jürgen Möllemanns vor zehn Jahren?Nein. Vielleicht in einer einzigen Hinsicht: Hätte ich diese Tragödie nicht erlebt, wäre ich 2011 nicht so stabil gewesen. Sie wirkten beide Male wie versteinert.Das stimmt sicherlich. Man zieht Schutzmauern um sich hoch. Der Tod Jürgen Möllemanns war eine menschliche Tragödie. Das Jahr nach seinem Tod war für mich das mit Abstand schlimmste meines politischen Lebens.Waren Sie depressiv? Konnten Sie schlafen? Ich schlafe kurz, aber gut und tief. Als Außenminister muss man das

überall und zu jeder Zeit können. Ich habe schon im Stehen geschla-fen. Wie haben Sie den Druck auf die Seele ausgehalten?Mein Rezept gegen Druck ist Sport. Ich laufe viel. Wichtig ist außerdem: viel Wasser und wenig Alkohol. Und: raus in die Natur.Wie haben Sie Ihren Sturz intellektuell verarbeitet? Welche Fehler erkennen Sie heute?Ich habe vor allem einen schweren Fehler begangen. Nach der Wahl 2009 habe ich zu lange gebraucht, um vom Wahlkämpfer und Oppositionsführer in die Mecha-nismen, Techniken und Kommu-nikationsformen einer Regierung reinzufinden. Ich hätte anfangs nicht drängen, sondern gelassen erkennen müssen, dass eine Legis-laturperiode vier Jahre dauert. Ein Skandal war Ihr Wort von der „spätrömischen Dekadenz“.Es ärgert mich ungemein, dass ich diesen Begriff verwendet habe. Er war einfach töricht. Es hieß, 4

11.7.2013 55

Page 56: Stern 2913

Fot

o: I

MA

Go

gut zu wissen Die Kießling-Affäre

Peinlicher Abschied: Günter Kießling mit Manfred Wörner beim Zapfenstreich

Die Kießling-Affäre erschüt-terte in den Jahren 1983 und 1984 das politische Bonn. Dem Viersternegeneral und stellvertretenden Nato-Ober-befehlshaber Günter Kießling wurde im Kalten Krieg Er-pressbarkeit wegen angebli-cher Homosexualität vorge-worfen. Verteidigungsminister

Manfred Wörner (CDU) hielt ihn für ein Sicherheitsrisiko und entließ ihn. Nach Entkräf-tung des Verdachts wurde Kießling am 1. Februar 1984 in den aktiven Dienst zurück-geholt, schon am 26. März aber wieder verabschiedet – ehrenhaft mit Großem Zap-fenstreich.

Wessen Idee war das? Ihre? Merkels?Wir haben gemeinsam entschie-den. Ich bin gespannt, wie das Urteil darüber mit mehr Abstand ausfallen wird. Eines jedenfalls hat sich schon als Irrtum heraus-gestellt: Niemand kann ernst - haft behaupten, dass sich Deutsch-land isoliert habe. Sie würden auch im Falle Syriens so entscheiden?Beides ist überhaupt nicht ver-gleichbar. Richtig ist aber, dass wir in Syrien keine militärische Lösung erreichen können, die nachhaltig Frieden und Stabilität bringt. Es wird nur eine politische Lösung geben. Ich bin ein Anhänger der Kultur militärischer Zurückhal-tung. Ich setze immer zuerst auf Politik und Diplomatie. Das wird gelegentlich als Westerwelle-Dok-trin bezeichnet. Aber das sollte die Grundkonstante deutscher Außen-politik sein, wie sie in der Präambel des Grund gesetzes verankert ist. Ich könnte kein Zeichen der Rei-fung Deutschlands darin erkennen, dass wir die militärische Zurück-haltung aufgeben. Anfangs mussten Sie auch gegen den Apparat des Auswärtigen Amtes kämpfen. Man hat schlecht über Sie geredet und das nach außen getragen.Einige aus dem Haus haben das getan, aber nicht das Auswärtige Amt. Das Amt als Institution hat darauf äußerst allergisch reagiert. Am Anfang hieß es auch, ein Homosexueller könne nicht Außenminister sein, er finde keine Anerkennung, vor allem in der islamischen Welt. Ein erheblicher Teil des Establish-ments hatte größte Probleme damit, dass jemand Deutschland in der Welt vertritt, der mit einem Mann zusammenlebt. Auch manche in den Medien. Ich wusste,

was auf mich zukommt. Mittler-weile sind diese Bedenken auf ein Minimum geschrumpft.Gab es Respektlosigkeit im Ausland?Es gab eine einzige ernst zu nehmende Konfrontation, mit dem weißrussischen Diktator Lukaschenko. Was ist passiert?Nachdem ich von Herrn Lukaschenko die Achtung von Menschen- und Bürgerrechten verlangt hatte, sagte er etwas später öffentlich: Besser Diktator als schwul. Das spricht für sich. Ist Deutschland in dieser Hinsicht liberaler geworden?Deutschland zweifellos, in der Welt gibt es leider gegenläufige Entwicklungen. Auch in Europa …

Sie sprechen von Russland?… auch in unserer Nachbarschaft. Diese Entwicklung empfinde ich als außerordentlich bedrohlich. Ich kann nur alle zur Wachsamkeit aufrufen, denn es geht nicht um eine spezielle Minderheit. Heute sind es die Schwulen, morgen andere, die herhalten sollen als Blitzableiter für Unzufriedenheit. Das macht mir große Sorgen. Kann es sein, dass Ihr Sturz als FDP-Chef auch damit zu tun hatte, dass Sie schwul sind? Man kennt doch die Witze in der FDP-Führung.Ich hab das keinen Augenblick so erlebt. Schon als ich zum Generalsekretär gewählt wurde, wusste meine Partei, wer ich bin. Auch meine guten Wahlergebnisse

sprechen für wachsende Akzeptanz in der Gesellschaft. Sehen Sie das bitte mal mit meinen Augen. Als ich schon nicht mehr FDP-Chef war und in Berlin meinen 50. Geburtstag gefeiert habe, kamen Repräsentanten aller Par-teien und gesellschaftlichen Kräfte, einschließlich der Kirchen. Für jemanden, der 1980 angefan-gen hat, als Schwuler zu studieren, und die Kießling-Wörner-Affäre erlebt hat, ist das eine große menschliche Freude und ein Triumph für die Gesellschaft. Und der ist völlig ungetrübt?Bis heute kommen die schreck-lichsten Droh- und Schmähbriefe ins Auswärtige Amt, oft mit Namen und Adresse. Aber das ist nur noch eine kleine, schrille Minderheit. Wie geht Ihr Partner Michael Mronz damit um?Wir hatten uns zu Beginn meiner Amtszeit gemeinsam überlegt, ein Zeichen zu setzen. Michael Mronz übernahm, so wie die Part-ner früherer Außenminister, eine soziale Aufgabe bei „Ein Herz für Kinder“. Dann unternahmen wir gemeinsam zwei Auslandsreisen, nach Absprache mit den Ziellän-dern. Dass das sofort skandalisiert wurde, haben wir als ungemein ärgerlich empfunden. Man hat Herrn Mronz bei den Rei-sen gar nicht als Partner wahrge-nommen, sondern als Geschäfts-mann, der auf Ihrem Ticket reist.Das fand ich unerhört. Wie hat er das verkraftet?Er ist außerordentlich stabil und engagiert sich weiter. Aber mir bleibt es in schlechtester Erinnerung. Wollen Sie ihn noch mal mitneh-men auf einer Auslandsreise?Schauen wir mal. Sie haben ein halbes Jahr vor Ihrem Rücktritt als Parteichef geheiratet. Wie haben sich da Unionspolitiker verhalten, die gegen die Schwulenehe waren?Es wurde flächendeckend gratuliert. Wie leben Sie mit Herrn Mronz?Wir haben zwei Wohnungen in Berlin und im Rheinland, wo er arbeitet. Und Sie haben ein gemeinsames Haus, ein Refugium auf Mallorca.Da finden wir Ruhe, ohne dass uns schon morgens beim Kaffee jemand fotografiert.

„Lukaschenko, der Weißrusse, sagte: Besser Diktator als schwul“

56 11.7.2013

Page 57: Stern 2913

Beim stern-Gespräch: Dominik Wichmann (rechts) und Hans- Ulrich Jörges mit dem Außenminister in der Rotunde. Hier hatte schon mal das rot-grüne Kabinett des Kanzlers Gerhard Schröder getagt

Sie sind seit Ihrer Krise souverä-ner geworden, jetzt erscheinen Sie souverän als Außenminister. Reizt Sie der Begriff Staatsmann?Übertreiben Sie nicht. Zum Staats-mann wird man im Rückblick – dann, wenn große Persönlichkeiten Entscheidungen von historischer Bedeutung getroffen haben. Wie Helmut Kohl und Hans- Dietrich Genscher auf dem Weg zur deutschen Einheit. Wodurch sind Sie souverän geworden? Eine überstandene Krise macht stärker, auch weiser. Und das Amt des Außenministers, zumal in solch turbulenten Zeiten, befreit von kleinem Pepita. Fliehen Sie vor dem kleinen Pepita der Parteipolitik ins Ausland?Nein. Ich habe mir im vergange-nen Jahr schon gut überlegt, ob ich noch mal als FDP-Spitzenkandidat in Nordrhein-Westfalen für den Bundestag antrete. Nun ziehe ich in den Wahlkampf, weil ein Erfolg für die FDP ausschlaggebend dafür ist, dass die Koalition eine zweite Amtszeit bekommt.Können Sie sich eine Rückkehr an die Parteispitze vorstellen?Nein. Das ist ein abgeschlossenes Kapitel.Mit dem Amt des Außenministers sind Sie aber nicht durch?Es macht mir große Freude. Das will ich nicht verschweigen.Sind Sie sich Ihrer Partei sicher? Würde die FDP Sie noch mal als Außenminister nominieren? Ich habe den Eindruck, dass meine Arbeit als Außenminister in der FDP anerkannt ist – und wenn ich den Umfragen glauben darf, auch von der Mehrheit der Deutschen. Und wenn es nicht reicht für Schwarz-Gelb? Was machen Sie dann?Weiter.Als einfacher Abgeordneter im Weinberg der Demokratie?Warum nicht? Ich würde meinem Leben eine neue Facette hinzufügen. 2

11.7.2013 57

Page 58: Stern 2913

Nach dem Freitagsgebet verlangen Muslimbrüder in Kairo laut-stark die Wieder- einsetzung ihres Präsidenten

58 11.7.2013

Page 59: Stern 2913

Einst demons- trierten die Ägypter gemeinsam

für Demokratie, sie wurden weltweit zum Symbol eines neuen, friedlichen Widerstandes. Heute bekämpfen sie sich auf den Straßen, unversöhnlich und brutal. Das Land droht zu zerbrechen

Euer Blut gegenunser BlutVon Steffen Gassel; Fotos: Ed Ou

Politik

Page 60: Stern 2913

„Nach 30 Jahren Diktatur haben wir keine Zeit mehr zu verlieren“Nahe dem

Tahrir-Platz feiern Ägypter den Sturz der Regierung mit Trommeln und Fahnen

60 11.7.2013

Page 61: Stern 2913
Page 62: Stern 2913

„Mursi war ein dummer Präsident, umgeben von einer Riege von Idioten“ Den Graffiti-

Spruch „Nein zum neuen Pharao“ sprühte Bahia Shebab aus Pro-test gegen den Präsidenten der Muslimbrüder auf Wände in Kairo

Page 63: Stern 2913

Es ist nicht schwer, Bahia She-habs Freude über den Sturz Muhammad Mursis zu ver-stehen. „Dieser Mann widert mich an“, sagt die 35-Jährige. „Im Gespräch mit der austra-

lischen Premierministerin kratzt er sich vor laufenden Kameras im Schritt. Auf Staatsbesuch in Berlin macht er sich mit seinem schlech-ten Englisch zum Gespött. Er war ein dummer Präsident, umgeben von einer Riege Idioten. Er repräsentier-te uns Ägypter nicht.“

Verstreut über den Boden des Hinterzimmers im Atelier der Künstlerin liegt das Inventar der ägyptischen Revolutionsbewegung: große, farbverschmierte Graffiti-Schablonen. Seit der Aufstand auf dem Tahrir-Platz Anfang 2011 Prä-sident Mubarak aus dem Amt fegte, hat Bahia Shehab alle paar Wochen neue Slogans aus Plastik und Pappe geschnitten, ist im Morgengrauen losgezogen und hat sie auf die Mau-ern und Häuserwände von Kairo ge-sprüht: „Nein zu Gewehrkugeln“ oder „Nein zur Gewalt gegen Frau-en“ oder „Nein zum neuen Pharao“. Jeder in der ägyptischen Hauptstadt kennt ihre Protestkunst. Immer trafen Shehabs Graffiti zielsicher den Nerv der Zeit. Doch heute ist der Zeitgeist aus den Fugen.

Erst ein Jahr ist es her, dass der Wahlsieg des Muslimbruders Mursi über seinen Gegner, einen General aus der Mubarak-Elite, die Straßen-künstlerin zu Tränen rührte. Auch wenn zwischen ihm und ihr Welten lagen: Für sie war es ein Triumph der Revolution und Demokratie. Nun jubelt sie wie Millionen ihrer Lands-leute der Armee zu, weil diese den gewählten Präsidenten aus dem Amt gejagt hat. Und will von einem Putsch nichts wissen. „Mursi hätte die Probleme dieses Landes anpa-cken können, aber er hat es vermas-selt. Unter Mubarak haben wir 30 Jahre verloren. Wir haben keine Zeit, drei Jahre bis zur nächsten Wahl zu warten“, sagt sie. „Ich persönlich glaube ja an die Demokratie. Aber Millionen meiner Landsleute sind Analphabeten. Die wählen jeden, der ihnen einen Sack Reis schenkt. Wie soll man denen Demokratie beibringen?“

Etwas ist zerbrochen in diesen Ta-gen des Aufruhrs im Land am Nil: das Gefühl der Zuversicht, ein Glau-be an Gemeinsamkeit über all die Gegensätze zwischen Islamisten

rir-Platz geworden. Zehntausende Mursi-Anhänger haben sich hier zum Sitzstreik versammelt. Den Gottesdienst verrichten sie unter der glühenden Juli-Sonne auf dem Asphalt. Das Abendgebet schließen sie ohne Unterbrechung an das Mit-tagsgebet an. Dieses Ritual sieht der Koran für Kriegszeiten vor: Wer mehrere Gebete auf einmal verrich-tet, hat mehr Zeit für den Kampf.

„Wie soll ich je wieder an die De-mokratie glauben?“, fragt Hischam Ataya. Seit dem Putsch des Militärs verbringt der 33-jährige Ingenieur jede freie Minute beim Mursi-Sit-in. Er schläft sogar hier, auf einer schmutzigen Matratze im Freien. „13 Millionen Ägypter haben Mursi ihre Stimme gegeben. Wie können sie uns alle einfach ignorieren?“

Hinter der Tamarrud-Bewegung der Mursi-Gegner vermutet er eine Verschwörung alter Mubarak-Ge-folgsleute. Private Fernsehsender, die von diesen kontrolliert werden, haben seit Monaten Kampagnen gegen den Präsidenten gefahren. Die Kanäle der Muslimbrüder antwor-teten mit Hetze gegen die Kritiker. Genau diese TV-Stationen wurden auf Anweisung der Armee noch in der Putschnacht vom Äther genom-men. Auch die meisten Zeitungen der Muslimbrüder dürfen nicht mehr erscheinen.

„Ihr züchtet Kriminelle heran“Die verbliebenen Medien verbreiten ausschließlich die Sicht der Armee, Berichte über Demonstrationen der Muslimbrüder fehlen. Ataya sieht sich als Opfer feindlicher Propagan-da: „Die Leute glauben, Mursi hätte versucht, die Armee zu islamisieren. Wenn das wahr wäre: Hätte ihn dann nicht wenigstens die Präsiden-tengarde beschützt?“ Anschließend warnt er das Militär und die Tamar-rud-Leute. „Es wird eine Reaktion geben. Ihr züchtet Kriminelle heran. Wenn der Glaube an die Demokra-tie verloren geht, werden die Leute das Gesetz in die eigene Hand neh-men. Nicht ich, aber andere.“

Viele Ägypter haben den Ein-druck, genau das passiere schon. Im Internet kursiert ein Amateur- Video, das zeigt, wie eine Gruppe Islamisten in Alexandria zwei Ju-gendliche von einem hohen Wasser-tank hinab auf ein Hochhausdach stößt. Die Opfer hatten versucht, durch Klettern dem Mob zu ent-kommen. Einer der Angreifer

und Säkularen, Arm und Reich hin-weg. „Gemeinsam sind wir Ägypter stark“: Das war der Geist des Tahrir-Platzes, geboren aus der Revolte gegen das alte Regime, der die jun-ge Demokratie getragen hatte, trotz all ihrer Unzulänglichkeiten. Davon ist nichts geblieben.

Während Kunstflugstaffeln der Luftwaffe jeden Tag aufs Neue Her-zen in den Nationalfarben Schwarz-Weiß-Rot in den Himmel über Kairo malen, zerfällt das Land da-runter – mit unabsehbaren Folgen für Ägypten und die ganze Welt. Auf den Straßen der Hauptstadt spielen sich bizarre Szenen ab. Da schmäht die liberale Jugend Amerika, weil die Sprecherin des Außenministeriums in Washington den Coup des Mili-tärs als Gefahr für die Demokratie bezeichnet hat. „Obama unterstützt Terroristen“, steht auf einem riesigen Banner über einer der Zufahrtsstra-ßen zum Tahrir. Ein paar Kilometer weiter östlich vor einer Moschee im Stadtteil Nasr City skandieren der-weil langbärtige Islamisten, die in den USA traditionell die Wurzel allen Übels sehen, „Yes we can“. Sie fühlen sich als wahre Verteidiger von Rechtsstaat und Demokratie.

„Oh Allah, befreie Ägypten von den Diktatoren. Wir wollen unseren gewählten Präsidenten und die isla-mische Verfassung zurück.“ Die Stimme des Vorbeters scheppert aus den Lautsprechern. „Oh Allah, durchkreuze die Pläne der Säkula-ren. Wir werden ihnen unseren Zorn zeigen und sie umerziehen.“ Seit ver-gangenem Mittwoch ist die große Kreuzung vor der Rabi’a -al-Adawi-ja-Moschee der Gegenpol zum Tah-

„Wie soll ich je wieder an Demokratie glauben?“ Der Ingenieur

und Mursi-An-hänger Hischam Ataya fragt, wie man den Willen der 13 Millionen Wähler des Präsi-denten einfach ignorieren könne

Fot

os:

Ed

ou

/GE

tt

y Im

aG

Es

11.7.2013 63

4

Page 64: Stern 2913

gut zu wissen Die Machtspiele der Islamisten

Die salafistenZwist zwischen Isla-misten? Das hat in Ägypten seit Langem Tradition. Nichts schadet den Muslim- brüdern so sehr wie Angriffe aus dem eigenen, islamistischen

Lager. Darum prote-gierte schon der einsti-ge Diktator Husni Mu-barak die Bewegung der Salafisten. Sie sind so etwas wie die Wendehälse des Islam. Unter Mubarak hielten sie stets fest an der

Der VerliererAls vorerst Letzter hat Mohammed ElBaradei lernen müssen: Auf Salafisten ist kein Verlass. Nur drei Tage nachdem sie im Schul-terschluss mit ihm und den Generälen Mursi entmachtet hatten, hintertrieben sie seine Ernennung zum Pre-mierminister. Da hätte der Friedensnobel-preisträger besser auf die Warnungen der Muslimbrüder gehört. Für die sind die Sala-fisten nur noch: Cha’inin – Verräter.

Doktrin, wonach Demokratie und Unge-horsam gegen den Herrscher unislamisch seien. Kaum war die Revolution geglückt, gründeten sie eine eigene Partei (an-Nur)und bekamen bei der Parlamentswahl prompt 25 Prozent der Stimmen. Sie koalier-ten mit den weltan-schaulich weit liberale-ren Muslimbrüdern. Und protestierten gegen diese, als deren Stern unter Mursi sank (im Bild eine Demons-tration im Juni).

trägt die schwarze Fahne der al-Qai-da im Hosenbund. Doch auch die Mursi-Anhänger fühlen sich als Opfer – spätestens seit Sicherheits-kräfte in Kairo im Morgengrauen des vergangenen Montag unter un-geklärten Umständen das Feuer auf betende Muslimbrüder eröffneten und Dutzende von ihnen töteten.

Der erhoffte rasche Übergang zu einer neuen zivilen Regierung, den die Generäle versprochen hatten, ist ins Stocken geraten, nachdem die Ernennung des Nobelpreisträgers Mohammed ElBaradei zum neuen Premier im Wirrwarr endete. Viele Ägypter fürchten, das Militär als letzte Ordnungsmacht im Staat könne vollends die Kontrolle ver-lieren, wenn die Gewalt weiter eska-liert. Ihnen spukt das Beispiel Alge-rien durch die Köpfe. Dort hatte 1992 die Armee gegen einen Wahlsieg von Islamisten geputscht und einen zehnjährigen Bürgerkrieg mit Zehntausenden Opfern losgetreten.

Wie werden sich die Muslimbrü-der verhalten, da sie sich um ihren Wahlsieg betrogen fühlen? Abd al-Galil al-Scharnubi hat keinen Zwei-fel: „Sie wollen die Macht um jeden Preis verteidigen. Dafür würden sie Ägypten auch in einen Bürgerkrieg stürzen, wenn sie denn könnten“, sagt er bei einem Glas Tee in einem Café nahe dem Tahrir-Platz.

Der 38-Jährige war jahrzehnte-lang Mitglied der Bewegung und ein enger Mitarbeiter Mursis. 2011 wandte er sich wie viele junge Mit-glieder ab, die enttäuscht waren, dass

die Muslimbrüder die Revolte gegen Mubarak anfangs nicht unterstütz-ten. Heute ist er einer der prominen-testen Kritiker der Bruderschaft.

„Die Führung der Muslimbrüder hat sich auf einen Coup vorbereitet. Sie haben Waffen angeschafft und Hamas-Kämpfer nach Ägypten ge-holt, damit die ihre Leute trainieren. Drei der Leibwächter von Moham-mad Badi’e, dem obersten Führer der Muslimbrüder, sind Mitglieder der militanten Qassam-Brigaden aus Gaza. Es gibt Splittergruppen, die bereit sind zu kämpfen“, sagt al-Scharnubi.

Trotzdem hoffe er, dass die Isla-misten zu groß angelegten Attenta-ten gegen Sicherheitskräfte und Tou-risten wie in den 90er Jahren nicht

mehr imstande sind. „Damals hatten die Muslimbrüder noch viel Rück-halt im Volk, denn sie wurden vom verhassten Regime verfolgt. Die ein-fachen Leute halfen ihnen, sich zu verstecken. Heute ist dieser Rückhalt zusammengeschmolzen“, sagt er.

Dass die Milizen der Bruderschaft trotzdem noch schlagkräftig sind, hat er vor ein paar Monaten am eigenen Leib erfahren. Mitten in Kairo nahmen drei Vermummte auf Motorrädern sein Auto unter Feuer. Wenige Tage zuvor hatte Badi’es Stellvertreter bei Scharnubi angeru-fen und ihm geraten, seine alten Brüder nicht mehr in den Medien zu kritisieren. „Gewalt ist die letzte Karte der Muslimbrüder“, sagt er. „Und die werden sie spielen.“

Die Parolen gehen ausSo geraten weiter Gegner und An-hänger des gestürzten Präsidenten aneinander, fast täglich gibt es seit dem Putsch Verletzte und Tote, auf beiden Seiten. Bahia Shehab, die junge Graffiti-Künstlerin, bleibt trotzdem dabei: Es war richtig, Mur-si zu stürzen.

Doch ausgerechnet jetzt, da für die Zukunft der jungen ägyptischen Demokratie alles auf dem Spiel steht, gehen ihr die passenden Paro-len aus. Ratlos kniet sie auf dem Bo-den ihres Ateliers und wühlt durch die Schablonen. „Ich hatte überlegt, eines meiner ersten Graffiti neu zu sprühen: ‚Salmiyyah – Bleibt fried-lich‘“, sagt sie. „Doch es fühlt sich nicht mehr richtig an. Die Muslim-brüder sagen, sie wollen Mursi mit ihrem Leben verteidigen. Wie kön-nen wir da friedlich bleiben?“

Inzwischen haben andere Sprüher rund um den Tahrir-Platz die Deutungshoheit übernommen. „Blut gegen Blut“, steht auf frischen Graffiti. Daneben das Konterfei eines jungen Aktivisten, der bei Zusammenstößen mit den Islamis-ten starb. Die Muslimbrüder in Nasr City haben derweil ihre eigene Parole gefunden: „Haddukum hadd-na – so weit wie ihr geht, gehen wir auch.“ 2

Nahost-Korrespondent steffen gassel (l.) und Fotograf ed Ou haben seit Anfang 2011 oft

über die Umbrüche in Ägypten berichtet. Nie erlebten sie so viel Hass zwischen den Gegnern wie während dieser Recherche

„Gewalt ist die letzte Karte der Muslimbrüder“ Nur mit Glück

entkam Mursi-Kritiker Abd al-Galil al-Schar-nubi einem Überfall von Vermummten auf sein Auto

Fot

o: A

mr

NA

bil

/Ap

64 11.7.2013

Page 65: Stern 2913

11.7.2013 65

Til MeTTe

Umfangreiches Archiv mit Til-Mette-Cartoons: www.stern.de/mette

Page 66: Stern 2913

illu

str

at

ion

: Ka

tr

in F

un

cK

e; a

uFg

ez

eic

hn

et

vo

n a

str

id v

icia

no

An dieser Stelle schildern regelmäßig Ärzte ihre außergewöhnlichsten Fälle. Diese Woche:

Prof. Dr. Christine Solbach, 47 Sie ist Fachärztin für Frauen- heilkunde und Geburtshilfe und leitet heute das Brustzentrum der Universitätsmedizin Mainz

berichtete sie. Wenn sie den linken Arm hebe oder sich auf die linke Seite lege, sei die Pein besonders groß. Ich war über-rascht, hätte doch die Entzündung mithilfe des Antibiotikums abklingen sollen.

Während ich noch nachdachte, platzte die sonst so stille Patientin unvermittelt mit einer Forderung heraus: Sie brauche dringend eine Mammografie, das habe ihre Mutter gesagt. Ich war entrüstet und erwi-derte unwirsch, dass es wohl mir als Ärztin zustehe, über das weitere Vorgehen zu ent-

Die Patientin war schüchtern, daran erinnere ich mich noch genau. Scheu und verängstigt berichtete mir die 23-Jährige von stechenden Schmerzen in ihrer linken Brust, als ich sie an jenem 20. September

2004 zum ersten Mal sah. Am Sonntag zuvor war sie bereits in unserer Notauf-nahme in der Uniklinik Frankfurt ge- wesen. Doch die Kollegen hatten nichts entdecken können. Die Brust war weder gerötet noch angeschwollen gewesen, im Ultraschall war nichts Auffälliges zu se-hen. Schließlich hatten die Kollegen einen Insektenstich vermutet und die Patientin mit der Empfehlung heimgeschickt, die Brust regelmäßig zu kühlen.

Nun kam sie zu uns in das Brustzen-trum, weil sich die Schmerzen seit Sonn-tag verschlimmert hatten. Die kräfti-ge Frau mit den dunklen Haaren sprach zwar nicht fließend Deutsch, konnte sich aber gut verständlich machen. Es war offensichtlich, dass sie beunruhigt war. Und dass sie sich die Beschwerden nicht erklären konnte. Immer wieder sprach sie von ihren Schmerzen, klagte über eine hohe Druck-empfindlichkeit. Diesmal war die Brust leicht gerötet und leicht angeschwollen. Bei der Tastuntersuchung konnte ich ein etwa drei Zentimeter großes, verhärtetes Areal im Brustgewebe ertasten. Ich vermu-tete eine Entzündung, auch die Ultra-schallbilder sprachen dafür.

Daher verschrieb ich ihr ein Antibioti-kum und schickte sie wieder nach Hause. Damit sollten die Beschwerden vorüber-gehen, hoffte ich. Doch zwei Tage später stellte sich die Patientin erneut bei uns vor. Die Schmerzen hätten noch zugenommen,

scheiden. Eine Mammografie der Brust stellt eine Strahlenbelastung dar, die wir besonders bei jungen Frauen tunlichst vermeiden.

Dann aber berichtete mir die Patientin, woran sich ihr Bruder erinnert hatte: dass er auf dem Sofa ihres Wohnzimmers einen Knopf angenäht hatte. Und dass er die Nähnadel nicht hatte wiederfinden kön-nen. Die junge Frau erzählte, sie habe einen leichten Stich in der Brust verspürt, als sie sich am selben Tag auf das Sofa gelegt habe. Die Nadel, so fürchtete die Mutter der Patientin, könnte in die Brust der Tochter eingedrungen sein.

Das änderte die Lage. Im Ultraschall könnte ich eine Nadel nur mit Mühe ent-decken. Bei einer Mammografie dagegen würde das Stück Metall gut sichtbar sein. Ich veranlasste also die Untersuchung. Und tatsächlich: In der linken Brust der Patientin befand sich eine Nähnadel, etwa vier Zentimeter lang. Bis dahin war in der medizinischen Literatur nur ein einziger Fall weltweit beschrieben worden – der Bericht über eine Schneiderin, bei der die Nadel versehentlich in die Brust gelangte.

Ich musste schnell handeln. Denn die Nähnadel war bereits bis zur Brustwand gewandert, und ich hatte Sorge, dass sie in den Brustkorb und in die Lunge gelangen würde. Darum beschloss ich, den Fremd-körper gleich am nächsten Tag zu entfer-

nen. Da ich die Lage der Nadel kannte, konnte ich sie nun auch im Ultra-schall finden und markierte sie mit

einem Draht, den ich unter lokaler Anäs-thesie an die Nadel heranführte. Wäh-

rend des Eingriffs hangelte ich mich an diesem Draht entlang, um zur Nadel zu gelangen. Nach 40 Minuten hatte ich das spitze Metallstück entfernt.

Die Patientin konnte noch am selben Tag die Klinik verlassen. Die Nadel habe ich mir aufgehoben. Sie liegt in einem Kunststoffbehälter in meinem Arztzim-mer und erinnert mich immer aufs Neue daran, dass wir Ärzte unseren Patienten zuhören und sie ernst nehmen müssen. Denn in diesem Fall waren es die Hinwei-se der Patientin und ihrer Mutter, die mich zur richtigen Diagnose führten. 2

Ein Stich zu viel

Eine junge Frau klagt über Schmerzen in der Brust. Die Ärzte in der Notaufnahme vermuten einen Insektenstich

und empfehlen Kühlung. Wenig später erscheint die Patientin erneut. Ihre Beschwerden sind schlimmer geworden.

Sie äußert einen unglaublichen Verdacht

66 11.7.2013

wissen

DiagnoSe

Page 67: Stern 2913
Page 68: Stern 2913

„Wenn Ihr Level normaler-

weise bei vier Bieren liegt, um lustig zu

sein, dann sind Sie oben sturz-

trunken. Nur die Russen können

das ab“

„in der economy geht im mer der Punk abKathrin Leineweber arbeitet seit mehr als zwei Jahrzehnten als Stewardess. Zeit für ein paar offene Worte

gesellschaft

„Einmal hat eine Dame einen Herrn mit der Hand befriedigt. Als er fertig war, haben einige applaudiert“

„Ich habe bestimmt schon 8000 Liter Tomatensaft ausgeschenkt. Vielleicht weil das Zeug satt macht, so ein minimalistisches Sandwich ist ja nicht viel“

Page 69: Stern 2913

„in der economy geht im mer der Punk ab“Kathrin Leineweber arbeitet seit mehr als zwei Jahrzehnten als Stewardess. Zeit für ein paar offene Worte

11.7.2013 6911.7.2013 69

Page 70: Stern 2913

Fot

o: d

om

inik

asb

ac

h

Bitte einmal ehrlich, nervt es Sie eigentlich, dass niemand mehr bei Ihren Sicherheitshinweisen vor dem Start hinschaut? Nervt mich total. Diese Zeitungs-leser, die kommen im Ernstfall

doch nie raus aus der Kiste. Aber dann ist ja die nette Trulla da, die sie durch Krei-schen rausleiten soll, oder was? Ich könnte jedem die Zeitung aus der Hand schlagen, ehrlich. Wann hat das angefangen, dass die Leute nicht mehr hingeguckt haben? Seitdem wir die Filme haben. Früher haben wir bei unserer Airline noch selbst gezeigt, wie man die Westen anlegt. Das war wie Wasserballett. Da guckt man hin. Die jungen Mädels, und dann verheddern die sich manchmal in der Schwimmweste. Was helfen mir diese Sicherheitshin-weise, wenn ein Flugzeug abstürzt?Über dem Atlantik wissen Sie, wo Ihre Schwimmweste ist. Die meisten Leute kommen in den Flugzeugen um, weil sie die Weste zu früh aufgeblasen haben, dann unter der Decke hängen und nicht mehr rauskommen. Thema Handys. Glauben Sie wirklich, dass die Leute ihre Smartphones auf Flugmodus schalten? Die meisten machen das nicht. Die wundern sich dann, dass sie nach der Landung den Akku leerhaben, weil das Handy oben immer einen Sender sucht. Sobald das Flugzeug gelandet ist, springen immer alle auf. Nervt Sie das auch?Diese Aggressivität von einigen. Ich könnte mich totlachen, es kommt ja nie-mand deswegen schneller raus. Piloten haben diesen gemeinen Spruch: Fracht kotzt nicht und motzt nicht. Aber das ist falsch. Ich liebe meinen Job und auch die allermeisten Passagiere. Wer klatscht noch nach der Landung? Die Leute, die selten fliegen. Die älteren. Und die, die Angst haben. Die Griechen haben zum Beispiel alle Schiss vorm Fliegen. Da ist Jubel an Bord. Lieber Gott, danke! Wieso haben Griechen Angst vorm Fliegen? Das ist nur eine Beobachtung. Viele Griechen fassen das Flugzeug auch an, bevor die einsteigen. Wo sitzt man am besten?

Wie schmuggelt man am besten über-großes Handgepäck ins Flugzeug?Als Erster einsteigen. Bei den ersten 20 Gästen, die einsteigen, sage ich als Ste-wardess nix. Aber wenn die Gepäckfächer irgendwann voll sind, dann haben Sie Pech. Und kommen Sie bitte nicht mit dem Spruch: Aber bei Ihren Kollegen kommt das immer auf die Toilette. Nein.Warum trinkt man in Flugzeugen so gern Tomatensaft? Ich habe mal nachgerechnet. Ich habe bestimmt schon 8000 Liter Tomatensaft ausgeschenkt. Vielleicht weil das Zeug satt macht, so ein minimalistisches Sandwich ist ja nicht viel. Oder weil man was zum Spielen hat. Man kriegt Pfeffer, Salz und Tabasco. Und das Rührstäbchen. Damit ist man gut beschäftigt. Studien haben bewiesen, dass der Saft oben ganz anders schmeckt, weil die Geschmacks-knospen so weit oben viel tauber sind. Interessant. Ja, das ist oben eher süßlich und ange-nehm und unten eher muffig und herbe. Russen können ohne Tomatensaft gar nicht fliegen. Wenn Sie nach Moskau flie-gen, brauchen Sie fünf Tüten extra. Und immer diese Kettenreaktion: Wenn Sie es schaffen, die ersten zehn Reihen ohne To-matensaft zu überstehen, dann bleibt das so. Aber wenn einer von den ersten drei schon anfängt, dann probieren das alle. Das Bier ist meistens auch schnell alle.Stimmt. Warum nehmen Sie denn so wenig Bier mit?

An den Notausgängen. Da haben Sie am meisten Platz. Der Trick bei den großen Flugzeugen, zum Beispiel dem Airbus 330: Irgendwann verjüngen sich die Vie-rerreihen auf Dreierreihen, hinten im Schwanz. Da haben Sie mehr Platz. Aber hinten wackelt es auch mehr. Wie kriegt man diese Plätze?Früh reservieren, anders geht das nicht. Gibt es nicht gute Ausreden, Übelkeit oder so? Am Notausgang dürfen nur Menschen sitzen, die im Notfall helfen können. Also brauche ich den Typen, der sich übergibt, da schon mal gar nicht. Bei Durchfall würde ich natürlich versuchen, Sie in die Nähe einer Toilette zu setzen. Lassen Sie uns mal über Beinfreiheit in der Economy sprechen. Ganz furchtbar. Geht gar nicht. Ich bin 1,81 Meter und kann da auch nicht sitzen, ohne dass die Knie vorne anstoßen. Ich verstehe jeden, der an Bord ausrastet. Sitzt man besser am Fenster oder am Gang? Fenster. Erstens: Sie schlafen besser, weil Sie sich an die Wand anlehnen können. Kissen zwischen, fertig. Zweitens: Beim Gangplatz hält sich jeder an den Rücken-lehnen fest, wenn er durch das Flugzeug läuft. Oder Sie kriegen den Trolley vors Knie. Welche Toilette sollte man nehmen? Hinten, weil alle nach vorne rennen. Vorn ist auch meist nur eine, hinten sind mehrere.

„Ich kann jeden verstehen, der ausrastet“

Kathrin Leineweber, 46, bloggt unter www.happy- airways.de. Dort schreibt sie über Saftschubsen, Turbulenzen und darüber, was sie tut, wenn ein ganzes Flugzeug hustet

70 11.7.2013

Page 71: Stern 2913

Nicolas Büchse und Dominik Stawski kennen die Businessclass nur aus Erzählungen älterer Kollegen.

Auch nach dem Gespräch bleibt es dabei: Beide sitzen lieber in der Economy, wo was los ist

gut zu wiSSeN Flugbegleiter/in

wie wird man das?Flugbegleiter/in ist kein anerkannter Ausbildungsberuf. Jede Fluggesellschaft schult ihre Leute nach eigenen Standards. Daher ist auch der Wechsel von einer Linie zur anderen schwierig. Bewerber müssen mit körper- lichem und psy-chischem Stress zu-rechtkommen. Ein gu-ter Schulabschluss und gute Englisch-kenntnisse werden erwartet. Und natür-lich ein gepflegtes Äußeres. Die Mindest-größe beträgt meist 1,58 Meter.

was verdient man?Als Fliegen noch Luxus war, ver dienten Flugbegleiter oft mehr als Akademiker. Heute zahlt die Luft-hansa Einsteigern rund 1900 Euro inklusive Schicht zulage, dazu kommt bei Auslands-flügen ein „Abwesen-heitsgeld“ von knapp 50 Euro pro Tag. Mit den Jahren steigt das Gehalt. Billig- airlines zahlen aber viel weniger.

Da sieht man, was der Mensch für ein Herdentier ist. Beispiel Klimaanlage. Die sieht manchmal so aus, als rauchte es aus ihr. Ist aber kein Rauch, sondern Konden­sat, also Wasser. Das entsteht, wenn kalte Luft aus der Klimaanlage auf die feuchte, warme Luft in der Kabine trifft. Ängst­liche Leute verwechseln das mit Feuer. Einmal ist es vorgekommen, dass die in der hintersten Reihe angefangen haben zu schreien: Feuer! Es brennt! Dann die wild gewordene Masse von 300 Leuten wieder in den Karton zu kriegen, dieses Crowd­Management ist superschwierig.Wer kauft noch duty-free?Raucher, Zigaretten sind viel billiger als am Boden. Ansonsten ist das Beschäfti­gungstherapie: Zeigen Sie mir doch mal die Uhren, die Ohrringe und so weiter. Hatten Sie schon viele Prominente auf Ihren Flügen?Costa Cordalis fällt mir ein. Heino mit seiner Frau. Und Jürgen Drews, ganz oft, der fliegt immer noch Palma. Oder Stefan Effenberg neulich in der Business.Und, wie war Effenberg?Der war total nett. Das Einzige, was mich gestört hat, war, dass er ein Twix mit einem 50­Euro­Schein zahlen wollte. Und angenervt war, dass ich kein Klein­geld hatte. Ich habe gesagt: Herr Effen­berg, ich schenke Ihnen das Twix. Da hat er doch noch Kleingeld gefunden. Und Rainer Calmund hatten wir auch mal. Wie sitzt der denn? Rainer Calmund sitzt hervorragend, der ist beweglich, der schiebt sich in die Reihe rein. Seine Frau und die Kinder saßen hinten, er in der Business.

Wie? Er sitzt in der Business, und seine Frau muss hinten sitzen? Vielleicht hat die Firma ihm nur einen Business­Sitz spendiert. Passt Calmund auf einen Sitz?Business schon. Der nimmt sich sehr auf die Schippe, wir haben selber dagestanden und überlegt, wie er wieder rauskommt. Gibt es den Mile High Club wirklich? Paare, die über den Wolken Sex haben wollen? Nein, diesen Club gibt es nicht wirklich. Aber ich habe schon einiges erlebt. Da bauen sich Pärchen mit Jacken und Decken auf den Sitzreihen Zelte. Einmal hat eine Dame einen Herrn mit der Hand befriedigt, der hat so laut zu stöhnen angefangen, dass alle es mitbekamen. Als er fertig war, haben einige applaudiert. Mussten Sie schon viele Anmachen ertragen?Man findet schnell eine Visitenkarte auf dem Tablett. Oder wenn man beim Aussteigen die Hand schütteln will, ist auch eine Karte drin. Es kommt auf den Auftritt an. Flirten gehört zum Beruf dazu, das tue ich auch gerne. Wie häufig sind Affären zwischen Stewardess und Pilot?Überlegen Sie doch mal. Da fliegen Sie auf irgendeine Kokosnussinsel, sitzen abends beim romantischen Sonnen­untergang am Strand. Warmes Wasser schwappt über Ihre Füße. Sie haben schon den dritten Sekt getrunken. Da ist selbst der unattraktivste Pilot auf einmal ein Traummann. Und zu Hause kriegt keiner was mit. Ist viel einfacher, als eine Affäre im Krankenhaus oder Büro zu haben. Und als Pilot kriegt man dauernd knackige Hühner vor die Nase gesetzt. Und Sie persönlich?Bei meinem Mann und mir hat es mitten über dem Atlantik gefunkt, er ist auch Pilot. Als er damals aus dem Cockpit kam, hat es bei uns Klick gemacht. Ärgert es Sie, dass Stewardessen Saftschubsen genannt werden?Das finde ich total dämlich, den Ausdruck. Ungerecht. Wenn ich sage, ich bin Pilot, dann bewundern einen die Leute. Wenn ich sage, ich bin Stewardess, heißt es: Ah, fliegende Kellnerin. Wenn Sie in den Urlaub fliegen, was fliegen Sie dann? Ich fliege eigentlich nicht privat. Ich fahre mit dem Auto an die Ostsee. 2

Innerdeutsch werden die Maschinen für mehrere Flüge beladen. Wenn Sie den zweiten Flug erwischen, haben Sie Pech.Auf der Langstrecke trinken doch alle, um das zu überstehen, oder?Die Leute schnallen aber nicht, dass es an Bord schneller in den Kopf geht als am Boden. Wenn Ihr Level normalerweise bei vier Bieren liegt, um lustig zu sein, dann sind Sie oben sturztrunken. Nur die Russen können das ab. Eine Buddel Wodka von Düsseldorf nach Moskau, und die gehen gerade aus dem Flugzeug. Sagenhaft!Mit wem fliegen Sie am liebsten? Am liebsten mit den Hanseaten, die sind so höflich. Kölner sind auch lustig. Düsseldorfer sind mit die Schwierigsten. Warum? Die haben sehr hohe Ansprüche und las­sen die gerne raushängen. Plus die direkte rheinische Art. Ganz böse Kombi. Wer ist sympathischer, Passagiere aus der Economy oder aus der Business? Hinten in der Economy geht immer der Punk ab. Ich weiß nicht, warum. Früher haben da mal die Raucher gesessen. Ist es das Schulbus-Phänomen: hinten immer die Lauten? Ja. Wenn eine Stewardess kommt und sagt, ich habe Stress mit einem Pax, dann kannst du davon ausgehen, dass das hinten ist. Pax ist übrigens der interna­tionale Code für Passagier. Wir dachten, Business-Passagiere sind anstrengender. Ich arbeite ja in der Businessclass, weil das als Chefstewardess mein Arbeitsbereich ist. Stimmt schon, man­che denken, sie hätten mit dem Ticket das ganze Flugzeug gekauft. Notorische Nörgler. Aber in der Eco ist mehr los. Das ist moderner Viehtransport. Ich hatte letztens ein Kleinkind in der Business, das nur geschrien hat. Ich würde die da gar nicht mehr zulassen. Ab nach hinten, da ist eh mehr Action.Sie müssen immer lächeln. Immer Contenance. Es darf nicht zu viel Lächeln sein. Das tut irgendwann in den Wangen weh. Schon mal ausgerastet? Vor dem Gast nicht, aber in der Küche schon öfters. Warum? Ich kann viel ertragen. Unsere Haupt­ beschäftigung an Bord ist es, sich fremd­zuschämen. Vor allem auch fremdzuent­schuldigen. Ich muss mich für alles und jeden entschuldigen. Für den Schnee, für das kaputte Triebwerk, für die Verspä­tung, für was weiß ich alles. Ich bin der Prellbock, der Kummerkasten für alle.Die Stimmung schaukelt sich schnell hoch auf Flügen?

11.7.2013 71

Page 72: Stern 2913
Page 73: Stern 2913
Page 74: Stern 2913

Fot

o: B

or

is s

ch

ma

le

nB

er

ge

r

Als Habiburrahman Dastageeri ein kleiner Junge war, machte er eine große Reise: die Pilgerfahrt nach Mekka. Seine gesamte afghani-sche Familie kam mit, und Habi-burrahman, der schon als Kind

sehr perfektionistisch war, wollte, dass sich alle gut vorbereiteten. Die Familie gab ihr Bestes. Alles, was man über eine Pilgerrei-se wissen muss, weiß ich jetzt, dachte er, als es losging. Doch in Mekka angekommen, merkte er rasch, dass das nicht stimmte: im richtigen Moment beten, das richtige Gebet können, die Rituale kennen und überhaupt erst mal wissen, wann man wo hinmuss – alles gar nicht so einfach. Dazu die saudi-arabische Sonne, 40 Grad im Schatten, und Millionen von Menschen,

die nicht minder planlos umherliefen. Für Habiburrahman keine schöne Erinnerung.

Später reiste er noch dreimal nach Mek-ka – und erlebte immer dasselbe Chaos. Manchmal gehen während des Hadsch sogar Leute verloren oder bleiben tagelang verschwunden, weil sie sich verirrt haben. Es müsste eine Hilfe geben, dachte sich Habiburrahman, der mittlerweile in Stutt-gart Informatik studierte, einen Weg- und Verhaltensweiser.

Heute ist er 32 Jahre alt und hat so einen Wegweiser programmiert: die Mekka-App. Sie heißt „Amir“, arabisch für „Führer“, und funktioniert für Männer und Frauen. Hat man sie heruntergeladen, wählt man eine Hadsch-Art aus und gibt an, nach welcher Rechtsschule man verfahren möchte. Die

App errechnet dann eine personalisierte Pilgerreise. Sie bietet Kategorien wie „Pro-bleme und Lösungen“ an und informiert über „Erlaubtes und Verbotenes“. Wie ver-hält man sich, wenn man geflucht hat? Das sollte man während der Pilgerreise natür-lich nicht tun. Passiert es trotzdem, muss etwas bezahlt oder geopfert werden – was genau, sagt einem die App. Gebetstexte sind ebenfalls dabei, auf Wunsch zum An-hören und in fünf verschiedenen Sprachen. Vergangenes Jahr machte Habiburrahman wieder eine große Reise: Mit dem baden-württembergischen Wirtschaftsminister fuhr er nach Saudi-Arabien, um seine Erfindung vorzustellen. Das Interesse an seiner App sei dort sehr groß, sagt er. 2

Aïcha Reh

Habiburrahman Dastageeri in einer Stuttgarter Moschee. Sein Handy- Programm hilft beim Hadsch

ein besonderer mensch

App nach MekkaHabiburrahman Dastageeri weiß, wie schnell man bei der Pilgerfahrt die Orientierung verlieren kann.

Darum hat er einen mobilen Wegweiser programmiert

74 11.7.2013

gesellschaft

Page 75: Stern 2913
Page 76: Stern 2913

Ein Land unter FeuerOb lässig im Park oder straff durchorganisiert in Abendkursen: Grillen ist die neue alters- und klassenlose Sommer-Leidenschaft der Deutschen. Eine Erkundung

Gesellschaft

Page 77: Stern 2913

Fot

o: H

eik

o S

pe

cH

t/la

iF

Ein Land unter FeuerOb lässig im Park oder straff durchorganisiert in Abendkursen: Grillen ist die neue alters- und klassenlose Sommer-Leidenschaft der Deutschen. Eine Erkundung

Grillen als Lebensgefühl: draußen sein, unbeschwert

sein, abhängen. Kölns Grüngürtel zwischen Uni und Aachener Weiher

11.7.2013 77

Page 78: Stern 2913

Es geht auch ohne Kurs. Hier die Berliner Bordstein- Variante. Eine Improvisation mit Stil: Der Grill ist ein High- End-Modell

Koch Gerhard Volk (l.) bei einem seiner Durbacher Som-merkurse. Im Vordergrund, mit daumendickem Fettrand: fünf Pracht-Steaks

Page 79: Stern 2913

Fot

os:

Ma

rt

in W

ag

en

ha

n; F

ra

nk

ro

th

e; J

ul

ia h

oe

rsc

h; t

ho

rst

en

su

ed

Fel

s

Rezept 1

BBQ-RibsFür 4 Personen. Gut vorzubereiten, einfach

150 g Zwiebeln, 2 Knoblauchzehen, 3 Stiele Thymian, 4 EL Sonnen- blumenöl, Paprikapulver, 3 EL Aceto Balsamico, 300 ml naturtrüber Apfelsaft, 3 EL Ahornsirup, 1 EL mittel-scharfer Senf, 1–2 TL Tabasco, 2 EL Worcester shire-Sauce, 4 EL Tomatenketchup, 1 EL Oregano, 2 EL Sojasauce, 1 TL Salz, Pfeffer, 2 Schweinerippchen am Stück (à ca. 600 g), 1 Handvoll Räucherchips (Heimwerker- oder Angelbedarf). Außerdem: Gefrierbeutel

1. Für die Marinade Zwiebeln und Knoblauch klein würfeln. Die Thymian-blättchen abzupfen und grob hacken. Öl in einem Topf erhitzen. Zwiebeln und Knoblauch darin glasig dünsten. Thymian und Paprikapulver zugeben und kurz mitbraten. Mit Balsamessig und Apfelsaft ablöschen. Ahornsirup, Senf, Tabasco, Worcestershire-Sauce, Ketchup, Oregano und Sojasauce dazugeben. Zehn Minuten bei mittlerer Hitze kochen lassen. Mit Salz und Pfeffer würzen. Mit einem Schneidstab fein pürieren und abkühlen lassen.

2. Die Rippchen mit der Marinade in einen großen Gefrierbeutel geben und fest verschließen. Im Kühlschrank acht Stunden lang, am besten über Nacht, marinieren. Das Fleisch abtropfen lassen und auf dem heißen Grill, am besten bei indirekter Hitze (nicht direkt über der Glut) und geschlossenem Deckel, 30 Minuten garen. Dabei ab und zu wenden und mit der Marinade bestreichen. Fünf Minuten vor Ende der Garzeit die Räucherchips direkt auf die Glut geben und mit geschlossenem Deckel zu Ende garen.

Zubereitungszeit: 50 Minuten plus Marinierzeit über Nacht

Sechs Brocken. Jeder sechs- bis acht-hundert Gramm schwer, blassrosa, fest, zart marmoriert, mit einem daumendicken Fettrand. So eben-mäßig, als wären sie aus dem Stein-bruch von Carrara gemeißelt. Ger-hard Volk streichelt die Steaks, mit Händen und mit Worten: „Das ist kein Fleisch, das ist der Wahnsinn!“

Die Runde schaut andächtig auf das Fleisch und auf den Koch. Die Steaks von amerikanischen Weide-rindern, „Dan Morgan Qualität“, werden auf der Terrasse eines Wein-guts im badischen Durbach auf den Grill gelegt. Fleisch von Rindern, die „drei Jahre lang über die Prärie zo-gen“ und zum Schluss noch eine Zeit lang „auf der Koppel gemästet wur-den“, wie Gerhard Volk schwärmt. Der Mann, Streichholzfrisur und Lausbubengrinsen, trägt feuerfeste blaue Handschuhe und eine eng sit-zende schwarze Jacke mit blanken Metallknöpfen.

Der Offenburger Gerhard Volk be-treibt seit zwölf Jahren neben seiner Koch- auch eine Grillschule, er weiht selbst Sterneköche in die Ge-heimnisse des perfekten Grillens ein. An einem Mittwochabend Ende Juni – es regnet mal nicht – hat er Otto-Normal-Griller in seinem fünfstündigen Kurs. Menschen, die gerade von der Arbeit kommen, von der Autobahn, die müde sind, vor al-lem aber: hungrig. Der Anblick der Wahnsinnssteaks beflügelt die Fan-tasie. Volk weiß das, deshalb serviert er zur Besänftigung eine Bratwurst vorneweg.

Erstaunliches geschieht in diesen Wochen in Deutschland: Wohin man blickt, es wird gegrillt und ge-brutzelt, „gesmoked“ und „gebarbe-cued“. Mag der Frühsommer auch noch so verregnet gewesen sein – die Regale der Baumärkte und Gar-tencenter quellen über mit Grill-utensilien. Auf den Aktionstischen der Buchläden stapeln sich die Rat-geber und Rezeptbücher: „Grillen wie die Meister“ oder „Weltmeister am Grill“. Es lodert und glodert, es glutet und lutet, dass Edmund Stoiber seine Freude haben dürfte. Ein Land unter Feuer. Viele Grillkur-se quer durch Deutschland sind bis in den September hinein ausge-bucht. Und das bei Gebühren von 100 Euro und mehr. 1,1 Milliarden Euro gaben die Deutschen 2012 für Geräte und Zubehör aus – rund 40 Prozent mehr als 2008. In diesem Jahr werden vermutlich 250 000 Tonnen Holzkohle verfeuert. Ton-nen, nicht Kilogramm.

Niemand profitiert so sehr vom Bedürfnis nach dem Draußensein wie der amerikanische Hersteller Weber-Stephen. Zweistellig sind die Zuwachsraten, zweistellig ist der Marktanteil; genaue Zahlen mag man nicht nennen. Auch andere bauen gute Gerätschaften, aber nie-mand versteht es in dieser Branche so gut, sich zu positionieren: mit Grillbüchern und einer flächende-ckenden Grillakademie, die in 14 deutschen Städten Kurse anbietet –und natürlich die passenden Pro-dukte. Mit einem edel gestalteten Journal und der frechen Behaup-tung: „Der Grill. Das Original.“ Rich-tig daran ist, dass Firmengründer George Stephen 1952 am Lake Mi-chigan eine Schiffsboje zum Grill umbaute: Im unteren Teil loderte fortan die Glut, im oberen Teil, unter dem Deckel, zirkulierte die Hitze.

Ein kleiner Schritt für George Ste-phen, ein großer für die grillende Menschheit: Weil die Kohle im Bo-jen-Bauch ringförmig angelegt wur-de, die Mitte blieb frei, verbrannte das Grillgut auf dem Rost nicht sofort, sondern wurde mittels der Rundumwärme indirekt, also scho-nend und schmackhaft, gegart.

Bis sich das Prinzip in Deutsch-land durchsetzte, dauerte es noch

SWer kocht, der

kann auch grillen. Aber wer grillt,

muss nicht kochen können: Die alte

Faustregel schwinde, sagt

Achim Ellmer, 47, Küchenchef des Food-Magazins

„Essen & Trinken“. Die Deutschen

grillten heute auf-wendiger, legten

Wert auf gute Produkte. Für den stern wählte Ellmer drei Rezepte aus

seinem Fundus aus

11.7.2013 79

4

Page 80: Stern 2913

Fot

os:

th

or

ste

n s

ue

dFe

ls;

Ma

rk

us

J. F

eg

er

; an

ita

aFF

en

tr

an

ge

r; i

llu

str

at

ion

en

: st

er

n-i

nFo

gr

aFi

k

Rezept 2

Dorade mit Kräutern

Für 4 Personen, einfach

4 Doraden (à 400 g, küchenfertig), 100 g Schalotten, Salz, Pfeffer, 8 Biozitronenscheiben, 4 Stiele

Fenchelkraut, 8 Stiele Thymian, 3 EL Zitronensaft, 9 EL Olivenöl

1. Doraden innen und außen gut waschen, dann trocken tupfen. Scha- lotten in grobe Scheiben schneiden.

Doraden auf jeder Seite zwei- bis dreimal schräg einschneiden, innen und außen

mit Salz und Pfeffer würzen und die Bauchhöhlen mit je 2 Zitronenscheiben,

1 Stiel Fenchelkraut, 1 Stiel Thymian und den Schalotten füllen. Die Fische

bis zum Grillen mit einem feuchten Küchentuch abgedeckt kalt stellen.

2. Für die Marinade vom restlichen Thymian die Blättchen abstreifen und fein hacken. Thymian mit Zitronensaft

und 6 EL Olivenöl verrühren. Mit Salz und Pfeffer würzen.

3. Doraden von beiden Seiten mit dem restlichen Olivenöl einpinseln und in

eine Fischgrillzange geben. Jede Dorade mit Marinade bestreichen und 10 bis

15 Minuten grillen, dabei immer wieder mit der Marinade bestreichen.

Zubereitungszeit: 35 Minuten

Jahrzehnte: Hierzulande warfen Ge-nerationen vornehmlich männli-cher Griller Bratwürste und Na-ckensteaks auf den Rost, der unmit-telbar über der, Achtung!, lodernden Glut positioniert war. Würstchen und Fleisch wurden binnen Sekun-den braun, um weitere zwei Minu-ten später tiefschwarz und holzkoh-letrocken vom Grill genommen zu werden. Nicht selten mit einer leich-ten Rußschicht bedeckt, weil Mann Bier über Gut und Glut geschüttet hatte, des vermeintlich besseren Ge-schmacks wegen. Heute kommen auf den Grill „Kalbsbrüstle in Blät-terteighaube“ oder, wie beim amtie-renden Deutschen Grillmeister Michael Hoffmann aus Rösrath bei Köln, „Handgefangener schottischer Wildlachs mit Zitronenbutterfül-lung und Pomery-Senfkruste“.

Genuss hat seinen PreisWas aber macht die Faszination aus? „Kochen und Grillen sind Gemein-schaftserlebnisse. Das Bedürfnis da-nach nimmt zu“, sagt Achim Ellmer, Küchenchef von „Essen & Trinken“, dessen Rezepte auf diesen Seiten stehen. „Die Leute sind den ganzen Tag irgendjemandes Geisel, sie seh-nen sich nach dem Genuss, sie wol-len runterkommen“, ergänzt Ger-hard Volk, der Metzgerssohn und Menschenfischer. Sein Grillkurs be-steht aus 18 Männern, dazwischen verstecken sich zwei Frauen. Alters-spanne etwa 30 bis 50. André, Mi-chael, Jürgen, Stefan, Thomas und die anderen sollen ein fünfgängiges Menü kochen, mit Burger, Lachs und Rindersteaks. Beste Produkte. Nichts, was man mal so eben auf den Grill haut. „Wer Fußball gucken und nebenbei grillen will, macht Hals-schnitzel. Wollt ihr genießen, kauft richtig gute Sachen“, sagt Volk.

Genießen wollen sie alle. Michael, Techniker im Außendienst, der schon „Basic-Kurse“ hinter sich hat und jetzt, im „Classic-Kurs“, nach „Upper-Class-Rezepten“ sucht. Klaus, Entwickler für Zahnpastaver-packungen, der nach „neuen Ideen und Impulsen“ für seinen Kugelgrill schaut. Genießen also – und ein bisschen beeindrucken, beispiels-weise die Ehefrau. Würstchen gril-len kann schließlich jeder. Aber

Lachsfilet mit Waldbeerenglasur und Meerrettichcreme?

Wie man einen Grill richtig befeu-ert, das wissen hier die meisten schon, es ist ja der Fortgeschritte-nenkurs. Auf der Terrasse steht eine Armada an Grillgeräten aufgereiht. Klassiker, schwarze Kugeln, aber auch Gas- und Elektrogrills, chrom-glänzende Geräte neuesten Typs, mit elektronischem Zündsystem und peppig beleuchteten Schalt-knöpfen. Sie heißen Genesis, Spirit oder schlicht Q, manche sehen aus wie eine Kreuzung aus fahrbarem Metallschrank und Leopard-Panzer. „Kult“ seien die, schwärmt Volk, aber ansonsten hält er sich mit Produkt-werbung zurück. Die Technik ist oh-nehin zweitrangig. Die wichtigste Zutat für Rinderrückensteak mit Chili-Kräuter-Butter gibt es nir-gendwo zu kaufen: Geduld.

Man muss keinen Kurs besuchen, um grillen zu können. Es geht schlichter, ein wenig wilder, jeden-falls improvisierter. Beispielsweise an einem Samstag in Berlin-Kreuz-berg. Wenige Meter vom Mariannen- platz entfernt ist gerade die Parade des Alternativen Christopher Street Day zu Ende gegangen. Vier Polizei-wagen fahren in den Feierabend. Auf dem Bordstein steht ein rauchender Grill, auf dem marinierte Steaks brutzeln, davor ein Holztisch, darauf ein Sommerblumenstrauß, Salat, Baguette und Wassermelone. Keiner der Polizisten wagt es, den Kopf nach links zu drehen, zu der Gruppe und ihrem Grill. Dann müssten sie ja an-halten und ihnen 20 Euro Bußgeld aufbrummen für ordnungswidriges Grillen, und das so kurz vor dem Fei-erabend. Die Polizisten fahren weiter.

U m den Tisch sitzen acht Leute. Sie sind alle zwischen 28 und 37 Jahren alt und nach dem Studium in Berlin gelandet,

um dort zu arbeiten. Einer bei einem Umweltschutzverband, eine betreut die Facebook-Seite eines Großkon-zerns, einer hat sein eigenes Start-up. Im Sommer treffen sie sich auf dem Bordstein vor der Kreuzberger WG von Daniel und Rana. Die liegt im Erdgeschoss. Über den Balkon reichen sich die Freunde Stühle, Tel-ler, Gläser und kühles Bier.

Schwenker Ihn kennt man von

Hafengeburts- tagen und

Oktoberfesten: der Schwenkgrill, made im Saarland

Gasgrill Für ambitionierte GrillerInnen: gut

zu bedienen, ruck, zuck auf Tempe-ratur, einfach zu

säubern

Kugelgrill Der Holzkohle-

Klassiker mit Deckel. Er sorgt

für gleichmäßige Hitze – und damit

perfekte Bräunung

SMOKER Garen mittels

Rauch: Durch eine Öffnung gelangt

er von der Feuerbox (r.) in den Garraum.

Grillen bei 60 bis 90 Grad, bis zu

24 Stunden lang

80 11.7.2013

4

Page 81: Stern 2913

Der Dreibeiner in Aktion am Rhein-Herne-Kanal bei Castrop-Rauxel: Würstchen und Spieße, dazu Cola und Krombacher

Bodensee-Gastwirt Artur Frick-Renz (l.) mit Jagdfreunden. Sein Smoker liefert zarte Rehkeule, mit Reh-Hack und Em-mentaler gefüllte Kartoffeln, Pfirsich mit Salbei und Speck umwickelt, Reh-Bratwürste

Page 82: Stern 2913

Fot

os:

th

or

ste

n s

ue

dFe

ls;

th

e G

al

le

ry

Co

ll

eC

tio

n/C

or

bis

Rezept 3

Gewürzöl-GarnelenFür 2–4 Portionen, raffiniert

4 Stiele Thymian, 4 Stiele Salbei,6 Stiele Petersilie, 15 g frischer Ingwer,

1 Knoblauchzehe, 1 EL Fenchelsaat, 1 EL scharfes Paprikapulver, Meersalz,

Schale von 1 Bioorange, Schale von 1 Biolimette, 1 TL schwarze

Pfefferkörner, 8 El Olivenöl, 8 Riesen-garnelen (ohne Kopf, mit Schale,

küchenfertig, à ca. 80 g)

1. Thymian-, Salbei- und Petersilien- blätter abzupfen und grob hacken.

Ingwer schälen und klein schneiden. Den Knoblauch klein schneiden.

2. Die vorbereiteten Zutaten mit Fenchelsaat, Paprikapulver, 1 EL Meer-

salz, Orangenschale, Limettenschale, Pfefferkörnern und Olivenöl in den

Blitzhacker geben und fein pürieren.

3. Garnelen am Rücken entlang einschneiden, entdarmen und in einer

Schüssel mit der Marinade mischen. Abgedeckt im Kühlschrank eine Stunde marinieren. Garnelen abtropfen lassen und auf dem heißen Grill zehn Minuten

von allen Seiten grillen.

Zubereitungszeit: 20 Minuten plus eine Stunde Marinierzeit

Bis vor Kurzem grillten sie noch auf diesen Tankstellen-Dreibeinern, die schon nach der halben Saison gern durchrosten und abknicken. Die Berliner Clique hat vor ein paar Wochen deshalb zusammengelegt: 450 Euro für einen gediegenen Grill samt Deckel mit eingebautem Ther-mometer, damit Nackensteaks und Hähnchenschenkel saftig bleiben.

Noch hat sich keiner der Nach-barn beschwert, weder über den Fleischgeruch noch darüber, dass die Freunde über einen mobilen Lautsprecher, an den sie ihre iPhones anschließen, eine wilde Musikmischung hören, von Daft Punk bis zum Duett von Udo Lin-denberg und Clueso.

Unbeschwert ging es bis zum ver-gangenen Jahr auch im Berliner Tiergarten zu. Weil aber an Mon-tagen nach sommerlichen Wochen-enden auf den Wiesen zwischen Schloss Bellevue, Siegessäule und Botschaftsviertel sechs bis acht Ton-nen Knochen, Einwegteller und lee-re Ketchup-Flaschen lagen, verbot die Stadt die Völker und Kulturen verbindenden Grill-Happenings.

S chade, denn das Grillen hat weltweit einen hohen gesell-schaftlichen Stellenwert. In Ar-gentinien ist der „Asador“, der

Mann am Grill, unumschränkter Herrscher jeder kulinarischen Fest-gesellschaft. Asado ist der Grill, der Asador also das, was im spanischen Stierkampf der Matador ist. Das Wort „Churrasco“, wie die brasilianische Spielart des Grillens heißt, geht ver-mutlich auf die lautmalerische Be-schreibung des ins Feuer tropfenden Fettes zurück. Braii ist die südafrika-nische Variante. „Lass die Finger von der Frau und dem Feuer eines Man-nes“, gilt als überliefertes Sprichwort.

Wo das alles seinen Anfang nahm, lässt sich nicht eindeutig belegen. Der französische Maler und Aben-teurer Jacques Le Moynes hielt die Eindrücke einer kolonialen Ameri-kareise im 16. Jahrhundert in einem Bild fest: „How to grill animals“. Die heute noch ehrwürdige Zunft „Chaî-ne de Rôtisseur“, der Spießbräter, geht auf das 13. Jahrhundert zurück. Aber natürlich wurde auch schon vorher die Nahrung in der Glut ge-

gart. Der britische Anthropologe und Harvard-Professor Richard Wrang-ham behauptet gar, die „Kontrolle des Feuers und die Erfindung des Ko-chens“ hätten uns zu Menschen ge-macht. Und das nicht vor 800 000 Jahren, sondern vor zwei Millionen. Bisherige Lehrmeinung: Erst als die Gehirne groß genug waren fürs Den-ken und Nachdenken, nutzte der Mensch das Feuer zur Zubereitung von Mahlzeiten. Wranghams These: Unsere Vorfahren wuchsen, weil sie das Kochen, also Grillen überm Feu-er, viel früher entdeckten. Mit pflanzlicher Nahrung allein hätten die Gehirne nicht so wachsen kön-nen. Und weil parallel dazu die Zäh-ne und Münder kleiner wurden, kön-ne die Nahrung nicht rohes Fleisch gewesen sein. Es müsse sich um „wei-ches Essen“ gehandelt haben.

Wer Feuer macht, steht obenWie so oft in der Geschichte der menschlichen Evolution habe der Zufall eine Rolle gespielt. Irgend-wann sei ein Stück Essen ins Feuer gefallen, ein neugieriger Homo erectus muss es wieder heraus-gepolkt haben. Das kennt man ja heute noch vom Tankstellengrill mit seinem unpraktischen Gitterrost: Man will das Würstchen drehen und, schwupps, rutscht es durch und in die Glut. Es qualmt, es kokelt. Man hebt hektisch den Rost an einer Sei-te – und schon kullern die restlichen Würstchen hinterher. Farblich passt sich das Gesicht in solchen Momen-ten der Weißglut an. Wer das Feuer macht, sagen uns die Soziologen, steht von Alters her in der Sozialhie-rarchie ganz oben. Nix Heimchen

So grillte das wilde Amerika im 16. Jahrhundert. Stich nach einem Aquarell des Franzosen Jacques Le Moynes. Nicht klar ist, was schneller verbrannte: das Getier oder das Gestell

„Tanke“ Fürs schnelle

Schlichtgrillen, bei dem das Bier im Vordergrund stehen soll und

die Wurst nur als gute Grundlage

dient

JVA-Version Holzkohlegrill mit

Resozialisie-rungseffekt: zu

beziehen in verschiedenen

Formen über die Gefängnis-Shops in Deutschland

82 11.7.2013

4

Page 83: Stern 2913
Page 84: Stern 2913

Auf den Geschmack gekommen? Bei www.stern.de/grillen finden Sie einen ausführli-chen Grill-Führer mit vielen Rezep-ten, Fotos und Videos. Dazu: Rudolf Jäger, Sprecher des Deutschen Grill-sportvereins, über Whiskey im Holz und Männer am Scheideweg zwischen Smoker und Schwenker

0am Herd, der Herr am Grill. Und dass die Männer lieber richtiges Fleisch denn Huhn, Fisch oder Gemüse es-sen, ist auch tradiert. Schreibt jeden-falls der emeritierte Frankfurter Ethnologe Klaus E. Müller in seinem feinen Buch „Nektar und Ambrosia“. In allen Kulturen „kamen den Män-nern, vornehmlich den ältesten und den Haushaltsvorständen, das Vor-recht auf Fleischkost zu“. In Europa habe das noch bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts gegolten. Speziell in Notzeiten: „Männer standen im Rang über den Frauen.“ Vielleicht stehen sie deshalb so treu und un-verbrüchlich fest am Grill.

Doch auch diese Bastion bröckelt. „Noch vor drei, vier Jahren verlor sich in unseren Kursen eine Frau, heute haben wir nicht selten vier oder gar fünf unter den jeweils 20 Teilneh-mern“, sagt die Hamburger Köchin Aleksandra Karimova. Holzkohle und Briketts, das stand für heiß und gefährlich, schwer zu kontrollieren.

Der Siegeszug des Gasgrills bringt das Männerbild ins Wanken, denn er ermöglicht filigranes, weniger schweißtreibendes Grillen. Und die Gasflasche kann der Mann anschrau-ben. Er wechselt ja auch die Reifen.

Nur was ist mit dem Geschmack: Schön Rauchiges vom Gasgrill, wie soll das gehen? Ist es nicht die Holz-kohle, die diesen einzigartigen Gout gibt, dieses Karamellige? „Beißen Sie mal auf ein Stück Holzkohle“, sagt Michael Hoffmann, der deutsche Meister, der mit seinem Team „Gut Glut“ seinen Titel im Mai erfolgreich verteidigte. „So soll das Fleisch doch wohl nicht schmecken.“ Der rauchi-ge Grill- und Barbecue-Geschmack entstehe durch die hohen Tempera-turen. Über 250 Grad karamellisie-re der Fleischsaft, es entstehe eine schmackhafte Kruste auf dem Fleisch. „Da ist es egal, ob die Hitze durch Holzkohle oder Gas erreicht wird.“ Gegen Gas spricht allenfalls nur der Umstand, dass der sozialde-

mokratische Gesundheitsapostel Karl Lauterbach dauernd und ener-vierend dafür trommelt.

Ein Zweites: das womöglich feh-lende „heimelige Gefühl“, von dem der Offenburger Koch Gerhard Volk spricht, als er gefühlte drei Stunden nach Kursbeginn den Deckel des Grills öffnet. Er holt das Steak heraus, den vormals dicken Brocken, würzt ihn mit Fleur de Sel und schwarzem Pfeffer, schneidet ihn feierlich in dünne Scheiben. Und reicht sodann Scheibchen um Scheibchen auf der Messerspitze. Gegessen wird mit den Fingern. Ro-sa-warmes, rauchiges Fleischaroma. Zarte Kruste. Grandios!

Was aber ist mit dem Feuer und dem Mythos, mit tradierten Menschheitsweisheiten wie „er-loschenes Feuer = erloschene Fami-lie“? Feuer wärmt die Seele und gibt doch der männlichen Sehnsucht nach Romantik Ausdruck. Schließ-lich lagerten Männer am Lagerfeu-

Page 85: Stern 2913

Fot

o: t

he

od

or

Ba

rt

h

gut zu wissen 10 Tipps vom deutschen Meister Michael Hoffmann

1. Beim Anzünden der Holzkohle nur Sicher-heitsanzünder ver-wenden. Spiritus oder Benzin sind tabu. Sind keine Anzünder im Haus, eignen sich Eier-kartons sehr gut. Am schnellsten ist die Kohle mit einem Heiß-luftföhn gezündet – gibt es im Baumarkt.2. Holzkohle oder Briketts? Holzkohle ist schneller angezündet,

hält aber die Tem- peratur nicht so lange. Briketts brauchen länger, halten aber die Hitze besser. Am besten: Holzkohle und Briketts mischen.3. Mit dem Grillen erst beginnen, wenn die Holzkohle eine dünne weiße Ascheschicht gebildet hat.4. Temperatur prüfen: Die Hand auf der Höhe des Grillrosts über den

Grill halten und zählen: 21, 22, 23. Muss man die Hand vorher weg-ziehen, ist der Grill zu heiß. Hält man es länger aus, ist die Temperatur zu niedrig.5. Den Grillrost vorher mit etwas Speiseöl einpinseln. Das verhin-dert das Anpappen des Fleisches, und der Grillrost lässt sich nachher besser reinigen.6. Fleisch erst nach dem Grillen salzen. Es trocknet sonst schnell aus.7. Das Grillgut zwei Stunden vor dem Grillen aus dem Kühl-schrank nehmen. Ist es zu kalt, verbrennt es außen und ist innen noch nicht gar.

8. Nicht mit Bier ab löschen. Das wirbelt die Asche auf. Besser überschüssige Marina-de vor dem Grillen mit Küchenpapier abtupfen. Wenn man einen Biergeschmack am Fleisch haben möchte, das Fleisch über Nacht in eine Biermarinade einlegen.9. Zum Wenden eine Grillzange oder Grill-schere verwenden. Nicht mit einer Gabel in das Fleisch stechen. Der Fleischsaft würde austreten, das Fleisch wird trocken.10. Nach dem Grillen den Rost in nasses Zei-tungspapier wickeln und über Nacht stehen lassen. Er lässt sich so einfacher reinigen.

er und nicht an der Gasflasche, als sie ihre Heldengeschichten erfan-den. Um also am Ende eines zünfti-gen Grillabends auf die wichtigen Fragen zurückzukommen: Holz-kohle oder Gas, Merkel oder Stein-brück, Dortmund oder Bayern?

Der Herr der großen und der klei-nen Dinge hat uns, Gott sei Dank, den Kompromiss geschenkt: den Gasgrill fürs Unisex-Grillen, den Feuerkorb fürs männliche Gemüt. Für Merkel und Steinbrück die Gro-ße Koalition. Für Dortmund und die Bayern die Nationalmannschaft. Und für alle anderen zum Abschluss noch ein kaltes Bier. 2.

ingrid eißele und Michael stoessinger spürten der neuen Stadt- und Landlust

nach. In Berlin, am Bodensee und in Nordrhein-Westfalen erkundeten außerdem Rupp Doinet, Gerd Elendt und Laura Himmelreich die Welt von Glut und Kohlen

Page 86: Stern 2913

Hoch hinaus: viel Bein bei Istanbul Next, der Plattform für junge türkische Designer

Page 87: Stern 2913

Gut gelaufen

Weniger Stars, mehr Mode: Die Berliner Fashion Week war in diesem Jahr vor allem eine Bühne für den Nachwuchs. Der Fotograf Thomas Rabsch hat sich umgesehen

11.7.2013 87

FotograFie

Page 88: Stern 2913

88 11.7.2013

Page 89: Stern 2913

Mode zieht an – die Schönen wie die Unperfekten

Patrick Mohrs Kleider werden von Models, Türstehern und Rollstuhlfahrern wie Nina Wortmann präsentiert

Page 90: Stern 2913

Backstage beim Africa Fashion Day. Hier haben junge afrikanische Designer die Möglichkeit, sich zu präsentieren

Warmlaufen für Lala Berlin: In den alten Opernwerkstätten üben die Models die Choreografie

Page 91: Stern 2913

Wie jedes Jahr lädt Michael Michalsky ins Berliner Tempodrom und feierte diesmal mit etwa 1500 Gästen seine neue Mode

Auch Sänger Roger Baptist alias Rummelsnuff ist Model bei Patrick Mohr. Und gerade schlecht gelaunt, weil er nichts zu essen bekommt

Page 92: Stern 2913

Ein seltenes Exemplar in der ersten Reihe

Eine der wenigen VIPs: Mischa Barton, umringt von Bodyguards und Fotografen, bei der Show von Marc Cain

Page 93: Stern 2913

11.7.2013 93

Page 94: Stern 2913

Die Schauspielerinnen Peri Baumeister, Claudia Michelsen, Fritzi Haberlandt und Anna Fischer (v. l.) beim P & C-Nachwuchspreis „Designer for Tomorrow“

Die Designerinnen von Augustin Teboul teilten mit weißen Stoffbahnen einen alten Supermarkt aus den Sechzigern

Page 95: Stern 2913

Mann aus Eisen: Sven Marquardt, 51, Türsteher im Club Berghain und Fotograf, machte die Bilder für Patrick Mohrs Show

Auf der Wies’n: Für die Streetwear-Messe Bread & Butter wurde das Rollfeld des ehemaligen Flughafens Tempelhof in eine kleine Freizeitanlage verwandelt

Page 96: Stern 2913

Juli 2013, im Zentrum der Ber­liner Fashion Week hinter dem Brandenburger Tor: Mädchen stöckeln zu den Ticketschal­tern, die Absätze der Schuhe höher als die Neonröcke lang;

dünne Männer in Bermudas und mit untertassengroßen Sonnen­brillengläsern tippen auf ihre Smartphones. Auf dem roten Tep­pich vor dem großen Zelt dreht sich, je nach anstehender Modenschau, die geladene B­, C­ oder D­Promi­nenz für die Fotografenmeute – eigentlich scheint alles wie immer auf der 13. Fashion Week Berlin. Doch etwas war in diesem Jahr anders.

Der Designer Hien Le aus Laos hatte die Modewoche eröffnet: Kleider mit Libellen­Prints, aus Baumwollstoffen und fließender Seide in den Farben der Natur wie Blau, Weiß und Korall. Später waren die 50er­Jahre­Frauen der Designe­rin Lena Hoschek dazugekommen, in Tellerröcken, bonbonfarbenen Bustierkleidern und Bleistiftröcken. Auch Lovelyn und Luise, Gewinne­rin und Drittplazierte bei „Germa­ny’s Next Topmodel“, durften auf den Laufsteg.

Was fehlte, waren die großen deutschen Marken: Hugo Boss, Rena Lange, Escada – ausgerechnet die bekannten Häuser, die in den ver­gangenen Jahren glamouröse Stars und internationale Presse nach Ber­lin gelockt hatten, waren dieses Mal nicht dabei. Aber am Ende war das gar nicht so schlimm.

Bei der Berliner Modewoche konnte man vor allem eines fest­stellen: Es tut gut, wenn es mal we­niger um Stars und mehr um Mode geht. Um Ideen, die vor Ort entste­hen. Um Newcomer. Berlin hat ge­nügend junge Designer, die eine Plattform verdient haben.

Etwa das Duo Augustin Teboul mit seinem künstlerischen, stets schwarzen Entwürfen aus filigranen Häkeleien, Plissee, Netz und Leder. Das Label Achtland von Thomas Bentz und Oliver Lühr, das mit kla­rer grafischer Linienführung, feiner Seide und aufwendigen Stickereien

überzeugt. Tutia Schaad und Johan­na Perret, denen mit ihrer oft skulp­turhaften Mode immer wieder das Spiel aus Avantgarde und schlichter Eleganz gelingt. Oder das schon eta­blierte Label Lala Berlin von Leyla Piedayesch, die ihre lässigen Ent­würfe aus Seide und Kaschmir in leuchtenden Farben und bunten Drucken inzwischen in über 60 Lä­den weltweit verkauft.

Viele der jungen Designer zeigten ihre Mode dann auch nicht auf dem üblichen Laufsteg des Fashion­Zel­tes. Sie hatten sich besondere Orte gesucht – und von denen bietet die Stadt viele.

Berlins marode Coolness war stilgebende Kulisse für eine Mode­woche, die raue Urbanität und eigensinnige Ideen nicht scheute. Annelie Augustin und Odély Teboul inszenierten ihre handgearbeiteten Stücke in einem kargen, abgedun­kelten Raum: einem ehemaligen Supermarkt aus den Sechzigern, den sie mit weißen Stoffbahnen in meh­rere Gänge geteilt hatten. Ein Model lief auf und ab, dazu ertönte ein Gospelsong im Wechsel mit einer dramatischen Klaviermelodie und Glockenklängen. Es war mehr eine Performance als eine Modenschau.

Patrick Mohr zeigte seine Ent­würfe in einem abgerockten Haus mit blätterndem Putz. Seine Mo­dels: Rollstuhlfahrer, Türsteher und der Transgender­Sportler Balian Buschbaum, der früher mal Yvonne hieß.

Die Designerinnen von Perret Schaad versammelten ihr Publikum um die verglaste Eingangshalle der Neuen Nationalgalerie und ließen es hineinblicken zu den Models, die an den Scheiben vorbeiliefen wie in einem Stummfilm; im Hintergrund nur die Geräusche der Autos.

Die Berliner Modewoche war so vielfältig wie keine andere: Der Africa Fashion Day fördert junges Design aus Afrika; die Istanbul Next unterstützt und präsentiert türki­sche Nachwuchsdesigner. Der Green Showroom zeigte umweltfreund­lich hergestellte Mode; es gab Mode für Kurvige oder für Skater.

Und ein paar internationale Sze­ne­Größen konnte man dann doch noch entdecken. Schauspielerin Mischa Barton etwa oder James Goldstein, den mysteriösen Multi­millionär aus Los Angeles, der zu den Fashion Weeks auf der ganzen Welt reist. „Das alles hier ist viel­leicht nicht auf dem gleichen Level wie die großen Modewochen“, sagt er und grinst. „Aber Berlin ist ein­fach ein großer Spaß.“

Damit trifft er den Geist der Stadt auf den Punkt: Berlins junge Mode­szene hat nichts Ausgrenzendes, nichts Elitäres. Aber etwas Einzig­artiges: Jeder ist willkommen, jeder darf mitfeiern und sich an den Ideen freuen. Dafür braucht es keine großen, international bekann­ten Namen – die gibt es auch wo­ anders.

Die Berliner Modewoche entwi­ckelt ihren ganz eigenen Charme und Stil. Sie muss nur das Selbst­bewusstsein haben, auch daran zu glauben. 2

„Berlin ist einfach ein großer Spaß“James Goldstein, US-Multimillionär und Schlachtenbummler auf vielen Modenschauen dieser Welt

Zeigt her eure Schuh: Michael Michalsky präsentiert hinter der Bühne im Tempodrom ein paar Silber-Sneaker aus seiner eigenen Kollektion

96 11.7.2013

Christine Zerwes, Autorin dieses Textes, fährt seit 2008 zu den Fashion Weeks nach Mailand, Paris

und Berlin, und dies zweimal im Jahr. Für den Fotografen Thomas Rabsch war es das erste Mal: „Ich fand es über-raschend cool und unarrogant“

Page 97: Stern 2913

LeserserviceStefanie Korte, Daniela Leopold Telefon: 040/3703-3542 Fax: 040/3703-5768 E - Mail: [email protected]ätseLTelefon: 040/37 03 - 35 75ArtikeLAbfrAge im ArchivTelefon (Mo.–Fr. 10–12 Uhr): 040/3703-38 88 DeutschLAnDJahresabonnement € 174,20 Jahresstudentenabonnement € 127,40 stern - kunDenservice20080 Hamburg Telefon: 040/55 55 78 09 Fax: 01805/861 80 02* E - Mail: abo - [email protected] (bücher):Telefon: 040/42 23 64 27 Fax: 040/42 23 66 63 E - Mail: [email protected]Österreich, schweiz, übriges AusLAnDTelefon: +49/40/55 55 78 09 E - Mail: abo - [email protected] Abo-Auslandspreise auf Anfrage

kAnADAGerman Canadian News, 25–29 Cold water Rd., Toronto, Ontario, M3B1Y8 Telefon: +1/416/391 41 92 E - Mail: [email protected] (USPS no 0533870) is published weekly by Gruner + Jahr AG & Co KG. Subscription price for USA is $290 per annum. K.O.P.: German Language Pub., 153 S Dean St, Englewood, NJ 07631 Telefon: +1/201/871 10 10 E - Mail: [email protected] postage is paid at Englewood NJ 07631 and additional mailing offices. Postmaster: Send address changes to stern, GLP, PO Box 9868, Englewood NJ 07631besteLLung äLterer AusgAbenAnfragen mit gewünschter Heft nummer: stern-Versand service, 20080 Hamburg Per E-Mail: [email protected]

*14 Cent/Min. aus dem deutschen Festnetz

Gruner + Jahr AG & Co KG Druck- und Verlagshaus

Sitz von Verlag und Redaktion: Am Baumwall 11, 20459 Hamburg Postanschrift: Brieffach 18 20444 Hamburg Telefon: 040/37 03-0 Fax: 040/37 03-56 31 E-Mail: [email protected]

herausgeber Thomas Osterkorn und Andreas Petzold

chefredaktion Chefredakteur: Dr. Dominik Wichmann Stellvertretende Chefredakteure: Hans-Peter Junker und Steffen Klusmann Mitglied der Chefredaktion: Hans-Ulrich Jörges Artdirector: Johannes Erler Managing Editors: Rüdiger Barth, Florian Gless, Sabine Kartte, Jan Schnoor, Lorenz Wolf - Doettinchem, Anita Zielina

chefs vom DienstCatrin Boldebuck, Nicole Granzin, Andreas Projahn und Dirk Seeger

ressortsDeutschLAnDLeitung: Dr. Florian Güßgen und Frank Thomsen Dagmar Gassen, Lukas Heiny, Anette Lache, Rolf-Herbert Peters, Karin Prummer, Joachim Reuter, Elke Schulze, Dominik Stawski, Matthias Weber, Jan Boris Wintzenburg Telefon: 040/37 03 - 36 00 E - Mail: [email protected]

weLtLeitung: Giuseppe Di Grazia und Cornelia Fuchs Marc Goergen, Dr. Tilman Müller, Joachim Rienhardt, Bettina Sengling Telefon: 040/37 03 - 35 93 E - Mail: [email protected]

wissenLeitung: Dr. Anika Geisler und Christoph Koch Dr. Bernhard Albrecht, Nicole Heißmann, Werner Hinzpeter, Irmgard Hochreither, Dr. Frank Ochmann, Inga Olfen, Nina Poelchau, Andrea Rungg E - Mail: [email protected]

LebenLeitung: Stephan Draf und Ulla Hockerts Oliver Creutz, Rolf Dieckmann (Humor; frei), Kornelia Dietrich (Reise), Frank Janßen (Auto), Aïcha Reh, Annette M. Rupprecht (Jahrbuch), Matthias Schmidt, Tobias Schmitz, Bernd Teichmann, Beate Wieckhorst, Christine Zerwes (Mode) E - Mail: [email protected]

textredaktionTeamleitung: Arne Daniels, Peter Meroth und Thomas Schumann Dr. Andreas Albes, Dr. Helen Bömelburg, Nicolas Büchse, Alf Burchardt, Christian Ewers, Nora Gantenbrink, Raphael Geiger, Silke Gronwald, Dr. Horst Güntheroth, Uli Hauser, Kerstin Herrnkind, Kuno Kruse, Jarka Kubsova, Stephan Maus, Silke Müller, Andrea Ritter, Johannes Röhrig, Hannes Ross, Mathias Schneider, Doris Schneyink, Nikola Sellmair, Jochen Siemens (frei), Dirk van Versendaal (frei) Autoren: Bert Gamerschlag, Katja Gloger, Harald Kaiser, Hans-Hermann Klare, Arno Luik, Ulrike Posche, Peter Pursche, Kester Schlenz, Stefan Schmitz, Michael Stoessinger, Michael Streck, Walter Wüllenweber

investigAtive rechercheTeamleitung: Oliver Schröm Dirk Liedtke, Wigbert Löer, Andreas Mönnich, Nina Plonka, Uli Rauss Telefon: 040/37 03 - 44 22 Fax: 040/37 03 - 57 76 E - Mail: [email protected] Internet: www.stern.de/investigativ

DokumentAtion, LektorAt, briefeTeamleitung: Ursula Hien und Dr. Jochen Murken Susanne Elsner, Hildegard Frilling, Cornelia Haller, Christa Harms, Sandra Kathöfer, Judith Ketelsen, Mai Laubis, Michael Lehmann - Morgenthal, Gabriele Schönig, Cornelia Seßler, Andrea Wolf

bildredaktionLeitung: Andreas Kronawitt und Andreas Trampe Andreas Eucker, Petra Göllnitz, Orsolya Groenewold, Volker Lensch, Beate Magrich, Harald Menk, Claudia Menzel, Guido Schmidtke, Karolin Seinsche Assistenz: Jennifer Brück, Anke Bruns, Carolin Prohl, Isabelle Regnier, Alexandra Uhr Telefon: +49/40/37 03 - 44 39 E - Mail: [email protected]

grafikLeitung: Mark Ernsting und Frances Uckermann

Managing Designer: Bernd Adam, Felix Bringmann, Susanne Gräfe, Christiane Kapaun, Tanja Senghaas

Layout: Silvia Engelhardt, Joachim Frank und Christiane Kröger - Stark (Koord.), Susanne Bremer, Markus Dixius, Johannes Ertel, Andreas Fischer, Sabine Harms, Ibrahim Kepenek, Carolin Kunz, Birgit Ludwig, Nicole Prinschinna, John Skudra, Corinna Sobek, Susanne Söffker, Jürgen Voigt

titeLTeamleitung: Derik Meinköhn Manuel Dollt, Michel Lengenfelder Nicole Dresen (Art Buying; frei) infogrAfikTeamleitung: Bettina Müller Ronja Beer, Harald Blanck, Martin Freiling, Tina Nispel - Lonski, Andrew Timmins, Melanie Wolter

biLDtechnikTeamleitung: Tanja Metzner Julia Bähre, Gabriele Holona, Anna Prochnow

stabsstellenRedaktions- und Organisationsentwicklung: Annegret Bieger Assistenz der Chefredaktion: Peter Greve Redaktionsmanagement: Catrin Bartenbach Redaktionelle Initiativen: Klaudia Thal

korrespondenten inlandberLin unD ostDeutschLAnD Teamleitung: Axel Vornbäumen, Jens König (stv.) Laura Himmelreich, Andreas Hoffmann, Anja Lösel, Werner Mathes, Franziska Reich, Jan Rosenkranz, Holger Witzel, Investigative Recherche: Hans - Martin Tillack Autoren: Tilman Gerwien, Andreas Hoidn - Borchers, Jan Christoph Wiechmann Fotoreporter: Michael Trippel SpreePalais am Dom, Anna - Louisa - Karsch - Straße 2, 10178 Berlin Telefon: 030/202 24 - 0 Fax: 030/202 24 - 224 E-Mail: [email protected]

bADen - württembergIngrid Eißele (frei) Telefon: 07151/61 05 16 E - Mail: [email protected] Hutt, Dr. Georg Wedemeyer Telefon: 089/41 52 - 280 E - Mail: [email protected], [email protected] norDrhein - westfALenGerd Elendt Telefon: 0211/35 59 59 20 E - Mail: elendt.gerd@stern. derhein - mAinFrank Donovitz Telefon: 069/79 30 07-532 E - Mail: [email protected]

korrespondenten Ausland bAngkokBildredaktion: Dirk Claus (frei) Telefon: +66/0/855 60 07 47 E - Mail: [email protected] Gassel Telefon: +961/70 02 68 72 E - Mail: [email protected] Rosenkranz Telefon und Fax: +90/212/251 36 05 E - Mail: [email protected] LonDonBildredaktion: Dagmar Seeland (frei) Telefon: +44/1892/61 82 45 E - Mail: seeland. [email protected] AngeLesChristine Kruttschnitt Telefon: +1/310/470 16 14 E - Mail: [email protected]. Andreas Albes Telefon: +7/495/956 20 92 E - Mail: [email protected] Fotoreporter: Hans-Jürgen Burkard E - Mail: [email protected] yorkNorbert Höfler, Frauke Hunfeld, Martin Knobbe Ulrike von Bülow (frei), Anuschka Tomat (Recherche) Bildredaktion: Angelika Hala, Susanne Lapsien Telefon: +1/646/884 - 71 00 E - Mail: [email protected] Lutterbeck Telefon: +33/1/75 58 25 69 E - Mail: [email protected] und Recherche: Luisa Brandl (frei) Telefon: +39/06/45 42 07 70shAnghAiJanis Vougioukas Telefon: +86/21/64 45 94 82 E - Mail: [email protected]

Digitalstern.DeLeitung: Anita Zielina, Jan Schnoor (New Channels) Redaktion: Henry Lübberstedt (Geschäftsführender Redakteur) Nachrichten: Jörg Hermes (Leitung), Ulrike Klode (stv.); Susanne Baller, Klaus Bellstedt, Annette Berger, Swantje Dake, Marc Drewello, Carsten Heidböhmer, Dieter Hoß, Julia Kepenek, Volker Königkrämer, Niels Kruse, Jens Maier Wissen: Lea Wolz (Leitung), Daniel Bakir, Till Bartels, Christoph Fröhlich, Gernot Kramper, Ralf Sanderstern TV: Marijke Santjer Berliner Büro: Dr. Lutz Kinkel (Leitung), Sophie Albers, Thomas Schmoll Foto: Mark Allan (Leitung), Janna Frohnhaus Grafik: Bernd Adam Digital TV: Sebastian Pfotenhauer Telefon: 040/37 03 - 26 52 Fax: 040/37 03 - 58 33

stern e-mAgAzineDavid Heimburger (Leitung)

verlagVerlagsgeschäftsführung: Thomas Lindner Verlagsleitung: Dr. Frank Stahmer, Simon Kretschmer (stv.)

AnzeigenVerantwortlich: Lars Niemann, Director Brand Solutions, G+J Media Sales, Am Baumwall 11, 20459 HamburgEs gilt die aktuelle Preisliste. Infos hierzu unter www.gujmedia.de

vertriebDPV Deutscher Pressevertrieb Vertriebsleitung: Christopher Höpfner

mArketing Antje Schlünder

stern - ProjektbüroLeitung: Nadja Töpper Julia Boscheck, Patricia Korrell, Britta Liefländer, Anna - Laura Seidel

Presse- unD ÖffentLichkeitsArbeitFranziska Kipper Telefon: 040/37 03 - 31 55 E - Mail: [email protected] Internet: www.stern.de/presse

hersteLLung Thomas Koch

v.i.s.D.P.: Dr. Dominik Wichmann

synDicAtion Picture Press E - Mail: [email protected]

tiefDruck Prinovis Itzehoe GmbH Printed in Germany

11.7.2013 97

Impressum 1Gegründet von Henri Nannen †

Leser - und Aboservice

Preis des Heftes 3,50 Euro. Der stern darf nur mit Verlagsgenehmigung in Lesezirkeln geführt werden. Dem Heft liegt regelmäßig das stern - TV - Magazin bei, ausgenommen Lesezirkel und Teile der Auslandsauflage. Der Export des stern und sein Vertrieb im Ausland sind nur mit Genehmigung des Verlages statthaft. Auslandspreise auf Anfrage. Alle Rechte vorbehalten. Insbesondere dürfen Nachdruck, Aufnahme in Online - Dienste und Internet und Vervielfältigung auf Daten träger wie CD - Rom, DVD - Rom etc. nur nach vorheriger schriftlicher Zustimmung des Verlages erfolgen. Deutsche Bank AG, Hamburg, Konto 03 22 800, BLZ 200 700 00; Postbank Hamburg, Konto 84 80 204, BLZ 200 100 20. Der Verlag haftet nicht für unverlangt eingesandte Manuskripte und Fotos. ISSN 0039-1239

Page 98: Stern 2913
Page 99: Stern 2913

Fot

o: J

oh

n P

hil

liP

s/G

et

ty

Der Künstler Leandro Erlich überlistet die Schwerkraft. Seite 110

Hä?

4 Am 14. nix vornehmen: Lars Eidinger im TV! seite 100 4 Im Bett mit Amelie Fried seite 106

4 Klingt nach Sommer: Pop von Robin Thicke seite 116 4 Hüttenurlaub im Allgäu seite 120

Fernsehen • Film • buch • musik • stil • Auto • lebensFreude • reise

literAturMeer lesen mit Axel Prahlseite 112

11.7.2013 99

journal

Page 100: Stern 2913

journal kultur

„Gleich bin ich ... ... frei“Er wirkt so ruhig, so besonnen, doch wehe, wenn er losgelassen wird: Lars Eidinger ist die Sensation im deutschen Theater. Seine Kraft spürt man auch im Fernsehen

100 11.7.2013

Page 101: Stern 2913

„Gleich bin ich ... ... frei“

Wahnsinnig mitreißend: Als Hamlet

begeistert Lars Eidinger an

der Schaubühne in Berlin das

Publikum. Und die Kritiker

Fot

os:

Ge

ra

ld

vo

n F

or

is ©

23/

5 Fi

lm

pr

od

uk

tio

n; a

rn

o d

ec

la

ir

Page 102: Stern 2913

Fot

os:

Ke

rst

in s

te

lte

r/B

r; G

eo

rG

We

nd

t/d

pa; i

nt

er

Fot

o

Disco-LarsIn unregel-

mäßigen Abständen tritt

Lars Eidinger als Discjockey auf.

In seiner „Autistic Disco“ spielt er Musik,

zu der „alle 500 Besucher

tanzen“, wie er sagt.

Nächster Termin: 16. 8., Schaubühne

Eines Nachts weckte der Schauspieler Lars Eidinger seine Frau und sagte: „Ich habe im Traum unsere Tochter getötet.“

Ein solcher Traum, ein solcher Wahnsinn, lässt sich bei ihm als Berufskrankheit ein-ordnen: Oft balanciert Eidinger in seinen

Rollen über den Abgründen der Seele. „Mich reizen extreme Charak-tere und Psychopathen“, hat er mal gesagt.

Das zeigt sich auch in der Rolle, die er im bislang besten deutschen Krimi des Jahres spielt, im neuen „Polizeiruf 110“ aus München: Mat-thias Brandt als Kommissar Hanns von Meuffels muss den Tod einer Frau aufklären, die mal ein Mann war, Polizeibeamte sind in den Fall verwickelt. Auf dem rauen Weg zur Wahrheit begegnet er der Trans- sexuellen Almandine Winter, ge-spielt von Lars Eidinger.

Der stöckelt über die Straßen, stark geschminkt, die Augenbrauen gezupft. Die Stimme aber klingt wie die eines Mannes. Einmal muss sich Almandine erleichtern, sie biegt ab, lässt die Hose herunter und hockt sich wie eine Dame hin, obwohl sie wie ein Herr gegen die Wand urinieren könnte. Wir sehen einen Menschen, der im falschen Körper lebt, umweht von der Einsamkeit eines Ausgestoßenen. Dank solcher Auftritte beginnt der Krimi zu fliegen.

„Die Szene war meine Idee, ich musste in dem Moment wirklich“, sagt Lars Eidinger. „Der Regisseur hatte den Mut, das mitzudrehen.“

Lars Eidinger ist zum Gespräch ins Café der Schaubühne in Berlin gekommen, seit 14 Jahren gehört er zum Ensemble des Hauses am Kurfürstendamm. In wenigen Stun-den muss er auf die Bühne, Titel des Stücks: „Dämonen“ – wie pas-send. Der 37-Jährige ist groß ge-wachsen, die Haare trägt er halblang, er erscheint im blauen Jackett.

Schweigen, das Licht geht aus“ – gesagt hatte: „Na endlich.“ Einmal erlitt ein Zuschauer einen Herz-infarkt, nachdem Eidinger, der sich vom ständigen Husten gestört fühlte, ihm zugerufen hatte, er solle doch endlich gehen. Der Mann überlebte.

Eidinger tritt als schauspieleri-scher Extremist auf. „In dieser Schublade fühle ich mich wohl“, sagt er. Seinen Auftritt im „Polizeiruf“ erklärt er so: „Diese Rolle hat mir klargemacht, warum ich Schauspie-ler geworden bin. Man sucht sich selbst.“ Es sei ein Missverständnis zu glauben, ein Schauspieler wolle durch seine vielen Rollen von sich selbst weggehen. „Ich begreife meinen Beruf genau andersherum: Ich will durch andere Figuren mehr über mich herausfinden.“

In der Schule hatte er sich zum Klassensprecher wählen lassen, allerdings nicht, um sich für die Bedürfnisse der Mitschüler stark-zumachen. „Es ging mir ums Ge-winnen der Wahl. Ich wollte hinter meinem Namen 30 Striche sehen.“ Da habe er gemerkt, dass er nicht richtig ticke. „Ich habe immer da-zwischengerufen – und den war-

Keine Hektik umströmt ihn, kein Künstlergehabe, eher Besonnenheit.

Schauspielerische UrgewaltWir wollen über Leidenschaft und den Inhalt seines Lebens sprechen, das Spielen. Denn wenn Lars Eidinger spielt, kann man nicht wegschauen. So wie in jenem Kieler „Tatort“ von 2012: Er war der Post-boten-Mörder, er schwebte wie ein Geist in die Wohnungen seiner Op-fer. „Wer ist der Psycho-Mörder aus dem ,Tatort‘?“, fragte daraufhin die Boulevardpresse.

Eine schauspielerische Urgewalt war über die Fernsehgucker herein-gebrochen. Eingeweihte Kinozu-schauer kannten ihn bereits aus dem Film „Alle anderen“ von 2009, einer Studie über den Schluffi-Mann von heute. In der Schaubüh-ne hat er bis heute mehr als 150 Mal den Hamlet gespielt und sich mehr als 150 Mal an den Punkt gebracht, „wo man fast im Jenseits ist“, wie er sagt.

Ein Punkt, an dem er trotzdem noch Kraft für Ausbrüche hat. Ein-mal verfolgte er einen Zuschauer bis zur Garderobe, weil dieser nach den letzten Worten – „Der Rest ist

102 11.7.2013

journal Kultur

Page 103: Stern 2913

men Schauer genossen, der mir den Rücken herunterlief, als die Klasse lachte.“ Er wählte die Schauspielerei als Beruf, weil er diesen Schauer immer aufs Neue erleben wollte.

Ein Gespräch mit Lars Eidinger bietet ein seltenes Erlebnis. Bald balanciert man mit ihm über die Abgründe. Wir reden über die Inten­sität, die er auf der Theaterbühne erlebt. „Der Moment, nach dem ich mich sehne, ist eigentlich der Tod“, sagt er. „Da gibt es, wie in der abso­luten Gegenwart beim Spielen, kein Vorher und Nachher.“

Wir reden über das Streben nach Glück. „Meine Sehnsucht ist nicht erfüllbar. Jetzt gibt es zwei Möglich­keiten: Entweder erkenne ich, dass diese Unerfüllbarkeit meinem Le­ben einen Sinn verleiht und mich antreibt. Oder ich bringe mich um.“ Es fänden sich viele Beispiele, in denen Künstler den zweiten Weg gewählt hätten.

Und wir reden über die Angst. Nach der Geburt seiner Tochter stellten die Ärzte fest, dass das Mäd­chen am Herzen operiert werden musste. Der Eingriff gelang, Eidin­gers Tochter ist gesund. Die Angst um sie aber hat ihn geprägt, auch

als Schauspieler. „Mein Intendant Thomas Ostermeier sagt, erst diese Angst habe mich für den Hamlet qualifiziert.“

Und noch etwas habe er gelernt: „Ein Arzt hat eine klare Aufgabe: Er soll Leben retten. Und der Schau­spieler? Der macht das Leben, das der Arzt rettet, schön. Ich bin ver­antwortlich dafür, dass dieses Leben einen Wert bekommt.“

Seine Frau darf „Stopp“ rufenEs sind noch etwa zwei Stunden bis zum Auftritt. Eidinger scheint frei von Aufregung zu sein. Es reiche ihm, kurz vor Beginn der Auffüh­rung die Augen zu schließen und an die Anarchie auf der Bühne zu denken – „gleich bin ich frei, alles machen zu können“. Eidinger spielt so viel, dass er sich wie austrainiert fühlt. Er kann jederzeit loslegen.

Im Herbst werden zwei weitere Fernsehfilme mit ihm zu sehen sein. Einmal „Du bist dran“, das Drama eines Mannes, der die Kinder groß­zieht und das Klo putzt, während die Frau Karriere macht. Zum Zweiten die Verfilmung des Erfolgsbuches „Grenzgang“ von Stephan Thome, einer Geschichte aus der deutschen

Provinz über verfehlte Träume und Swingerklubs.

„Ich habe im Moment einen Run“, sagt Eidinger. Aber seine Frau, eine Opernsängerin, darf ab und zu mal „Stopp“ rufen. „Sie beschimpft mich, wenn ich etwas Peinliches in einem Interview gesagt habe. Sie holt mich von meinen Höhenflügen zurück.“ Einmal hat er sich, noch berauscht von seiner Rolle als der Dichter Georg Trakl, in Amsterdam eine Lederjacke und eine Lederhose ge­kauft. Für 3000 Euro. „Mein Frau hat mir den Vogel gezeigt. Eine Leder­hose! Ob ich mich für Jim Morrison hielte?!“ Er hat die Sachen zurück­geschickt. „Seitdem habe ich in Amsterdam einen Gutschein über 3000 Euro.“

Und der Wahnsinn? Alles nur vor­getäuscht, sagt Lars Eidinger. „Ich spiele halt gern den Wahnsinnigen.“ Im Moment findet sich kein Zweiter, der diese Täuschung so gut beherrscht wie er. 2 Oliver Creutz

Einschalten Die „Polizeiruf“-Folge „Der Tod macht Engel aus uns allen“ ist am 14. 7. um 20.15 Uhr in der ARD zu sehen

6

Er kann Seelen- zustände sichtbar machen, intensiv, immer auf den Punkt: Lars Eidinger als Transsexuelle im „Polizeiruf 110“, als mörderischer Paketbote im „Tatort“ und als ewiger Zweifler im Kinofilm „Alle Anderen“ (v. l. n. r.)

11.7.2013 103

Page 104: Stern 2913

Fot

oS:

An

dr

e Z

elc

k

TechnikMotoren Benziner: 0,9/1,2 l, 90/120 PS; Diesel: 1,5 l, 90 PS

Fahrleistungen0–100 km/h: 10,9–13,1 Sek.; Spit-ze: 171–192 km/h; Normverbrauch: 3,6–5,4 Liter; CO

2:

95–125 g/kmGewicht/Preis1,18–1,25 t, ab 15 290 Euro

Anspruch Man nehme eine Portion Limousine, ein bisschen Geländewagen und einen Schuss Van, füge die Zutaten zusammen, und schon ist ein soge-nanntes Crossover-Auto entstanden. Der neue Renault Captur, jetzt im Handel, ist so ein Kreuzungsge-schöpf. In ihm sind Vorzüge wie höhere Sitzposition (Geländewa-gen), größeres Raumangebot (Van) und bessere Fahrdynamik (Limou-sine) vereint. Ziel ist es, mit diesen Multi-Eigenschaften jene Kunden zu locken, denen etwa ein höherer Sitz allein zu wenig ist. Basis des Captur ist die um sechs Zentimeter verlän-gerte Plattform des Clio, Renaults erfolgreichen Kompaktwagens.

Wirklichkeit4 Mobile Rückbank. Kleinfami-lien werden sich freuen. Für Eltern mit einem Kind ist der Captur als Transportmittel wie geschaffen. Nicht nur der Nachwuchs kann sich hinten mit seinem Krimskrams ausbreiten. Schön auch, dass die Rückbank um 16 Zentimeter ver-schiebbar ist, wodurch mehr Knie-raum entsteht – allerdings auf Kosten eines kleineren Koffer-raums. Das Design ist gefällig, sofern man auf trendiges Aussehen steht. Während die Schnauze mit den großen Scheinwerfern relativ bullig wirkt, ist der Rest der Karosse optisch auf schlank getrimmt. Wobei das stets schwarz lackierte Querstück zwischen den Rädern als Taille fungieren soll, optisch aber eher wie ein Trittbrett wirkt.

4 Mäßige Ausstattung. Innen gibt es keinen Krieg der Knöpfe. Die meisten Schalter sind im zentralen Bedienelement untergebracht, dem Berührungsbildschirm in der Mitte. Man sitzt ordentlich und hat auch nach vielen Kilometern keine Kreuzschmerzen. Mitunter etwas schrill fallen die Farbkombinatio-nen für Sitze und Seitenteile aus, was aber natürlich Geschmacks- sache ist. Keine zwei Meinungen hin-gegen gibt es bei Bremsen, Lenkung, Fahrwerk oder Schaltung: alles gut, bissig, präzise oder kommod, wie die Federung. Schade nur, dass es in der Grundversion „Expression“ zwar ein verstellbares Lenkrad und auch einen Tempomaten gibt, ein Sechs-ganggetriebe, Klimaanlage und Radio aber nur gegen Aufpreis.

4 Abziehbare Sitzbezüge. Wer den Wagen als Familienkutsche nutzen will, fährt mit dem 90-PS-Diesel gut. Der verbraucht etwa fünf Liter und hat Dampf für 170 km/h. Eltern wird es freuen, dass Schmie-rereien auf den Sitzen der Topver-sion unproblematisch sind. Die Be-züge können in die Waschmaschine gesteckt werden. 2 Harald Kaiser

Der neue Renault Captur lockt Familien, die das jeweils Beste verschiedener Fahrzeugkategorien wollen

Aus drei mach eins

Die Experten vom stern: Harald Kaiser, Jan Boris Wintzenburg und Frank Janßen (v. l.)

Der Renault Captur in BewegungIm eMagazine des stern sehen Sie das Video zum Fahrbericht

Der modische Captur am Rhein in Köln

Kofferraum mit doppeltem Boden

Riesenhand-schuhfach

104 11.7.2013

journal mobil

voRwäRTs!

Page 105: Stern 2913
Page 106: Stern 2913

Fot

o: r

eg

ina

re

ch

t

106 11.7.2013

journal persönlich

Page 107: Stern 2913

W enn es um aufregende Bettgeschichten geht, ist die Bestseller- autorin („Am Anfang war der Seitensprung“) eine erstklassige Gesprächspartnerin. Privat sieht das Liebesleben der Amelie Fried entspannter aus, zum Fototermin bringt sie ihr Lieblings-

blumenkissen mit. Der flauschige, blaue Bademantel stammt ursprünglich aus der stern-Requisite, jetzt hängt er im Fried’schen Badezimmer im Bayerischen Oberland und wird täglich getragen.

Schlafen Sie gut?Eher nicht so. Wenn man Mutter ist, ist man ständig mit einem Ohr bei den Kindern. Das hört leider auch nicht auf, wenn sie mal aus dem Haus sind.Ganz ehrlich: nackt oder Schlafanzug?Weder noch. Nachthemd. Mit langen Ärmeln. Für Negligés ist es in Deutschland zu kalt.Was fällt Ihnen leichter: aufstehen oder einschlafen?Mit dem Alter hat sich das verändert, heute stehe ich besser auf. Andererseits schlafe ich beim größten Gebrabbel ein. Partys machen mich unwahrscheinlich müde.Schlafen Sie vor dem Fernseher?Sofort! Egal, welches Programm. Ich könnte wahr-scheinlich auch auf dem Evangelischen Kirchentag in irgendeiner Ecke liegen und schlafen.Schnarcht Ihr Mann?Manchmal. Er bestreitet das. Um dennoch ein- schlafen zu können, höre ich Hörbücher. Genauer: ein Hörbuch – „Schnee, der auf Zedern fällt“. Ich weiß bis heute nicht, worum es geht, weil ich immer spätestens in der zweiten Hälfte der ersten CD einschlafe.Was halten Sie von getrennten Betten?Gute Idee. Was soll man sich die Nächte zur Hölle machen? 88-Jährige in Löffelchenstellung sind wunderbar – aber es muss sich doch keiner wegen des Mythos vom ehelichen Schlafzimmer foltern.Denken Sie beim Sex?Je besser der Sex, desto weniger.Wenn Ihr Liebesleben ein Stück Musik wäre, dann hieße es …?Boléro von Maurice Ravel. Nicht irre originell, oder?Lassen Sie Ihre Katze ins Bett?Nein, das tue ich nicht! Sie liegt auf einem Handtuch auf der Tagesdecke auf dem Bett. Jedenfalls theoretisch. Mein Mann hasst das alles wie die Pest.Wovon würden Sie gern häufiger träumen?Den intensivsten Traum hatte ich als Kind. Ich erinnere mich noch heute in allen Einzelheiten, obwohl ich mittendrin aufgewacht bin: Ich war Erbin eines Schuhgeschäfts. Ein Traum! Neben wem wollen Sie niemals aufwachen? Neben einem Pathologen im Dienst. 2 Interview: Christoph Wirtz

Eine Tasse Tee, das geblümte Lieblingskissen – und für die 53-jährige Mode- ratorin und Schriftstellerin ist die Welt in Ordnung

Amelie Fried

11.7.2013 107

Im Bett mIt

Page 108: Stern 2913

bis 10 Euro Getarnt

Eine gewöhnliche Sonnencreme-

flasche? Würden wir an dieser Stelle

kaum empfehlen. Tatsächlich

sehen Sie hier das wohl sicherste

Strandversteck für Schlüssel, Geld

und Handy. Über coolstuff.de,

9,90 Euro

bis 1000 EuroGeschütztDie Macher dieses bunt gepixelten Sonnenschirms behaupten, nichts sei ihnen vertrauter als faule Sommer-tage am Strand. Kein Wunder: Sie kommen ursprüng-lich aus Australien. Der Schirm spendet nicht nur Schatten, sondern hat auch noch einen Lichtschutzfaktor 50!basilbangs.com, ca. 170 Euro

unvernünftigGekühltDer Fiat 500 aus den Sechzigern ist ein Klassiker. Sein Kofferraum war da, wo sonst der Motor ist. Dieser durchgesägte Fiat 500 hat nun vorn eine Kühlbox. Damit wird der Liebhaberwagen zum Luxuskühl-schrank. smeg.de, ca. 6500 Euro

bis 100 EuroGelacht

Das Kinder-T-Shirt aus Biobaum-

wolle von Stella McCartney kommt

zusammen mit verschiedenen

lustigen Klett- verschluss-Bärten,

die je nach Laune kombiniert werden

können. stellamccartney.com,

ca. 45 Euro

Schönes und Gutes von 9,90 bis 6500 Euro

Für die beste Zeit des Jahreswas uns GEfällt

108 11.7.2013

journal stil

Page 109: Stern 2913
Page 110: Stern 2913

Fot

oS:

JU

StIN

tA

LLIS

/AFP

; Jo

hN

Ph

ILLI

PS/

GEt

tY

Page 111: Stern 2913

Mit magischer Anzie-hungskraft verzaubert eine hellgraue Haus- fassade die Menschen am Rand einer kleinen Londoner Straße. Kaum

einer, der nicht die Backsteinwand hinaufbalancieren, aus dem Fenster stürzen oder am Sims baumeln möchte.

Gefährlich? Kein bisschen. Denn die Fassade liegt flach auf dem Boden. In den Himmel ragt lediglich ein haushoher Spiegel, im 45-Grad-Winkel über der Wand installiert. Ein begehbares Kunstwerk, das die Welt auf den Kopf zu stellen scheint. Umgekrempelt hat sie der argenti-nische Künstler Leandro Erlich. Der 1973 Geborene gilt als Meister der Illusion. 1999 sorgte seine Installa-tion eines begehbaren Swimming-pools für Schlagzeilen: Besucher konnten trockenen Fußes im Becken unter der Wasseroberfläche ent-langspazieren.

Es ist das Grundprinzip von Er-lichs optischen Täuschungen: Besu-cher und Betrachter werden zum Teil des Werks, die Grenze zwischen Publikum und Kunst löst sich auf und stellt die gewohnten Wahrneh-mungsmuster infrage.

Den Ort seiner neuesten Instal-lation hat der Künstler nicht zufällig gewählt: Die begehbare Fassade gleicht den viktorianischen Häusern, die im Zweiten Weltkrieg an genau dieser Stelle in London durch deut-sche Bomben zerstört wurden. 2

Auch mal ausprobieren?The Dalston House, 1–7 Ashwin Street, London. Bis 4. August, Eintritt frei, www.barbican.org.uk

Illusionskünstler Leandro Erlich stammt aus einer Architektenfamilie. Viele seiner Werke stellen die Wahrnehmung von Räumen und Gebäuden infrage – und damit Selbstver-ständlichkeiten des Alltags

Haus über KopfAbhängen an der Fassade? Ein Illusions-kunstwerk in London macht’s möglich

11.7.2013 111

journal augenblick

Page 112: Stern 2913

Taschenbuch1 (–) Crossfire. Erfüllung

Sylvia Day (Heyne) Die US-Autorin Sylvia Day ist vielseitig einsetzbar. Eine flexible Schreibkraft, deren Portfolio ebenso breit wie flach ist. Urban-Fantasy-Romane, historische Romane, Romane über Paranormales: Sylvia Day schreibt, was auf dem Markt gefragt ist – und das auch noch in Serie. Im dritten Band ihrer „Crossfire“-Reihe geht es um „Erfüllung“. Die findet ihr Protagonist, ein superreicher, supergut aussehender Arsch-loch-Manager, in den Armen einer superhübschen, super-unterwürfigen Berufsanfängerin. Ihre qualvollen Kindheitstrau-mata bewältigen die beiden über 480 Seiten mit ausgiebigen Sexorgien. Ein zurzeit sehr populärer Therapieansatz, der schon „Shades Of Grey“ zum Weltbestseller machte.

2 (1) Ein ganzes halbes JahrJojo Moyes (Rowohlt)

3 (2) Die Toten, die niemand vermisst

Michael Hjorth, Hans Rosenfeldt (Rowohlt)

4 (3) Der LavendelgartenLucinda Riley (Goldmann)

5 (4) Blackout – Morgen ist es zu spät

Marc Elsberg (Blanvalet)

6 (5) Shades of Grey – Geheimes Verlangen

E. L. James (Goldmann)

7 (10) Das Salz der ErdeDaniel Wolf (Goldmann)

8 (–) SommerprickelnMary Kay Andrews (Fischer)

9 (–) Die HummerschwesternBeverly Jensen (BTB)

10 (6) Shades of Grey – Gefährliche Liebe

E. L. James (Goldmann) Fot

oS:

rg

Kl

au

S; g

et

ty

Axel Prahl, 53, ist Musiker und Schauspieler. Als Hauptkommissar Thiel ist er einer der beliebtesten „Tatort“-Ermittler

Obwohl ich momentan in Berlin lebe, werden die, die schon mal meine CD „Blick aufs Mehr“ gehört haben, vielleicht meine große Af-finität zum Meer und der

Seefahrt bemerkt haben. Ich bin eben doch ein Kind der Küste.

Ich wuchs in Neustadt in Holstein auf, mein Vater Dieter fuhr zur See, und ich erlebte eine Jugend am Strand inklusive der Butterfahrten, auf denen wir die Touristen bei etwas Wellengang gern mit dem Erbsensuppentrick geärgert haben: Mit etwas Erbsensuppe stellten wir uns damals an die Reling …, aber lassen wir das.

Noch heute verbringe ich meine freie Zeit am liebsten am Wasser. Mein Buchtipp beschäftigt sich also natürlich mit dem Meer. In „Insel-

stolz“ erzählen 25 Menschen von Deutschlands Nordseeinseln ihre Geschichten vom Leben an der See: Sylts Austernprinzessin, Hal-ligkinder, ein alter Fischer, der letzte Strandräuber oder der Fußballheld von Langeoog berichten, wie das ist, dort zu wohnen, wo andere Urlaub machen.

Mir kamen die Insulaner beim ers-ten Lesen seltsam vertraut vor. Ich mochte die Art, wie sie von Einsam-keit erzählen, vom Leben zwischen Strandkorb und Brandung, vom All-tag auf den kleinen Welten vor der Küste. Wie die Inseln selbst sind ihre Bewohner rau, aber charmant. Voller Inselstolz. Ich mag das. 2

Mein Lieblingssatz: „Die Weite des Himmels, der unverstellte Blick in alle Richtungen, gibt mir ein unbeschreibliches Gefühl von Freiheit.“

Vom Leben an der SeeSchauspieler Axel Prahl liebt das Meer – und ein Buch über Menschen, die den „Inselstolz“ in sich tragen

Uwe Bahn, Gerhard Waldherr, Alexander Babic: „Inselstolz“,Ankerherz Verlag, 29,90 Euro

112 11.7.2013

journal buch

sTern-BesTseller

WAs Ich lese

Page 113: Stern 2913

Belletristik1 (1) Inferno

Dan Brown (Bastei Lübbe)

2 (2) Silber – Das erste Buch der Träume

Kerstin Gier (Fischer)

3 (3) Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand

Jonas Jonasson (Carl’s Books)

4 (5) Er ist wieder daTimur Vermes (Eichborn)

5 (4) Bretonische BrandungJean-Luc Bannalec (Kiepenheuer & Witsch)

6 (6) Allmen und die DahlienMartin Suter (Diogenes)

7 (7) Bretonische VerhältnisseJean-Luc Bannalec (Kiepenheuer & Witsch)

8 (9) Das LavendelzimmerNina George (Knaur)

9 (8) Tierische ProfiteDonna Leon (Diogenes)

10 (10) JoylandStephen King (Heyne)

Sachbuch1 (–) Duden – Die deutsche Rechtschreibung

(Bibliographisches Institut)

2 (1) Schantall, tu ma die Omma winken!

Kai Twilfer (Schwarzkopf & Schwarzkopf)

3 (2) Die große VolksverarscheHannes Jaenicke (Gütersloher Verlagshaus)

4 (3) 1913Florian Illies (S. Fischer)

5 (5) Vegan for Fit. Die Attila Hildmann 30-Tage-Challenge

Attila Hildmann (Becker Joest Volk)

6 (4) Weber’s GrillbibelJamie Purviance (Gräfe und Unzer)

7 (–) FC Bayern München – Triple 2013

Ulrich Kühne-Hellmessen, Detlef Vetten (Die Werkstatt)

8 (6) Das große LosMeike Winnemuth (Knaus)

9 (WE) Blick in die EwigkeitEben Alexander (Ansata)

10 (WE) ShowdownDirk Müller (Droemer)

Qu

El

lE

: mE

dia

co

nt

ro

l/r

En

tr

aK

; (-)

= n

Eu

Ein

StiE

g; (

WE

) = W

iEd

Er

Ein

StiE

g

„La le lu“ geht immer, aber wie wär’s mal mit „Viire takka“ aus Estland? Das Buch „Wiegenlieder aus aller Welt“ (inkl. CD) lädt ein zum internationalen Wegschlummern (Reclam, 24,90 Euro).

Man nehme: langsam wachsende Ahnungen. Man denke: das Nächstmögliche. Man prüfe: neue Kombi­nationen bekannter Bausteine. Man gestatte sich: wegwei­ sende Irrtümer. Was

seltsam klingt, sind Maximen aus Steven Johnsons klugem, unterhaltsamem Buch „Wo gute Ideen herkommen“, einem Führer durch die Geschichte der Inno­vation. Johnson plädiert für einen ver­netzten Geist in assoziationsfreudigem Zustand – selten so gedacht (Scoventa, Ü.: Michael Pfingstl, 19,99 Euro).

22222

Bis heute weiß nie­mand, wer sich hinter dem reizenden Pseudonym einzlkind versteckt, unter dem vor drei Jahren der absolut lesenswerte Roman „Harold“ erschien. Nicht minder

großartig nun der Nachfolger: „Gretchen“, um die 75, Superdiva des Theaters, Fashion Victim, dreist, spitz­züngig – und von einem Londoner Richter auf eine Insel bei Island verbannt. Ein vergnüglicher Clash der Kulturen mit Seitenhieben und überraschendem Ende (Edition Tiamat, 18 Euro).

2222211.7.2013 113

Page 114: Stern 2913

Fot

o: C

on

Co

rd

e

Fast schon eine Seltenheit. Kei-ne Zahl hinter dem Titel. Kein maskierter Superheld weit und breit. Keine Neuauflage einer Geschichte, die wir von früher kennen. Keine mons-

trös übergewichtige Kinoversion eines Comics oder einer TV-Serie.

Für Hollywood-Verhältnisse ist der Film „Die Unfassbaren – Now You See Me“ also durchaus originell. Das allein macht natürlich noch kein gutes Kino aus, aber immerhin hebt dieses Überraschungsmoment automatisch schon mal ein bisschen

die Toleranzschwelle. Und wer Lust auf einen eskapistischen Hochge-schwindigkeits-Trip ohne philoso-phischen Überbau, tiefenpsycholo-gische Atempausen und sonstige handlungsverzögernde Nebenge-räusche verspürt, wird zwei höchst vergnügliche Stunden verbringen.

Der Thriller des Luc-Besson-Schülers Louis Leterrier („Transpor-ter“) erzählt von den Kapriolen der Entfesselungskünstlerin Henley (Isla Fisher), des fingerfertigen Trickbetrügers Jack (Dave Franco), des Mentalisten Merritt (Woody Harrelson) und des Magiers Daniel (Jesse Eisenberg). Im Auftrag eines mysteriösen Unbekannten veran-stalten die vier Illusionisten als „The Four Horsemen“ bombastische Zaubershows, in deren Verlauf sie millionenschwere Beute machen.

Das Geld behalten sie allerdings nicht. Gleich beim ersten und spek-takulärsten Trick teleportiert das Quartett einen Zuschauer von der Bühne in Las Vegas in eine Pariser

Bank und lässt die dort erbeuteten Scheine auf sein Publikum regnen.

Sie sind wirklich nicht zu fassen, weder vom zunehmend unleid- lich werdenden FBI-Agenten Dylan Rhodes (Mark Ruffalo) noch von seiner hübschen Interpol-Kollegin Alma (Mélanie Laurent) oder dem zwielichtigen Thaddeus Bradley (Morgan Freeman), der seinen Le-bensunterhalt mit dem Entlarven von Zaubertricks bestreitet.

Bis zum erstaunlichen Finale bleibt bei dieser Kaskade um Täuschung, Betrug, Verschwörung, Rache und geheime Identitäten völlig unklar, wer hier eigentlich warum welches Spiel spielt. Dass dabei auch der Zuschauer nicht immer auf Augen-höhe ist – geschenkt. „Sehen Sie genau hin“, brummelt Thaddeus im Trailer des Films. „Denn je näher Sie zu sein scheinen, desto weniger werden Sie sehen.“ Weiß der Him-mel, was er damit meint. Wen küm-mert’s? Macht auch so Spaß.22222 Bernd Teichmann

Was ist das denn – und was mache ich hier? Ein Besucher der „Four Horse-men“-Show steckt plötzlich im Tresorraum einer Pariser Bank

Alles völlig illusorisch Ohne Netz, aber mit doppel- tem Boden: der rasante Zauber-Thriller „Die Unfass-baren – Now You See Me“

Safe Der Tresor fürs

Smartphone schützt wichtige

Daten (PINs, Passwörter) und Fotos vor neugie-

rigen Blicken (iOS, 2,69 Euro, Light Version:

1,79 Euro)

Magic Kit Lehrt zwölf

magische Tricks, die oftmals wirk-

lich überraschend sind. Sogar mit

Kaninchen! (iOS, 4,49 Euro)

APPS DER WOCHE

114 11.7.2013

journal Film

Page 115: Stern 2913

Film1 (–) Ich – Einfach unverbesserlich 2

Trickfilmspaß um geläuterten Fiesling. Spielt nicht im Iran. Besucher: 515 971

2 (1) World War ZLebende Tote erobern den Glo-bus. Die Rolling Stones scheinen wieder auf Tour zu sein. Besucher: 205 825; gesamt: 918 330

3 (–) Taffe MädelsZwei total unterschiedliche Polizistinnen im Einsatz. Favorit auf den Innovationspreis. Besucher: 116 851

4 (2) Die Monster UniDank der Bachelor-Studien-gänge auf dem Vormarsch. Besucher: 79 255; gesamt: 968 576

5 (3) Man of SteelSuperman 2013: wenig Stahl, viel Blech. Besucher: 54 980; gesamt: 656 108

6 (4) Hangover 3 Der längste Kater aller Zeiten. Und kein Gegenmittel weit und breit. Besucher: 45 318; gesamt: 2 959 140

7 (5) Fast & Furious 6 Rasen, bis der Arzt kommt. Der Film zur deutschen Autobahn. Besucher: 21 465; gesamt: 2 785 191

8 (6) The Purge – Die SäuberungHorror ohne Bügeln und Fensterputzen. Besucher: 16 283; gesamt: 270 438

9 (–) Fliegende LiebendeHysterisch-komische Zustände über den Wolken. Auch bekannt als: Urlaub mit der Tui. Besucher: 12 415

10 (8) The Place Beyond the Pines Ryan Gosling als cooler Biker. Leider nur im ersten Drittel. Besucher: 12 194; gesamt: 205 630Q

ue

ll

e: m

ed

ia C

on

tr

ol

/re

nt

ra

k; (

–)=

ne

ue

inst

ieg

; (W

e)=

Wie

de

re

inst

ieg

Im britischen Fernsehen wird sie weiter zelebriert, die gute alte Zeit. Nach „Downton Abbey“ und

„The Hour“ kommt nun die erste Staffel der BBC-Hit-Serie „Call The Midwife“ auf DVD. Sie schildert die Erlebnisse einer Hebamme und ihrer aufopferungsvollen Mitstreiterinnen im tristen Londoner East End der 50er Jahre. Das ist nicht nur sauber, sondern rein: Der Kitsch ist hier oft nur eine Windelbreite ent-fernt – aber das auf sehr hohem Niveau.

Männer am Rande des Nervenzusammen-bruchs lässt der katalanische Regisseur Cesc Gay in seinem Episodenfilm „Ein Frei-tag in Barcelona“ aufeinandertreffen und gemeinsam leiden. An Scheidungsschmer-zen, Neurosen oder Erektionsstörungen. Gut gespielte Komödie, aber sehr dialog- lastig und formal eher wie ein TV-Film.

22222

Während die Welt das Gezerre um den NSA-Informanten Edward Snowden verfolgt, erinnert Alex Gibneys fesselnde Doku „We Steal Secrets: Die Wikileaks Geschichte“ an die Entstehung der Enthüllungs-Website und entwirft zugleich das Psychogramm des Gründers Julian Assange (l.) und seines Geheimnislieferanten Bradley Manning.

22222

Caseys Leben hängt an der Strippe von Notruftelefonistin Jordan (Halle Berry, o.), die in „The Call – Leg nicht auf!“ alles daransetzt, um den Wagen zu orten, aus dessen Kofferraum die entführte 16-Jährige anruft. Die Schnitzeljagd ist schweißtreibend inszeniert, aber als Jordan selbst eingreift, geht dem Thriller arg schnell die Luft aus.

22222

11.7.2013 115

STErn-BESTSELLEr

DVD -TIPP

Page 116: Stern 2913

CD1 (–) Liebe ist meine Religion

Frida Gold

2 (2) 13Black Sabbath

3 (4) Mit den GezeitenSantiano

4 (–) The Weight Of Your LoveEditors

5 (5) Bei meiner SeeleXavier Naidoo

6 (6) Im Herzen jungAmigos

7 (8) Random Access MemoriesDaft Punk

8 (7) New York, Rio, RosenheimSportfreunde Stiller

9 (9) GlücksgefühleBeatrice Egli

10 (1) D.N.A.GenetikkÄrger mit Chef oder Ehepart-ner? Brechen Sie aus! Werden Sie Rapper! Fordern Sie, dass sich der ein oder andere Mit-mensch einfach mal f***en soll. Der sozialen Ächtung durch Vorgesetzten, Kegelbru-der oder Schwiegermutter entgehen Sie durch einen fabelhaften Trick, abgeschaut bei Sido, Cro oder Genetikk: Sie setzen sich eine Maske auf. Bleiben schön privat. Und dann stellen Sie sich auf die Straße und schreien: „F***en! F***en! F***en!“ Tut sicher gut.

Fot

oS:

Ho

ot

an

Va

Hid

i; G

et

ty

Robin Thicke: „Blurred Lines“ erscheint am 12. Juli

22222

Nur mal angenommen, Michael Jackson wäre nach „Thriller“ und „Bad“ nicht durchgedreht, hätte ein bisschen mehr Spaß am Leben gefunden, hätte sich

etwas mehr Leichtigkeit, Witz und Neugierde bewahren können.

Dann wäre Jackson vielleicht noch einmal gelungen, was jetzt ein ärgerlich gut aussehender 36-jäh- riger Kalifornier namens Robin Thicke mal eben so raushaut: ein nahezu perfektes Popalbum voller „blurred lines“, voller verwischter, verschwimmender Linien, in dem der Musiker all das mischt, was ihn geprägt hat: Jackson und Prince,

Stevie Wonder und Marvin Gaye, Hip-Hop, Pop, Soul und R’n’B.

Thicke (sprich: Thick) begann mit zwölf Klavier zu spielen und kom-ponierte bald eigene Musik. Spä- ter schrieb er Songs für Christina Aguilera, Mary J. Blige oder Pink. Schon sein Album „The Evolution Of Robin Thicke“ (2006) deutete an, was dieser Mann kann.

Seitdem schritt seine Evolution weiter voran: Die Titel-Single „Blurred Lines“ ist neben Daft Punks „Get Lucky“ bereits der Sommer- hit des Jahres. Wen Thickes Song nicht in sofortigen Freudentaumel versetzt, der sollte dringend seine Vitalwerte überprüfen lassen. Mög-licherweise ist man unbemerkt verstorben. Tobias Schmitz

SoNNe zum miTSiNgeN

Summertime (Ella Fitzgerald & Louis Armstrong)

Cruel Summer(Bananarama)

Summer Wine (Nancy Sinatra & Lee Hazlewood)

Summer Night City

(Abba)

Unemployed In Summertime

(Emiliana Torrini)

FreudentaumelErst schrieb Robin Thicke Songs für Christina Aguilera und Pink. Jetzt glänzt er mit einem eigenen Album

Robin Thicke stellt uns vor die Frage, wieso gut aussehende Männer auch noch gute Musik machen dürfen

Neil Tennant ist gerade 59 geworden. Und trotzdem schafft er es einfach nicht, seine Pet Shop Boys wie Frührentner klingen zu lassen: „Electric“ vereinigt Pathos und großen Dancefloor-Pop. Das beste Stück trägt zugleich den besten Titel: „Love Is A Bourgeois Construct“. 22222

116 11.7.2013

journal muSik

STeRN-BeSTSeLLeR

Page 117: Stern 2913
Page 118: Stern 2913

Diese Abbildungen ergeben zusammen einen

neuen Begriff. Lösung aus Heft 28: Zugbegleiter

Rebus

118 11.7.2013

journal eIn QuantuM trost

TeTsche

www.tetsche.de, umfangreiches Archiv mit Tetsche-Cartoons: www.stern.de/tetsche

Page 119: Stern 2913

Illu

str

at

Ion

en

: ol

Ive

r o

tt

Isc

h; B

ec

k; F

ot

o; M

ax

Mu

MB

y/ G

et

ty

IMa

Ge

s

„Die am Fenster zahlen gleich.“

„Geht sofort los bei euch!“

„Moment, ich wisch noch mal kurz drüber“

„So, wer war die Funghi?“

„Treppe runter, dann links!“

Kind: „Papa, ich will ’n Mofa!“

FALSCH:„Ich hatte auch kein Mofa!“

RICHTIG:„Jay-Z hat auch kein Mofa!“

Heute: GastronomieSätze für die Ewigkeit

Das Mofa-Problem

* Von Leser Heinz Dietz

aus HerDecke. VieLen Dank!

So mancher Mensch Schluckt Medizin,Sein Leiden zu zerstreuen.Der Brite hält sich eine QueenUnd darf sich täglich freuen. Ihr Sinn so froh, ihr Herz so leicht,Dass alle Korken knallen!Und noch der härtste Stein erweicht,Lässt sie ein Späßchen fallen. Ein Lächeln blüht aus ihrem MundSo warm wie blaue Bohnen.So steigt ihr Lohn aus gutem Grund Demnächst um zwei Millionen.

Personenkontrolle

erziehungsberatung

Queen Elizabeth IIaller Deutschen

fänden es gut, wenn aller guten

Dinge mindestens vier wären

ALLTAGSTIPP *Wird bei uns mal der Ein-

topf nicht alle, schütten

wir ihn nicht weg,

sondern wischen damit

unser Treppenhaus.

So riecht’s bei uns immer

lecker nach Gekochtem.

48 %

Thomas Gsella

11.7.2013 119

Page 120: Stern 2913

Ein Mann wie eine Bergzinne: Hüttenwirt Jochen Krupinski, 62 Jahre, davon 36 auf der Hütte

Page 121: Stern 2913

Die Wacht am Steinleben, wo andere urlaub machen

Kein Handy, kein WLAN, keine Hektik: Bei Jochen Krupinski ist die moderne Welt abgemeldet. Dafür lehrt er Besucher seiner Mindelheimer Hütte, wie man die Stille der Allgäuer Alpen genießt.

Aber Vorsicht: Übers Wetter reden sollte man mit ihm lieber nicht

Welch ein Pano- rama! Doch dafür

fehlt dem Autor (l.) der Blick. Beim

Abstieg vom Kemptner Köpfle

versucht er, mit Bergführer

Michael Schott mitzuhalten

11.7.2013 121

journal reise

Page 122: Stern 2913

fot

os:

En

no

Ka

pit

za

(4)

, va

rio

ima

gE

s; f

oo

d: J

an

-pE

tE

r W

Est

Er

ma

nn

, fo

od

sty

lin

g: m

ar

liE

s K

lost

Er

fEl

dE

-WE

nt

zE

l; r

Eq

uis

itE

: Ch

ris

tin

E m

äh

lE

r

Essen & schlafenGasthaus Traube: zünftige Brot­zeiten im wunderbaren Bier garten unter dem Blätterdach von zwölf Kastanien – nach einer Wanderung der Kracher. Urige Hotelzimmer mit Himmelbett. DZ ab 109,80 Euro.Hauptstraße 6, 87561 Oberstdorf, www.hotel-traube.de

Gasthof Christlessee im Trettachtal: Was ist hier besser? Der Bergblick vom Garten oder das Essen? Es gibt Kässpatzen, Krautkrapfen, Schweinsbraten, Kaiserschmarren – viele Zutaten aus eigener Landwirtschaft. Ferienwohnungen ab 60 Euro. Christlessee 1, 87561 Oberstdorf, www.christlessee.de

ErlebenAlpe Eschbach in Birgsau/Stillach­tal: Hier kann man zuschauen, wie Allgäuer Käse hergestellt wird. Und ihn am besten gleich mit­nehmen, denn er ist besonders gut. 87561 Oberstdorf, geöffnet von Mai bis Oktober

FeiernViehscheid: Jedes Jahr im Septem­ber wird das Vieh von den Bergen hinab ins Tal getrieben. Dort werden die glockenbehangenen Tiere in den einzelnen Gemeinden auf dem Scheidplatz gesammelt, an ihre Besitzer zurückgegeben – und es wird groß gefeiert. Termine unter www.oberstdorf.de/ erlebnis/viehscheid/

Seine besten TippsJochen Krupinski

Und täglich grüßt …

… auf einer Wan-derung in den Allgäuer Alpen das Murmeltier. Sein Fett, das

„Mankei-Schmalz“, gilt als Heilmittel.

Fast wäre das Murmeltier des-halb im 18. Jahr-

hundert aus-gerottet worden.

Heute ist der Bestand stabil

Draußen zieht es sich zu. Mit der Dämmerung kommen die Wolken, und Jochen, der hier oben das Sagen hat, droht: „Wenn du nach dem Wetter fragst, musst du

’nen Sack Kartoffeln schälen.“ Also lieber keine Fragen. Man weiß ja nie, aber Jochen Krupinski – Haus­herr, Hüne, Allgäuer – meint das bestimmt ernst.

Also kein Wort über den Graupel­schauer, der Minuten später gegen die Fensterscheiben trommelt.

Ich wollte das Allgäu der schrof­fen Felswände erkunden, der schma­len Bergkämme und engen Fels­scharten; das Allgäu, wo selbst noch sommers Schneereste in schattigen Bergnischen überdauern. Ich woll­te das wilde Allgäu. Saß im Regen und traf Jochen Krupinski, und der machte alle Wetterkapriolen vergessen.

In Oberstdorf war ich aufge­ brochen, von hier aus kann man einige der schönsten Wanderungen Deutschlands beginnen, die Alpen überqueren, es ruhiger auf Tages­touren angehen lassen, Mountain­bike fahren – oder wie ich auf dem „Heilbronner Weg“ über die Grate des Allgäuer Hauptkamms steigen.

Am frühen Nachmittag, nach vier Stunden Wanderung, hockte ich noch oben auf dem Kemptner Köpf­le auf gut 2200 Meter Höhe. Der Fels war warm von der Nachmittagsson­ne, der Blick frei und weit, die Leere groß und gewaltig. Hinter uns Got­

tesacker und Hölloch. Vor uns Hohes Licht, Mädelegabel, Biberkopf. Was für Namen, welch Panorama!

Dohlen kreisten um den Gipfel, Murmeltiere quiekten und husch­ten in ihre mit Gras gepolsterten Höhlen. Nur noch selten wehte mit dem Wind auch das Schellen der Kuhglocken hinauf.

Hier oben beginnt die Welt von Jochen Krupinski, der jetzt, da es draußen immer dunkler wird, in der Mindelheimer Hütte vor dampfen­den Töpfen und brutzelnden Pfan­nen steht. Ich frage ihn nicht nach dem Graupelschauer draußen. Die Kartoffelsäcke im Lager sind groß.

Wir reden lieber über seinen Job: Jochen Krupinski, hier oben nur „der Jochen“, rosige Wangen, weißer Bart und eine Statur wie die Bergzinne hinter seiner Hütte, rührt in der Bouillon und erklärt: „Alle hier oben wollen das Gleiche. Sie haben geschwitzt und haben Hunger. Hier rücken alle zusammen, das ist der schönste Arbeitsplatz der Welt!“

36 seiner 62 Lebensjahre hat der gebürtige Allgäuer während der Sommermonate in der Hütte gelebt. Als er anfing, gab es Erbsensuppe oder Eintopf. Heute türmen sich Berge von selbst gemachten Nudeln in der Küche, schwimmen Semmel­knödel im Topf und schmoren Rin­derbraten im Ofen. Seine Hütte gilt unter Bergwanderern als Gourmet­tempel, und es gibt wirklich nichts Besseres nach einem Tag in den Bergen als seine Braten und Maul­taschen.

Darüber vergisst man sogar das Wetter. Doch dann macht unter den Gästen in der krachgemütlichen Gaststube eine schlimme Prognose für den nächsten Tag die Runde: Temperatursturz, Schauer, Schnee.

„Das sind die Berge“, sagt der er­fahrene Bergführer Michael Schott langsam. „Man weiß hier nie, war­ten wir es ab.“ Da setzt sich Hütten­wirt Jochen an den Tisch, und ich wechsle lieber das Thema.

Blaues Wunder: Am Wegesrand hinauf wächst langstieliger Enzian

Über allen Wipfeln ist endgültig Ruh: Jochen Kru-pinskis Handy-Ausschalter rettet die Stille der Berge

122 11.7.2013

journal rEisE

4

Page 123: Stern 2913

Wanderers Traum: Jochen

Krupinskis Maultaschen mit

Gemüsefüllung

Page 124: Stern 2913

+Oberstdorf

AlpeEschbach

Mindelheimer Hütte

ÖSTERREICH

ALLGÄU

KemptnerKöpfle fo

to

s: E

nn

o K

ap

itz

a (

2)

Von Juni bis Oktober begrüßen

Jochen Krupinski und sein Team

Gäste in der Min­delheimer Hütte. Eine Wanderung

zu ihr hinauf dauert drei bis vier Stunden.

Viele Wanderer machen hier

Station während einer Tour zum

Heilbronner Weg, einem der be­

liebtesten Höhen­wanderwege

der Alpen. www. mindelheimer­

huette.de

Jochen stellt Wassergläser auf den Tisch und schenkt Grappa ein. „Hier oben bist du ein Teil der Natur, hier bist du ein Teil von allem, in der Stadt bist du nichts“, sagt er bedäch-tig. „Wenn ich geschäftlich ins Tal muss, sag ich: Ich geh ins Elend.“

Jochen gießt jedem, der nicht schnell genug seine Hand über das Glas hält, Grappa nach und erzählt, wie schwer es geworden ist, die Ma-gie dieses Ortes zu verteidigen. Wie es damals anfing mit dem ersten Handy im Gastraum und er den Gast rausgeschmissen hat: „Ich mag dein Geplärre nicht mehr hören, raus, avanti!“ Seitdem führt er, der Hüter der Bergruhe, einen einsamen Kampf. Im Vorraum hat er einen „Handy-Ausschalter“ aufgestellt: einen großen Holzklotz samt Schmiedehammer.

Am nächsten Morgen wird der Kopf so grausam pochen, dass ich bei jedem Quieken eines Murmeltiers glaube, er zerspringt. Doch das weiß ich natürlich an diesem Abend noch nicht, und so wehre ich mich kaum, wenn er vom Grappa nachschenkt. Erst matt, bald angetrunken, höre ich ihm zu. Höre von einer alten Dame, die aus dem Seniorenheim im Tal zu ihm in die Hütte ausgebüxt

war, sie trug Kittelschürze und aß nur weich gekochte Kartoffeln. Von einem Lebensmüden, der mit einer Flasche Korn in der Hand auftauch-te, Jochen sorgte dafür, dass man ihn lebensfroh hinunterbrachte. Ich höre ihn sagen, das Allgäu sei die Ro-sine Bayerns, welch prächtiger Satz für das Berghütten-Poesiealbum.

Doch dann passiert es. Ein Wan-derer in grellgrüner Goretex-Jacke kommt auf den Wirt zu und fragt: „Wird das morgen nicht vielleicht doch ein schöner Tag?“ Jochen blickt dem Mann fest in die Augen. „Jeder Tag ist ein guter Tag, wenn du ihn erlebst.“ Und holt dann doch nicht den Kartoffelschäler. 2 Nicolas Büchse

Auf halber Strecke: Reporter Nicolas Büchse (r.) und Bergführer Michael Schott

Für ca. 16 Maultaschen200 g Weizenmehl und etwas für die Arbeitsfläche; 50 g Hartweizengrieß; 4 Eier (1 x getrennt, Größe M); Salz; 200 g Möhren; 100 g Lauch; 200 g Knollensellerie; 1 Knoblauch-zehe; 300 g Spinatblätter; 1 mittel- große, gekochte Kartoffel; ½ Bund glatte Petersilie; 1 EL selbst geriebenes Semmelmehl; schwarzer Pfeffer aus der Mühle; frisch geriebener Muskat

1. Für den Teig Mehl und Grieß mit 2 Eiern, 1 EL kaltem Wasser und ½ TL Salz verkneten, in Folie wickeln und mindestens ½ Stunde ruhen lassen.

2. Gemüse waschen, putzen. Möhren, Lauch und Sellerie fein würfeln (3 mm), mit der Knoblauchzehe im Topf in kochendem Salzwasser 1–2 Minuten blanchieren. Spinat 30 Sekunden blan­chieren, im Sieb gut ausdrücken und fein hacken; das Wasser zur Seite stellen.

3. Kartoffel pellen und mit dem blan­chierten Knoblauch in einer Schüssel zerdrücken. Petersilie fein schneiden und mit Semmelmehl, Gemüse, 1 Ei und 1 Eigelb dazugeben und vermengen. Mit Salz, Pfeffer und Muskat würzen.

4. Teig auf bemehlter Arbeitsfläche oder besser mit einer Nudelmaschine dünn ausrollen, in ca. 16 cm große Quadrate schneiden. 1 Eiweiß verquirlen und die Teigränder damit bestreichen. Jeweils 1 gehäuften EL Füllung in die Teigmitte setzen, die Quadrate zu Dreiecken zusammenklappen und die Ränder fest zusammendrücken.

5. Maultaschen portionsweise in einem breiten Topf in siedender Brühe oder dem Blanchierwasser 5 Minuten ziehen lassen, wenden, nach weiteren 5 Minuten herausholen und anrichten.

Beilage: Tomatensauce aus frischen Tomaten mit Olivenöl, Zwiebeln und Knoblauch gekocht und mit Salz und einer Prise Zucker abgeschmeckt. Eisbergsalat mit Wildkräutern (Löwen­zahn, Gänseblümchen, Vogelmiere, Brennnessel) und Schnittlauchblüten, angemacht mit einer Vinaigrette.

Maultaschen mit Gemüsefüllung

Was Jochen Krupinski gern isst

124 11.7.2013

journal REisE

Page 125: Stern 2913
Page 126: Stern 2913

Zur PersonGiuliana Sgrena, 1948 im Piemont geboren, schloss sich nach dem Studium in Mailand der Friedensbe-wegung an. Seit 1988 arbeitete sie als Kriegsreporterin der linksgerich-teten Zeitung „Il Manifesto“. Am 4. Februar 2005 geriet sie in Bagdad in die Gewalt sunnitischer Aufstän-discher. Bei ihrer Freilassung am 4. März wurde das Auto, in dem sie mit dem Unterhändler Calipari saß, von der US-Armee beschossen – Calipari starb. Sgrena wohnt mit ihrem Lebensgefährten in Rom.

Fot

oS:

St

ep

ha

nie

Ge

nG

ot

ti;

ap

Frau Sgrena, Ihre Entfüh-rung liegt nun acht Jahre zurück. Was macht so eine Erfahrung mit dem eigenen Leben? Die Todesangst bleibt ein

Trauma, das mich nicht mehr los-lässt. Vor allem im Frühjahr, der Jahreszeit meiner Gefangenschaft, ist die Erinnerung mein ständiger Begleiter. Ich dachte, diese Bilder in mir würden irgendwann ver-blassen, aber das stimmt nicht. Manchmal sind sie sogar schwerer zu ertragen als damals. Wie äußert sich das?Ich habe jeden Tag Angst, dass er mein letzter sein könnte. Diese Unsicherheit macht mir wirklich zu schaffen. Sie hat aber auch eine gute Seite: Ich lebe jetzt intensiver als früher.Nach Ihrer Freilassung wurden Sie von US-Soldaten beschossen, Ihr Begleiter, der italienische Agent Nicola Calipari, starb im Kugelhagel. Wie konnte das passieren?

darüber spreche und schreibe. Es gibt auch ein Theaterstück zum Thema – „Caliparis Reise“ –, das durch Italien tourt. An den Eröff-nungsabenden bin ich dabei und diskutiere mit den Zuschauern, damit sie nicht vergessen. Damit sie sich an Calipari erinnern.Trotz allem fahren Sie weiter in Krisengebiete?Ja, ich war auch wieder in Bagdad. Ich bin aber nie waghalsig ge- wesen, wie man es mir so oft vorgeworfen hat. Ich verlasse mich nur nicht auf Informanten, sondern gehe selbst raus, um die Fakten zu prüfen. Kidnapping von Journalisten ist mittlerweile ein florierendes Geschäft, gerade in Kriegsgebieten. Das ist mir und anderen zum Verhängnis gewor-den. Trotzdem darf man sich davon nicht abhalten lassen, als Reporter seinen Job zu machen. Wohin geht die nächste Reise?Gerade war ich beruflich in Tune-sien, jetzt muss ich erst mal sparen. Weil die Zeitung „Il Manifesto“, für die ich gearbeitet habe, bankrott-gegangen ist, bin ich letztes Jahr verrentet worden. Seitdem ist die Auftragslage leider schlecht. Aber ich mache weiter, solange es geht. Meine Arbeit ist und bleibt für mich die effektivste Art, Pazifistin zu sein. Indem man berichtet, was Krieg bedeutet, kann man am besten zeigen, worauf es ankommt: dass wir Menschen alles tun müssen, um ihn zu verhindern. 2

Interview: Sarah Schelp

Das ist bis heute ungeklärt. Die Amerikaner haben den Fall nach einer kurzen Befragung der Verantwortlichen damals einfach geschlossen. Wir haben dann versucht, den Soldaten, der Calipari erschossen hat, in Italien vor Gericht zu stellen, und sind dafür durch alle Instanzen gegan-gen – vergebens. Es sollte diesen Prozess nicht geben.Warum nicht?Um die Beziehungen zu den USA nicht zu belasten, fürchte ich. Zumindest bestand vonseiten der italienischen Regierung plötzlich kein Interesse mehr daran, wieso der hochrangige Geheimdienst-agent Calipari sterben musste. Stattdessen wurde ich verurteilt, die Gerichtskosten zu tragen. Für mich als Opfer der blanke Hohn! Keinen Cent werde ich zahlen. Da müssen die schon meine Möbel pfänden. Das klingt bitter.Es war ein harter Schlag. Ich versu-che damit umzugehen, indem ich

Giuliana Sgrena, 64, in ihrer Wohnung in Rom

16. Februar 2005: Giuliana Sgrena appelliert unter Tränen, die Bedingungen für ihre Befreiung zu erfüllen: die italienischen Truppen aus dem Irak abzuziehen. Die Sol-daten blieben, zwei Wochen später kam Sgrena dennoch frei

Giuliana SgrenaDas Video der 2005 im Irak entführten italienischen Kriegsreporterin, in dem sie ihre Regierung um Hilfe anfleht, ging um die Welt

126 11.7.2013

journal

WAS MACHT EIGENTLICH?

Page 127: Stern 2913
Page 128: Stern 2913